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Nicole Pelletier- Sommerschule Tartu- 9. Sept. 2017 Sasa Stani§it, Wie der Soldat das Grammophon repariert, Roman, München (Luchterhand) 2006 Aleksandar wächst in der kleinen bosnischen Stadt Visegrad auf. Sein größtes Talent ist das Erfinden von Geschichten: Er denkt gar nicht daran, sich an die Themen der Schulaufsätze zu halten, viel zu verrückt sind die Erntefeste bei seinen Urgroßeltern, viel zu packend die Amokläufe betrogener Ehemänner und viel zu unglaublich die Geständnisse des Flusses Drina. Als der Krieg mit grausamer Wucht über Visegrad hereinbricht, hält die Welt, wie Aleksandar sie kannte, der Gewalt nicht stand, und die Familie muss fliehen. ln der Fremde eines westlichen Landes erweist sich Aleksandars Fabulierlust als lebenswichtig: Denn so gelingt es ihm, sich an diesem merkwürdigen Ort namensDeutschlandzurechtzufinden und sich eine Heimat zu erzählen. Seinen Opa konnte er damals nicht wieder lebendig zaubern, jetzt hat er einen Zauberstab, der tatsächlich funktioniert: seine Phantasie holt das Verlorene wieder zurück. Als der erwachsene Aleksandar in die Stadt seiner Kindheit zurückkehrt, muss sich allerdings erst zeigen, ob seine Fabulierkunst auch der Nachkriegsrealität Bosniens standhält. (Klappentext) Shida Bazyar, Nachts ist es leise in Teheran, Roman, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2016 1979. Behsad, ein junger kommunistischer Revolutionär, kämpft nach der Vertreibung des Schahs mit seinen Freunden für eine neue Ordnung. Er erzählt von funkenschlagender Hoffnung, von klandestinen politischen Aktionen, und davon, wie er in der mutigen, literaturbesessenen Nahid die Liebe seines Lebens findet. Zehn Jahre später nimmt uns Nahid mit in die deutsche Provinz, wohin Behsad und sie nach der Machtübernahme der Mullahs mit ihren Kindern flohen. 1999 reist Laleh gemeinsam mit ihrer Mutter in den Iran. Zwischen 'Kafishaps', Schönheitsritualen und Familiengeheimnissen lernt sie ein Teheran kennen, das sich nur schwer mit den Erinnerungen aus der Kindheit deckt. Ihren Bruder Mo beschäftigt ein Jahrzehnt später der Liebeskummer seines Kumpels Tobi mehr als die pseudoengagierten Demos der deutschen Studenten. Doch dann bricht die Grüne Revolution im Iran aus und stellt Mos Welt auf den Kopf. (Klappentext) Zafer $enocak, Gefiihrliche Verwandtschaft, Roman, München (Babel) 1998 Der Ich-Erzähler Sascha Muchteschem, der im Jahre 1954 als Sohn einer deutsch-jüdischen Mutter und eines großbürgerlichen türkischen Vaters in Deutschland geboren wurde, kehrt nach einem USA-Aufenthalt im Jahre 1992 nach Berlin zurück. Er stellt fest, dass die Stadt sich in seiner Abwesenheit stark verändert hat und dass viele Deutsche jetzt über Herkunft, Geschichte und nationale Identität nachdenken und die Einwanderer der Stadt tendenziell ausgrenzen. Muchteschem, der eigentlich gar nicht an Fragen von Herkunft und kulturelle Identität interessiert ist, wird durch die Umstände gezwungen, sich über seine eigene Abstammung Gedanken zu machen. Nachdem seine Eltern bei einem Autounfall verunglückt sind, erbt er die in osmanischer und kyrillischer Schrift verfassten Aufzeichnungen seines türkischen Großvaters. Dieser hatte eine hohe Stellung in der Regierung der türkischen Republik und war 1936 Delegationsleiter der Türkei bei den Olympischen Spielen in Berlin. Dort hatte er sich das leben genommen, weil er sich, durch einen Brief an seine Schuld erinnert, seiner Verantwortung für die Deportation von Armeniern im Ersten Weltkrieg stellen musste. (M. Hofmann, "Jüdisches und armenisches Gedächtnis im deutsch-türkischen Diskurs: Zafer $enocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft im Kontext", in C. Meyer (Hrsg.), Kosmopolitische 'Germanophonie', Würzburg 2012, S. 302) Yoko Tawada, Schwager in Bordeaux, Roman, Tübingen (Konkursbuch) 2008 Der Tag einer Ankunft. Einer Reise durch die Kulturen. Und durch Lebensgeschichten der Freundinnen der Reisenden. Gegliedert durch japanische Schriftzeichen, jedes Zeichen ist eine Sekunde der Erinnerung, jede Sekunde der Erinnerung ein kleiner Roman. Yuna reist nach Bordeaux, in das Haus von Maurice, dem Schwager ihrer Hamburger Freundin Renee. Das Haus ist frei, denn Maurice möchte selbst verreisen, und Yuna möchte Französisch lernen. Während dieses Tages tauchen in ihrer Erinnerung nach und nach Freunde, Freundinnen und Bekannte auf, auch ihr Kater, die Geschichte entspinnt sich, hinein in den Ankunftstag von Yuna und in das vielfältige lieben und Leben, auch mal Sterben, ihrer Freunde. Nichts scheint Zufall, oder ist doch alles Zufall? Ideogramme gliedern den Text, jedes Ideogramm eine Sekunde der Erinnerung, ein Roman. Eine Geschichte über das Verhältnis von Sprache und leben, über die manchmal bedrohliche Kraft von Häusern, über die Sehnsucht, das Wasser, das Reisen. Die Schauplätze Bordeaux und Hamburg, beides Hafenstädte, die nicht direkt am Meer liegen, sind Orte verschiedener Formen von Sehnsucht. (Klappentext)

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Nicole Pelletier- Sommerschule Tartu- 9. Sept. 2017

Sasa Stani§it, Wie der Soldat das Grammophon repariert, Roman, München (Luchterhand) 2006

Aleksandar wächst in der kleinen bosnischen Stadt Visegrad auf. Sein größtes Talent ist das Erfinden von Geschichten: Er denkt gar nicht daran, sich an die Themen der Schulaufsätze zu halten, viel zu verrückt sind die Erntefeste bei seinen Urgroßeltern, viel zu packend die Amokläufe betrogener Ehemänner und viel zu unglaublich die Geständnisse des Flusses Drina. Als der Krieg mit grausamer Wucht über Visegrad hereinbricht, hält die Welt, wie Aleksandar sie kannte, der Gewalt nicht stand, und die Familie muss fliehen. ln der Fremde eines westlichen Landes erweist sich Aleksandars Fabulierlust als lebenswichtig: Denn so gelingt es ihm, sich an diesem merkwürdigen Ort namensDeutschlandzurechtzufinden und sich eine Heimat zu erzählen. Seinen Opa konnte er damals nicht wieder lebendig zaubern, jetzt hat er einen Zauberstab, der tatsächlich funktioniert: seine Phantasie holt das Verlorene wieder zurück. Als der erwachsene Aleksandar in die Stadt seiner Kindheit zurückkehrt, muss sich allerdings erst zeigen, ob seine Fabulierkunst auch der Nachkriegsrealität Bosniens standhält. (Klappentext)

Shida Bazyar, Nachts ist es leise in Teheran, Roman, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 2016

1979. Behsad, ein junger kommunistischer Revolutionär, kämpft nach der Vertreibung des Schahs mit seinen Freunden für eine neue Ordnung. Er erzählt von funkenschlagender Hoffnung, von klandestinen politischen Aktionen, und davon, wie er in der mutigen, literaturbesessenen Nahid die Liebe seines Lebens findet. Zehn Jahre später nimmt uns Nahid mit in die deutsche Provinz, wohin Behsad und sie nach der Machtübernahme der Mullahs mit ihren Kindern flohen. 1999 reist Laleh gemeinsam mit ihrer Mutter in den Iran. Zwischen 'Kafishaps', Schönheitsritualen und Familiengeheimnissen lernt sie ein Teheran kennen, das sich nur schwer mit den Erinnerungen aus der Kindheit deckt. Ihren Bruder Mo beschäftigt ein Jahrzehnt später der Liebeskummer seines Kumpels Tobi mehr als die pseudoengagierten Demos der deutschen Studenten. Doch dann bricht die Grüne Revolution im Iran aus und stellt Mos Welt auf den Kopf. (Klappentext)

Zafer $enocak, Gefiihrliche Verwandtschaft, Roman, München (Babel) 1998

Der Ich-Erzähler Sascha Muchteschem, der im Jahre 1954 als Sohn einer deutsch-jüdischen Mutter und eines großbürgerlichen türkischen Vaters in Deutschland geboren wurde, kehrt nach einem USA-Aufenthalt im Jahre 1992 nach Berlin zurück. Er stellt fest, dass die Stadt sich in seiner Abwesenheit stark verändert hat und dass viele Deutsche jetzt über Herkunft, Geschichte und nationale Identität nachdenken und die Einwanderer der Stadt tendenziell ausgrenzen. Muchteschem, der eigentlich gar nicht an Fragen von Herkunft und kulturelle Identität interessiert ist, wird durch die Umstände gezwungen, sich über seine eigene Abstammung Gedanken zu machen. Nachdem seine Eltern bei einem Autounfall verunglückt sind, erbt er die in osmanischer und kyrillischer Schrift verfassten Aufzeichnungen seines türkischen Großvaters. Dieser hatte eine hohe Stellung in der Regierung der türkischen Republik und war 1936 Delegationsleiter der Türkei bei den Olympischen Spielen in Berlin. Dort hatte er sich das leben genommen, weil er sich, durch einen Brief an seine Schuld erinnert, seiner Verantwortung für die Deportation von Armeniern im Ersten Weltkrieg stellen musste. (M. Hofmann, "Jüdisches und armenisches Gedächtnis im deutsch-türkischen Diskurs: Zafer $enocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft im Kontext", in C. Meyer (Hrsg.), Kosmopolitische 'Germanophonie', Würzburg 2012, S. 302)

Yoko Tawada, Schwager in Bordeaux, Roman, Tübingen (Konkursbuch) 2008

Der Tag einer Ankunft. Einer Reise durch die Kulturen. Und durch Lebensgeschichten der Freundinnen der Reisenden. Gegliedert durch japanische Schriftzeichen, jedes Zeichen ist eine Sekunde der Erinnerung, jede Sekunde der Erinnerung ein kleiner Roman. Yuna reist nach Bordeaux, in das Haus von Maurice, dem Schwager ihrer Hamburger Freundin Renee. Das Haus ist frei, denn Maurice möchte selbst verreisen, und Yuna möchte Französisch lernen. Während dieses Tages tauchen in ihrer Erinnerung nach und nach Freunde, Freundinnen und Bekannte auf, auch ihr Kater, die Geschichte entspinnt sich, hinein in den Ankunftstag von Yuna und in das vielfältige lieben und Leben, auch mal Sterben, ihrer Freunde. Nichts scheint Zufall, oder ist doch alles Zufall? Ideogramme gliedern den Text, jedes Ideogramm eine Sekunde der Erinnerung, ein Roman. Eine Geschichte über das Verhältnis von Sprache und leben, über die manchmal bedrohliche Kraft von Häusern, über die Sehnsucht, das Wasser, das Reisen. Die Schauplätze Bordeaux und Hamburg, beides Hafenstädte, die nicht direkt am Meer liegen, sind Orte verschiedener Formen von Sehnsucht. (Klappentext)

Aus: Sa8a Stani.Sic, Wie der Soldat das Grammofon repariert, Roman, München (Luchterhand) 2006.

mer, die zu einem Tisch mit Leselampe gehörte. Ich sah Stu­denten beim Lernen zu. Am Abend wurde »Ürpheus und Eu­rydike« aufgeführt, ich wollte wissen, was die Unterwelt sein wird, in die der Sohn des Flussgottes steigt, um das schon Verlorene noch einmal zu verlieren, aber ich bekam keine Eintrittskarte, es freute mich, dass Dinge ausverkauft waren. Mich freute alles, was nicht nach Ruine, sondern nach Reich­tum aussah oder nach Sorglosigkeit, obwohl ich mir t'inre­dete, sorglos sein geht doch gar nicht. Ich stieg auf ein Dach. kh hatte das Gefühl, etwas aufgegeben zu haben, sah auf die Stadt und wusste nicht, was es .war. Ich wollte nicht tanzen, ich wollte sehen, wie man hier tanzte. Vor dem Club gab es keine Schlange, ich wartete trotzdem und kaufte mir dann doch bloß die Süddeutsche von gestern in einem Kiosk in der Nähe. Auf dem Bett in meinem Zimmer fand ich einen Zettel von der Vermieterin: Pita ist im Ofen, falls du Hunger hast. Ich hatte Hunger, die Fingerschattenvögel flogen wieder über bosnische Wände, ich schlief drei Stunden.

Am zweiten Tag kochte ich Kaffee für die VermieteTin und fragte sie nach Asija. Ich fragte überall nach Asija und hielt Ausschau nach Asijas hellem Haar. In den Straßenbahnen, an den Endhaltestellen, zwischen den Plattenbauten und den Cafes der Altstadt. Ich las Namensschilder, stieg wieder auf Dächer und suchte die Gegend ab. In jedes Gespräc.h streute ich ihren Namen, versuchte, Beamte und Notare von der Dringlichkeit meiner Suche zu überzeugen, bekam EitF blick in Namenregister, in Flüchtlingsstatistiken, in Ot>f'Elrlli!l" ten. Man sagte mir, ich käme reichlich spät, ich es bei konstruktiven Kommentaren zu belassen. In det')Mi(dt\'<t< sikhochschule blätterte ich heimlich die Mitgliedlerl<.art.t:l d~r>ti>

Die Straße gibt es in Sarajevo nicht, sagte der Taxi-Fahrer, als ich ihm Asijas Adresse nannte, die mir Oma Katarina vor Jahren gegeben hatte, und ließ sich das auf mein Drängen hin von der Zentrale bestätigen. Ich ließ mich in eine Straße fahren, die ähnlich hieß wie die auf meinem Zettel, klingelte an fünf Türen und las mir alle Klingelschilder durch. Der Himmel war bewölkt, ich gelangte an das Ende der Straße und sah mich um. Kinder schrieben mit bunter Kreide ihre Namen auf den Asphalt. Keines von ihnen hatte einen so schönen Namen wie Asija.

Ich kaufte ein Buch über den Genozid in Visegrad. Ich woll­te so lange durch die Stadt streunen, bis mir ein streunender Hund begegnete oder bis michjemand erkannte, der aus ViSe­grad hierher geflohen ist. Ich wollte Wellensittichen beim Schnäbeln in einem Fenster zusehen und fragte verstohlen nach Pflaumenmarmelade zu meinen CevapciCi. Verarsch mich nicht, gab der Kellner zurück, später kam der Regen und anstatt zur Führerscheinstelle zu gehen, betrat ich das kleine Wettcafe mit dem Blick auf die Altstadt.

Mesud, der mit seinem Schnurrbart spielt, mich eindringlich mustert und sagt: Kiko. Kiko von der weichen Drina. Wie du.

leb wollte einen Kaffee trinken und warten, dass der Regen aufhört. Vier Fernseher an der Wand, in allen lief Teletext, ein Billardtisch in der Mitte des Raumes, Aschenbecher auf den Plastiktischen. Männer in Lederjacke oder Trainingsan­zug beugten sich konzentriert über Quotentabellen. Ich be­stellte einen türkischen Kaffee. An einem Tisch vor der brei­l<~n Glasfront lasen zwei ältere Männer Zeitung, einer trug (~ine Trainingsjacke mit der Aufschrift »Rot-Weiß-Essen« und dt'r Nummer 11.

So ein Zufall, sagte ich, ich wohne in Essen. Dk Männer senkten die Zeitungen und sahen sich um. Ich

stand hintt:r in dc~ r Hand. Sie schwiegen. Di<t • .J(~\tl~~~ •• ~4~j~t~· J~:bl1r~d~tt(~t~t,~,~lt''ntlt tkr'fa.sst~ auf d<?n Mann

Inhalt

1979 BEHSAD · · · · · · · · · · · · · · 9

1989 NAHID· · · ·· · · · · · · · · · 6S

1999 LALEH · · · · · · · · · · · · · · I2I

2009 MO · · · · · · · · · · · · · · · ·205

EPILOG TARA· · · · · · · · · · · · · 271

GLOSSAR · · · · · · · · · · · · · · · · · 277

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Aus: Zafer Şenocak, Gefährliche Verwandtschaft, Roman, München (Babel) 1998. Ich hatte Marie in Amerika kennengelernt. Wir waren gemeinsam nach Berlin zurückgekehrt, in der Hoffnung, in dieser Stadt ein endgültiges Zuhause zu finden. Das war zumindest meine Hoffnung gewesen. Ich hatte Westberlin im Februar 1989 verlassen, um Abstand von einer zerrütteten Beziehung zu gewinnen. Hinzu kam, daß mein erstes Buch mit Erzählungen, ,,Veronika – Bericht über eine Liebe in unseren Tag“, kein Erfolg geworden war. [...]

Ein kleines College in Amerika hatte mir eine Stelle als writer in residence angeboten. Dieses Angebot kam genau zur rechten Zeit. Ich konnte davon ausgehen, daß mich dort außer den drei Personen in der deutschen Abteilung niemand kannte. Ich wählte die Abgeschiedenheit in der amerikanischen Prärie, um neue Eindrücke zu gewinnen und um über meine Zukunft nachzudenken. Damals war Berlin eine verletzte, aber friedliche Stadt. Diese Stadt zu verlassen fiel nicht besonders schwer. Viele hier lebten auf Umzugskartons. Ich hatte sowieso nie eine eigene Wohnung in Berlin gehabt, immer nur ein Zimmer. Wenn ich auf Reisen war, hatte ich meistens einen Untermieter. Um den Absprung nicht mehr rückgängig machen zu können, gab ich das Zimmer bei meiner Abreise nach Amerika ganz auf. Es wurde von einem jungen, frisch aus dem Osten ausgereisten Paar angemietet, das Berlin nur als Sprungbrett für eine Existenz in Westdeutschland nutzen wollte.

Ich blieb länger als geplant in Amerika. Wäre Marie nicht in meinem sechs Monate im Jahr verschneiten Leben aufgetaucht, wäre ich vielleicht gar nicht mehr zurückgekehrt. Als wir im Sommer 1992 in Berlin ankamen, hatte sich in der Stadt äußerlich fast nichts verändert. Gut, es gab keine Grenzkontrollen mehr, man konnte frei nach Ostberlin gehen. Aber man war auch nicht dazu gezwungen. [S. 18-19]

1915 ist das Jahr der Leichen. Das Osmanische Reich ist an der Seite

des deutschen Kaiserreiches in den Krieg getreten. [...] Ich bin ein Enkel von Opfern und Tätern. [...] Großvater mit

fünfundzwanzig. Ein Held des Ostens. Er ist der erste, der eine Deportationsliste mit armenischen Namen aufstellt. Fünfhundert Namen sollen auf dieser Liste gestanden haben. [S. 39-40]

Ich verteidigte im Gespräch die Vorteile meines ungebundenen Lebens.

Ich wäre einfach einen Tag länger in Riga geblieben, hätte die Schönheiten der Stadt genossen. Peter widersprach mir heftig. Man brauche den Termindruck und einen ordentlichen Terminkalender, um etwas zu schaffen, meinte er. Um seine Meinung zu unterstreichen, fügte er hinzu: ,,Hättest du die nötige Disziplin, hättest du längst einen anständigen Roman geschrieben. Statt dessen schreibst du immer diese langatmigen Kurztexte. Ein Roman ist ein Gebäude, an dem man beharrlich und systematisch bauen muß. Man kann nicht am Dach arbeiten, wenn die Fundamente nicht stehen.“

Ich hatte an diesem Abend keine Lust, mich mit ihm über seine Baustellentheorie zu streiten. Es war inzwischen dunkel, und ich war müde.

Plötzlich gefiel mir der Gedanke, daß ich meinen ersten Roman nie zu Ende schreiben würde. [S. 45-46]

Ich entschied mich für Berlin und für Marie. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich mich einer Herausforderung stellen. Ich wollte mich mit meiner Herkunft auseinandersetzen. Das hieß, den skeptischen Fragen von Marie nicht auszuweichen, den Blick in die Vergangenheit nicht zu scheuen. Erinnern ist schmerzhaft. Erinnerung ist die einzige Wunde im Menschen, die sich nie ganz schließt. Dabei ist sie nicht tödlich. Im

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Gegenteil, die Schmerzen, die sie verursacht, geben dem Leben schärfere Konturen.

Ich hatte keine Identität. Damit hatten Menschen in meiner Umgebung zunehmend Probleme. Es war, als hätte der Fall der Mauer, der Zusammenbruch der alten Ordnung, nicht nur eine befreiende Funktion gehabt. Ohne Mauer fühlte man sich nicht mehr geborgen. Identität ist zum Ersatzbegriff für Geborgenheit geworden. Man fixiert sich, den anderen, seine Herkunft, um Nähen und Distanzen zu bestimmen. Überall konnte man auf unsichtbare Mauern stoßen, die nach dem Fall der Mauer errichtet worden waren. Die Welt war komplizierter geworden, die Wege labyrinthartiger. Früher hätte man sich sorglos dem Spieltrieb hingegeben, sich auf Irrwegen wohlgefühlt, die Mauer schützte einen vor dem Abgrund. Heute achtete jeder auf seinen Schritt, schon die nächste Begegnung könnte einen aus dem Tritt bringen. Mein Weg würde mich also unweigerlich in die Vergangenheit führen. Ihre Vergegenwärtigung schien mir unvermeidbar.

Plötzlich war ich kein Fremder mehr in Berlin. Ich war hier nicht nur zu Hause. Ich gehörte auch dazu. Ich war einer von vielen Maulwürfen in der Stadt. Wir sorgten dafür, dass der Boden, auf dem die neue Hauptstadt errichtet werden sollte, immer locker und tückisch unfest blieb. Wir liebten den märkischen Sand. [S. 47-48]

Mich hat das Leben der Exilanten immer fasziniert. Ich versuchte es möglichst nicht zu verklären. Ich las viele Autobiographien, um mir einen lebendigen Eindruck von der Zeit und den Gefühlen der Menschen zu verschaffen. [...]

Vielleicht dachte ich dabei auch an die Familie meiner Mutter. Sie waren stille Exilanten gewesen. Mein Opa, ein erfolgreicher Kaufmann aus dem liberalen deutsch-jüdischen Umfeld, verachtete Hitler so sehr, dass er sich sein Leben lang sträubte, sich mit dem ,,Gefreiten“, wie er ihn abschätzig nannte, zu beschäftigen. Mein Opa behauptete, daß ein Zweig

unserer Familie im 16. Jahrhundert von Regensburg aus in die Türkei aufgebrochen war. Es gab Zeugnisse für diesen Aufbruch, aber keine für die Ankunft und eine weitere Existenz in der Türkei. Wahrscheinlich waren sie unterwegs an Feindseligkeiten und Krankheiten eingegangen. Mein Opa war 1916 als Kadett in Konstantinopel gewesen, wie er Istanbul zum Ärger meines Vaters nannte. Er war in der von Liman von Sanders kommandierten Truppe, kam aber nicht an den Dardanellen zum Einsatz. Dort hatten die Türken unter deutschem Oberkommando den Alliierten eine empfindliche Niederlage beigebracht. ,,Ich war in derselben Truppe wie Mustapha Kemal Pascha“, erzählte er stolz. Mein Opa nannte ihn nie Atatürk. Die Tage in der Türkei müssen ihm in Erinnerung geblieben sein. Als Hitler an die Macht kam, war er einer der ersten, der seine Koffer packte. Er machte sich keine Illusionen über die Zukunft. Anfang 1934 siedelte die Familie nach Istanbul über, in ein altes Konak auf den Hügeln von Çamlica. Meine Oma hatte wie in München-Grünwald im Grünen wohnen wollen. Vom Garten aus hatte man eine faszinierende Aussicht auf die große und dennoch idyllische Stadt mit den märchenhaften Minaretten am Horizont. Opa fand eine gute Stellung bei einer Versicherungsgesellschaft.

Die deutsche Exilgemeinde in Istanbul wuchs rasch an. Viele gelehrte Leute kamen in die Stadt. In Ankara rieb man sich die Hände. Die Regierung wollte die zurückgebliebene Türkei in kurzer Zeit modernisieren. Die Türkei sollte ein europäischer Staat werden, abgeschnitten von ihren orientalischen Traditionen. Die Deutschen kamen wie gerufen. [...] Die deutschen Wissenschaftler brachten nicht nur einen aufklärerischen Geist mit, sie krempelten auch in aller Selbstbescheidenheit die Ärmel hoch, um Bücher in die Bibliotheken zu schleppen. Sie kamen aus traditionsreichen Universitäten und wurden Pioniere. Diese Männer prägten das Deutschlandbild in der Türkei viel nachhaltiger als Hitler mit seinen markigen Reden und seiner exzentrischen Persönlichkeit. [S. 53-55]

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Ich kann es nicht lassen. Ich besuche wieder regelmäßig die Staatsbibliothek. [S. 80]

Am Kurfürstendamm angelangt beschleunigte ich meinen Schritt. Auf

dem Gehsteig hatten sich Pfützen gebildet. Ein Wolkenbruch war niedergegangen. Die Luft war trocken und warm. Ich erklärte das kommende Jahr zu einem Wendepunkt in meinem Leben. Ich sehnte mich danach, tiefere Schichten meiner selbst zu finden. Diese Tiefe war nur durch die Entdeckung meiner Herkunft zu erreichen. Ich wollte nicht mehr wurzellos sein, unverantwortlich für alles, was länger als zwanzig Jahre her war. Plötzlich erschien mir Großvater als das Geheimnis, das zwischen mir und meiner Herkunft stand. Ich mußte sein Geheimnis lüften, um zu mir selbst zu kommen. [S. 118]

Es muß etwas Außergewöhnliches geschehen, damit Menschen zusammenrücken. Wenn etwas Außergewöhnliches geschehen ist, sei es eine Katastrophe oder ein historisches Ereignis, haben viele plötzlich das Gefühl, auf dieses Ereignis hin gelebt zu haben. Sie interpretieren das Ereignis als schicksalhaft. Das ist etwas ganz anderes, als das Schicksal anderer nachzulesen. Man ist unmittelbarer Teil eines Projekts, man ist Teilhaber. Man kann nicht unbeteiligt sein. Und was passiert, wenn man ein solches Ereignis verpaßt hat? Man ist ein Fremder. Erst jetzt versteht man, was es heißt ein Fremder zu sein.

Als ich nach Deutschland zurückkam, war Deutschland wiedervereint. Ich konnte mir darunter nichts vorstellen. Selbst die Vokabel ,,Wiedervereinigung“ löste bei mir keine Assoziationen aus. [...] Als ich in Berlin ankam, war alles vorbei, von der Stimmung der Wende nichts mehr übrig. Man sprach darüber wie über ein historisches Ereignis, das bereits in ferner Vergangenheit lag. Die Mauerreste waren eine touristische Attraktion, Mauersteine eine Beute der Souvenirhändler. Ich hatte also das

historische Ereignis verpaßt. Gehörte ich noch hierher? Es half mir nicht weiter, daß es nicht wenigen so erging wie mir. In Berlin sind die Außenseiter immer stark gewesen. Die Elite der Erinnerung, die Eingeweihten, die Schicksalsgemeinschaft ist hier mehr als anderswo daran gewöhnt, daß Außenstehende dazugehören wollen. Man kann dabeistehen, aber niemals das Gefühl loswerden, nicht dabeigewesen zu sein. Als die Bomber kamen, zuerst mit Bomben, dann mit Lebensmitteln, als die Mauer gebaut wurde, als die Mauer fiel, damals. Eigentlich fühle ich mich wohler, wenn ich nicht Teil einer Schicksalsgemeinschaft bin. Ich komme mir verantwortungsloser vor. Wer erwartet schon etwas von einer Person wie mir? Wer kann mir vertrauen? Ich muß mich für nichts entschuldigen. Ich kam später dazu. Ich bin nichts Ganzes. Mir fehlt eine Hälfte, um für ganz genommen zu werden. [S. 120-121]

Bin ich ein Deutscher? Diese Frage hatte mich nie interessiert. Sie

schien kaum jemanden zu interessieren. Die Frage nach der deutschen Identität war eine altmodische Frage, ein mit Klischees und Stereotypen belastetes Thema, eine Art rhetorische Frage, die jeder Vernünftige mit einer Geste, die auf Unwichtiges deutet, zu umgehen weiß. [...]

Etwas hatte sich in Berlin durch die Maueröffnung doch spürbar verändert. Es war, als wäre mit dem Verschwinden der Mauer eine Schutzhaut abgefallen, die einen vor allerlei Unbekanntem geschützt hatte. [...] Berlin war jetzt eine nach allen Seiten offene Stadt. [...] Doch statt sich mit Fragen der Meteorologie, also den neuen, immer kräftiger werdenden Winden zu beschäftigen, beschäftigt man sich in der Stadt mit sich selbst. Zu dieser Beschäftigung, die eine brotlose, aber anscheinend existentielle Kunst ist, gehört die Frage, wer man ist. ,,Sind sie Ausländer?“ wurde ich gefragt, wenn ich meinen Nachnamen buchstabierte. [S. 127-128]

Aus: Yoko Tawada, Schwager in Bordeaux, Roman, Tübingen (Konkursbuch Claudia Gehrke) 2008.

spiel Französisch. Renee hob ihre Augenbrauen. Französisch! Yuna war hungrig, wollte wieder an einer neuen Sprache knabbern. Während der Schulzeit hat­te sie nur dürftige Noten in den Pflichtfächern Englisch und Klassisches Chinesisch bekommen, aber sie hatte nie den gesunden Appetit auf neue Sprachen und Wörter verloren. Sie aß sogar Wörterbücher Seite für Seite auf, um Vokabeln zu lernen. Daher wusste sie, dass einige Verlage knuspriges Papier benutzen, andere faseriges oder mehliges. Beim Erlernen der Sprachen ver­wandelte sich ihr Schreibtisch in einen Esstisch und ihr Bleistift in ein Stäbchen.

~ Ein Sprichwort sagt: Man isst mit zwei Stäbchen, während man nur mit einem Stift schreibt. Des­halb verdient man mit Schreiben genau die Hälfte von dem, was man für das Essen ausgibt. Wie wäre es aber, wenn man mit zwei Stäbchen gleichzeitig schreiben würde? Die linke Hand von links nach rechts, die rechte Hand von rechts nach links, sie kreuzen sich in der Mitte und dann gehen sie auseinander. [l(;j

Möchtest du wirklich Französisch lernen? Wie kornmst du darauf? Renee tat so, als hätte sie noch nie jemanden gesehen, der diese Sprache lernen wollte. Jeder Dialog mit Renee war ein Spiel, ein Lernspiel. Yuna war dran, sie musste

t l

etwas sagen: Ich wollte eigentlich in Dakar Fran­zösisch lernen. Ich kannte früher einen Japano­logen aus Senegal, der in Kyoto lebte. Den gibt es nicht mehr. Daraufhin erzählte Renee von ihrem Schwager Maurice, der in Bordeaux ein Haus habe. Er wol­le die Sommerferien in Vietnam verbringen, sein Haus werde also zwei Monate leer stehen. Soll ich ihn fragen, ob du in seinem Haus wohnen kannst, während er weg ist? Bordeaux ist nicht Dakar, aber auch dort kann man Französisch ler­nen. Renee lächelte gewissenhaft. Yuno lächelte zwar mit, aber nur zögernd. ln dem Moment klin­gelte das Telefon, Renee sprang in ihr Arbeitszim­mer und Yuna verpasste die Chance zu erzählen, warum sie om liebsten in Westafrika Französisch lernen wollte.

~* Renee kam noch einer Weile ins Wohnzimmer zurück und sagte, dass Jakob, ein Student von ihr, sie gerade angerufen habe, um zu fragen, ob er zu ihr kommen dürfe, und zwar jetzt sofort. Er habe sich vorletzte Woche Mosern geholt und erst heute seine Hausarbeit fertig geschrieben. Das Thema der Arbeit sei Racine. Yuna stand auf vom Sofa auf und sagte: Wir müssen uns nicht schon wieder über dieses The­ma streiten, also, wenn er kommen will, gehe ich sofort nach Hause! Renee drückte sie zurück ins Sofa . Keine Sorge, natürlich darf er nicht

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IY,~i

Beide Frauen saßen auf der Terrasse eines Kaf­feehauses. Es ist mein Traum, Schouspielerin zu werden, sagte Yuno zu Renee und dachte, ein Albtraum ist auch ein Traum, vielleicht der Traum oller Träume. Renee fragte verwundert : Das heißt, Sie sind noch keine Schauspielerin? Yuno wurde rot, hustete und öffnete ihren Rucksack, obwohl sie nichts herausholen wollte. Wenn Yuno domals schon gewusst hätte, dass Renee oft log, hätte sie kein schlechtes Gewissen hoben müssen. Renee log nie ausdrücklich, ober sie verschwieg oft den Bauch einer Sache und betonte dafür den Gürtel. Sie sagte zum Beispiel, dass ihr Vater ein Künst­lertyp war, verriet ober nie, was er in Wirklichkeit beruflich gemocht hatte. Sie erzählte, wie lieb er manchmal zu ihr gewesen sei, erzählte ober nie, wie er andere Menschen behandelt hatte.

!l ] Yuna und Renee verließen das Kaffeehaus Seite an Seite. Ein junger Mann stand im Vorgarten und rührte in einem Holzkosten eine graue dickflüssige Masse um. Yuno dachte, er mische Beton, aber wer weiß, was es in Wirklichkeit war. Seine dicken, behaarten Finger wirkten grob, die Bewegung seiner Holzgabel war hingegen zart und einfühlsam. Sie erinnerte Yuna an die Fin­gerspitzen von lngrid, wenn sie die Poste für die Gesichtsmaske auf ihren Wangen verteilte. Als sich der Mann den Schweiß von der Stirn

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wischte, redete Renee ihn an. Für Sie würde ich

sofort die Sonne abbestellen. Er sah sie über­rascht an, hatte scheinbar gor nicht damit ge­rechnet, angesprochen zu werden. Seine Antwort war kurz, bestand aus keinem deutlichen Wort. Yuna hätte sie als Luftausstoßen mit kleinen Rei­bungen im Hals bezeichnet. Renee fing unvermit­telt an, von Racine zu erzählen. Der junge Mann geriet in Verlegenheit, hörte ihr aber aufmerksam

zu und sagte, eigentlich lese er gerne Bücher, er habe schon Balzoc gelesen, und auch Rocine würde er lesen, wenn er Zeit hätte, nein eigent­lich fehle ihm nicht die Zeit, sondern die Kraft, denn er sei müde, wenn er abends noch Hause komme. Er trinke kein Bier, er trinke überhaupt nichts, seine Kumpel verstünden ihn nicht, ober es sei immer schon so gewesen, dass er nicht trinke. - Wie heißen Sie? - Jakob. - Wie bitte? Sie heißen auch Jakob?

Renee erzählte weiter von Racine mit densel­ben Formulierungen, die sie vorhin im Vortrog gebraucht hatte. Ihre süß gewordene Stimme wurde langsam zu süß und daher fast herb wie Woldhonig. Die Hände des jungen Mannes kehrten zurück zu seiner Arbeit, aber Renee hörte nicht auf zu reden. Ihre Stimme wurde kratzig, fiebrig, aufdringlich. Der junge Mann schaute hoch ins Leere, a ls suchte er dort noch Rettung. Die stolzen Seitenflügel seiner Nase bewegten sich immer deutlicher auf und ab. Wenn Renee

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rechtzeitig aufgehört hätte, hätte Yuna diesen kleinen Dialog mit einem Mann aus einer an­deren Berufsgruppe zu schätzen gewusst, ober Renee ging zu weit und schien noch viel weiter gehen zu wollen. Irgendwann würde der junge Mann die Geduld verlieren und platzen. Ich gehe jetzt, kündigte Yuno an, ruhig ober deutlich, und ging totsächlich los. ~ Es hätte sein können, dass sich die beiden Frauen nie wieder gesehen hätten. Aber in dem Moment wandte sich Rem3e von dem jungen Mann ob und entschied sich, der jungen Frau zu folgen. Yuna drehte sich nicht um, wartete nicht auf Renee, wusste ober, dass sie mitkam. Warum denn auf einmal so schnell, klagte Renee keuchend. -Ich wollte da weg.- Warum wolltest du weg? Yuna blieb stehen, starrte wütend auf Renees Gesicht und fragte: Warum reizt du den unschul­digen jungen Mann? Die Romanistin schoss un­erwartet scharf zurück: Unschuldig? Kein Mensch ist unschuldig! f:f Es war nicht das einzige Mol, dass Renee einen fremden jungen Mann belästigte. Das Spiel ge­hörte zu Renees Alltag, wie Yuno noch und nach feststellte. Einmol kam ein junger Handwerker ins Haus, um das Wasserrohr unter dem Wasch­becken zu reparieren. Renee sprach ihn zuerst freundlich an, ober dann bohrte sie immer tiefer

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in sein Nervennetz, blickte tief in seine Augen, und ihr Blick ließ ihn nicht los. Wenn ein Raubtier einem anderen Tier in die Augen blickt, bedeu­tet es Kampf. Er sagte nichts mehr, packte sein Werkzeug zusammen und verließ das Haus, um Renee nicht ins Gesicht schlagen zu müssen. Es war nicht der Handwerker, sondern Yuno, die die Tür wütend zuknallte und Renee anschrie. Wozu machst du das? Wolltest du ihm deine Macht zei­gen?- Macht? Du denkst zu viel.- Worum sollte ich nicht? Wenn ich dich so sehe, fällt mir das Wort Kolonialistin ein. JE Und du erinnerst mich an eine Nonne! Renee spuckte jedes der sieben Wörter getrennt aus. Yuno verbeugte sich tief, nicht etwa, um ihren Re­spekt vor Renees Einsicht zu zeigen, sondern um das kaputte Wasserrohr unter dem Waschbecken zu untersuchen. Der Raum unter dem Becken war so eng, dass sie schief auf den kalten Fliesen sitzen und wie eine ängstliche Schildkröte ihren Kopf einziehen musste. Aber ihr war diese Haltung lieber als mit Renee in gleicher Augenhöhe stehen zu müs­sen. Yuno war verwirrt, wollte allein in Ruhe dar­über nachdenken, für was Renee die Nonne als Metapher gebraucht hatte. Yuna wusste nicht viel über den Beruf der Nonnen. Die einzige Non­ne, die sie bis dahin kannte, war Hildegard von Bingen.

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Hß Wasser tropfte aus dem auberginenförmigen Teil des Rohrs hinab. Dem metallenen Ring, der das obere Rohr mit dem unteren zusammenhielt, fehlte eine Schraube. Der Ring war leicht defor­miert. Yuna reparierte gerne kleine Geräte und Spielzeug, wusste aber, dass Renee weder einen Schraubenzieher noch eine Zange besaß. Der Ring ist kaputt. Ich könnte ihn wieder heil machen, aber du hast kein richtiges Werkzeug im Hause. Worum hast du den Klempner noch Hause geschickt? Als Yuna das Wort Klempner artikulierte, wurde ihr Mitleid mit dem jungen Mann noch größer als vorher. Yuna hatte eine Vorliebe für dieses Wort. Die Kraft einer Hand, die eine Metallstan­ge biegt, war im Klang des Wortes enthalten. Auch der Widerstand der Metallstange, die nicht gebogen werden wollte, war aus dem Wort her­auszuhören. Yuna wollte noch einmal das Wort genießen und nur zu dem Zweck machte sie Re­nee den Vorwurf: Der Klempner war unschuldig. Der arme Klempner!

~~ Du schon wieder mit deiner Unschuld! Wie kannst

du so prüde sein? Das dünne Metallstück, aus dem der Ring ge­macht war, ließ sich leicht biegen. Yuna wurde in Renees Händen gefangen und gebogen, war aber stark genug, um immer wieder kräftig

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einen Wort, egal ob man im Weihrauch oder im Zigarettenrauch steht, man sagt lieben. Ni Maurice eilte die Treppen hinunter. Wait a minu­te, rief Yuna, aber er hörte es nicht, torkelte in Richtung Ausgang. Yuna griff nach einem Satz und warf diesen gegen seinen Rücken: Attendez un momentl Es war ein Satz, den sie von einem Sprachlehrbuch auswendig gelernt hatte, also bloß eine Kette von Konsonanten und Vokalen, die mit ihrem Empfinden gar nichts zu tun hatte. Aber Maurice hielt sofort an, drehte sich scharf um. !ff Maurice wartete auf Yunas weitere Worte. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn angehalten hatte, denn sie hatte ihm nichts zu sagen. Viel­leicht war sie es nicht, die ihn angehalten hatte. Maurice zuckte mit den Schultern, sagte salut. Sein Rücken sah breiter aus als vorher. f$ Yuna schleppte sich mit gesenktem Kopf die Treppen hoch, ging in das leere Bürozimmer, das leicht nach fremder Seife roch. Ein großer Bildband log auf dem Schreibtisch. ln einer nebligen Landschaft, die das Schwarzweiß­foto zeigte, konnte man die Konturen der Kröne und der Frachtschiffe erkennen. Neben dem Foto stand eine Liste der Nomen: Evert, Peterson, Willens. Yunas Blick folgte d~m Namen und fand

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auf einmal Renees Nachnamen. Sie blätterte weiter. Der Text war in drei Sprachen gedruckt. Zwischen 1700 und 1759 kamen mindestens siebzig Menschen von Harnburg noch Bordeaux. Bis 1 799 kamen weitere hundertzehn Menschen. Yuno hatte immer gedacht, dass Renees Fami­lienname von ihrem verstorbenen deutschen Ehemann stammen würde. Es war aber nicht mehr zwingend. Sie blätterte weiter die schweren Buchseiten durch. 1716 wurde die Höhe des Ein­fuhrzolls schriftlich festgelegt und somit wurden im Hafen Bordeaux die drei Hansestädte mit den Holländern gleichgestellt und gewonnen einen Vorsprung gegenüber England und Preußen. Yuno entdeckte auf der inneren Titelseite die Widmung: Für Renee von deinem dummen Popo zum zwölften Geburtstag. fiij Yuno blätterte noch einmal in dem Buch. Sie wollte mehr über Renees Vater wissen, obwohl sie wusste, dass er nicht im Buch zu finden war. Sie los hier und da ein paar Zeilen und blätterte wei­ter. Wegen der Rebellion der Sklaven in Saint Do­mingo geriet Bordeaux in eine große Krise. Die wichtigen Kolonialwaren wie zum Beispiel Zucker konnte man nicht mehr von dort beziehen, um sie weiter nach Hornburg zu verkaufen. Kolonial­waren! Renee war überempfindlich gegenüber dem Wort Kolonie. Einmol war Yuno dabei, als Renee im Wohnzimmer das Radio anschaltete.

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Ein junger Wiener Historiker redete mit einer wohlklingenden Baritonstimme. Die Hobsburger hätten eine klügere Strategie entwickelt als die klassischen Kolonialmächte, und noch der Be­endung des Kalten Krieges helfe diese Tradition den Österreichern weiter, ein gutes Verhältnis zu den mitteleuropäischen Ländern aufzubauen. Frankreich hingegen habe Probleme mit ihren ehemaligen Kolo . . . Renee schaltete das Radio mitten im Wort aus. ~ Yuno erschrak, hätte fast geschrien. Ein Mann stand direkt vor ihren Augen, jedoch nicht im Zimmer, wie es zuerst erschienen war, sondern auf dem Dach der Kirche gegenüber. Yuna erin­nerte sich wieder, dass das Doch der Kirche neu gedeckt werden sollte. Die Augen des Mannes blieben regungslos, als er Yuno entdeckte. Er hob einen Dochziegel mit der rechten Hand und streichelte ihn liebevoll mit der linken Hand. üfff Yuna kloppte das Buch vorsichtig zu und stellte es ins Regal. Dann öffnete sie ihren Reisekoffer. Ihre Hände konnten nicht den Nomen des ge­suchten Gegenstandes, ober sie wussten genou, wie er sich anfühlte. Yunos Person war in zwei Arbeitsgruppen aufgeteilt. Eine Gruppe suchte noch dem Badeanzug, die andere dachte über die ausgewanderten Hanseaten nach.

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fand in der Regionalzeitung eine Anzeige, in

der ein Mann namens Yves S. Privatunterricht für Französisch anbot. Die Freundin, ein fana­

tischer Fan von Alain Delon, wählte gleich die Telefonnummer, die dort angegeben war, und verabredete sich mit Yves, der mit einer tiefen

Stimme fließend Japanisch sprach. Sie zog ihr neues Minikleid an und ging zu dem Haus, in

dem Yves lebte. Die Freundin, die in einer engen

Wohnung im Miethaus aufgewachsen war, war beeindruckt von dem traditionellen japanischen Haus, das man vielleicht für die Verfilmung eines

Romans von Tanizaki verwenden könnte. Als ein Mann die Tür aufmachte und die neue Schülerin

begrüßte, brauchte sie noch einige Sekunden, bis sie verstand, dass er Yves war. Sie war über

sein unerwartetes Aussehen so überrascht, dass sie ohne Worte eine Verbeugung machte und

den Weg zur Bushaltestelle zurückging. Es ist nicht das erste Mal, dass mir so etwas passiert! Er rief in einem für diese Situation zu ruhigen, sogar freundlichen Ton hinter ihr her. Yuna war

damals genauso unwissend wie ihre Freundin

wusste nicht, dass diese Sprache als Migrantin i~ afrikanischen Kontinent ihre Wurzel geschlagen hatte. Sie ging in die Stadtbücherei, las dort eini­

ge Geschichtsbücher durch. Yuna entschloss sich bei Yves Französisch zu lernen. Aber es klappt~ nicht. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Yuna stöhnte und ihr Versuch, Französisch zu lernen,

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war zum ersten Mal gescheitert. Jahre später er­

fuhr sie zufällig in einem Film, was Yves passiert war.

~ Der dritte Ort, den Maurice erwähnte, war die Utopie. Yuna kannte sie schon, denn sie kam in

einem Roman, den Yuna kürzlich gelesen hatte, vor. Der ungarische Autor beschrieb die Utopie

in Bordeaux folgendermaßen: Utopia war ein Ki­notheater, das früher eine Kirche gewesen war. ln heißen Tagen saß ich in einem der abgekühlten,

dunklen Räumlichkeiten dieser Utopie und ließ mich von fremden Sprachen verführen. Die fran­

zösische Übersetzung, die wie eine eifersüchtige Schlange am Fuß der Schauspielerinnen dahin­

kroch, störte mich kaum. Die Stimmen sprangen auf und ab, manchmal blieben sie in der Feme

trocken, manchmal waren sie so nah und feucht, dass ich gleich mitheulen konnte. Ich vergaß, ob diese herrlichen Sprachen Koreanisch, Arabisch

oder Persisch hießen. Ich lernte durch diese fremdsprachigen Stimmen eine große Palette

von Gefühlen kennen, von denen ich sonst nicht einmal hätte träumen können. Ich spreche sie­ben europäische Sprachen, aber das reicht bei Weitem nicht aus, um mein eigenes Leben zu

verstehen. Die alten Figuren von Maria und Jesus hingen noch neben der Leinwand. Sie schienen auf die

neuere Religion, die Filmkultur heißt, nicht nei-

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einen Wort, egal ob man im Weihrauch oder im Zigarettenrauch steht, man sagt lieben.

1~ Maurice eilte die Treppen hinunter. Wait a minu­te, rief Yuna, aber er hörte es nicht, torkelte in Richtung Ausgang. Yuna griff nach einem Satz und warf diesen gegen seinen Rücken: Attendez un moment! Es war ein Satz, den sie von einem Sprachlehrbuch auswendig gelernt hatte, also bloß eine Kette von Konsonanten und Vokalen, die mit ihrem Empfinden gar nichts zu tun hatte. Aber Maurice hielt sofort an, drehte sich scharf um. lt~

Maurice wartete auf Yunas weitere Worte. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn angehalten hatte, denn sie hatte ihm nichts zu sagen. Viel­leicht war sie es nicht, die ihn angehalten hatte. Maurice zuckte mit den Schultern, sagte salut. Sein Rücken sah breiter aus als vorher. f-J; Yuna schleppte sich mit gesenktem Kopf die Treppen hoch, ging in das leere Bürozimmer, das leicht nach fremder Seife roch. Ein großer Bildband lag auf dem Schreibtisch. ln einer nebligen Landschaft, die das Schwarzweiß­foto zeigte, konnte man die Konturen der Kräne und der Frachtschiffe erkennen. Neben dem Foto stand eine Liste der Namen: Evert, Peterson,

Willens. Yunas Blick folgte den Namen und fand

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auf einmal Renees Nachnamen. Sie blätterte weiter. Der Text war in drei Sprachen gedruckt.

Zwischen 1700 und 1759 kamen mindestens siebzig Menschen von Harnburg nach Bordeaux. Bis 1799 kamen weitere hundertzehn Menschen. Yuna hatte immer gedacht, dass Renees Fami­lienname von ihrem verstorbenen deutschen Ehemann stammen würde. Es war aber nicht mehr zwingend. Sie blätterte weiter die schweren Buchseiten durch. 1716 wurde die Höhe des Ein­fuhrzolls schriftlich festgelegt und somit wurden im Hafen Bordeaux die drei Hansestädte mit den Holländern gleichgestellt und gewannen einen Vorsprung gegenüber England und Preußen. Yuna entdeckte auf der inneren Titelseite die Widmung: Für Renee von deinem dummen Papa zum zwölften Geburtstag. t[I 11-Yuna blätterte noch einmal in dem Buch. Sie wollte mehr über Renees Vater wissen, obwohl sie wusste, dass er nicht im Buch zu finden war. Sie las hier und da ein paar Zeilen und blätterte wei­ter. Wegen der Rebellion der Sklaven in Saint Do­mingo geriet Bordeaux in eine große Krise. Die wichtigen Kolonialwaren wie zum Beispiel Zucker konnte man nicht mehr von dort beziehen, um sie weiter nach Harnburg zu verkaufen. Kolonial- • waren! Renee war überempfindlich gegenüber dem Wort Kolonie. Einmal war Yuna dabei1 als Renee im Wohnzimmer das Radio anschaltete.

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