medico-rundschreiben 04/2011: universelle solidarität

44
medico international rundschreiben 04|11 www.medico.de

Upload: medico-international

Post on 23-Mar-2016

223 views

Category:

Documents


2 download

DESCRIPTION

Georg Schramm: Banken in die Schranken / Mexiko: Die "verschwundenen Kinder" / Mauretanien: Gesundheitsdienste für Migranten / Syrien: Herbst des Despoten / Nicaragua: Zukunft für La Palmerita / Palästina: Wie der Zement nach Gaza kommt / Chile: Ende der Angst / Ostafrika: Zeit des Aufstandes

TRANSCRIPT

  • medico international

    rundschreiben 04|11www.medico.de

  • rundschreiben 04|11

    ISSN 0949-0876

    Titelseite: Die Kirche der Casa Migrante in La Lecheria, einem Auenbezirk vonMexiko-Stadt. Monica Velasquez kommtaus El Progreso in Honduras. Ihr SohnCarlo wollte im Jahr 2008 zum Arbeiten indie USA gehen. Beim letzten Telefonat warer in San Luis Potos, sdlich von Mexiko-Stadt. Seitdem ist er verschwunden.20.000 Migranten werden pro Jahr vonDrogenkartellen entfhrt. Foto: Reuters

    editorial

    Liebe Leserinnen und Le

    mitten im Endspurt zur Produktion diesesHeftes platzt ein Kollege in mein Bro:Schau dir die Live-bertragung im Inter-net aus New York an. Kein Fuballspiel,sondern die grte Demonstration inNew York seit Jahren! Demonstriert wur-de gegen die Rumung von OccupyWall Street. Als ich das Bro verlasse,ist die Strae voller Polizei. Schler undStudenten demonstrieren fr bessere Bildung. Eine kleine Gruppe, aber dochin dem Wissen, dass sie jederzeit mehrwerden knnen. Der Protest hat sich denffentlichen Raum zurckerobert. Das ist fast schon eine frohe Botschaft zuWeihnachten. Diese Bewegungen gegendie Macht der Banken, fr eine radikaleDemokratie und sozialen Gemeinsinnsind in all ihrer Unterschiedlichkeit globalund entfalten sich im Wissen voneinan-der. Von denen, die Widerspruch einle-gen, berichtet dieses Heft an vielenBeispielen: Homs, Santiago, Frankfurt.

    Wir sind 99 Prozent rufen die Demons-tranten in New York. Dies ist eine groeKraft, eine Form der Selbstvergewisse-rung angesichts der berlegenheit, diedie Macht der Tatsachen besitzt. Einesolche Tatsache ist, dass an vielen Ortender Welt, Menschen nicht mehr men-schenwrdig leben knnen und an hof-fentlich bessere Orte auswandern. Dasssie ihr Leben riskieren, wissen sie. DieAbschottungspolitik der prosperierendenRegionen in Nordamerika und Europanimmt den Tod vieler Migranten bewusstin Kauf. Abschreckungspolitik ist eine

    Inhalt

    Editorial..................................... 2

    Afghanistan................................4

    Georg Schramm bei

    Banken in die Schranken........ 7

    Mexiko....................................... 8

    Mauretanien: Interview mit Pater Jerome........................... 14

    Nicaragua................................ 17

    Projekte Projektionen........... 20

    Israel/Palstina........................ 22

    Chile........................................ 25

    Gesundheit: Interview mit Claudio Schuftan..................... 28

    Haiti..........................................30

    Ostafrika: Interview mit Jamal Mahjoub........................ 34

    medico aktiv ........................... 38

    medico Materialliste ................40

    Service/Impressum ................ 42

  • ser,

    milde Bezeichnungfr diese Form derMenschenverachtung.

    In Lateinamerika istauf diese Weise einPhnomen in die Poli-tik zurckgekehrt, dasman mit dem Ende deDiktaturen endgltigbesiegt glaubte: die desaparecidos, dieVerschwundenen. Ramona Lenz undDieter Mller kommen in ihrer Reportageganz nah an die menschlichen und politi-schen Folgen, die das Verschwindenlas-sen hat. Sie berichten von zentralame-rikanischen Mttern, die in Mexiko nachihren verschwundenen Kindern suchen.Die Kinder wurden, so muss man vermu-ten, zum grten Teil Opfer von Gewalt-verbrechen, begangen von Verbrecher-banden, die allzu hufig mit polizeilichenInstitutionen verquickt sind oder gar ausihnen kommen.

    War zu Zeiten der lateinamerikanischenMilitrdiktaturen das Verschwindenlas-sen ein teuflisches staatliches Repressi-onsinstrument, das zur Einschchterungdes politischen Widerstands eingesetztwurde, so ist das Verschwindenlassenauch heute eine systematische Erschei-nung. Nur richtet es sich nicht gegeneine politische Bewegung, sondern ge-gen die Bewegung der Ausgegrenzten.Heute wie damals werden sie kriminali-

    siert. Die Autoren der Verbrechen sindebenfalls Kriminelle der Staat kannseine Hnde in Unschuld waschen. Diesystematische Straflosigkeit aber und diemilitarisierte Abschottungspolitik machendie staatlichen Apparate von Mexiko bisKanada zu Komplizen und Nutznieerndieser Verbrechen. Man muss sie ihnenanlasten. Wie wichtig ist es deshalb,dass die Mtter der Verschwundenen wie die argentinischen Frauen vomPlaza de Mayo sich wieder organisie-ren, dass sie Verbndete in Mexikohaben, die sie untersttzen bei der Auf-klrung der Einzelschicksale und beidem ffentlichmachen dieser Verbre-chen. Sie heben die Vereinzelung auf,auch das eine Macht, die die Dinge ver-ndern kann. Als Form globaler Solidari-tt hat medico diese Aktion mit IhrenSpendengeldern finanziert. Wir sind unssicher, dass wir ganz in Ihrem Sinnehandelten.

    Herzlichst Ihre

    Monica Velasquez aus Honduras fragt in der Casa Migrante von La Lecheria nach ihrem verschollenenSohn. Die anwesenden Migranten geben den Hinweis, eine dem Fotografierten hnelnde Person unlngstgesehen zu haben. Mit Hilfe der Mesoamerikanischen Migrantenbewegung (MMM) findet sie den jungenMann. Es ist aber nicht ihr Sohn.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • 4eit ber 30 Jahren bestimmenKrieg und Gewalt das Leben in Af-ghanistan. Heute, zehn Jahre nach

    dem Einmarsch von NATO-Truppen, istdie Lage komplizierter denn je. Das Landam Hindukusch steht vor einer ungewis-sen, einer beunruhigenden Zukunft.

    Aus einem Militrschlag gegen Terroristenist ein Krieg geworden, der lngst ber dieGrenzen von Afghanistan hinaus gefhrtwird. Immer mehr Zivilisten fallen ihm

    heute zum Opfer, und immer schwerer flltes, die Hoffnung auf soziale Entwicklungaufrecht zu halten. Das Engagement derInternationalen Schutztruppen (ISAF),an der auch 5.000 Bundeswehrsoldatenbeteiligt sind, ist politisch und militrischgescheitert. Selbst die notorischen Schn-redner unter den deutschen Politikern, diedas unselige Geschehen lange Zeit ver-harmlost haben, suchen nun die Nieder-lage vor Augen nach Auswegen.

    afghanistan

    Kultur der NiederlageDer Westen msste aus seinem Scheitern lernen, um frAfghanistan eine Perspektive zu entwickeln

    Der Afghane im Blick des Westens. Ende einer Stammesversammlungin der Provinz Farah, die von U.S. Marines einberufen wurde.

    SF

    oto

    : O

    ffici

    al U

    .S M

    arin

    e C

    orp

    s

  • 5Zug um Zug sollen bis 2014 die Soldatenabgezogen und die Sicherheitsverantwor-tung an die afghanische Regierung ber-geben werden. Transition lautet dasZauberwort, das unterdessen von Konfe-renz zu Konferenz eilt, aber bei nhererBetrachtung doch nur den alten Zweckop-timismus erkennen lsst. Denn nichtsspricht dafr, dass sich die Lage der Men-schen in Afghanistan nachhaltig verbes-sern knnte. Auf diese dsteren Perspek-tiven Afghanistans haben zuletzt mit CithaMaa und Thomas Ruttig ausgewieseneKenner der afghanischen Verhltnisse ineiner Analyse fr die Stiftung Wissen-schaft und Politik hingewiesen.

    Bereits eine simple Rechenoperationmacht das klar: Um die Verantwortungbergeben zu knnen, plant die NATOeine Aufstockung der afghanischen Si-cherheitskrfte auf sage und schreibe350.000 Mann. Fr den Unterhalt einerTruppe von solcher Strke wrden proJahr ca. 6 Mrd. $ bentigt. Zum Vergleich:das Bruttoinlandsprodukt Afghanistansbetrug zuletzt 14 Mrd. $, die Gesamtein-nahmen der Regierung gerade mal 5 Mrd.$. Schon jetzt steht fest, dass die Rech-nung, die den Afghaninnen und Afghanenin einigen Jahren aufgemacht werdenwird, gewaltig ausfallen drfte. Geradekrzlich haben republikanische Abgeord-nete im US-Kongress gezeigt, wie dasgeht: ernsthaft verlangten sie vom Irakeine rckwirkende Beteiligung an denKosten, die den USA mit der Bombardie-rung des Landes entstanden sind.

    Es sind viele Unwgbarkeiten, die denbergangsprozess zu einer fr die afgha-nische Bevlkerung hochriskanten Ange-legenheit machen. Da in Afghanistan inden zurckliegenden Jahren alles von mi-litrischer Logik dominiert war, konnten

    sich weder ein ziviles Leben entfaltennoch jene gesellschaftlichen Institutionenentstehen, die den Rechten der Men-schen verpflichtet sind. Weder gibt esheute ein funktionierendes Justizwesennoch unabhngige Medien und auchkeine politischen Krfte, die dem Macht-geschacher der Warlords, Regionalfrstenund ehemaligen Mujaheddin-Fhrer wir-kungsvoll entgegentreten knnten. VomAufbau einer unabhngigen Justiz und zi-vilgesellschaftlicher Organisationen warzwar oft die Rede, getan aber wurde dafrviel zu wenig.

    Erstarkte Oligarchie

    Mit Untersttzung der Interventionskrfteist stattdessen wieder die alte Machtoli-garchie erstarkt, die bei aller Zerstritten-heit das Interesse eint, sich gegenseitigdie Pfrnde zuzuspielen. VornehmlichesZiel sind die Profite aus dem, was im Zugeder Invasion an Wirtschaft entstanden ist:aus der Drogenkonomie, der Bau- undImmobilienspekulation, den Geschftenmit der internationalen Hilfe und der Be-satzung selbst. Wenn den Akteuren zurWahrung ihrer Interessen eine Neuord-nung des Machtgefges opportun er-scheint, sind Absprachen selbst unterbisherigen Gegnern mglich. Dabei kannes dann auch zur Beteiligung der Talibanund anderer Aufstndischer kommen. In-formell, indem ihnen die Herrschaft bereinen Groteil der lndlichen Gebieteberlassen bleibt; formell, indem sie Teildes Regierungsapparates werden.

    Fr die Bevlkerung ergibt sich aus bei-den Mglichkeiten nichts Gutes: sie wrdeOpfer bleiben von anhaltender Korruption,Willkr und eines schwelenden Machtkon-fliktes, der jederzeit in einen offenen Br-gerkrieg umschlagen kann. Die anderen

  • 6Szenarien allerdings sind nicht besser im Gegenteil. Gerade weil das Land nunim Eiltempo mit Soldaten und Waffenhochgerstet wird, nimmt die Gefahr derRckkehr in den Brgerkrieg zu. Schonheute zeugen die hohe Desertionsrateund all die Anschlge, die aus Reihen derafghanischen Sicherheitskrfte selbst ver-bt werden, von einem Sicherheitsappa-rat, der fr den Fall, dass die bestehendefragile Machtbalance ins Wanken kom-men sollte, schnell wieder zerfallenknnte. Eine Entwicklung wie im heutigenSomalia ist dann nicht auszuschlieen.

    Die zurckliegenden zehn Jahre waren frdie Menschen in Afghanistan weitgehendverschenkte Jahre. Da zu keiner Zeit diestrukturellen Ursachen des Konfliktes, diesozialen und wirtschaftlichen Nte der Be-vlkerung, die himmelschreiende Armutund all das Unrecht angegangen wurden,verbinden die Leute mit dem Datum 2014,wenn von den 130.000 Soldaten nur nochein paar westliche Militrausbilder unddie Truppen auf den US-Militrbasen ge-blieben sein werden, nicht den Beginn desFriedens, sondern nur die Fortsetzungvon Gewalt und Unterdrckung. Etwa2 Billionen $ wird der Afghanistan-Ein-satz dann verschlungen haben, wovonDeutschland zwischen 26 und 46 Mrd. $beigesteuert haben wird. Zu Recht wirdschon heute die Frage laut, was mit alldem Geld htte geschehen knnen, wennes bei der Entscheidung um das Afghanis-tan-Engagement wirklich um die Frde-rung von sozialer Entwicklung und De-mokratie gegangen wre.

    Schneidiger Kasinoton

    Das Scheitern, das heute in Afghanistanunverkennbar ist, knnte aber wenigstensfr eines gut sein. Dafr nmlich, um aus

    den Fehlern zu lernen. Das freilich wrdeeine Kultur der Niederlage voraussetzenund endlich Schluss machen mit der un-seligen Vorstellung, Konflikte immer undberall mit militrischen Mitteln lsen zuknnen. Die Idee der internationalenSchutzverantwortung (responsibility toprotect) bleibt solange nur Alibi fr die Si-cherung von westlicher Vormacht, wienicht auch die notwendigen Vorausset-zungen dafr geschaffen werden. Ohnedemokratisch legitimierte internationale In-stitutionen, die ber militrisches Handelnzum Schutz universeller Menschenrechtejenseits von hegemonialen Interessenentscheiden knnten, und ohne Aufwer-tung des UN-Wirtschafts- und Sozialrates(ECOSOC), der 1948 mit dem Ziel ge-grndet wurde, durch Frderung von so-zialer und wirtschaftlicher EntwicklungKonflikten vorzubeugen, mit anderen Wor-ten: ohne andere globale Verhltnisse,spielt die Idee der internationalen Schutz-verantwortung in die Hnde derer, die frdas Elend der Welt Verantwortung tragen.

    Zu den vordringlichsten Schlssen, dieheute aus dem Scheitern in Afghanistanzu ziehen sind, zhlen deshalb die Er-kenntnis, wie falsch die Ausrichtung vonPolitik an Sicherheitsstrategien ist, unddass der schneidige Kasinoton, der zuletztselbst in die berlegungen von europi-schen Intellektuellen Einzug gehalten hat,nur in die Irre fhrt. Fr Afghanistan heitdas heute, auf eine langfristige Strategiezu setzen: auf die Frderung von politi-schen Gegenkrften, auf unabhngigeMedien und demokratische Basisorgani-sationen, auf Menschenrechtsaktivisten,Selbsthilfegruppen und Initiativen, die sichum die Opfer von Gewalt und Unterdr-ckung kmmern. Sie alle werden knftignoch mehr Beistand ntig haben.

  • 7ch erlaube mir in bester polemi-scher Absicht zu behaupten, dasses eine dreiste Lge ist, Tag fr Tag

    das Regierungshandeln als alternativloszu verkaufen, weil keine historischenVorbilder fr die gegenwrtige Finanz-krise existieren. Vor 80 Jahren erscht-terte eine sehr gut dokumentierte undanalysierte globale Krise die Industrie-staaten. Die damaligen Lsungsversu-che konnten unterschiedlicher kaumsein. Durch Deutschland ging zum Bei-spiel im Mrz 1933 ein auergewhn-licher Ruck: Hitler hatte die demokrati-schen Grundrechte abgeschafft - ein Ge-setz, das wir alle Ermchtigungsgesetznennen, aber in Wirklichkeit hie es Ge-setz zur Beseitigung von Not und Elendim Deutschen Volk; es war die Antwortder Nationalsozialisten auf die Wirt-schafts- und Finanzkrise. Dafr gab essogar eine Mehrheit im Reichstag! Hitlerversprach dem brgerlichen Lager, dassAmt und Funktion des Reichsprsiden-ten Hindenburg erhalten bleibt, wenn siezustimmten, dass die demokratischenGrundrechte abgeschafft wrden. Frdiesen Judaslohn verkaufte das brger-liche Lager seine Stimme! Alternativlossozusagen - in einer systemischen Krise! Und whrend sich bei uns Hochfinanzund Schwerindustrie einen rechtsradika-len Schlgertrupp leisteten, um der Wirt-schaftskrise entgegenzutreten, ging inden USA ein ganz anderer Ruck durchsLand. Fnf Tage bevor Hitler hier die de-mokratischen Grundrechte auer Kraft

    setzte, tat der amerikanische PrsidentRoosevelt das Gegenteil. Er setzte inden USA, im kapitalistischsten Land derErde, ein 650 Seiten dickes Gesetzes-werk in Kraft, den so genannten NewDeal Act. Das geschah in einem Land,das sich damals ebenfalls in einerschweren Krise befand: Vier Jahre Re-zession, Massenarbeitslosigkeit, Zusam-menbruch des Bildungssystems, Verar-mung der Mittelschicht, das Land ausge-plndert von Superreichen - in etwa sowie heute. Eine Generation spter warAmerika ein blhendes Land, es hatteeine prosperierende Mittelschicht, keineArbeitslosenquote, die den Namen ver-diente, aber einen Mindestlohn, der denNamen verdiente, es gab Universitten,Straen, Schulen, die damals ihresglei-chen suchten. Wie hat Roosevelt das gemacht? Durch eine systematische Verringerung des Abstandes zwischenArm und Reich. Er hat die Einkommens-steuerstze auf 78 %, die Erbschafts-steuer auf 48 % hoch getrieben. Als dasGeld noch nicht reichte, mussten dieReichen zwangsweise ihr Gold demStaat verkaufen und dann fand diesesLand seinen inneren Frieden - ber eineganze Generation!

    Alternativen in der Systemkrise

    Georg Schramm alias Lothar Dombrowski erinnert sich*

    I

    *Georg Schramm ist Mitglied im Kuratorium der stiftung medico international. Wir verffentlichen Auszgeaus seiner Rede auf dem Aktionstag Banken in die Schranken, am 12.11.2011 in Frankfurt am Main.

    Foto

    : C

    hrist

    oph B

    oeck

    hele

    r

  • echera, wenige Kilometer nrdlichvon Mexiko-Stadt, ist ein zentralerVerkehrsknotenpunkt, der von smt-

    lichen Gterzgen passiert wird, die dasLand von der Sd- zur Nordgrenze durch-queren. Auf riesigen Gleisanlagen werdensie dort rangiert und fahren auf drei ver-

    schiedenen Strecken weiter RichtungUSA. Mit den Eisenbahnen kommen diezahlreichen Transitmigranten und -mi-grantinnen aus Zentralamerika nach Le-chera, die jeden Tag im Sden auf diefahrenden Zge aufspringen, um nacheiner wochenlangen beschwerlichen Rei-

    8

    Frauen hngen die Bilder ihrer verschollenen Tchter und Shne auf. Protestaktiondes medico-Partners Karawane der Migranten in Saltillo (Mexiko), November 2011.

    L

    migration/mexiko

    Die verschwundenen KinderMtter aus Zentralamerika suchen ih re Angehrigen und werden damexikanischen Zivilgesellschaft untersttzt. Eine Reportage von Dieter Mller

  • 9se die 3.000 Kilome-ter entfernte US-Grenze zu erreichen.Lngst nicht allekommen ans Ziel.

    Ganz in der Nhe derGleise befindet sichdie Herberge SanJuan Diego. Hierherrscht ein regesKommen und Ge-hen. Migranten aufdem Weg nach Nor-den tragen sich beiden freiwilligen Hel-fern am Eingang ineine Liste ein, umsich fr einige Stun-den ausruhen, W-sche waschen undmit ihren Angehri-gen telefonieren zuknnen. Andere sam-meln sich schon wie-der vor dem Ge-bude, um ihren Wegfortzusetzen. Es istschwieriger gewor-den, von Lecheraaus auf einen Gter-zug zu gelangen, seitdie Bahnstrecke voreinigen Jahren priva-tisiert wurde und ent-lang der Gleise hoheZune mit Stachel-draht errichtet wur-

    den. Die Migranten mssen nun weitereWege in Kauf nehmen und sind strkerauf Leute angewiesen, die ihnen den Wegzur nchsten Aufsteigegelegenheit zei-gen. Die Gefahr, zum Opfer von Men-schenhandel oder anderer Verbrechen zuwerden, stieg dadurch an.

    Kommen und Gehen

    Einige der Migranten und Migrantinnen,die wir an einem Sonntag im August inLechera antreffen, sind verwundet. Trau-rige und misstrauische Blicke lassen dieseelischen Verletzungen erahnen. EinFnfzehnjhriger aus Honduras ist ver-zweifelt. Ihm fehlt die Kraft weiterzugehen,aber zurck kann er auch nicht. Ich habekeine Eltern mehr, auch keine Brder undSchwestern, sagt er. Ich bin ganz allein.Und hier in Mexiko kann ich niemandemvertrauen.

    Es sind vorwiegend junge Mnner, die wirin der Herberge antreffen. Aber auchFrauen und Paare sind unterwegs. In demSchlafsaal, in dem rund dreiig Mnnerund Frauen auf engstem Raum in Stock-betten untergebracht sind, bernachtetgleich vorne am Eingang ein Paar ausHonduras, das sich von seinen drei er-wachsenen Kindern und den Enkeln ver-abschiedet hat, um im Norden Mexikosoder in den USA Arbeit zu finden. Siehaben sich ein bisschen angefreundet miteinem ganz jungen Paar aus Nicaragua,das das Doppelstockbett neben ihnen be-legt. Die junge Frau ist im fnften Monatschwanger. Auch sie rennt den Gterz-gen hinterher. Vielleicht schafft sie es bisin die USA, bevor ihr Kind zur Weltkommt.

    Hoffnung und Verzweiflung liegen in die-sem Raum dicht beieinander. Am ande-ren Ende des Schlafsaals sitzen dieVersehrten beisammen. Junge Mnnermit zerschundenen Fen und Wundenvon sten, die ihnen auf dem Zugdachdas Gesicht zerschnitten haben. Amschlimmsten dran ist ein junger Mann,dem die Beine amputiert werden mussten.Er war vom Zug gefallen und unter die

    bei von der

    Ramona Lenz und

    Fo

    to: R

    eu

    ters

  • Rder gekommen was immer wiederpassiert. Die Mnner starren auf denFernseher in der Ecke, der eine US-ame-rikanische Seifenoper zeigt. Eine Augen-rztin, die am Wochenende aus der Stadtkommt, um unentgeltlich bei der medizini-schen Versorgung verletzter und krankerMigranten zu helfen, und eine Kranken-schwester kmmern sich um sie.

    Entfhrt und erpresst

    Als sei die illegale Reise durch Mexikonicht auch so schon hart genug, habenEntfhrungen und Ermordungen von Mig-ranten und Migrantinnen in den letztenJahren stark zugenommen. Lngst han-deln die brutalen mexikanischen Kartellenicht mehr nur mit Drogen und Waffen,sondern auch mit Menschen. Sie berei-chern sich an der Not der rmsten, nichtnur indem sie den Migranten betrchtlicheSummen abnehmen, um sie passieren zulassen oder um sie auf vermeintlich si-chere Migrationsrouten zu fhren. Seit ei-nigen Jahren entfhren sie die Menschenaus Zentralamerika auch und bringen siein sogenannte casas de seguridad. MitSicherheit haben diese Huser jedochnichts zu tun. Entfhrte werden hier zuHunderten festgehalten, bis die Familien

    in ihrem Herkunftsland oder in den USAdie geforderten Lsegelder bezahlt haben.Knnen die Familien nicht zahlen, werdensie ermordet oder in den Dienst der me-xikanischen Mafias gezwungen. 20.000Menschen werden nach Schtzungen derstaatlichen mexikanischen Menschen-rechtskommission CNDH jedes Jahr ent-fhrt, sechs von zehn Frauen auf ihremWeg durch Mexiko vergewaltigt.

    Auch wenn diese Verbrechen schon seitJahren geschehen, hat erst das Massakeran 72 berwiegend zentralamerikani-schen Migranten und Migrantinnen, dasim August 2010 in San Fernando im Bun-desstaat Tamaulipas geschah, ffentlicheAufmerksamkeit fr das Problem erregt.Polizei und Justiz ignorieren die Vergehenin der Regel oder sind selbst in das orga-nisierte Verbrechen involviert.

    Auf der Suche

    Wenn der Kontakt abbricht, wissen die Fa-milien in den zentralamerikanischen Her-kunftslndern oft nicht, wo ihre Angehri-gen geblieben sind. Seit einigen Jahrenorganisiert die von Mexiko aus agierendemedico-Partnerorganisation MovimientoMigrante Mesoamericano daher Karawa-

    nen von Angehrigen,die ihre verschwunde-nen Familienmitgliederin Mexiko suchen. me-dico untersttzte die 7.Karawane, die vom27.10. bis 10.11.2011stattfand. 33 Mtteraus Honduras, Nicara-gua und El Salvadorreisten auf der Suchenach ihren verschwun-

    10

    Alltag des Wartens in derCasa Migrante, San JuanDiego.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • denen Tchtern undShnen, die sich inRichtung USA auf-gemacht hatten undvon denen sie teil-weise seit Jahrenkein Lebenszeichenmehr bekommen ha-ben, durch Mexiko.

    Dilma aus Hondurasist eine der Mtteraus der Karawane.Ihre Tochter Olgahatte Honduras vor zwei Jahren, im Okto-ber 2009, verlassen. Sie glaubte an denamerikanischen Traum. Ihre fnf Kinderlie sie in der Obhut der Gromutter. Dasletzte Mal hrte Dilma im Januar 2010 vonihrer Tochter. Olga rief aus Tapachula imSden Mexikos an, wo sie Arbeit in einerFabrik gefunden hatte und erstmal bleibenwollte. Seither hat Dilma nichts mehr vonihr gehrt.

    Auch die Spur von Marias Tochter verliertsich in Tapachula. Maria hatte sich vorzwei Jahren schon einmal eigenstndigauf den Weg von Nicaragua nach Mexikogemacht, um ihre Tochter zu suchen. Siehatte einen Hinweis erhalten, dass sie ineinem Bordell in Tapachula festgehaltenund zur Prostitution gezwungen wrde.Obwohl sie bei ihrer Suche bedroht wur-de, gelang es Maria einmal, in einen Kellervorzudringen, in dem Frauen eingesperrtwaren. Es war grauenhaft, erinnert siesich. Ihre Tochter war nicht dabei. Sie hatsie bis heute nicht gefunden.

    Der Gewalt ein Ende

    Auf allen Stationen ihrer Karawane legen

    die Mtter Bilder von verschwundenenMigranten und Migrantinnen an ffentli-chen Orten aus und hoffen, dass jemandihre Angehrigen erkennt und Hinweise zuihrem Verbleib geben kann. Sie besuchenLeichenschauhuser, um Fotos von Un-bekannten anzuschauen, die in Sammel-grbern bestattet wurden, und gehen inGefngnisse, in denen Migranten ohnejeglichen Auenkontakt festgehalten wer-den. Das Movimiento Migrante Mesoame-ricano fordert seit langem den Zugang zuden Datenbanken von Gerichtsmedizin,Friedhfen, Polizei, Migrationsbehrde,Jusitz, Strafvollzugsanstalten und Kran-kenhusern, um die Suche zu erleichtern.Statt permanent in dem zermrbendenWarten auf Nachricht zu verharren, bege-ben die Teilnehmerinnen der Karawanesich aktiv auf die Suche nach ihren Kin-dern. Das Movimiento Migrante Meso-americano ermglicht ihnen eine legaleEinreise nach Mexiko und untersttzt dieFrauen bei der schwierigen Suche. Einigeerhalten tatschlich Hinweise auf den Ver-bleib ihrer Angehrigen. ber die Unter-sttzung der Einzelnen hinaus gelang esdem Movimiento Migrante Mesoameri-cano gleichzeitig, mit der Karawane in Me-

    Ein junges Paar aus Nicara-gua. Im fnften Monat schwan-

    ger, hofft die junge Frau nochimmer, ihr Kind in den USA zur

    Welt zu bringen.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • 12

    xiko und international die ffentlichkeit aufdas Ausma der Gewalt, der Migrantenund Migrantinnen auf dem Weg in dieUSA ausgesetzt sind, aufmerksam zu ma-chen. Damit die Menschenrechtsverlet-

    zungen in Mexiko endlich geahndet wer-den und die Menschen in der Migrationihnen nicht lnger vollkommen schutzlosausgeliefert sind.

    Marta Snchez ist Koordinatorin

    unserer Partnerorganisation Movi-

    miento Migrante Mesoamericano,

    die seit 2006 Karawanen von Men-

    schen aus Zentralamerika organi-

    siert, die in Mexiko nach ihren in

    der Migration verschwundenen An-

    gehrigen suchen.

    eit dem Jahr 2000 kommen im-mer wieder kleine Gruppen vonMttern aus Mittelamerika nach

    Mexiko, um nach ihren verschwundenenTchtern und Shnen zu suchen. Sie

    fanden in Mexiko kein Gehr. Deshalbuntersttzen wir die Angehrigen vonMexiko aus seit 2006 mit organisiertenKarawanen. An erster Stelle geht es umden Wunsch der Mtter, ihre geliebtenKinder zu finden. Aber ihnen und unsgeht es auch darum, dass der GewaltEinhalt geboten wird. Die Straffreiheitmuss bekmpft werden. Wenn niemandzur Rechenschaft gezogen wird, werdensie oder andere Mtter immer weiternach Angehrigen suchen mssen.

    Wir haben nicht nur eine humanitre,sondern auch eine politische Mission.Wir protestieren gegen unsere Regie-rung und die Regierungen aller Lnder.Nicht nur wegen der bergriffe gegenMigranten und Migrantinnen im Transit,sondern auch weil es berhaupt zu er-zwungener Migration kommt. Was pas-siert in unseren Lndern, einschlielichMexikos, dass Menschen ihre Lebens-welten verlassen und sich unter extremprekren Bedingungen auf diesen unge-wissen Weg machen mssen?

    migration/mexiko

    Was tun unsere Regierungen?Menschenrechtsverletzungen gegen Migranten knnen nurgestoppt werden, wenn die Kriminalisierung der Migrationbeendet wird. Von Marta Snchez

    SMarta Snchez (links) auf einer Pressekonferenz.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • Projektstichwort

    Gesundheitliche Menschenrechtsarbeit ist heute unweigerlich mit Kriminalisierung und derAusbeutung der Migration konfrontiert. In Zentralamerika sind die Rckberweisung ein Wirt-schaftsfaktor und die Gewalterfahrungen der Menschen auf dem Weg nach Norden ein dste-rer Schatten ber dem Leben ganzer Familien. medico hat deshalb die Projektarbeit in diesenBereich begonnen auszuweiten. Das oben beschriebene Movimiento Migrante Mesoameri-cano, das den vielfltigen Verbrechen zivilen Widerstand entgegensetzt, untersttzt medicogenauso wie die Gesundheitsarbeit in der casa del migrante La 72 in Tenosique. Spendenwerden erbeten unter dem Stichwort: Migration.

    13

    Vor wenigen Tagen haben wir in SanFernando eine Gedenkveranstaltung ab-gehalten. Genau dort, wo vor ber einemJahr 72 Migranten und Migrantinnen aufgrauenhafte Weise umgebracht wurden.Mexiko ist heute sicher eines der gewalt-ttigsten Lnder der Welt aber berallauf der Welt mssen Mtter nach ihrenverschwundenen Kindern suchen. Dennweltweit werden die Schrauben gegendie Migration enger gezogen. berallnimmt die Tendenz der Kriminalisierungvon Migranten und Migrantinnen zu. Unddas drngt sie auf Routen, die sie der or-ganisierten Gewalt ausliefern. Die Ver-schrfung der Migrationsgesetze und diezunehmende Abschottung der Grenzen

    zwingen sie, Profis in Anspruch zunehmen. Profis der organisiertenKriminalitt, die die Routen des Dro-genhandels, des Menschenhandelsund der Klandestinitt kontrollieren.

    berall in Mexiko haben wir Men-schen getroffen, deren Familienange-hrige unabhngig von Migrations-bewegungen Opfer brutaler Gewaltgeworden sind. Wir frhstckten ineiner kirchlichen Tagungssttte. DieKchin begann zu weinen und um-armte uns, weil ihr Sohn vor zwei Mo-naten ermordet wurde. Auf den Plt-zen, wo wir unsere Aktionen durch-fhrten, trafen wir trauernde Mtter,

    die ebenfalls nach ihren Tchtern undShnen suchen. Wir begegneten Men-schen aus Mexiko, die sich nun ebenfallsorganisieren, um ihre verschwundenenAngehrigen zu suchen. Allerortentaucht das Problem auf. Wir fragen uns:Was denken sich die Verantwortlichen?Wie lange kann ein Land ein Problemdieser Grenordnung aushalten?

    Wir knnen nur eines tun: Die Missstn-de ffentlich machen und zur Anklagebringen; Aktionsformen finden, die dasSystem zwingen anzuerkennen, was ge-schieht, und wenigstens in Teilen etwaszu verndern. So knnen sie nicht weitermachen, sie mssen etwas verndern.

    Stilles Gedenken fr die Verschwundenen: Tausende Migranten werden jhrlich vonDrogenkartellen verschleppt.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • 14

    Pater Jerome im mauretanischen Nouadhibou: Jeden Tage se

    Wie ist die Situation der Migranten inNouadhibou? Mauretanien ist ein zu99 % muslimisches Land?

    Das Leben der Migranten hier ist auer-gewhnlich. Wenn ich von Migrantenspreche, dann meine ich subsaharischeAfrikaner. Sie sind angreifbar, weil sieschwarz, weil sie Afrikaner und weil sieMigranten sind und, wenn auch nichtalle, den christlichen Glauben praktizie-ren. Wir hren jenen zu, die hierher kom-men und versuchen ihnen auch spirituellbeizustehen.

    Die Stadt war schon immer ein Ort derArbeitsmigranten und nicht allein einTransitraum auf dem Weg auf die Ka-narischen Inseln und nach Europa

    Nouadhibou war immer ein Ort vielerWnsche. Menschen kamen um zu ar-beiten, um ein besseres Leben zu fin-den, manche nahmen ein Boot nachEuropa. Aber lngst ist die Stadt eineSackgasse, die die Migranten nicht mehrverlassen knnen. Europa will dieseMenschen nicht und nur die allerwenigs-ten knnen zurck. So stehen sie aufeinem Grat zwischen zwei Abgrnden.Ohne jemanden, der ihnen zuhrt, ver-lieren diese Unglcklichen jedes gesell-schaftliche Zugehrigkeitsgefhl. Wirversuchen, ihnen auch praktisch zu hel-

    fen. An erster Stelle steht die Gesund-heitsversorgung. Der mittellose Migrant,der niemanden kennt, ist Krankheitenschutzlos ausgeliefert. Deshalb bietenwir eine Basisgesundheitsversorgung an,leisten Erste Hilfe und haben einige Me-dikamente vorrtig. All dies geschieht soweit als mglich kostenlos.

    migration/mauretanien

    Sackgasse der VerzweiflungEuropas langer Arm bringt hier den Tod Ein Interview mit Pate Migranten betreut

  • 13

    he ich Migranten sterben.

    Europas, und Frontex bt einen solchenDruck aus, dass es fr Afrikaner inzwi-schen sogar schwierig ist in afrikanisch-en Lndern zu leben. Heute verfolgendich in einer Stadt wie Nouadhibou, vonder du denkst, dass du da zumindestberleben kannst, de facto europischeGesetze egal ob du bleiben oder einBoot nach Europa nehmen willst. Frher

    r Jerome, der in Mauretanien

    Seitdem die europische Grenz-schutzagentur Frontex in Nouadhibouprsent ist, wird es fr schwarze Men-schen fast unmglich, sich am Strandaufzuhalten, weil sofort eine illegaleberfahrt nach Europa vermutet wer-den kann

    Nouadhibou ist mittlerweile ein Vorhof

    Endstation Transit

    Die mauretanische Hafenstadt Nouad-hibou war schon immer ein Ziel- undSehnsuchtsort afrikanischer Migranten.Hier ist das Tor zu den Kanarischen In-seln, und hier begann der Sprung berdas Meer in ein erhofftes besseresLeben. Nouadhibou, mit Fischerei- undErzhafen das Wirtschaftszentrum desLandes, hat heute ca. 160.000 Einwoh-ner, davon geschtzte 10.000 - 40.000Migranten, von denen ca. 70% letztend-lich nach Europa oder Nordamerikaweiterreisen wollen. Die meisten vonihnen kommen aus West- und Zentral-afrika, unter ihnen immer mehr Frauenund Familien.

    War die Stadt frher ein Ort des Tran-sits nach Europa, ist sie heute eineSackgasse der Verzweiflung. Das euro-pische Grenzregime presst hier Tau-sende in eine feindliche Umgebung, inder sie gezwungen sind zu verweilen,die zum Sterben zu viel, aber zum Le-ben umso weniger bietet. Seit 2003 lei-tet der nigerianische Pater Jerome dieber 60 Jahre alte Mission, deren Ge-meinde nur aus Migranten besteht. Teilder Seelsorge des neuen medico-Part-ners ist nicht nur eine Rechtsberatung,sondern auch Gesundheitsversorgung,die sich als lebensrettend erweist.

    Fo

    to: R

    eu

    ters

  • 16war die Arbeit der Migranten erwnscht,ob nun im Fischereihafen oder bei derErzverladung; heute sollen sie mglichstunsichtbar bleiben. Selbst ich wurdedreimal eingesperrt, schikaniert und ge-treten, weil ich schwarz bin, nicht vonhier komme und die Polizisten meineIdentitt nicht kannten.

    Die Leute sind um die 20 Jahre alt,wenn sie hier ankommen, dann be-ginnt das Warten und fast alle verlie-ren ihre Zukunft. Wie gehen Sie alsPriester damit um?

    Tatschlich wurde mein Glaube erstmalsin Nouadhibou wirklich geprft. Zu An-fang wollte ich nur fort, weil ich diesehoffnungslose Welt nicht aushalten konn-te. Jeden Tag sah ich die Menschen ster-ben und es laugte mich unendlich aus,sie zu begraben, anstatt ihnen zu helfen.Dann entschied ich mich, gegen diesesSterben zu kmpfen. Ich begann, in mei-nen Gottesdiensten ber die Problemeder Migration zu sprechen. Ich versucheMut zu machen, benenne aber auch dieVerantwortlichen und besuche dafr Se-minare und Tagungen, auch in Europa.Die Not resultiert aus wirtschaftlichen In-teressen. Europa interessiert sich fr Ab-satzmrkte und die mauretanische Re-gierung verkauft das Schicksal von Men-schen, die noch nicht mal ihreStaatsbrger sind, in lukrativenVertrgen an Europa. Europaslanger Arm bringt hier den Tod.

    Wenn Gemeindemitglieder aufein Boot nach Europa wollen,was sagen Sie ihnen?

    Ich spreche ber die Schmerzenund die Gefahren der berfahrt,aber ich berlasse jedem die

    freie Entscheidung. Nur wer ein kleinesKanu nehmen will, den versuche ich da-von abzuhalten.

    Leiden Frauen besonders unter denUmstnden?

    Ihre Situation ist entsetzlich, weil Frau-en so angreifbar sind. Viele werden zurProstitution gezwungen. Da sie massivvon Aids bedroht sind, bieten wir ihnenKondome an. Es wre ziemlich lausigvon mir, ihnen nur zu predigen, dass siesich nicht prostituieren sollen. Sie tun es,weil sie es tun mssen. Zumindest dieAusbreitung von Aids versuchen wir ein-zudmmen. Denn wir haben schon oftMenschen begraben mssen, die andem Virus starben.

    Gibt es Aussicht auf Besserung?

    Die Hoffnung ist das tgliche Brot desGlaubens. Wir drfen nicht nur anklagen,sondern mssen etwas tun. Laut unse-ren Aufzeichnungen haben wir im letztenJahr 380 Migranten aufgenommen; ichdenke, wenn eine Gemeinde von nur150 Mitgliedern das Leben von 380 Men-schen retten kann, dann kann die globa-le Welt weitaus mehr tun.

    Das Interview fhrte Martin Glasenapp.

    Projektstichwort

    Eine Krankenschwester, Medikamente, Sensibili-sierungskurse ber sexuell bertragbare Krank-heiten, aber auch gelegentliche Kostenbernahmebei gesundheitsbedingten Rckfhrungen bzw. imTodesfall in die Heimatlnder: Auf Empfehlung un-serer langjhrigen lokalen Partner der Assoziationder Menschrechtler in Mauretanien (AMDH) unter-sttzt medico seit diesem Jahr die Gesundheits-dienste der Mission in Nouadhibou. Das Stichwortder Solidaritt heit: Migration.

  • ie knnen Bedingungen ausse-hen, dass Menschen nicht mehrgehen mssen, sondern bleiben

    drfen und bleiben knnen? Das inte-grierte Gemeindeentwicklungsprojekt imnicaraguanischen Dorf La Palmerita willMenschen das Bleiben ermglichen. Aberwas auf dem Reibrett einleuchtendklingt, stt in der Realisierung auf vielfl-tige Schwierigkei-ten. Huser undLand zur Verf-gung zu stellen,wie das in La Pal-merita geschehenist, bedeutet nochnicht, dass ein in-taktes Gemein-wesen entsteht.Die Bewohnerin-nen und Bewoh-ner Plameritaskommen alle ausLandarbeiterfami-lien, konnten nichtzur Schule gehenund haben jenach Bedarf allepaar Monate denWohnort gewechselt. Gewalterfahrungenund Vernachlssigung in der Arbeit und inder Familie sind tief in die Biografien ein-gegraben. Von Anfang an hatte medicodeshalb psychosoziale Manahmen zurStrkung der Gemeinde und der Indivi-duen untersttzt. Familire Gewalt war ein

    wichtiges Thema dabei. Doch der Selbst-mord einer 14-jhrigen Ende vergange-nen Jahres macht deutlich, dass auch diein Palmerita aufgewachsene Generationmit diesen Problemen konfrontiert ist.

    Die Koordination der Manahmen in LaPalmerita ist Teil des Aufgabenfeldes vonDieter Mller, der seit vier Jahren als me-

    dico-Reprsentant in Mittelamerika lebt.Er berichtet, dass medico insbesonderedie Strkung der Selbstorganisation undSelbsthilfe in La Palmerita gefrdert habe.Unser Projektziel bestand und bestehtdarin, vor allem die Kinder und Jugendli-chen in ihrem Selbstwertgefhl zu strken

    17nicaragua

    Eine Generationen-FrageGemeinwesenarbeit in La Palmerita: Ein zentrales Problemist die Gewalt

    W

    Der Armut entwachsende Kinder in Palmerita.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • Studium als Ziel

    Magdalena auf dem Weg in einanderes Leben

    Die 16-jhrige Magdalena Isabel Gonza-les Castro wohnt zusammen mit ihren Eltern und drei Geschwistern in Haus Nr.34 in Palmerita. Die Familie baut Mais,Gemse sowie Hirse an und kommt da-mit gut ber die Runden. Die Unterstt-zung durch medico haben die Castrosimmer als Chance begriffen, ihre Le-bensbedingungen zu verbessern. Sie be-teiligen sich regelmig an den von me-dico gefrderten Aktivitten und ber-nehmen auch selbst verantwortungsvolleAufgaben in der Gemeinde. MagdalenasVater ist Mitglied der Genossenschaft.Ihr lterer Bruder war vor zwei JahrenHauptkoordinator eines Computerkursesfr 20 Jugendliche aus Palmerita, denmedico finanzierte.

    und ihnen zu ermglichen, Konflikte inner-halb der Familien und in der Gemeindegewaltfrei zu bewltigen, so der medico-Reprsentant. Nach dem Suizid sei deut-lich geworden, dass das noch ein langerWeg ist.

    Dieter Mller: In einer internen Sitzungmit dem lokalen, fr die psychosozialenManahmen zustndigen Partner MEChaben wir diese Situation besprochen,und ich habe insistiert, dass eine gezielteArbeit mit den nun 10 - 15-jhrigen drin-gend geboten sei. Diese Kinder warenaufgrund ihres Alters vor 2 - 3 Jahren imRahmen des damaligen BMZ-Projektsmeist nicht in die Arbeit ber Sexualittund Gender einbezogen. Auf dieser Sit-zung einigte man sich das Thema sexu-

    elle Gewalt in Manahmen aufzugreifenund beschloss einen Selbstverteidigungs-kurs fr junge Mdchen anzubieten. Undso kam zu Beginn des Jahres folgendeManahmenliste zustande, die Mitarbeite-rinnen von MEC, zumeist geschulte Psy-chologinnen, dann auch ausfhrten. Dazugehrte u.a. die psychosoziale Begleitungund Betreuung von Personen, die suizid-gefhrdet sind oder Opfer innerfamilirerGewalt; Aufklrungs- und Sensibilisie-rungsarbeit zum Thema sexuelle Gewaltfr die Gemeinde insgesamt; die Strkungder psychosozialen Promotoren/innen,die in den meisten Fllen ihre eigenen Ge-walterfahrungen noch nicht aufgearbei-tet haben. Und nicht zuletzt ein heiklesThema: die Frderung der juristischenAufarbeitung.

    Die Castros untersttzen ihre Kinder da-rin, eine weiterfhrende Ausbildung zuabsolvieren, auch wenn das nicht immerleicht ist. Magdalenas jngere Geschwis-ter sind sieben bzw. zwlf Jahre alt undhaben aufgrund einer Behinderung

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • Wichtig sei, sagt Dieter Mller, dass beiallen Problemen die Gemeinde gemein-same Verbesserungen erlebe. So konnteparallel mit Zuschussfinanzierung desLandes Baden-Wrttemberg akquiriertvon der Initiative Eine Welt Kngen und Mitteln des Vereins Diriomito ausMnchen eine Vorschule, eine Bibliothekund ein Mehrzweckraum errichtet werden.Die Bibliothek wurde mit Bchern ausge-stattet. Dort ist auch ein Computer zu-

    gnglich. Eine Solarenergieanlage wurdeinstalliert und ein Sport- und ein Kinder-spielplatz gebaut.

    Dieter Mller zieht eine gemischte Zwi-schenbilanz: Gelungen ist auf jeden Fall,dass es den Menschen in La Palmeritawirtschaftlich deutlich besser geht als2005, als wir das Projekt begonnen ha-ben. Das ist Ergebnis der Projektaktivit-ten, aber nicht nur. Viele leben nicht vonder Landwirtschaft, sondern arbeiten alsTagelhner oder Hausangestellte. Nurknapp die Hlfte der ca. 60 Familien bau-en selbst auf ihrem Land an. Deutlichmehr haben Hhner, Schweine, Schafeoder Rinder. Aber auch Mobiltelefone,Fahrrder, Motorrder, Pferde.

    Der Ausweg aus dem Teufelskreis derArmut ist wohl eine Frage mehrerer Gene-rationen. Das zumindest ist die Erfahrungaus La Palmerita. Viel positiver sieht Ml-ler die Strkung des Selbstwertgefhls,der Selbstermchtigung. Das wrde ichvor allem bei den Jugendlichen und jun-gen Erwachsenen festmachen. Einerseits,weil der Schulbesuch in einem Umfanggesichert ist, der undenkbar war, als sienoch als Kaffeepflcker arbeiteten. Ande-rerseits knnen die Heranwachsenden ei-gene Lebensprojekte entwickeln, z.B. einStudium beginnen oder aber das eigeneLand bearbeiten, was frher nicht mglichgewesen wre.

    Katja Maurer

    19

    Projektstichwort

    Seit 2005 untersttzt medico die Grndung und soziale Entwicklung des Dorfes La Palme-rita. Land- und arbeitslose Tagelhner hatten nach einem Hungermarsch auf Managua denBoden erkmpft. Sie baten uns, mit Blick auf die positiven Erfahrungen der von medico un-tersttzten Bauern in El Tanque, sie beim Aufbau eines Dorfes und eines Gemeinwesenszu untersttzen. Spenden unter dem Projektstichwort: Nicaragua.

    Sprachprobleme. Der ltere Bruder isteiner von vier jungen Menschen aus Palmerita, die ein Studium aufgenom-men haben. Als Einziger hat er ein Sti-pendium bekommen. Er studiert Agrar-wissenschaften in Len. Magdalena willauch studieren. Derzeit besucht sie zu-sammen mit 18 anderen Jugendlichenaus Palmerita die High School im nahegelegenen Malpaisillo. Nicht alle Jugend-lichen knnen wie Magdalena tglich zur Schule gehen, weil sie unter derWoche arbeiten mssen. Sie nehmendann das sonntgliche Unterrichtsange-bot der Schule wahr.

    Wie andere Kinder und Jugendliche gehrt Magdalena zu denen, die dieneue Bibliothek regelmig nutzt. Wassie werden will, wei sie noch nicht. Aber eins ist sicher: Sie will studieren.Das wird ihr wohl auch gelingen.

    Ramona Lenz

  • 20projekte projektionen

    Der Herbst des Despoten Syrien: Untersttzung fr lokale Basiskomitees

    l-Assad ila al-abad Al-Assad frimmer: diesen Satz lie Syriens

    Prsident jahrelang an Kasernenwnde,Schulhofmauern und Autobahnbrckenpinseln, als Gebot fr alle Ewigkeit. Am6. Mrz 2011 sprayten Schulkinder imsdsyrischen Deraa ihren Kommentar an

    die Wand ihres Pausenhofes: Das Volkwill den Sturz des Systems. Der lokaleGouverneur, ein Cousin des Prsident-en, lie sie festnehmen, seine Schergenrissen den Teenagern die Fingerngelaus. Als die Vter die Freilassung ihrerKinder forderten, antwortete der Gouver-neur: Bringt mir eure Frauen, ich macheeuch neue Kinder. Zutiefst emprt de-monstrierten tagelang Hunderte, dannschossen Soldaten von den Huserd-chern. Damit begann der Aufstand in Sy-

    rien und brach die Kultur der Angst, mitder die Baath-Partei das Land ber 40Jahre geschlagen hatte. In Homs undHama, Hochburgen der Opposition, de-monstrieren seither Hunderttausende,die Armee feuert in die Menge. Zu denbisher 3.500 Toten gehren allerdings

    vermehrt Soldaten undPolizisten. Gruppen der Protestbewegunghaben sich bewaffnet,mancherorts beginntschleichend der Br-gerkrieg.

    Die Local CoordinationCommittees (LCC) set-zen weiterhin auf fried-lichen Wandel. Ihrejungen Aktivisten orga-nisieren wchentlichDemonstrationen, ver-ffentlichen Berichteund Handyfilme via In-ternet. Die vorwiegend

    skulare Basisbewegung kritisiert dieMilitarisierung des Aufstandes, lehnt zu-gleich jede Intervention von auen ab.Doch die Komitees wissen auch, dassder Assad-Clan nicht so schnell weichenwill und bitten deshalb um internationaleSolidaritt und finanzielle Hilfe. medicosteht den Komitees in Deutschland mitRat zur Seite und verhandelt Mglich-keiten direkter medizinischer Hilfe in Syrien.

    Spendenstichwort: Nahost

    A

    Ha

    ma

    , O

    kto

    be

    r 2

    011

    . F

    oto

    : L

    CC

    Syr

    ia

  • 21

    Politik der rebellischen PltzePakistan: Die Occupy-Bewegung erreicht Karachi

    er medico-Partner PILER ist eineBasisinitiative von Gewerkschaftsak-

    tivisten und Akademikern, die sich seitJahrzehnten fr alternative ffentlicheRume und politische Partizipation ein-setzen. Sie untersttzen die Flutnothilfevom medico-Partner HANDS mit politi-scher Kampagnenarbeit und forderneinen Wiederaufbau auf Grundlage einesneuen Gesellschaftsvertrags, der Margi-nalisierung, Machtlosigkeit und Mangelein Ende bereitet. Weil die Aktivisten wis-sen, dass in Zeiten der Globalisierungautochthone Auswege chancenlos sind,waren sie dabei, als die Occupy-Bewe-

    gung Pakistan er-reichte. In Laho-re entstand einProtestcamp, undam 23.10.2011 demonstriertenmehrere Hundertein Karachi und er-klrten, dass dieMenschen nurberleben und vo-ranschreiten, wenn Kapitalismus undFeudalismus berkommen werden.

    Spendenstichwort: Pakistan

    m kommenden Jahr wird der 1912gegrndete African National Con-

    gress (ANC) 100 Jahre alt. Schon jetztzeichnet sich ein zeremonieller Reigenab, in dem sich die ehemalige Befrei-ungsbewegung als erfolgreiche Regie-rungsorganisation feiern will. Aber auchwenn die Apartheid besiegt wurde, bleibtdie demokratische Regenbogennationein Land der Armut und sozialen Unge-rechtigkeit. Der neue medico-PartnerSection27 will die ANC-Regierung im Ju-bilumsjahr 2012 an die vorenthaltenenRechte der armen Bevlkerung auf eineGesundheitsversorgung, ausreichendWasser und Ernhrung sowie Grundbil-dung erinnern, wie sie im Artikel 27 der

    sdafrikanischen Verfassung garantiertsind. Section27 fordert mit anderen Ba-sisinitiativen seit Jahren vom ANC nichtnur eine aktivere HIV-Aids-Politik, son-dern hat sich auch fr eine ffnung dermaroden staatlichen Gesundheitspolitikgegenber Ideen aus der Zivilgesell-schaft eingesetzt. Und das mit Erfolg:Das Gesundheitsministerium wird nichtlnger dem neoliberalen Credo folgen,das die Kosten von Gesundheitsleistung-en nur privatisiert, sondern will die knf-tige Gesundheitsversorgung durch einestaatliche Solidarversicherung gemein-schaftlich finanzieren.

    Spendenstichwort: Sdafrika

    Alternativen am Kap Sdafrika: Gesundheitsaktivisten verndern Versicherungssystem

    I

    D

  • 22

    Palstina scheiterte in der letzten UN-Vollversammlung mit seinem Antrag aufUnabhngigkeit. Dabei arbeitet die Zeitlngst gegen den Traum der palstinensi-schen Staatlichkeit. Zwei Beispiele ausder medico-Projektpraxis:

    Beispiel Gaza: Klinikbau unterder Blockade

    ie Grundidee des Hilfsprojektes be-stand aus einer eigentlich simplen

    Manahme: In Izzbet Beit Hanoun amnrdlichen Zipfel des Gazastreifens stehtein kleines bauflliges Gesundheitszen-trum der Palestinian Medical Relief Soci-

    ety (PMRS), dasmehreren TausendMenschen bitter n-tige Basisgesund-heitsdienste anbie-tet. Die anhaltendeAbriegelung des Ga-zastreifens fhrt zueiner andauerndenRckentwicklung.Besonders betroffenhiervon sind die oh-nehin Marginalisier-ten, etwa die ar-beitslos gewordenenArbeiter und Tage-lhner in Izzbet BeitHanoun. Die Regionverarmte und ver-

    wahrloste. Folglich kommt Organisationenwie PMRS, die kurativ wie aufklrend inden Gemeinden arbeiten, eine immerwichtigere Rolle zu. Anfang 2010 wolltedie PMRS mit Hilfe von medico den ein-stckigen Klinikbau endlich einmal reno-vieren: drei Besprechungszimmer, einkleines Labor, ein Behandlungszimmermit Warteraum, insgesamt nur 150m2. InGaza ist das ein kompliziertes Bauprojekt.Hier gibt es keine Zement- oder Stahlpro-duktion, beides darf ohne israelische Son-dergenehmigung nicht eingefhrt werden.Alternativ gibt es nur Baumaterialien, diedurch die illegalen Tunnel aus gypten im-portiert werden. Wir entschieden uns frden legalen Weg, baten die israelischen

    D

    israel/palstina

    Wie der Zement nach Gaza komWiderstndige Projekte unterlaufen die israelische Verhinderung

    Die Odyssee der Kiesel beginnt in der Westbank.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • Behrden um Erlaubnis. Die Erfolgschan-cen schienen gering: Nicht eine Nichtre-gierungsorganisation hatte seit der Ab-riegelung des Gazastreifens im Jahr 2007ein Genehmigungsverfahren bestanden.Dennoch wollten, ja mussten wir es ver-suchen: Schlielich ging es ber das kon-krete Projekt hinaus auch um generellepolitische Rahmenbedingungen der Hilfe.

    Zu unser aller berraschung genehmigtendie israelischen Behrden den Transport.Damit existiert jetzt ein Przedenzfall, aufden sich andere Organisationen bei hn-lichen Bauvorhaben in Gaza berufen kn-nen. Allerdings erfuhren wir durch diehorrenden Kosten und die komplizierteBrokratie, wie aufwendig jede Einfuhr indie Enklave Gaza geworden ist. Dabeiging es lediglich um den Transport vonsechs LKW-Ladungen im Wert von weni-gen Tausend Euro aus der palstinen-sischen Westbank in den Gazastreifen,den obendrein das humanitre Vlker-recht garantiert. Acht Monate arbeitetenwir an allen Formalitten, besorgten Un-terschriften, reichten Unterlagen nach, un-terschrieben Zusicherungen, warteten,telefonierten, hofften. Das deutsche Ent-wicklungshilfeministerium, das das Projektfinanzierte, die UN-Behrde OCHA, selbstder palstinensische Premier Salam Fay-yad waren am Ende involviert. Der Trans-port wurde dann zu einem logistischenAlbtraum. Dabei liegen die Westbank undGaza nur 40 Kilometer Luftlinie auseinan-

    der, und vom Lieferanten bis zur Baustellesind es knapp 80 Straenkilometer; aberkein LKW darf, trotz Sondergenehmigung,von einem Teil Palstinas in den anderenfahren. Der Baustoff konnte aus der West-bank nur bis an den Checkpoint zu Israelgelangen, wurde dort entladen, durch eineSicherheitskontrolle geschleust, um dannauf der israelischen Seite wieder aufLKWs verladen zu werden. Die fuhrenzum Checkpoint zwischen Israel und Ga-za, dort wiederholte sich die Prozedur. InGaza warteten sechs weitere LKWs, umden Zement und Stahl endlich zur Bau-stelle zu bringen. Die Manahme ben-tigte am Ende 18 Fahrer und LKWs. DieAusgaben erhhten sich auf irrwitzige25.000. Immerhin, das Gesundheitszen-trum kann gebaut werden. Aber die israe-lischen Behrden haben eine Verhinde-rungspolitik betrieben, die aus dem Prze-denzfall offenbar einen Einzelfall machensollte.

    Beispiel Westbank: Solarstromfr die Ausgeschlossenen

    ie israelische Politik zielt auf die voll-stndige Trennung der 1,5 Millionen

    Bewohner von Gaza von ihren israeli-schen Nachbarn. Aber nicht nur. Die dichtgedrngte Enklave ist gleichzeitig voll-stndig von den Palstinensern in derWestbank getrennt. Das ist kein Zufall,hier manifestiert sich in aller Offenheit dasPrinzip Herrschaft durch Kontrolle undTrennung. Ein hnlicher Prozess drohtnun innerhalb der Westbank. Auch hiersollen Palstinenser von Palstinenserngetrennt werden. Dies geschieht schleich-end. Die israelische Militr- und Zivilad-ministration verweigert systematisch Infra-struktur- und Baumanahmen, um pals-tinensische Familien zum Wegziehen zu

    23

    mtspolitik, aber der Preis ist hoch

    D

  • bewegen. Ein Beispiel sind die Vorgngeim Dorf Umm Al Kheir, das in den Augender israelischen Verwaltung illegal ist. Hierleben 180 Menschen im Sden der Heb-ronhgel. Ihre rmlichen Htten liegen inBlickweite der Stromtrasse, die eine nahejdische Siedlung versorgt. Den Zugangzur Elektrizitt hat ihnen die Besatzungs-administration verboten. Genauso wie sieihren Zugang zu Wasser und Land ver-knappte und jede Baumanahme, auchdie von Kindergrten oder Gesundheits-zentren verboten hatte. Die israelischeAktivistenorganisation und medico-Partner Comet-ME umgingen mitden palstinensischen Dorfbewoh-nern als Zeichen gegen die Ver-drngungspolitik den staatlichenStromboykott. Sie errichteten zu-sammen lokale Solar- und Wind-kraftanlagen, die keine Genehmi-gung bentigen. Zum ersten Malhatten die Dorfbewohner Strom.Das Glck whrte nicht lange.Die israelische Armee kam mit Pla-nierraupen, um einzelne Huserdes illegalen Dorfs in der West-bank niederzuwalzen. Weder dieGemeinde noch Comet-ME gaben

    auf: Sie bauten dieHtten wieder auf.Und auch Solar-strom sollen siewieder erhalten.

    Aber knnen die-ser lokale Behar-rungswille und diepraktische Solida-ritt tatschlich diegeballte staatlicheMacht aufhalten?Die jngsten Mel-

    dungen aus dem stlichen Umland vonJerusalem klingen alarmierend. Aus ei-nem Gebiet namens E1 sollen alle Pals-tinenser vertrieben werden, damit neuejdische Siedlungen gebaut werden kn-nen. Werden die Bauvorhaben wahr, wr-den sie wie ein Keil die Westbank auf derHhe Jerusalems in zwei Enklaven tren-nen. Die territoriale Integritt der West-bank, mithin die reale Mglichkeit einerpalstinensischen Staatlichkeit wrde da-mit auf lange Sicht verhindert.

    Tsafrir Cohen

    Projektstichwort

    Das expansive israelische Enklavensystem drohteinem knftigen Palstina allenfalls umstellte Gebiete zu berlassen. Dagegen verteidigen dielokalen medico-Partner in Tel Aviv, Ramallah undGaza die politischen, sozialen und konomischenMenschenrechte. Ihre Kooperation und ihre Hilfeist konkret: Freier Zugang zu Gesundheitsdiens-ten ohne ethnische und nationale Zuschreibun-gen, basismedizinische Nothilfe und nachhaltigeEntwicklungsarbeit. Dabei geht es immer auchdarum Wege zu finden, wie dem fast perfektenSystem von Aus- und Einschlssen entkommenwerden kann. Damit Gewalt und Abgrenzung einEnde haben. Spendenstichwort: Israel-Palstina.

    Solar- und Windkraft als Akt des Widerstands,Hebronhgel 2011.

    Fo

    to: C

    om

    et-

    ME

  • 25chile

    Ende der AngstSeit Monaten demonstrieren Schler und Studenten fr kostenlose Bildung und haben die Mehrheit hinter sich

    as htte sich der chilenische Prsi-dent Sebastin Piera nicht tru-men lassen. Noch vor einem Jahr,

    nach der Rettung der 33 Bergleute war erder gefeierte Star der chilenischen Politikmit traumhaften Umfrageergebnissen, undnun ist er abgestrzt. Die Zustimmungdmpelt irgendwo bei 20 Prozent, wh-rend die hartnckig und unnachgiebig inwchentlichen Demonstrationen vorgetra-genen Forderungen der Schler und Stu-denten, der Lehrer und Professoren, derEltern und Groeltern nach einem kosten-losen Bildungssystem fr alle von derbergroen Mehrheit der chilenischen Be-vlkerung untersttzt wird. Das elende

    Patt, das die chilenische Gesellschaft seitber 100 Jahren prgt und Gewhr dafrbot, dass am Ende immer eine autoritre,klerikale Rechte die Oberhand behielt,scheint gebrochen. Die Chilenen wolleneine soziale und solidarische Gesellschaftund dazu gehren Gemeingter wie Bil-dung und Gesundheit. Und sie kmpfendafr mit einer erstaunlichen Entschlos-senheit. Seit Monaten streiken Studentenund Schler, verweigern sich faulen Kom-promissen mit der Regierung, riskierendamit den Ausschluss aus Universittenund Schulen oder die Aberkennung vonAbschlssen. Aber eines wollen sie nichtriskieren: ihre Zukunft.

    D

    Radikalitt und Charme: Chilenische Studenten fordern die Regierung hartnckig heraus und veranstalten auch whrend eines Wasserwerfereinsatzes einen Kussmarathon.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • 26

    Die setzt schon der neoliberale Kapitalis-mus aufs Spiel, der nirgendwo so Eingangin den Alltag und in die Politik gefundenhat, wie in Chile. Bereits unter der Pino-chet-Diktatur wurde das chilenische Bil-dungswesen radikal privatisiert. Eine derletzten Amtshandlungen Pinochets be-stand in einer Verfassungsnderung, diedas Bildungswesen dem Privatsektorberantwortete. brig blieb eine schuli-sche Basisversorgung durch die Kommu-nen, die dafr aber immer weniger Mittelzur Verfgung haben. Das chilenische Bil-dungssystem ist aus dem Bilderbuch desNeoliberalismus in die Praxis berfhrtworden. So stellte man sich auch dieHandhabung der restlichen ffentlichenSozialaufgaben von der Gesundheit berWohnen bis zur Rente vor.

    Seit 1990 hat sich keine Regierung ge-traut, diese Verfassungsnderung zurck-zunehmen. Denn dann htte man frheroder spter auch die gesetzlich veran-kerte Amnestie fr die Verbrechen der Mi-litrdiktatur aufheben knnen und ms-sen. Den wachsenden Unmut ber dasprofitgetriebene Bildungssystem und dieerheblichen Kosten, die das fr jede Fa-milie bedeutet, versuchten die Regierung-en mit der Ausweitung von Stipendienaufzufangen. hnlich wie in Deutschlandentwickelte man dafr Exzellenzinitiativenund frderte dadurch vor allen Dingen dieElitenbildung. Die chilenischen Schlerund Studenten richten ihren Protest des-halb gegen alle Parteien, die Regierungs-macht ausbten. Ihre Distanz zu politi-schen Parteien aber fhrt keineswegs insUnpolitische. Die Forderungen sind glas-klar: kostenlose Schul- und Universitts-ausbildung; die Finanzierung der Schulenals staatliche und nicht kommunale Auf-gabe sowie das Verbot des Gewinnstre-bens im gesamten Bildungsbereich. Sie

    fordern eine Volksabstimmung. Auch inden Verhandlungen blieben sie knallhart.Als die Regierung ihre Vorbedingungen die Verschiebung des Semesterendesund ein Stopp der von der Regierung ein-gebrachten Gesetzesvorhaben im Bil-dungsbereich nicht erfllte, verlieen dieStudenten den Verhandlungstisch. Statt-dessen veranstalteten sie einen Beso-tn einen Kussmarathon im Zentrumvon Santiago und hatten die Bevlkerunghinter sich.

    Warum gerade jetzt die Proteste so starkangewachsen sind, begrndet JosAraya, Geschftsfhrer der chilenischenMenschenrechtsorganisation CODEPU,ein medico-Partner noch aus Diktaturzei-

    Nur die zerschlagene Brille Salvador Allendes sollteals Erinnerung an den sozialistischen Prsidentenbrig bleiben. Doch mit den Schler- und Studenten-Protesten kehrten die Ideen Allendes zurck. 2007whlten Fernsehzuschauer ihn zum bedeutendstenChilenen. Seine Rede an mexikanische Studenten

  • 27

    ten, mit einer neuen Generation: DieStudentenfhrer sind um 1990 geboren.Das ist die Generation des demokrati-schen bergangs, die glcklicherweisedie Angst, unter einer Diktatur zu leben,nicht mehr kennt. Auerdem habe derStreit um das Bildungssystem eineGeschichte. 2006 gab es die Pin-guin-Revolution ein Aufstand derSchlerinnen und Schler. Die An-fhrer der Jugendproteste warenschon damals dabei, nur ungleichjnger, so Araya. Fr Organisatio-nen wie CODEPU, die im Kampf ge-gen die Straflosigkeit und fr sozialeGerechtigkeit jahrelang allein stan-den, zeigt dieser Aufbruch in der chi-lenischen Gesellschaft, dass es rich-

    tig war diese Themen nicht aufzugeben.Am Beispiel der Ausgrenzung und sozia-len Benachteiligung der Mapuche habenwir immer wieder darauf verwiesen, dassdas neoliberale Modell in Chile auf sozia-lem und politischem Ausschluss beruht,erklrt der CODEPU-Geschftsfhrer.

    Wenn Piera scheitert, dann scheitert einModell, das gerade weltweit fr Furoresorgen sollte. Der Pierismus nmlich be-steht darin, den Staat wie ein Unterneh-men zu fhren. Eine Regierung derBesten, die eher einem Aufsichtsrat h-nelt, schreibt Le Monde Diplomatique.Eine Politik, die sozial und demokratisch aber vor allen Dingen pragmatisch

    Probleme im Vorbeigehen lst. Piera un-terluft durchaus auch die rechte Ideolo-gie, zum Beispiel mit einem ethischenFamilieneinkommen. Aber Bildung ist frihn ein Konsumgut wie jedes andere.Und das ist in Chile offenbar eine Grenze,an der sich die Geister scheiden. Auf Platz1 Unserer 100 Besten, ein weltweitesFernsehformat, landete in Chile nach Jah-ren des Totschweigens der Mann, der frdie Idee der sozialen Gerechtigkeit undeinen demokratischen Sozialismus steht:Salvador Allende. Kollege Araya meint:Per Internetabstimmung gewhlt habenihn die Jungen.

    Katja Maurer

    Projektstichwort

    Die Arbeit der MenschenrechtsorganisationCODEPU reicht vom Kampf gegen die Straflosig-keit bezglich der Diktaturverbrechen, der juris-tischen und psychosozialen Untersttzung von Diktaturopfern, bis zur menschenrechtlichen Be-gleitung von Kmpfen der Mapuche-Indianer, die in Chile konomisch und politisch extrem margi-nalisiert werden. Ihre Untersttzung unter demStichwort: Chile.

    fr das Gemeinwohl auf You Tube hat 1.4 MillionenClicks: Um die brutale soziale Realitt zu ndernbrauchen wir engagierte rzte, Lehrer, Ingenieure,Professionelle; brauchen wir Menschen, die sich ver-pflichtet fhlen, zur nderung dieser Realitt beizu-tragen.

    Fo

    to: R

    ich

    ard

    Esp

    ino

    za

  • Was ist der Schwerpunkt deraktuellen Ausgabe des Global HealthWatch?

    Auch die dritte Ausgabe des GHW ist einalternativer Weltgesundheitsbericht. Dieaktuelle Lage der globalen Gesundheitwird anhand von Fakten dargestellt. Zu-erst werden die sozialen, politischen undhistorischen Bedingungen die soge-nannten sozialen Determinanten von Ge-sundheit analysiert , dann werden die

    globalen Debatten zum Gesundheitswe-sen nachgezeichnet. Es gibt konkreteFallbeispiele aus Costa Rica, Thailandoder den USA. Zustzlich beleuchten wirkritisch einige globale Akteure: Hier pas-siert das eigentliche Beobachten (Wat-ching). Wir analysieren die Arbeit derWeltgesundheitsorganisation (WHO) so-wie UNICEF, aber auch internationalerNROs und privater Philanthropen, wiez.B. der Gates-Foundation. Zum Schlussmachen wir unter dem Motto Wider-stand, Aktionen und Vernderung kon-krete Handlungsvorschlge und gebenviele Beispiele von gelungenen Prozes-sen. Wichtig ist uns, dass all dies in ei-nem kollektiven Arbeitsprozess entsteht.So haben beim GHW 3 z.B. 130 Men-schen mitgearbeitet.

    Welche Bedeutung hat das Buchim Rahmen des Peoples Health Move-ments?

    Das PHM vereint fnf Aktionsfelder undder GHW ist sicherlich eines der wich-tigsten. Die anderen sind die Internatio-nal Peoples Health University (IPHU),die Right to Health-Kampagne, derWHO-Watch und natrlich die eigentlicheUntersttzung von Projekten, welchesich als Teil der Graswurzelbewegungverstehen. Der GHW ist sozusagen un-ser Botschafter! Mit ihm konkretisierenwir unsere Grundstze aus der Peoples

    28gesundheit

    Den Blickwinkel wechselnDer dritte Global Health Watch (GHW 3) setzt die Globale Gesund Finanzkrise und hinterfragt die Interessenkonflikte der Weltges

    Prof. Dr. Claudio Schuftan ist Arzt

    fr Kinderheilkunde und Ernhrung

    und ein aktives Mitglied des Peoples

    Health Movements (PHM). In Chile

    geboren und aufgewachsen, lebt er

    in Vietnam und arbeitet dort als

    selbststndiger Berater fr Public

    Health und Ernhrung.

    Fo

    to: P

    riva

    t

  • Health Charter. Wir erreichen damit nicht nur eine allgemeine ffentlichkeit,sondern unsere kritischen Informationenwerden auch zunehmend als Arbeits-grundlage in Universitten und bei Mas-terstudiengngen genutzt.

    Welches sind erfolgreiche Beispielefr Handlungsoptionen sozialer undzivilgesellschaftlicher Bewegungen?

    Da ist zum Beispiel El Salvador. DasLand nimmt seit den Wahlen 2009 einesehr interessante Entwicklung. Vertreterim Gesundheitsministerium sind nichtnur ehemalige Befreiungskmpfer, son-dern auch Mitglieder unserer Bewegung.In lokalen Gesundheitskomitees und re-gionalen Foren nimmt die Bevlkerungdirekt Einfluss auf die Gesundheitsre-form und begleitet kritisch die Arbeit desGesundheitsministeriums. Oder auchBrasilien: Das Schwellenland und neueMitglied der G20 hat zuletzt viel erreicht,etwa das Sozialprogramm Bolsa Familia,das ein minimales Grundeinkommen frarme Familien garantiert. Hier werdenerfolgreich die sozialen Determinantenvon Gesundheit verndert.

    Der GHW beschftigt sich mit derRolle von privaten Geldgebern in derglobalen Gesundheit. Kann der Pro-zess der zunehmenden Privatisierungder WHO beeinflusst werden?

    Die WHO ist in einer Krise. Nahezu80 % der Gelder sind mittlerweile projekt-gebunden und ein Viertel des Budgetskommt von privaten Akteuren. DieGates-Foundation ist der zweitgrteGeldgeber nach den USA. Wie soll unterdiesen Bedingungen die demokratischlegitimierte Weltorganisation unbeein-flusst arbeiten knnen? Die Passagenzur WHO lesen sich wirklich wie ein Kri-mi! Etwa da, wo der Einfluss der Indus-trie auf die Medikamentenpolitik nachge-wiesen wird. Das PHM versucht Einflussauf die aktuell diskutierte Reform derWHO zu nehmen und konnte, auch dankder finanziellen Untersttzung durchmedico international, an vielen offiziellenVersammlungen teilnehme. Mittlerweilefinden wir selbst bei hchsten StellenGehr.

    Das Interview fhrte Kirsten Schubert.

    29

    heit in den Kontext der

    undheitsorganisation

    Projektstichwort

    Gesundheit ist auch in El Salvador eineFrage der Demokratie: Durch die Strkungdes Nationalen Gesundheitsforums werdenPartizipation der Bevlkerung und die kriti-sche Begleitung der Auswirkungen der Ge-sundheitsreform in den Regionen Centralund Metropolitana ermglicht. medico hatden Global Health Watch 3 mitfinanziert unduntersttzt die Netzwerkarbeit des PeoplesHealth Movement. Das Spendenstichwortlautet: medico.

  • ereitet euch auf einen schweren An-blick vor!, sagt uns Yolne Gillesvor dem Frauengefngnis von Port-

    au-Prince. Yolne und ihre Kollegen derMenschenrechtsorganisation RNDDH be-suchen es regelmig, um eine ffentlicheKontrolle ber den Umgang mit den Ge-fangenen herzustellen. Man erwartet uns,begutachtet nur kurz unsere Psse, dannbetreten wir das langgezogene einst-

    ckige Gebude der Satz von Yolnehngt ber uns wie die drckende Hitzedieser Stadt. Im Zellentrakt schauen wirmit gesenktem Kopf aus den Augenwin-keln. Auf wenigen Quadratmetern sitzenFrauen dicht gedrngt auf Matratzen, aufdenen sie nachts schlafen, ihre Habselig-keiten hngen in den Gitterstben. Aufdem Boden htten sie neben 10, 12,manchmal 20 Frauen keinen Platz. An

    30

    B

    haiti

    Katastrophe der guten IntentiNachhaltige Lsungen, die eine eigenstndige Entwicklung ermgl sind nicht in Sicht

    Qualvolle Enge im Gefngnis von Port-au-Prince: Gefangene hngen ihre Utensilien an Schnren auf.

  • 31

    der Wand hngt ein Fernsehap-parat. Soaps aus aller Weltschicken ihre krisseligen Bilderund scheppernden Tne in diemenschenunwrdige Wirklich-keit dieser Frauen. 247 Frauensitzen hier ein, die meisten war-ten seit Jahren auf ein Gerichts-verfahren. Wir gehen schnellan allen Zellen vorbei. Das Ge-fngnisleben der Frauen wirdunseren Blicken ungeschtztpreisgegeben, wie das von ein-gepferchten Tieren. Die wort-karge Yolne, eine Journalistin,die seit vielen Jahren frRNDDH die Menschenrechtsar-beit an die ffentlichkeit trgt,hat eine trockene Art die Um-stnde zu beschreiben: JedeGefangene hat nach internatio-nalem Recht Anspruch auf 4,1m2 dieses Recht wird hier ge-brochen. Aber die Frauen ha-ben noch Glck: Sie mssennicht im Stehen schlafen wieviele mnnliche Gefangene.

    Keine Rechte fr die Armen

    77% aller Gefangenen sitzenseit Jahren in verlngerter Un-tersuchungshaft, ermittelte ei-ne im Oktober erschienene Stu-

    die von RNDDH. Eine massive Men-schenrechtsverletzung, so Pierre Espe-rance, Direktor von RNDDH, die niemandskandalisiere, weil sie nur die rmstenArmen trifft. Leute wie Ex-Diktator Duva-lier hingegen seien frei. Allein 22 Anklagengegen ihn vertritt RNDDH. Fr Pierre istdie Freiheit Duvaliers ein fatales Zeichendafr, dass die Straflosigkeit eines dergrten Probleme Haitis anhlt.

    Um des lieben Friedens willen werdenThemen wie die Strafsache Duvalier unterden Teppich gekehrt. Andere Fragen gel-ten als wichtiger. Tatschlich aber legiti-miert diese Haltung die systematische De-institutionalisierung des Staates und denVoluntarismus bei allen Manahmen desWiederaufbaus. Ich frage Pierre, ob esnicht ntig sei, auch die internationalenHilfsmanahmen zu beobachten. Er winktverzweifelt ab: Da msstet ihr uns vielGeld geben, um so viele Akteure zu kon-trollieren. Pierre ist ein sachlicher Mann,wenn er aber auf die Haltung vieler inter-nationaler NGOs zu sprechen kommt,wird es ungemtlich: Vieles hilft nicht,sondern verschlechtert die Situation hier.Die Handlungsmglichkeiten fr die haitia-nische Zivilgesellschaft seien kleiner ge-worden. Whrend des Erdbebens httensie schwere menschliche und materielleVerluste erlitten und als sie sich halbwegserholt hatten, htten auslndische NGOslngst ihre Arbeitsfelder eingenommen.Es gibt wenige NGOs, die wie medico dieEigenstndigkeit lokaler Akteure achten,uert Pierre.

    Gesundheit und kologie

    Szenenwechsel. Fauch liegt wenige Ki-lometer von Logne, dem Epizentrumdes Erdbebens, entfernt. Hier frdert me-dico die Errichtung einer Gesundheitssta-tion, die das lokale Bauernkomitee OPPFbeantragt hat. Wir biegen von der Ksten-strae ab, auf der bereits ein Hinweis-schild die Gesundheitsstation ankndigt.Auf Schotterpisten fahren wir durch weitverstreute Teile der Gemeinde, durchque-ren ein riesiges Flussbett, in dem zwi-schen schweren weien Gerllsteinen inFlusslachen Kinder baden und Frauenihre Wsche waschen. Am Ende desFlussbettes parken wir das Auto und er-

    onen ichen,

    Fo

    to: D

    am

    on

    Vin

    ter

  • klimmen einen steilen Hang, der zumDorfzentrum fhrt, in dem sich auch dieknftige Gesundheitsstation befindet. Mankann von hier aus das Meer erblicken,denn im Gegensatz zu Port-au-Prince gibtes Platz und freie Sicht. Verwundert fra-gen wir uns, warum die Gesundheitssta-tion zwar idyllisch aber abgelegen liegt.Ein hagerer lterer Bauer erlutert uns aufeiner Versammlung mit den Anwohnernden Grund: Das Dorfzentrum liegt auf derAnhhe, da bei jedem schweren Regendie Wassermassen unsere Ernte auf denFeldern im Tal vernichtet. Da fllt sich dasausgetrocknete Flussbett, das wir geradedurchfahren haben, in wenigen Minutenund begrbt alles unter sich. Haitis im-mense kologische Probleme werden hiersichtbar. Die entwaldeten Berge sind ein

    wesentliches Hindernis fr eine eigenstn-dige konomische Entwicklung. So wun-dert nicht, dass die Menschen auf derDorfversammlung neben sanitren An-lagen, Nahrungsmittelsicherheit und Bil-dung den Erosionsschutz als eine wich-tige Gesundheitsmanahme betrachten.Das erhoffen sie von der medico-Unter-sttzung, denn bis hierher kam kaum Hil-fe, obwohl das Dorf vom Erdbeben fastvollstndig zerstrt wurde. Die Bedrftig-keit und Ohnmacht ist riesig: Vorsichtig er-lutern wir, dass die Gesundheitsstationein Anfang ist, dass sie sich mit den loka-len Gesundheitsbehrden vernetzen ms-sen, um Teil eines ffentlichen Gesund-heitssystems zu werden. Und dass mandann weitersehen werde. Als wir das Dorfverlassen, verfolgen uns freundliche, aber

    auch misstrauische Blicke. Kommendie wieder, scheinen sie zu fragen. DieArmut Haitis starrt uns hier aus einemtiefen schwarzen Loch entgegen, sotief, das niemand den Grund erblicktund niemand es fllen kann.

    Zurck in Port-au-Prince wird dasElend dieses Landes nur deutlicher.berall Menschen, Menschen undmehr Menschen. Port-au-Prince hatheute mehr Einwohner als vor demErdbeben. Und damit ist einer derwichtigsten Indikatoren, die ber Ge-lingen oder Scheitern des Wiederauf-baus entscheiden, nicht erfllt: Die De-zentralisierung und die Neuansiedlungder Obdachlosen in anderen Regio-nen des Landes um die Vulnerabili-tt der Hauptstadt zu senken war einKernstck des Plans, Haiti besser wie-der aufzubauen.

    32

    Recycling von Plastik schafft ein kleines Einkom-men: Stania Ju Lois ist Mitglied des von medico ge-frderten Frauenkomitees in der GenossenschaftCEFECACC, das seine Produkte gemeinsam her-stellt und vermarktet.

    Fo

    to: m

    ed

    ico

  • Gefahr des Autoritarismus

    Die Situation in Port-au-Prince ebenso wieauf dem Land lst, fast zwei Jahre nachdem Erdbeben, bei den meisten Haitia-nern eine tiefe Frustration aus. Suzie Cas-tor, medico-Partnerin und groe alte Da-me der haitianischen Soziologie, hat keineHoffnung auf eine groe Wende. Sie siehtnur die Mglichkeiten mit guter Arbeit ander Basis, Dinge zu verbessern und ein-zelne Akteure zu finden, die inmitten derVerantwortungslosigkeit verantwortlichhandeln. Aber egal mit wem wir sprechen,auf eine Erneuerung des Landes mit einerfunktionierenden Gemeinwesenstrukturund verantwortlichen Politikern setzt kei-ner einen haitianischen Gourd.

    Camille Chalmers, Direktor der PlattformPAPDA (Plattform fr eine alternativeEntwicklung Haitis), die viele haitianischeOrganisationen der Zivilgesellschaft undsozialen Bewegungen, darunter auchmedico-Partner wie der BauernverbandTet-Kole vereinigt, sieht fnf schwereJahre auf Haiti zukommen. Der neue Pr-sident Martelly habe einen nostalgischenBlick auf die Duvalier-Diktatur. In seinemTeam sen Nachkommen von Duvalier-Funktionren: Ich halte den Nostalgiedis-kurs fr sehr gefhrlich, weil er autoritrePolitikvorstellungen befrdert, meintChalmers.

    Diesen autoritren Politikstil befr-dern die internationalen zivilen wiemilitrischen Akteure durch das Um-gehen haitianischer Institutionen.Das hchste Budget in Haiti besitzteine nicht gewhlte und auch nichtdemokratisch kontrollierte Institution:die Clinton-Kommission. Sie verwal-tet die internationalen Gelder undhat, laut Camille Chalmers, 95%

    ihrer Auftrge an US-amerikanische unddominikanische Unternehmen vergeben.Das konomische Entwicklungskonzeptder Clinton-Kommission bestnde in derSchaffung von Sweatshops in steuerfreienZonen. Nicht einen Gedanken habe mandort darauf verwendet, die vorhandenehaitianische Behrde fr sozialen Woh-nungsbau einzubeziehen und ffentlichenWohnungsbau zu frdern.

    Auch die Anwesenheit der Minustah, derUN-Truppen, zhlt zur negativen Bilanzdes autoritren Politikstils. Selbst inner-halb der UN-Verwaltung vor Ort wird derEinsatz als von Anfang an berdimensio-niert eingestuft. ber eine Million Dollarkostet er tglich. Und viele frchten, dasszwei Ergebnisse dieser jahrelangen Trup-penprsenz in Erinnerung bleiben wer-den: eine lange Liste nicht geahndeterVergewaltigungsverbrechen und die Ver-antwortung fr die weltweit grte Chole-raepidemie. In einer aufwendigen Recher-che zu den Wiederaufbaubemhungen inHaiti bilanziert die US-amerikanische Mu-sikzeitschrift Rolling Stone deshalb, derVersuch der Welt Haiti wiederaufzubauenist gescheitert. Auf das Erdbeben sei un-mittelbar die Katastrophe der guten Inten-tionen gefolgt. Bleibt wieder die Frage,was lernt die Welt daraus?

    Katja Maurer

    33

    Projektstichwort

    Medico untersttzt seit dem Erdbeben im Januar2010 eine Vielzahl haitianischer Organisationender Zivilgesellschaft. Die Manahmen reichen vonMenschenrechtsarbeit bis zu Gesundheitsprojek-ten, die alle die Selbstermchtigung der Haitianerzum Ziel haben. Spenden werden erbeten unterdem Stichwort: Haiti.

  • Der groe Hunger in thiopien liegt20 Jahre zurck. Was empfanden Sie,als sie jetzt die ersten Fernsehbilderder aktuellen Not in Ostafrika sahen?

    34

    Jamal: Damals schrieb ich meinen ers-ten Roman, lebte in London und hattedas Gefhl berhaupt den gesamten Su-dan erklren zu mssen, bevor ich mei-ne Geschichte beginnen kann, in der einjunger Mann aus England in den Sudan,das Land seines Vaters, reist und sich ineinem Brgerkrieg wiederfindet. Es wardie Zeit der groen Hungersnot und diebritischen Medien berichteten breit da-rber. Bob Geldorf initiierte die Band Aid-Bewegung und einen Sommer spterfolgte das globale Live Aid-Konzert. Aufeinmal sollten wir alle Afrika vor demHungertod bewahren, nur die Afrikanerselbst wurden dabei in passive Opfer oh-ne jede Stimme verwandelt. Heute, 20Jahre spter, sind viele Dinge gleich ge-blieben. Noch immer werden die Ursa-chen von Hunger und Brgerkriegen alsunergrndliche Mysterien betrachtet, dieihre Ursachen in tribalen und ethnischenStrukturen haben, die man weder erkl-ren noch begreifen kann.

    Die Hungersnot in Ostafrika war eineangekndigte Katastrophe und keinErdbeben. Die Warnsysteme der UNfunktionierten, die Signale wollte aberniemand hren. Auch die Verbindungzwischen der Spekulation auf Nah-rungsmittel, als einer Folge der Fi-nanzkrise von 2008, und der Liberali-sierung der Finanzmrkte war be-kannt.

    ostafrika

    Zeit des Aufstands Der sudanesisch-britische Schriftsteller Jamal Mahjoub ber das somalische Piraten, die Rolle der Hilfe und den Terror der kon

    Jamal Mahjoub ist ein Kosmopolit,

    der die erste Hlfte seines Lebens

    zwischen dem Sudan und Gro-

    britannien verbrachte und in seinen

    Romanen immer wieder beschreibt,

    wie Kulturen aufeinanderprallen.

    Heute wohnt er in Barcelona und

    kam nach Frankfurt, um den von

    medico mitinitiierten Aufruf Rechte

    statt Mitleid vorzustellen, mit dem

    afrikanische und europische Auto-

    ren die Beseitigung der strukturellen

    Ursachen der ostafrikanischen Hun-

    gerkatastrophe einfordern.

    Fo

    to: N

    ure

    ttin

    i

    ek.

  • schen ahnen, dass wir nicht immer beralle Hintergrnde, die zu Hunger undElend fhren, informiert werden, aberviele Hilfsorganisationen appellierendennoch nur ans Gewissen und bittenum Spenden fr die armen leidendenKinder. Es gibt nur wenig Verstndnisdavon, wie das Geld eigentlich einge-setzt werden kann und welche Spendewirklich hilft.

    Aber was knnen wir tatschlich tun,wenn die Regierungen nicht willenssind die Brsengesetze zu verschr-fen und damit den Tod Tausender billi-gend in Kauf nehmen? Die Presseberichtet offen ber die Zusammen-hnge, aber nichts geschieht.

    Das Problem ist ein vollkommendereguliertes kapitalistisches System. Die Wirtschaft ist libera-lisierter als je zuvor und fast alleRegierungen und mageblichenPolitiker agieren in der Logik derBanken und Finanzmrkte. DieSpekulation auf Nahrungsmittelals ein Weg Geld zu verdienen,treibt Millionen von Menschenweltweit in den Hunger, weil sieihre Familien nicht mehr ernhrenknnen. In den letzten zwei Deka-den erlebten wir im Norden denAbbau von Regierungsverant-wortlichkeiten und den Machtzu-wachs der Mrkte. Die konomiediktiert alles. Betrachten wir aberdie Situation aus dem Blickwinkeldes Sdens, so gilt in vielen Fra-gen weiterhin das Primat der Po-litik. Selbst die Mglichkeit desAufstandes wie er aktuell z.B. inder arabischen Welt stattfindet ist zurckgekommen. Die Men-schen suchen nach Wegen, wie

    Ja sicher, die Verbindung wird heute her-gestellt, aber fr die Mehrheit der Men-schen, die spenden oder gebeten wer-den zu spenden, hat sich der Kontextnicht wesentlich verndert. Es gibt zwarseit der Finanzkrise eine wachsende Auf-merksamkeit fr die konomischen Zu-sammenhnge und mehr und mehr Men-

    westliche Bild des Hungers,

    omie

    35

    Fl

    chlin

    gss

    tad

    t D

    ad

    aa

    b, K

    en

    ia, O

    kto

    be

    r 2

    01

    2. F

    oto

    : R

    eu

    ters

  • eine Gesellschaft durch politische Mitteltransformiert werden kann.

    Sie nennen Somalia einen knstlichgeschaffenen Nicht-Ort. Was mei-nen Sie damit?

    Somalia ist ein interessantes Beispieldafr, wie der Kalte Krieg an seinemEnde eine Art dland hinterlie. Jahr-zehntelang wurde es von einem ruchlo-sen Diktator regiert, der die Unterstt-zung des Westens genoss. Nachdem ihrMann Geschichte war, versuchten dieAmerikaner weiter ihren Einfluss zu be-halten. Sie scheiterten mit einer militri-schen Intervention, die sie humanitr be-grndeten, und hinterlieen 1993 das Fiasko der Operation Restore Hope. Dasgegenwrtige Bild Somalias ist das derPiraten, die die Ungerechtigkeit ankla-gen, wenn auch mit gewaltttigen Mit-teln. Somalische Fischer verlieren ihrEinkommen, da die Gewsser durch eu-ropische und japanische Fischerbooteleer gefischt werden. Gleichzeitig fahrengroe Containerschiffe vorbei und habenGter im Wert von Millionen Dollar anBord. Diese Boote sind wie ein locken-des Symbol: Das Geld segelt vor denAugen der arbeitslosen Fischer, sie se-hen es nicht, sie bekommen es nicht zufassen, es fhrt einfach vorbei. Und dannwerden aus Fischern genau diese Mn-ner, die aufstehen, rausgehen und dasGeld zurckholen. Sie sind ein Beispielfr unsere wechselseitigen Abhngigkei-ten in der heutigen Welt. Wenn wir billi-gen Fisch essen wollen, der am Hornvon Afrika gefangen wurde, mssen wirverstehen, dass wir das so erzeugteElend mitessen. Somalia ist ein Druck-punkt auf das zentrale Nervensystem,das Afrika und Europa verbindet. Wirsollten versuchen diese Zusammenhn-

    ge zu verstehen und nicht allein die Ge-setzlosen bekmpfen.

    In Afrika gibt es immer mehr Leute,die eine Einstellung der Entwick-lungszusammenarbeit fordern. Siesagen, lasst uns alleine und wir helfenuns selbst.

    Ja, genau und dagegen kann man nichtgut argumentieren. Es geht aber eigent-lich um die Frage: Was wurde mit demGeld tatschlich erreicht und was pas-siert danach? Entwicklungsorganisatio-nen und Geber operieren wie eine regel-rechte Industrie, inklusive entsprechen-der politischer Macht. Wir mssen dieHilfe neu erfinden. Die einzige Weisedas zu tun, ist es, neue Wege zu bestrei-ten und dabei aufzuzeigen: So strkenwir Euch, so bringen wir afrikanischeProdukte auf den Markt. Den Menschenmuss gestattet werden, ihren eigenenFisch zu verkaufen, ihre Shrimps selbstaus dem Wasser zu holen, anstatt dasssie von spanischen Schiffen gefischt

    36

  • werden. In Sudan und thiopien wurdenriesige Landflchen mit dem Verspre-chen verpachtet, dass 10 % der Ertrgelokal investiert werden. Aber viele dieserAbkommen haben keine Nachhaltigkeitsowie keine berprfbaren Klauseln undfhren in der Folge zu neuen Konflikten.Oft werden die Menschen einfach enteig-net oder die Vertrge werden mit einemKriegsherrn geschlossen, wie im sdlich-en Sudan. Die Regierungen geben dieVerantwortung ab. Die Lebensmittel wer-den aus Hungerlndern exportiert, alsbillige Alternative fr den Weltmarkt.Mit der Spekulation auf Lebensmittelkauft sich das Modell des liberalenMarktes selbst.

    Kann die Finanzkrise als die Kriseder Demokratie oder als Krise deswestlichen Marktmodells gesehenwerden?

    Gestern besuchten wir das Protest-camp vor der Europischen Zentral-bank. Wir sehen gegenwrtig diese

    Proteste berall in Europa und inNordamerika. Die Menschen de-monstrieren und besetzen die ffentli-chen Pltze. Sie fragen nach Gerech-tigkeit, und ich meine: nach sozialerGerechtigkeit. Es ist eine Forderung,die alle vereint, von Kairo bis Barce-lona, New York und London. Die Ideewird breitet sich aus, dass diese ab-solute Unverantwortlichkeit seitensder Finanzwelt nicht lnger annehm-bar ist. Jetzt werden die Politiker auf-gefordert fr ihre jahrelang verweiger-te Verantwortung geradezustehen.Das politische System wurde einSklave der konomie. Die Protestie-renden akzeptieren das nicht mehr.Die Menschen im Westen sahen, wasim Nahen Osten passierte. Sie iden-

    tifizierten sich mit den Protesten auf demTahrir-Platz und fragten sich, warum tunwir nichts? Wir erreichen jetzt den Punkt,an dem die Kluft zwischen Politik undden Bedrfnissen der Menschen dazufhren kann, dass wie in London ge-schehen die Gesellschaft auseinanderbricht. Die Frage bleibt, was geschieht,wenn Politiker hierauf nicht reagierenknnen was tun wir dann?

    Interview: Anne Jung und Martin Glasenapp

    37Piraten in Somalia: Das Geld segelt vor ihren Augen.

    Projektstichwort

    Mit einem integrierten Nothilfeprojekt an der Gren-ze zu Somalia verbindet das People's Health Mo-vement Kenya die Verteilung von Gtern zur Lin-derung der akuten Not mit der Bekmpfung derstrukturellen Ursachen der Hungerkrise. Es sollenalternative sowie langfristige Lsungen gefundenwerden und die Betroffenen in ihrer Auseinander-setzung um das Recht auf Gesundheit und Ernh-rung gegenber den kenianischen Behrdenuntersttzt werden. Das Spendenstichwort lautet:Ostafrika.

    Fo

    to: B

    BC

  • 38medico aktiv

    Zsuren begreifen medico im Mousonturm

    ann man in einer Bar bei Rotwein undSekt im weitgehend gentrifizierten

    Frankfurter Nordend ernsthaft ber dieMenschen sprechen, die nicht auf derSonnenseite leben? Die Veranstaltungs-reihe Zsuren medico trifft..., die wir imHerbst diesen Jahres gemeinsam mit demFrankfurter Knstlerhaus Mousonturmdurchfhrten, schien eine Paradoxie insich. Denn die entspannte Atmosphrekontrastierte mit den Themen und Ge-sprchspartnern. Mit der Zeit-RedakteurinAndrea Bhm unterhielten wir uns berden von ihr viel bereisten Kongo, dessenfortgesetzte kriegerische Konflikte auch

    unter Wissenschaftlern als Dritter Welt-krieg bezeichnet werden. Wie die Men-schen unter diesen Bedingungen mit

    K

    ie Frauen- und Menschenrechtsakti-vistin Shreen Saroor erhlt am 18.

    November den Bremer Friedenspreis2011. Die Stiftung die schwelle ehrt sieals begabte Netzwerkerin, die sich inder von Elend und Kriegsverwstungengeprgten Region insbesondere fr Frau-en stark macht, die Opfer von Gewalt undAusgrenzung geworden sind. Ihr leiten-des Motiv ist die eigene Erfahrung:Shreen entstammt zwar der unterdrcktenweitgehend hinduistisch geprgten tami-lischen Minderheit, gehrt aber zu den70.000 Menschen muslimischen Glau-

    bens, die 1990 von den Tamil Tiger-Rebel-len von der Nordwestkste der Insel ver-trieben wurden. Sie wuchs in einemFlchtlingslager auf, zog mit ihrer Familiespter in die Hauptstadt Colombo. Heutependelt sie zwischen Colombo und derNordprovinz, wo sie sich um die Vernet-zung von ber einhundert lokalen Frauen-gruppen kmmert.

    Fr medico hat Shreen 2005 an einer FactFinding Mission zum Stand der Tsunami-Hilfe teilgenommen. Die skandalse Un-gleichbehandlung von Mehrheits- und

    D

    Preis fr medico-Partnerin Shreen Saroor aus Sri Lanka erhlt Bremer Friedenspreis 2011

    Fo

    to: C

    hrist

    op

    h B

    oe

    ckh

    ele

    r

  • 39Erfreuliche Entwicklung

    Die stiftung medico interna-tional zieht Jahresbilanz

    m Vorabend des Attac- und Occupy-Protesttages in Frankfurt trafen sich

    die Vorstands- und Kuratoriumsmitgliederder stiftung medico international und zo-gen eine erfreuliche Bilanz. 2011 gab esber 450.000 Euro neue Zustiftungen so-wie Stiftungsdarlehen, und es konntenfast 95.000 Euro fr die medico-Projekt-und ffentlichkeitsarbeit ausgeschttetwerden. Damit sichert die Stiftung dasProjekt medico dauerhaft. Auch das jhrli-che Stiftungssymposium, das sich als Ortder Debatte um strategische Themen ver-steht, wurde diskutiert. Globale Verhlt-nisse und psychisches Leid so lautetder Arbeitstitel. Denn zu den kaum the-matisierten Begleiterscheinungen derkonomischen Globalisierung gehrt diemassive Zunahme von psychischen Er-krankungen wie Depressionen, Angstneu-rosen oder Suchtverhalten. Wie sich dasim globalen Sden aber auch in Deutsch-land darstellt, wird Thema der eintgigenVeranstaltung sein. Der Termin steht be-reits fest: 11. Mai 2012 in Frankfurt.

    Minderheitsbevlkerung auch durch dieinternationalen NGOs erkannte sie da-mals als Grund fr das Wiederaufflammendes Brgerkriegs. Den hat die Armee ab2008 als Krieg gegen den Terror gefhrt:allein in den letzten vier Kriegsmonatenfielen ihm 40.000 Menschen zum Opfer.

    Zu uns kam Shreen jetzt nicht nur zurPreisverleihung, sondern zu gemeinsa-men Lobbygesprchen in Berlin, Genf undBrssel. Thema war dabei nicht nur dieGewalt auf Sri Lanka, sondern die sehrreale Gefahr, dass die srilankische Vari-ante des Kriegs gegen den Terror zumMuster vieler anderer Lnder wird, in de-nen Minderheiten um ihre Rechte kmp-

    fen. Den Anfang droht das NachbarlandIndien im Krieg gegen die eigene Landbe-vlkerung zu machen; doch auch in Ko-lumbien und der Trkei wird ber einesrilankische Lsung spekuliert. Nachihrer Rckkehr wird sich Shreen wiederum diejenigen kmmern, die in der Hierar-chie der Ausgrenzung ganz unten stehen:berlebende Kmpferinnen der Tamil Ti-gers, die schutzlos der Willkr der Siegerausgeliefert sind und oft auch von den ei-genen Familien missachtet werden.

    A

    ungeheurer Kreativitt ihr berleben ge-stalten, war Thema des Abends. Mit derPsychoanalytikerin und Psychodramatike-rin Ursula Hauser sprachen wir ber diepsychischen Folgen von zementierterAusgrenzung am Beispiel des Gaza-Strei-fens. Und zuletzt mit dem Schriftsteller IlijaTrojanow ber die Mglichkeiten einer po-litischen Prosa angesichts eines fort-schreitenden Klimawandels, dem wir ohn-mchtig zusehen, obwohl wir um seineFolgen wissen. Die Ernsthaftigkeit, mit deralle Beteiligten, auch das anwesende Pu-blikum, um diese Themen rangen, schufjedes Mal eine dichte Atmosphre, die mitdieser Attde schon ein Stck Hoffnungverhie. Verzweiflung, so Ilija Trojanow,knnten sich ohnehin nur die Privilegiertenleisten. Unser Fazit: Es braucht diese Orteund diese intime, aber ernsthafte Ge-sprchsform. Wir hoffen, es geht nchstesJahr weiter.

    Ilija Trojanow in Frankfurt

  • Reisen in die Zivilgesellschaftmedico-Projekte und ihre Kontexte aus der Nahsicht

    Im Rahmen der Reisen in die Zivilgesellschaft, die die Berliner tageszeitung veranstaltet, werden auchregelmig Projektpartner von medico besucht. Die Zusammenarbeit von taz und medico hat sich insbe-sondere bei den Reisen nach Palstina/Israel bewhrt.Bis zum Jahreswechsel 2011/12 werden u.a. Reisen in den Iran, die Trkei und Mali angeboten. Fr diebereits ausgebuchte Reise nach Guatemala im Februar 2012, die von unserem medico-Kollegen vor Ort,Dieter Mller, vorbereitet und geleitet wird, gibt es nur den Platz auf der Warteliste. Wir klren gerade, obdie Guatemala-Reise im Februar 2013 noch einmal angeboten wird.

    Weitere Informationen unter www.taz.de/tazreisen

    Fluchtursache Reichtum