psychodrama — soziale arbeit — netzwerke

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Franz Stimmer Psychodrama – Soziale Arbeit – Netzwerke Univ.-Prof. Dr. Franz Stimmer Institut für Sozialpädagogik der Universität Lüneburg Summary: The author deals with the question how the relationship of Psychodrama and Social Work was at times of the young Moreno, how it is at present and how it could be one day. The social- educational roots of Psychodrama as well as the immense – although hardly appreciated – contribution of Moreno himself to the action-leading concept of working in and with social networks are presented in some facets. Zusammenfassung: Der Autor stellt sich die Frage, wie denn das Verhältnis des Psychodramas und der Sozialen Ar- beit zur Zeit des jungen Moreno war, wie es momentan ist und wie es vielleicht werden könnte. Dabei werden die sozialpädagogischen Wurzeln des Psychodramas sowie vor allem der immense – wenn auch kaum gewürdigte – Beitrag Morenos’ zum Handlungsleitenden Konzept „Netzwer- karbeit“ in einigen Facetten vorgestellt. Wer schon einmal versucht hat, eine Fliege, die immer wieder gegen das verschlossene Fenster fliegt, zu retten, sie dann endlich im Hohlraum der beiden Hände vorsichtig zu einem geöffneten Fenster bringt, langsam die Hände öffnet und ins Leere blickt, wobei das Gesummse am anderen Fenster schon wieder zu hören ist, hat ungefähr eine Vor- stellung davon, wie es jemandem geht, der glaubt, endlich eine Lösung für das Thema Psychodrama und Soziale Arbeit gefunden zu haben. Die Problematik ist vielfältig. Eine der Schwierigkeiten ist die weitgehende inhaltli- che und begriffliche Unbestimmtheit von Sozialer Arbeit – sowohl theoretisch als auch methodisch. Das macht auch eine spezifische Zuordnung zum Psychodrama schwierig. Ich verwende den Begriff Soziale Arbeit hier als Oberbegriff für Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Eine weitere Schwierigkeit ist die Verwendung des Begriffes Psychodra- ma. Ich verwende ihn als Kürzel für das Gesamtwerk Morenos:

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Franz StimmerPsychodrama – Soziale Arbeit – Netzwerke

Univ.-Prof. Dr. Franz StimmerInstitut für Sozialpädagogik der Universität Lüneburg

Summary:The author deals with the question how the relationship of Psychodrama and Social Work was attimes of the young Moreno, how it is at present and how it could be one day. The social-educational roots of Psychodrama as well as the immense – although hardly appreciated –contribution of Moreno himself to the action-leading concept of working in and with socialnetworks are presented in some facets.

Zusammenfassung:Der Autor stellt sich die Frage, wie denn das Verhältnis des Psychodramas und der Sozialen Ar-beit zur Zeit des jungen Moreno war, wie es momentan ist und wie es vielleicht werden könnte.Dabei werden die sozialpädagogischen Wurzeln des Psychodramas sowie vor allem der immense– wenn auch kaum gewürdigte – Beitrag Morenos’ zum Handlungsleitenden Konzept „Netzwer-karbeit“ in einigen Facetten vorgestellt.

Wer schon einmal versucht hat, eine Fliege, die immer wieder gegen das verschlosseneFenster fliegt, zu retten, sie dann endlich im Hohlraum der beiden Hände vorsichtig zueinem geöffneten Fenster bringt, langsam die Hände öffnet und ins Leere blickt, wobeidas Gesummse am anderen Fenster schon wieder zu hören ist, hat ungefähr eine Vor-stellung davon, wie es jemandem geht, der glaubt, endlich eine Lösung für das ThemaPsychodrama und Soziale Arbeit gefunden zu haben.

Die Problematik ist vielfältig. Eine der Schwierigkeiten ist die weitgehende inhaltli-che und begriffliche Unbestimmtheit von Sozialer Arbeit – sowohl theoretisch als auchmethodisch. Das macht auch eine spezifische Zuordnung zum Psychodrama schwierig.Ich verwende den Begriff Soziale Arbeit hier als Oberbegriff für Sozialpädagogik undSozialarbeit. Eine weitere Schwierigkeit ist die Verwendung des Begriffes Psychodra-ma. Ich verwende ihn als Kürzel für das Gesamtwerk Morenos:

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– Psychodrama i.e.S. (Handlungsmethode);– Soziometrie (Gruppen und Gesellschaftstheorie; Forschungsverfahren);– Interaktions-, Rollen- und Sozialisationstheorie;– Menschenbild, Philosophie.

Trotz all der möglichen Hemmnisse fand ich einen Einstieg in die Thematik in Formvon Bildern oder Szenen, die unwillkürlich aufgetaucht sind.

Daraus hat sich dann auch eine Struktur für diesen Beitrag ergeben:

1. Wie war es?2. Wie ist es heute?3. Wie kann es werden?

1. Wie war es?

Bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit und der Genese des Psychodramas habensich viele Bilder bei mir eingestellt; einige möchte ich kurz beschreiben.Bild 1: Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts marschiert im Wiener Augarten regelmäßigein noch ganz junger Mann umher. Der Mann setzt sich in die Wiese unter einen Baum.Dort spielende Kinder werden aufmerksam, nähern sich, ein Gespräch beginnt, kleineSpiele werden inszeniert ... .

Heute würde man sagen:

– niedrigschwelliges Angebot der primären Prävention;– Netzwerkförderung, Gemeinwesenarbeit;– Straßensozialarbeit (wenn es ein sozialer Brennpunkt wäre) oder Aufsuchende So-

ziale Arbeit;– Freizeitpädagogik.

Giesecke (1996) beschreibt pädagogisches Handeln u.a. dadurch, dass Orte, Situationenverfügbar gemacht werden (oder auch gemeinsam gestaltet werden), innerhalb derer Ler-nen ermöglicht wird. Damit diese Angebote auch wahrgenommen werden, müssen mög-liche Nachfrager animiert werden (direkte Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit ...).

Bild 2: Ein junger Mann geht in Wien – wiederum zu Beginn des 20. Jahrhunderts – zuProstituierten; nicht um sich zu vergnügen oder sie auf den Pfad der Tugend zurückzu-führen, sondern um sie zu ermutigen, eine Prostituiertengewerkschaft zu gründen.

Heute würde man sagen:

– Streetwork;– Empowerment (Anregung der Eigeninitiative von Menschen);– Netzwerkarbeit (Selbsthilfe fördern).

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In Deutschland gibt es – immerhin 80 Jahre später – zumindest die Anerkennung derProstitution als Beruf (mit Rentenanspruch).

Bild 3: In Mitterndorf sind während des 1. Weltkriegs Tiroler Bauern interniert. Ag-gressionen, depressive Rückzüge und psychosomatische Beschwerden sind an der Ta-gesordnung. Ein junger Arzt hat die Idee, die Leute selbst wählen zu lassen, mit wemsie zusammen wohnen möchten und mit wem nicht. Er nimmt an, dass es so etwas wieeine Tiefenstruktur der sozio-emotionalen Anziehung gibt, die wichtiger ist als die bü-rokratische Zuordnung nach Alphabet oder ähnlichem.

Heute würde man sagen:

– Organisationsberatung;– Ausländerarbeit, Arbeit mit Migranten;– Empowerment (Menschen zu Mitforschern zu machen);– Netzwerkarbeit (stützende Netzwerke statt zerstörerische).

Bild 4: Anfang der dreißiger Jahre arbeitet in den USA der gleiche Mann, der auch derHauptakteur in den anderen Bildern war – nämlich Jacob Levi Moreno – im Gefängnis,in Schulen und in einem Mädchenheim (Hudson). Es ging ihm – für das Mädchenheimin Hudson sehr genau beschrieben in seinem Buch „Grundlagen der Soziometrie“ – umdie Umgestaltung dieses Heims nach den Vorstellungen, die er in Mitterndorf hatte.Klienten werden zu Mitforschern in ihren eigenen Angelegenheiten.

Heute würde man sagen:

– Organisationsentwicklung;– Empowerment;– Netzwerkarbeit.

2. Wie ist es heute?

Auch hier zunächst ein Bild: Ein großer Zeitsprung ins Jahr 2004 führt mich nach Han-nover in eine psychiatrische Praxis, in der Psychodrama angeboten wird. Aber ich sehekeine Gruppe, sondern lediglich den Psychiater mit seinem Patienten und allen nurdenkbaren Gegenständen wie Steinen, Kissen, kleinen Figuren usw.

Bei der erwähnten Vorgeschichte mutet es eigenartig an, dass es zu einem solchen therapeutisch-monodramatischen Rückzug hinter Mauern gekommen ist und dass während der großen Umbrüchein den 1960er und 1970er Jahren (Heimkampagne, kritisch-emanzipatorische Sozialarbeit, Soziolo-gisierung der Sozialarbeit, aggressive Gemeinwesenarbeit ...) Psychodramatiker sich auf die Psy-chotherapie zurückzogen und Sozialarbeiter Zusatz-Qualifikationen in Psychotherapie erwarben.

Die psychodramatische Idee jedenfalls begann als Soziale Arbeit; ihre Wurzel, ihre Ba-sis ist die Soziale Arbeit. Wir müssen zurück zu diesen Wurzeln, müssen zumindest uns

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daran erinnern, aber mit den Fragestellungen und dem Wissen von heute. Es geht nichtum Nachahmung, sondern um eine eigenständige, situationsbezogene Modifikation.Dies ist genau im Sinne von Moreno: Vom Meister lernen, dann aber eigene Wege ge-hen.

Aus dem Verhalten von Moreno lassen sich vielleicht einige Mosaiksteinchen zurpsycho-dramatischen Haltung ableiten: nämlich

– die Bedeutung einer mehrperspektivischen Sichtweise, die Individuen in ihrer Um-welt, in ihren Beziehungen wahrnimmt;

– die Notwendigkeit einer Geh-Struktur, was bedeutet, auf die Menschen zuzugehen,sie aufzusuchen, ins Feld hineinzugehen;

– auf die Kraft im Menschen (Kreativität) zu vertrauen;– auf die Kraft von Gruppen (Kooperation) zu vertrauen und– den Wert der Soziatrie (Heilung von Gruppen ...) für die Psychiatrie (Heilung von

Seelen) zu respektieren.

Wer die psychodramatische Haltung lebt, lebt Psychodrama (auch ohne große szenischeDarstellungen). Es bleibt allerdings eine Aufgabe für die Zukunft, diese spezifischeHaltung der Welt und sich selber gegenüber weiter zu differenzieren. Wobei diese Hal-tung natürlich eingebettet bleibt in eine kommunikativ-verständigungsorientierte Grund-haltung, wie sie durch die berühmten „Variablen“ von Rogers (1985) formuliert wurde:Empathie, bedingungslose Wertschätzung und Echtheit.

Wenn ich in Vorlesungen über das „Soziale Atom“ von Moreno berichte – vorsichts-halber spreche ich zunächst schon von „Beziehungsnetzwerk“ – kommt prompt: „Ja istdas nicht das gleiche wie die Familienaufstellungen von Hellinger?“ Woran liegt das?Woran liegt es, dass Hellinger mit einem Ausschnitt aus dem Psychodrama Furoremacht, während Psychodramatiker mögliche Klienten immer noch mit dem Begriff „so-ziales Atom“ verschrecken? Woran liegt es, dass in Ausbildungsinstitutionen zwar mitBegriffen wie „Psychodrama-Pädagogik“ geworben wird, aber doch sehr unklar bleibt,was denn „Pädagogik“ eigentlich sei? Was ist gar eine „Moreno-Pädagogik“?

Das sind Fragen über Fragen. Antworten habe ich noch nicht. Es sind aber auch Bei-spiele für eine oft gemachte Erfahrung: Techniken wie der Rollentausch oder auch Ver-fahren wie pädagogische Rollenspiele werden versuchsweise praktiziert in der sozial-pädagogischen Arbeit – aber eben eklektizistisch, ohne dass das Gesamt-Psychodramamit seiner Axiologie und Theorie beachtet wird. Und dies meist auch ohne eine entspre-chende Ausbildung. In Comics kann man immer passende Vergleiche finden – OnkelDagobert etwa erinnert an manchen Psychodramatiker von heute: er kennt seine Schätzekaum noch, nutzt sie nur ab und zu, um ein Taler-Bad zu nehmen. Und seinen TalerNummer 1, den ersten selbst verdienten, der zum Ursprung seines Reichtums wurde,hütet Onkel Dagobert wie seinen Augapfel. Sehr pathetisch gefragt: Wer hütet die Wur-zeln des Psychodramas? Das Psychodrama gleicht heute geradezu einem Ersatzteillager:jeder holt sich, was er gerade braucht. Oder vornehmer: Psychodrama wird zur Zuliefer-firma degradiert (zu einer „Bosch-Zündkerze im BMW“...).

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Ich möchte dies noch einmal verdeutlichen, wobei ich gerne in Kontinua denke, dadiese Modelle dynamischer sind als andere und daher die Realität besser wiedergeben:

Techniken-Chaos (Pool) Reine Lehre//--------------a)------------------b)------------------c)------------------d)--------------//Kontinua sind immer durch Extrempunkte gekennzeichnet: Hier „Techniken-Chaos“und dort „Reine Lehre“. Leben und Handeln spielt sich dazwischen ab.

a) Anwenden von Techniken ohne zu wissen, woher diese kommen, wo ihre Grenzensind, wo Gefahren liegen usw.

d) Das gesamte psychodramatische System überhöhen zu einer Art Religion mit Or-densgründungen, zu einer allein selig machenden Einrichtung, der sich alle zu unter-werfen haben; eine Art „Vatikan der psychodramatischen Sozialen Arbeit“.

b) Klären, was Soziale Arbeit ist – in Wechselwirkung dazu das Psychodrama integrie-ren; und zwar nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch bezüglich der theore-tischen Begründung und der Ethik des Handelns. Das Psychodrama wird neben ande-ren kompatiblen Verfahren in die Handlungsleitenden Konzepte der Sozialen Arbeiteingebunden und weiterentwickelt.Es bietet sich hier von Seiten der Sozialen Arbeit das Handlungsleitende Konzept derNetzwerkarbeit geradezu an. Hier besteht eine ausgeprägte Wahlverwandtschaft. Siebildet die Basis für eine differenzierte weitere Entwicklung. Daneben sind weitereHandlungsleitende Konzepte wie das Empowerment oder die lebensweltorientierteKinder- und Jugendhilfe (vgl. Stimmer 2000) zu integrieren.

c) Psychodramatische Soziale Arbeit/Sozialpädagogik als eine Form der Sozialen Ar-beit, die sich neben anderen zu bewähren hat. Psychodrama wird damit zu einem so-zialpädagogischen Ansatz neben anderen. Vielleicht kann es andere Ansätze auch er-setzen: kritisch-emanzipatorische z.B., die theoretisch und axiologisch gut ausfor-muliert und mit dem Psychodrama auf diesen Ebenen kompatibel sind, aber keinePraxeologie ausformuliert haben.

3. Wie kann es morgen werden?

Momentan sehe ich zwei Wege:

– Der eine ist der Weg, wie er oben unter b beschrieben wurde. Hier Schritt für Schrittweiterzumachen, wird im Endeffekt eine Systematik erwarten lassen, die für die So-ziale Arbeit hilfreich sein wird.

– Mein Herz hängt allerdings an dem Weg, wie er unter c angedeutet wurde. Vielleichtfindet sich ja einmal ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen, der/die dies in An-griff nimmt/nehmen. Dann stünde neben einer alltagsorienierten, kritisch-emanzipa-torischen, marxistisch-leninistischen ... Sozialen Arbeit eine psychodramatische.

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Dennoch sind auch hier wichtige Ziele von dringenden Zielen zu unterscheiden: Derrealistischere Weg 1 bietet für die Zukunft auch gute Voraussetzungen für den Weg 2,welcher vielleicht auch einmal begangen werden wird.

Nur dadurch, dass Moreno einst mit Kindern im Augarten spielte, begründet sichnoch nicht, dass das Psychodrama für die Soziale Arbeit relevant ist. Genau so wenig istes eine sinnvolle Begründung, die Bedeutsamkeit des Psychodramas für die Soziale Ar-beit allein daraus abzuleiten, dass psychodramatische Techniken und Verfahren in derPraxis vielfältige Anwendung finden.

Ich habe in diesem Kontext ein Kriterienraster entwickelt, welches die Beurteilungvon Handlungsleitenden Konzepten und Methoden bezüglich ihres Differenzierungs-grades erleichtert (vgl. Stimmer 2000). Michael Zwilling hat es im Rahmen seines Bei-trages in diesem Band auf die Basismethode Psychodrama angewandt. Dabei geht es ei-nerseits um die Frage, ob Psychodrama überhaupt eine Methode ist und andererseitsdarum, ob Psychodrama eine sozialpädagogische Methode ist.

Bei dieser Überprüfung wird deutlich, dass es in der Sozialen Arbeit keine Methodegibt, die den Anforderungen des Kriterienrasters so gerecht wird wie das Psychodrama!

Das Psychodrama hält für

– die Praxeologie (Wie handle ich?),– die Theorie (Warum handle ich so, wie ich handle?) und– die Axiologie (Wozu dient mein Handeln? Wohin führt mein Handelnd?)

der Sozialen Arbeit hervorragende Angebote und Antworten bereit, die aufeinanderwechselseitig bezogen sind. Es stellt zudem mit der Soziometrie ein Forschungsverfah-ren zu Verfügung; die Forschung (Evaluation) der psychodramatischen Praxis jedoch istbisher (noch) mangelhaft. Die Wissenschaftstheorie (Frage: Wie komme ich zu meinemWissen?) ist ausbaubedürftig.

Ich möchte jetzt einige Aspekte der Bedeutung psychodramatischen Handelns und Den-kens anhand der „Netzwerkarbeit“ erläutern und dazu folgende Thesen formulieren:

These 1: Netzwerkarbeit = psychodramatisches Arbeiten;These 2: Die soziometrische Theorie (neben anderen) begründet die Netzwerkarbeit mit;These 3: Das Psychodrama stellt wesentliche Verfahren für die Netzwerkarbeit zur Ver-

fügung.

Moreno war sicher einer der kreativsten Netzwerkarbeiter. Im Grunde ist sein ganzesBestreben darauf gerichtet, über seine soziometrischen Verfahren Netzwerke sichtbar,bewusst und begreifbar zu machen, um sie eventuell so verändern zu können, dass sieden Bedürfnissen der Mitglieder entgegen kommen. Dieses Werk wird allerdings imaußer-psychodramatischen Raum kaum wahrgenommen. Als Beispiel kann das Buch„Soziale Netzwerkarbeit“ von Bullinger und Nowak (1998) dienen, in dem Morenonicht einmal erwähnt wird, obwohl Techniken aus dem Psychodrama – als solche aller-dings nicht gekennzeichnet – angeboten werden. Das Netzwerkprinzip liegt als Denk-

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muster vielen theoretischen und axiologischen Überlegungen zugrunde. Dies schonganz ausgeprägt bei einem der Klassiker der Soziologie, Georg Simmel (1989, S. 130):„... als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, dass Alles mit Allem in irgendei-ner Wechselwirkung steht, dass zwischen jedem Punkt der Welt und jedem anderenKräfte hin- und hergehende Beziehungen bestehen ... Ganz ähnlich sieht dies auch RuthCohn (1975) in ihrer axiomatischen Begründung der Themenzentrierten Interaktion(TZI): „Die Autonomie des Einzelnen ist um so größer, je mehr er sich seiner Interde-pendenz mit allen und allem bewusst wird“ oder auch Norbert Elias (1970) in seiner„Figurationssoziologie“: „Menschen sind semi-autonome Einheiten unter anderen“.

In der Sozialen Arbeit von heute wird das Denken in Netzwerken immer gefordert. Sozialpädago-gen sollen „multiperspektivisch“ planen und handeln. Wenn „Alles mit Allem in irgendeinerWechselwirkung steht“, kann der Versuch, dieser Forderung gerecht zu werden, schnell im Chaosenden. Das heißt, dass eine sinnvolle Begrenzung, eine kreative Reduktion von Vielfalt, auf sozial-pädagogisch relevante soziale Netzwerke nötig ist und zudem, dass das notwendige Handwerkszeugentwickelt wird. Moreno hat seinen Blick ja auch ins Kosmische gerichtet, ist aber in der Praxis inden Netzwerkbereichen geblieben, die Arbeitsbereiche der Sozialen Arbeit sind. Hierfür hat er Ver-fahren entwickelt, die heute noch in unterschiedlichen Bereichen angewendet werden.

In der Netzwerkliteratur werden folgende Netzwerktypen unterschieden:

– Primäre oder mikrosoziale oder persönliche Netzwerke wie Familie, Verwandtschaft,Nachbarschaft, Freundeskreis;

– Sekundäre oder makrosoziale oder global-gesellschaftliche Netzwerke wie Schulen,Soziale Dienste, Kommunalverwaltungen;

– Tertiäre oder mesosoziale Netzwerke wie Selbsthilfegruppen, organisierte Freizeit-gruppen, Bürgerinitiativen.

In der sozialpädagogischen Praxis wird heute vorwiegend im Bereich primärer Netzwerkegearbeitet. „In der Regel beschränken sich die erhobenen Netzwerkmuster auf Beziehun-gen, die durch Primärgruppen und wichtige Alltagssektoren (wie Nachbarschaft, Arbeits-welt, Freizeit) gebildet werden“ (Keupp 1997, S. 576). In der Sozialen Arbeit sind natür-lich auch weitere Vernetzungen als jene zwischen den einzelnen Institutionen in einemGemeinwesen relevant. Aber dafür – so meine These – müssen andere Instrumentarienentwickelt werden. Wenn Moreno auch von einer „soziometrischen Revolution“ träumtoder „Wege zur Neuordnung der Gesellschaft“ (1974) anbietet – dies ganz im Sinne desNetzwerkgedankens – so sehe ich (und hier ist der psycho-dramatische Weg unübertrof-fen!) in der Netzwerkarbeit im mikrosozialen Bereich das Haupttätigkeitsfeld. Hier gilt es,zerstörerische Aspekte von Netzwerken (Risiken) zu mindern und stützende Aspekte(Ressourcen) von Netzwerken zu fördern. Das sind die erklärten Ziele Sozialer Arbeit wieauch des Psychodramas. Unübertroffen ist hier auch die sprachliche Formulierung More-nos, dass es ihm nicht (nur) um die Psychiatrie (Heilung von Seelen), sondern um die So-ziatrie (Heilung von Gruppen) geht, die dann im Endeffekt die Psychiatrie überflüssig ma-chen würde.

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Wie sehen nun die psychodramatischen Angebote aus, die in der Sozialen Arbeit dasVerstehen von Netzwerken erleichtern?

Im Rahmen des zirkulären Problemlösungsprozesses (siehe Beitrag Zwilling in die-sem Heft) eignen sich für die Situationsanalyse und die drauffolgende Thesenbildungund Zielformulierung die folgenden psychodramatischen Verfahren in exzellenter Wei-se:

– Soziales Beziehungsnnetz („Soziales Atom“);– Rollennetzwerk („Kulturelles Atom“);– Soziometrischer Test (Sozio-emotionale Tiefenstruktur);– „Netzwerkkarten“ (Variation des „Sozialen Atoms“);– „Netzwerkbrett“ (Variation des „Sozialen Atoms“);– Netzwerk-Ethnographie (Soziodramatische Feldforschung).

Psychodramatikern sind die aufgeführten Verfahren bekannt, für Nicht-Psycho-dramatiker möchte ich sie kurz beschreiben (ausführlich vgl. Stimmer 2000, S. 129ff.):Bei den Sozialen Beziehungsnetzen geht es darum, über unterschiedliche Medien (wieAufzeichnen, Handpuppen, Spielzeugfiguren...) das momentane Netz emotional bedeut-samer Beziehungen, in die ein Klient eingebunden ist, sichtbar, greifbar, verstehbar zumachen (vgl. Abb. 1). Daraus lassen sich nicht nur kritische Beziehungen erkennen,sondern eben auch unterstützende Möglichkeiten für den Klienten, welche sonst häufigwegen der Fokussierung auf Konflikte übersehen werden.

Ganz ähnlich wird bei den Rollennetzwerken verfahren: Wenn Menschen nach derpsychodramatischen Theorie durch das System ihrer Rollen (wie durch ihre Beziehun-gen in diesen Rollen) bestimmt werden, ist es ein wertvolles Verfahren, dieses Systemvon Rollen diagnostisch verfügbar zu machen. Auffälligkeiten im Sinne von Konflikten,aber auch Ressourcen und stabilisierenden Rollen bzw. Co-Rollen werden erkannt undkönnen wichtige Hinweise für die weitere Arbeit geben.

Der Soziometrische Test ist ein Verfahren, das mit Vorsicht zu genießen ist: Unge-übte sollten die Finger davon lassen, da sehr schnell Selbstwertkränkungen auftretenkönnen. Die Grundidee ist einfach: Moreno sieht schon 1916 (vgl. oben), dass die Ober-flächenstruktur von Institutionen nicht immer geeignet ist, Menschen die beste Mög-lichkeit des Zusammenlebens zu bieten. So kam er auf die Idee, die sozio-emotionaleTiefenstruktur einer Gruppe zu durchleuchten, wobei jeweils Wahl und Abwahl und einKriterium (z.B. „mit wem möchte ich in einem Büro zusammen arbeiten und mit wemnicht?“) vorgegeben sind. Dabei ist die zentrale Forderung, dass die Gruppe selbst dieUntersuchung will, diese aktiv unterstützt und die jeweiligen Ergebnisse konkret um-setzt. Im Soziogramm können dann die Wahlen sichtbar gemacht werden (vgl. Abb. 2),wobei immer zu bedenken ist: es ist eine Momentaufnahme und es geht ausschließlichum ein Kriterium und nicht um die Wahl oder Abwahl eines Menschen.

Netzwerkkarten bilden eine Variation des Sozialen Beziehungsnetzes, indem die Be-ziehungen in relevanten Lebensbereichen in einem Schema vorgestellt werden (vgl.Abb. 3). Die Netzwerk-Ethnographie ist ein relativ aufwendiges Verfahren, bei dem es –

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auch unter Verwendung qualitativer Forschungsmethoden – darum geht, die Lebensweltvon Klienten – beispielsweise in einem Stadtteil – intensiv kennen zu lernen.

Der Analyse, Thesenbildung und Zielformulierung folgt die Netzwerkintervention inForm der Netzwerkberatung im Rahmen von Netzwerkkonferenzen (real), psychodra-matischen Netzwerkkonferenzen (semi-real) sowie soziodramatischer Netzwerkförde-rung und Helferkonferenzen.

Literatur

Bullinger, H. und Nowak, J. (1998): Soziale Netzwerkarbeit; Freiburg.Cohn, C. (1975): Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion; Stuttgart.Elias, N. (1970): Was ist Soziologie? München.Giesecke, H. (1996): Pädagogik als Beruf. Grundformen pädagogischen Handelns; Weinheim.Keupp, H. (1997): Soziale Netzwerke. In: Reinhold, G. (Hrsg.): Soziologielexikon; München, S. 567 –

580.Moreno, J.L. (1974): Die Grundlagen der Soziometrie. Wege zur Neuordnung der Gesellschaft; Opla-

den .Simmel, G. (1908): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung; Berlin.Stimmer, F. (2000): Grundlagen Methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit; Stuttgart.Straus, F.: Netzwerkanalyse – Egozentrierte Netzwerkkarten als Instrument zur Erhebung von sozialen

Beziehungen in qualitativen Interviews. Materialien (48) eines Teilprojekts SFB 333. München1994.

Anschrift: Prof. Dr. Franz Stimmer, Universität Lüneburg, Institut für Sozialpädagogik,Scharnhorststr. 1, 21385 Lüneburg, [email protected]

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Abb. 1: Das „SozialeAtom“ des Klienten „Heinz“

(aus: Stimmer 2000, S. 131)

Abb. 2: Soziogramm einer Gruppe männlicher Jugendlicher im Heim

(aus: Stimmer 2000, S. 138)

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Abb. 3: Beispiel einer Netzwerkkarte

(aus: Straus 1994, S. 24)