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1 Philipp Veits „Germania“: Es ist kein Ölzweig. Philipp Veit, 1793 – 1877, Schöpfer des Kolossalge- mäldes „Germania“ für das Paulskirchenparla- ment, hatte sich als ehemaliger Teilnehmer an den deutschen Befreiungskriegen 1813-14 schon früh mit dem Thema der nationalen Einheit Deutsch- lands in Gestalt der allegorischen Germania-Figur befasst. So ließ er sich im März 1848 dazu gewin- nen, das Gemälde einer „Germania“ zu schaffen, das – zusammen mit zwei umkränzten Schriftfah- nen – den Orgelprospekt im Rundbau der Frankfur- ter Paulskirche kaschierte. Schüler Caspar David Friedrichs (unter anderen), gehörte Veit in Rom zu jener Gruppe norddeut- scher Künstler, die sich, ihrer Kunst zuliebe, vom nüchternen Protestantismus ihres einstigen Um- felds abgewandt hatten und zum Katholizismus konvertiert waren. Sie befassten sich intensiv mit Kunst und Ideen des hohen Mittelalters, dem sie auch in Bekleidung und Verhalten nachzueifern strebten. Der Spott ihrer Umgebung für diese Ei- genwilligkeit drückt sich in der Bezeichnung „na- zareni“ aus. Dessen ungeachtet bekleideten meh- rere unter ihnen später geachtete Stellen im deut- schen Kunstleben; so amtete Veit von 1830 bis 1843 als Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main und ab 1854 als Direktor der Städtischen Galerie in Mainz. Die zahlreichen Symbole, die Veits Gemälde zi- tiert, werden in verschiedenen Beschreibungen aufgeführt. So heißt es in der Badischen Heimat/Landeskunde online (2006): Philipp Veits „Germania“ hing als allegorische Darstellung in der Nationalversammlung in der Paulskirche (wo sie die Orgel verdeckte). Darge- stellt ist Germania mit dem Eichenlaubkranz (der Treue), dem Schwert (der Wehrhaftigkeit), dem um das Schwert gelegten Ölzweig (der Friedens- liebe) und der Fahne (der Einheit). Hinter ihr geht die Sonne einer neuen Zeit auf, ihr Blick ist in eine unbestimmte Zukunft gerichtet.” Eindeutig ist der Symbolwert des Eichenkranzes, spielt doch die Eiche schon bei Veits Lehrer C.D. Friedrich stets eine Deutschland symbolisierende Rolle. Friedrichs knorrige, wettergezauste Baum- ruinen aus der Phase der Metternichschen Restau- ration, in der die Träume aus der Zeit der Befrei- ungskriege erstickt wurden, treiben noch immer trotzig aufbegehrend frische Triebe der Freiheit. Germanias Eichenkranz dürfte somit nicht allein die als Nationaltugend aufgefasste deutsche Treue darstellen, sondern auch den endlichen Durchbruch Abb. 1 Philipp Veit:; Germania (1848) Abb 2 Nationalversammlung in der Paulskirche (1848) Abb. 3 Caspar David Friedrich: Der einsame Baum

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Page 1: Philipp Veits „Germania“: Die zahlreichen Symbole, die ... · Trotz der Entdeckung, die das Cannabis-Magazin „Hanf!“ 1998 veröffentlichte, ... (Quercus robur L.) zuge-ordnet

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Philipp Veits „Germania“:

Es ist kein Ölzweig.

Philipp Veit, 1793 – 1877, Schöpfer des Kolossalge-mäldes „Germania“ für das Paulskirchenparla-ment, hatte sich als ehemaliger Teilnehmer an den deutschen Befreiungskriegen 1813-14 schon früh mit dem Thema der nationalen Einheit Deutsch-lands in Gestalt der allegorischen Germania-Figur befasst. So ließ er sich im März 1848 dazu gewin-nen, das Gemälde einer „Germania“ zu schaffen, das – zusammen mit zwei umkränzten Schriftfah-nen – den Orgelprospekt im Rundbau der Frankfur-ter Paulskirche kaschierte.

Schüler Caspar David Friedrichs (unter anderen), gehörte Veit in Rom zu jener Gruppe norddeut-scher Künstler, die sich, ihrer Kunst zuliebe, vom nüchternen Protestantismus ihres einstigen Um-felds abgewandt hatten und zum Katholizismus konvertiert waren. Sie befassten sich intensiv mit Kunst und Ideen des hohen Mittelalters, dem sie auch in Bekleidung und Verhalten nachzueifern strebten. Der Spott ihrer Umgebung für diese Ei-genwilligkeit drückt sich in der Bezeichnung „na-zareni“ aus. Dessen ungeachtet bekleideten meh-rere unter ihnen später geachtete Stellen im deut-schen Kunstleben; so amtete Veit von 1830 bis 1843 als Direktor des Städelschen Kunstinstituts in Frankfurt am Main und ab 1854 als Direktor der Städtischen Galerie in Mainz.

Die zahlreichen Symbole, die Veits Gemälde zi-tiert, werden in verschiedenen Beschreibungen aufgeführt. So heißt es in der Badischen Heimat/Landeskunde online (2006):

“Philipp Veits „Germania“ hing als allegorische Darstellung in der Nationalversammlung in der Paulskirche (wo sie die Orgel verdeckte). Darge-

stellt ist Germania mit dem Eichenlaubkranz (der Treue), dem Schwert (der Wehrhaftigkeit), dem um das Schwert gelegten Ölzweig (der Friedens-liebe) und der Fahne (der Einheit). Hinter ihr geht die Sonne einer neuen Zeit auf, ihr Blick ist in eine unbestimmte Zukunft gerichtet.”

Eindeutig ist der Symbolwert des Eichenkranzes, spielt doch die Eiche schon bei Veits Lehrer C.D. Friedrich stets eine Deutschland symbolisierende Rolle. Friedrichs knorrige, wettergezauste Baum-ruinen aus der Phase der Metternichschen Restau-

ration, in der die Träume aus der Zeit der Befrei-ungskriege erstickt wurden, treiben noch immer trotzig aufbegehrend frische Triebe der Freiheit. Germanias Eichenkranz dürfte somit nicht allein die als Nationaltugend aufgefasste deutsche Treue darstellen, sondern auch den endlichen Durchbruch

Abb. 1 Philipp Veit:; Germania (1848)

Abb 2 Nationalversammlung in der Paulskirche (1848)

Abb. 3 Caspar David Friedrich: Der einsame Baum

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freiheitlicher Gesinnung, ausgedrückt in dem frisch vom neu ergrünten Baum gebrochenen Eichenlaub. Ein weiteres Symbol, nämlich die gesprengte Fuß-fessel links unten, bezieht sich wohl nicht allein auf die in den Befreiungskriegen gewonnene Frei-heit von fremder Herrschaft, sondern gleicherma-ßen auf die freiheitlichen und demokratischen Ide-en des Vormärz, die auch in der revolutionären Tricolore schwarz-rot-gold vertreten sind, und die letztlich 1848 zum Paulskirchenparlament führten. Insofern kann auch der Blick in die Zukunft als durchaus zuversichtlich aufgefasst werden.

Eigenartig ist allerdings die Zuschreibung der Pflanze, die als Schwertgewinde fungiert. Der Ver-gleich mit einem Ölzweig zeigt: die Blätter des Öl-baums stehen locker verteilt einzeln an den Zwei-gen, sind nicht handförmig geteilt und haben keine lang ausgezogene Spitze. Das Schwertgewinde ist also ohne Zweifel kein Ölzweig. Die gemalten Blät-ter sehen eindeutig hand- oder fingerförmig geteilt aus. Auch Lorbeer als Symbol des Ruhms kommt

nicht in Frage. Wie ein Blick auf dessen Blätter zeigt, sind diese ebenfalls nicht handförmig ge-teilt, und überdies deutlicher breitenbetont als die von Veit dargestellten.

Offensichtlich ist bei der bisherigen Zuschreibung kein Botaniker zu Rate gezogen worden. Es gilt also, ein Gewächs schmal hand- oder fingerförmig geteilten und spitz zulaufenden Blättern zu finden, die an einem verholzten Zweig sitzen. Dieses Ge-wächs sollte vom Symbolgehalt her zu unserer alle-gorischen Nationalfigur passen.

Bereits vor der jüngsten Jahrtausendwende kam die Vermutung auf, dass es sich dabei um Hanf

handeln könnte. Nummer 4 des Cannabis-Magazins „Hanf“ in seinem 4. Jahrgang vom April 1998 er-schien mit einem entsprechenden Aufmacher auf der Titelseite. Veits Germania wird untertitelt mit dem Text: „Vor 150 Jahren: Die Deutsche Revoluti-on erzwingt freie Wahlen Hand in Hand mit Schwert und Hanf.“ Das Inhaltsverzeichnis weist keinen Themenaufsatz dazu nach. Lediglich im Edi-torial bemerkt Jörg Jenetzky:

„An interessante Gemeinsamkeiten erinnert auch das Titelbild dieser Ausgabe: Die „Germania“ von Philipp Veit, gemalt vor genau 150 Jahren, als während der später versickerten Revolution von 1848 auch das Rauchen Thema war. Gut vier Me-ter hoch ist das Bild und hängt im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg (Kornmarkt 1, auch hingehen!) Wer möchte, kann sich dort selbst überzeugen, dass wir keine Fotomontage abgebil-det haben, sondern das Original. Wir sind ge-spannt auf die vielen verschiedenen Interpretatio-nen von Historikern, Botanikern, Philologen, Kunst- und Hanfliebhabern, die uns sicher bald über die Bedeutung des Hanfzweiges in der Schwerthand aufklären werden.“

Leider gibt es über die online-Adresse <www.hanf. org> keinen Zugang zu einem Archiv des Cannabis-Magazins, in dem die erwartete Diskussion nachzu-lesen wäre.

4 Ölzweig (Olea europaea L.)

5 Lorbeer (Laurus nobilis L.)

2 Fotos: Gerster 6a Germanias Schwertgewinde

Abb. 7 Hanfmagazin: Titelbild

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Trotz der Entdeckung, die das Cannabis-Magazin „Hanf!“ 1998 veröffentlichte, und obwohl nun auch im Jahr 2009 das Hanf-Museum in Berlin zu seinem 15. Jubiläum eine gerahmte Kopie der Veitschen „Germania“ erworben hatte, die Rolf Ebbinghaus am 9. Dezember in einer Vortragsver-anstaltung vorstellte, beharrt das online-Portal des Deutschen Bundestags aktuell weiterhin auf der bisherigen Beschreibung des Bildes:

„Ein Transparent mit einem Kolossalgemälde der Germania, das der Frankfurter Maler Philipp Veit (1793-1877) im März 1848 gemalt hatte, verdeck-te die über der Kanzel auf der Empore installierte Orgel. Auf dem Gemälde ist die Germania als Al-legorie auf die sich bildende deutsche Nation vor der - die neue Zeit ankündigenden - aufgehenden Sonne dargestellt. Im Vordergrund liegen zur De-monstration der jüngst gewonnenen Freiheit zer-sprengte Eisenketten. Die Figur hält die im Vor-märz unterdrückte schwarz-rot-goldene Fahne in der linken Hand. Auf ihrem Haupt trägt sie einen Eichenlaubkranz als Sinnbild deutscher Treue, Standfestigkeit und nationaler Einheit, und in ih-rer rechten Hand das Wehrhaftigkeit symbolisie-rende Reichsschwert, um das ein Ölzweig als Zei-chen der Friedfertigkeit der deutschen Nation rankt. Ihre Brust ziert der in Schwarz auf Gold mit roten Zungen dargestellte Doppeladler des Heiligen Römischen Reiches.“ (aus http://www.-bundestag.de/kulturundgeschichte/ geschichte/schauplaetze/paulskirche/index.html)

Ebbinghaus jedoch trifft die korrekte Feststellung, dass die Pflanze, die Germanias Schwert umwin-det, kein Öl-zweig sei. Er un-terstreicht dage-gen seine Ge-wissheit, dass es sich um Hanf handelt und in-terpretiert die Öl liefernde Hanfpflanze als „Olive des Nor-dens“ und Sym-bol des Friedens.Der aktuelle Ein-trag bei wikipe-dia versucht dar-auf hin einen in-terpretatori-schen Spagat mit der Formulie-rung: „Auf dem Gemälde trägt Germania (…) einen um das Schwert gelegten Öl- oder Hanf-

zweig (Friedensliebe) (...)“ - ein untauglicher Ver-such zum Kompromiss, denn die beiden Gewächse sind sich nachweislich nicht ähnlich, und der Öl-zweig scheidet aus. Was hält die Autorenwolke von wikipedia davon ab, sich für eines von beiden zu entscheiden? Gibt es Zweifel daran, dass der Zweig mit den handförmig gefingerten Blättern tatsäch-lich einen Hanfzweig darstellt?

Ein Blick auf die Hanfpflanze zeigt, dass sie in der Tat fingerförmig geteilte Blätter hat. Die Ränder der Einzelblättchen sind sägezahnartig einge-schnitten. Der Stengel wirkt al-lerdings nicht hol-zig, wenngleich bei der Faserge-winnung, wie beim Flachs, holzige Teile durch He-cheln entfernt werden müssen.

Hierzu ist das Originalgemälde vergleichend genau-er zu mustern. Oliver Mack vom Germanischen Na-tionalmuseum in Nürnberg, der das Bild restauriert hat, hat ein vor der Restaurierung aufgenommenes Detailfoto für die genauere botanische Zuordnung zur Verfügung gestellt. Es zeigt die Teilblättchen mit glatten Rändern.

Mack schreibt in seinen „Beobachtungen bei der Restaurierung der „Germania” des Philipp Veit aus der Frankfurter Paulskirche”: „. . . Das Gemälde wurde zuvor untersucht und restauriert, wobei sich zeigte, daß es stehend und in großer Eile ge-malt worden ist . . .”

Diese Eile ist auch dem Detail anzusehen. Dennoch dürfte es dem an der Natur geschulten Veit, der

Abb. 10 Veit, Germania. Detail vor der Restaurierung. Foto: O. Mack, GNM

8 Hanf auf einem Feld bei EdemissenFoto: Gerster

9 Blatt des Hanf (Cannabis sativa L.)Foto (Ausschnitt): Artur Scherfer

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die komplexe Buchtung der Eichenblätter in Ger-manias Kopfschmuck so detailreich malt, dass sie eindeutig der Stieleiche (Quercus robur L.) zuge-ordnet werden können, nicht unmöglich gewesen sein, Hanfblätter ihrer Natur entsprechend mit ge-

sägten Rändern darzustellen. Er hat es nicht getan. Und nicht nur diese Einzelheit sticht hervor. Die Blätter sitzen an braunen Zweigen, also an einem holzigen, nicht an einem durchgehend grünen und somit eher krautigen Gewächs. Der Baum oder Strauch, um den es sich handelt, muss einem Maler mit dem Bildungshintergrund Philipp Veits als Sym-bolträger für sein Kolossalgemälde vorzüglich ge-eignet erscheinen. Und er muss in einem Veit ver-trauten und vorstellbaren kulturell-historischen Umfeld bedeutungsvoll und bekannt sein. Damit ist noch nicht gesagt, dass es sich um ein uns Heuti-gen geläufiges Element der im weitesten Sinn hei-mischen Flora handelt.

Hier bringt uns Hieronymus Bock (1498 – 1554), mit Otto Brunfels und Leonhart Fuchs einer der drei „Väter der neuen Botanik“, auf eine frische Spur. In einer seiner Pflanzenbeschreibungen im „Kräut-terbuch“ von 1546 formuliert er auf Seite 854:

„Darumb das dieser Baum mit seinen schmalen Weidenblettern, die sich etlicher massen dem laub am Oelbaum vergleichen, . . .“

So beginnt eine Beschreibung, die es erlaubt, die Verbindung zu der stets irrtümlichen Annahme her-

zustellen, es handele sich um einen Ölzweig. Hier wird verständlich, warum die Kunstwelt so lange auf der Symbolik des ihr vertrauten Ölzweigs be-harrte. Die Form der Olivenblätter ähnelt in der Tat sowohl der bestimmter Weidenblätter als auch der Form der Teilblättchen eines bestimmten Bau-mes. Hieronymus Bocks Beschreibung bezieht sich auf den als Keuschlamm (keusch-Lamm, Vitex ag-nus-castus L.) oder Mönchspfeffer bekannten Baum

Abb. 14 Blatt des Keuschlamm-Mönchspfeffer-strauchs (Vitex agnus-castus L.) Foto: Gerster

Mittelmeerhaus des Botanischen Gartens Dahlem (Berlin)

Abb. 13 Keuschlamm-/Mönchspfefferstrauch (Vitex agnus-castus L.) blühend

Foto: Köster, Botanischer Garten Dahlem (Berlin)

Abb. 11 Germanias Eichenkranz

Abb, 12 Traubeneiche (Quercus petraea Lieblein);

Abb. 13 Stieleiche (Quercus robur L.).

Von diesen beiden häufigsten Eichenarten Deutschlands zeigt Germanias Eichenkranz die unsymmetrischen und tief rund gebuchteten Blätter der Stieleiche, deren knorrigen Stamm schon Caspar David Friedrich.zur Vorlage wählte.

Fotos: Wolfgang Gerster.

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oder Strauch, der im Mittelmeergebiet wild wächst.

Über seine Eigenschaften schreibt der genaue Be-obachter Bock: „darzu die schwartze runde Körn-lein, dem Pfeffer gleich, löschen vnd dilgen auß des fleysches brunst vnnd begirde, wie die Alten daruon schreiben, das zu Athen etliche fromme Matronen jhr Läger auff dises Baums bletter stäte keuschheit zuhalten, gehabt haden.“

Sehen wir uns das von Veit gemalte Blatt im Ver-gleich zu dem Blatt des Keuschlamms an, so lässt sich eine deutlich engere Übereinstimmung als beim Hanf feststellen. Sowohl im Gemälde wie im Foto finden wir fünf- bis siebenteilig gefingerte Blätter mit glatten Rändern und lang ausgezogener Spitze.

Im Mittelalter nutzten geistliche Personen, die das Keuschheitsgelübde abgelegt hatten, die Keusch-lammzweige als Lager sowie die pfeffrig schme-ckenden Beeren als Nahrungsergänzung, um von fleischlichen Regungen verschont zu bleiben. Da-her stammt der erwähnte zweite Volksname „Mönchspfeffer“.

Um denkbare Symbolik abzuklären, kehren wir zu Bocks Schlussbemerkung zurück. Die von ihm er-wähnte Bedeutung des Strauchs im klassischen Al-tertum wird von der Forschungsgruppe Klosterme-dizin in Würzburg bestätigt. Bei ihr heißt es:

„Die Geschichte von Vitex agnus-castus führt uns zurück zu den Anfängen der europäischen Zivilisa-tion, in die Mythen der Griechen, in die Welt Ho-mers. . . . Die griechische Bezeichnung - (h)agnós (gottgefällig, keusch, rein) - zeichnet sie als Pflanze der (weiblichen) Götter wie Hera, Deme-ter und Artemis, als Pflanze des Kultes und als Symbol des Mütterlichen und Fraulichen aus.“Das griechische Wort (h)agnós, lateinisch castus, wird im mittelalterlichen Latein zu agnus = Lamm, und so ergibt sich der Art-Beiname agnus-castus, „Lamm-keusch“.

„Ihren Blättern wurde eine anaphrodisiakische Wirkung zugeschrieben, und aus diesem Grund wurde sie während der Thesmophorien, dem De-meter-Fest des antiken Athen, eingesetzt.“ no-tiert die Forschungsgruppe Klostermedizin und zi-tiert Dioskurides mit den Worten: „Keusch heißt hier der Strauch, weil ihn die Frauen an den Thes-mophorien, den all jährigen Festen zu Ehren der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter, als Lager benutz-ten, um [während der Zeit der Feiern] ihre Keuschheit zu bewahren.”

Die Würzburger Forscher fahren fort: „So soll die Zeusgattin Hera, die Hüterin der Ehe, unter ei-nem Keuschlammstrauch geboren worden sein; das Kultbild der Hera auf Samos, sowie das der Artemis Orthia in Sparta war mit Agnus-cas-tus-Zweigen umflochten.“

Selbst in heutiger Zeit tragen, Hinweisen an die Forschungsgruppe Klostermedizin zufolge, in Grie-chenland und der Türkei Braut und Bräutigam gele-gentlich noch Kränze aus den Blütenständen dieses Eisenkrautgewächses, um Unheil (den „bösen Blick”) mit der fünfzähligen Blätterhand der „Kef Marjam” (Hand der Maria) abzuwenden.

Obwohl die islamische Glaubenslehre das Tragen von Amuletten generell als Aberglauben ablehnt, wird - ganz ähnlich - im islamischen Kulturkreis die

„Hand der Fatima“ als Abwehr-Talisman (vor allem für Kinder) getragen, um die Person vor Geistern (Dschinn) zu schützen. Selbst in das algerische Staats-wappen ist sie integriert. Der Name bezieht sich auf Fatima, die jüngste Tochter des Pro-pheten Mohammed mit seiner ersten Frau Chadidscha. Fati-ma teilt mit Maria/Maryam die Eigenschaft der Jungfräulich-

keit. Die Hand der Fatima ist geschlossen und tradi-tionell in Daumen und kleinem Finger symme-trisch. Dies ist besonders im algerischen Staatswap-pen auffällig durch den erheblichen Längenunter-schied zu den mittleren Fingern. Eine symbolische Pflanze mit dieser Charakteristik scheint es nicht zu geben.

In abgeschwächter Form tritt das Symbol der Abwehr-Hand auch im modernen politi-schen und zivilgesellschaftli-chen Raum auf, wie in der französischen Kampagne der Aktion SOS racisme, „Touche pas à mon pote“ („Rühr mei-nen Kumpel nicht an“). Das Logo zeigt ebenfalls eine ge-schlossene Hand, jedoch mit abgespreiztem Daumen.

Abergläubische Furcht wird mit ihm, im Gegensatz zum Amulett, nicht verbunden.

16 Marokkanisches Silberamulett

17 Algerisches Staatwappen

Abb.18 SOS racisme

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Einer offenen Hand dagegen entspricht das Blatt des „Palma Christi“ genannten Rizinusstrauchs (Ri-zinus communis L.), der wegen seines schnellen

Wachstums auch als „Wunderbaum“ bezeichnet wird. Dadurch, dass die Blattzipfel nicht bis zum Stielansatz getrennt sind, hat dieses Blatt auch eine Hand-Fläche (lat. palma). Der Name „Palma Christi“ bezieht sich also nicht auf einen Palm-baum, sondern auf die Handfläche: die schützend und einladend ausgebreitete Hand Christi. Rizinus wurde rings um das Mittelmeer angebaut, um Lam-penöl zu gewinnen. Das lässt unmittelbar an das Gleichnis von den klugen und den törichten Jung-frauen denken (Mt. 25, 1-13). Nur den klugen Jung-frauen, deren Lampen in Erwartung des himmli-schen Bräutigams unverdrossen brennen, reicht er die Hand.

So spielt die Vorstellung von der schützenden, Gefahren abwehren-den Hand eine seit ältesten Zeiten überlieferte Rolle. In diesem Schema findet auch das Keuschlamm mit sei-nen fingerförmig geteilten Blättern seinen Platz.

Wie nun könnte Philipp Veit das Keuschlamm als Symbol in seiner „Germania“ gemeint haben?

Vor dem Hintergrund der Künstler-gruppe der „Nazarener” drängt sich die Assoziation mit dem mönchi-schen Ideal auf, das sich mit Remi-niszenzen des klassischen Altertums vermischt. Heilig, rein und keusch, gegen die Bedrohung durch niedere Instinkte gefeit ist die Identifikati-onsfigur des in die Freiheit aufbre-chenden Deutschland. Und sollte doch Gefahr drohen, wartet hinter dem schützenden Keuschlam-

m-Zweig das scharfe Reichsschwert in blanker Wehrhaftigkeit.

Dr. Norbert Suhr, stellvertretender Direktor des rheinland-pfälzischen Landesmuseums in Mainz, bestätigt im Gespräch, dass die Nazarener durch-aus Pflanzenstudien erstellt haben und sicher auch pflanzliche Symbole kannten. Schriftliche Hinweise darauf seien aber bisher nicht bekannt. Insbeson-dere von Phil-ipp Veit gebe es keine Auf-zeichnungen oder Korrespon-denzen zu sei-nem in großer Eile gemalten Germania - Transparent für die Paulskirche.

Auf einen klei-nen Schönheits-fehler unserer Deutung weist allerdings Nils Köster vom Bo-tanischen Gar-ten in Dahlem (Berlin) hin: Vi-tex agnus-cas-tus trägt die

Blätter gegenständig; es stehen also immer zwei Blätter einander genau gegenüber. Veits Germania dagegen hält einen Zweig mit wechselständi-gen Blättern; die Blätter stehen ein-zeln. Köster meint zudem, so ganz eindeutig fingerförmig seien diese Blätter nicht und scherzt:

„Ehrlich gesagt sieht der Zweig für mich nach einem Wolpertinger aus Ölbaum und Lorbeer aus – also reichlich symbolischer Gehalt, aber leider ohne die Möglichkeit einer klaren botanischen Zuordnung...“1

Nach unserer Beschreibung des Lor-beers dürfte dessen breites Blatt ihn als Teil einer von Veit geschaffenen pflanzlichen Chimäre jedoch aus-schließen. Sollten die botanischen Kenntnisse des Malers nicht ausge-reicht haben, einen Keuschlamm-zweig korrekt, also nicht nur mit fin-

1 Mail vom 15.10.2012

Abb. 6b Schutz (Keuschlamm) und Trutz (Schwert) vor dem Banner der

Einheit.

Abb. 20 Junge KeuschlammpflanzeDie fingerförmig geteilten Blätter stehen

einander paarweise gegenüber.Botanischer Garten Gießen, Foto: Gerster.

Abb. 19"Palma Christi" - Rizinuspflanze (Rizinus communis L.)Foto: A. Scherfer, BGS Gelsenkirchen 2007

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gerförmiger Anordnung der ungezähnten Teilblätt-chen, sondern auch mit gegenständiger Stellung der so gestalteten Blätter abzubilden? Kannte er die Pflanze vielleicht nicht aus eigener Beobach-tung? Oder hat er als Nicht-Botaniker das syste-misch-konstruktive Kriterium der Gegenständigkeit schlicht nicht wahrgenommen? Die fingerförmige Anordnung der (Teil-)Blättchen als formbestim-mendes Gestaltkriterium jedenfalls ist eindeutig.

Fassen wir trotz offener Fragen zusammen:

Die zeichenhafte Kombination von Schwert und Friedenssymbol, der die seit über 160 Jahren wei-tergegebene irrige Annahme eines Ölzweigs zu-grundeliegt, ist weder logisch noch zutreffend. Vielmehr dürfte die Erfahrung der nur zwei Jahr-zehnte zurückliegenden Fremdherrschaft in der Er-innerung der Teilnehmer an der Nationalversamm-lung von 1848 noch nachhaltig wirksam gewesen sein. Dies drückt sich in der Symbolik von Keuschlamm und Schwert als Elemente aus, die Schutz und Abwehr auf der einen mit Streitbarkeit und Wehrhaftigkeit auf der anderen Seite verknüp-fen. Die Symbolik betont somit in zweifacher Ver-stärkung Unantastbarkeit und wehrhafte Einheit der neu erstehenden Nation.

Veits Kolossalgemälde stünde insofern durchaus in Übereinstimmung mit anderen künstlerischen Äu-ßerungen freiheitlich gesinnter Zeitgenossen. Schutz, Trutz und brüderlicher Zusammenhalt sind die Ankerpunkte im „Lied der Deutschen“ des Hoffmann von Fallersleben (1841). Weder dort noch in der zeitgleich geschriebenen vaterländi-schen Drohhymne „Die Wacht am Rhein“ von Max Schneckenburger (1840) wird Friedensliebe auch nur andeutungsweise thematisiert.

Veits „Germania” dürfte sich folglich mit allen At-tributen im gedanklichen Fluss ihrer Zeit befinden und sich damit auch von anderen europäischen Na-tionalallegorien des 19. Jahrhunderts nicht grund-legend unterscheiden.

Text und Illustrationen überarbeitet 11. Juli 2013Wolfgang Gerster, Kirschenhohl 5, 35619 Braunfels

Telefon: 06442-5262,eMail: [email protected]

QuellenBilder

Action SOS racismeAbb. 18 logoMain.tif Algerien, http://de.wikipedia.org/wiki/Wappen_AlgeriensAbb. 17 Algerien.tif

Germanisches Nationalmuseum NürnbergAbb. 01 Gm608_01a_GNM.tif Abb. 06 a+b Germania 0608_Detail2 Schwerthand.tifAbb. 11 Germania 0608_Detail3 Eichenkranz.tif Gerster, WolfgangAbb. 08 Cannabis sativa bei Edemissen.tifAbb. 05 Laurus nobilis.tifAbb. 04 Olea europaea_Kefalonia.tifAbb. 12 Quercus pedunculatus.tifAbb. 13 Quercus robur.tifAbb. 15 Vitex Dahlem 120515 01b.tifAbb. 20 Vitex BGGießen.tif HanfmagazinAbb. 07 Hanfmagazin.tif

Hauer, Philipp <http://www.philipphauer.de/galerie/caspar-david-friedrich-werke>Abb. 03 CDF der-einsame-baum-(dorflandschaft-bei-morgenbeleuchtung).tif Köster, NilsAbb. 14 Vitex Blütenstand.tif Mack, OliverAbb. 10 Germania 0608_Detail.tif

Scherfer, ArturAbb. 9 Cannabis sativa, Blatt ex.tifAbb. 19 Ricinus communis BGS Gelsenkirchen.tif wikipedia:Abb. 16 <http://de.wikipedia.org/wiki/Hand_der_Fatima> 170px-Morocco_Hand_of_Fatima_silver .tifAbb. 02 http://de.wikipedia.org/wiki/Germania_(Philipp_Veit) Nationalversammlung + Germania.tif Literatur Bock, Hieronymus: Kräutterbuch, Hrsg. Melchior Sebizius (Sebitz), Straßburg, 1630 Hanf-Museum; http://www.hanfmuseum.de/sonderausstellungen/hanf-in-der-hand-der-germania 28.01.2013 18:48 Mayer, Johann Gottfried, et al.: Handbuch der Klostermedizin. Zabert Sandmann, München, 2002und < http://www.klostermedizin.de/>