mathematik und gesellschaftlicher wandel

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323 Roland Fischer Mathematik und gesellschaftlicher Wandel 1 Summary: Society today needs more collective self-reflection. Mathematics could contribute to this goal if it undergoes substantial changes (in teaching, research and application). The main role of mathematics is to be an instrument and instrumentalism impedes self-reflection. There are two orientations for mathematics which could broaden the possibilities of mathematics for collective self-reflection: analysis of basic assumptions (mathematics as a mirror of mankind) and problem description instead of problem solving (mathematics as a means of presentation and communi- cation). This orientations can be illustrated by examples from applied mathematics, in special consideration of social sciences and economics. Die Botsehaft, die ich mit diesem Vortrag vermitteln mochte, ist - kurz gefaBt - die folgende: Die menschliehe Gesellsehaft steht in ihrem EntwieklungsprozeB heute vor spe- zifischen Aufgaben, die nur durch vermehrte kollektive Selbstreflexion bewiiltigt werden konnen. Fiir deren Forderung und damit fUr eine gedeihliehe Weiterentwicklung der Mensehheit kann die Mathematik niitzlieh sein, wenn sie bestimmte Neuorientierungen vornimmt. Grundsatzlieh bin ieh Optimist. Ich glaube, daB sieh die Mensehheit in jedem Fall zum Guten weiterentwiekeln wird. Zum Guten, damit meine ich, daB es weniger Leid fiir den Einzelnen, mehr Fiireinander statt Gegeneinander und mehr Selbsterkenntnis geben wird, wenn aueh Riieksehliige und Irrwege nieht zu vermeiden sind. Urn diese jedoeh gering zu halten und vor allem, urn die Ubergiinge so zu gestalten, daB die Mensehen sieh einstellen konnen, dafiir, meine ieh, konnen wir etwas tun. leh glaube weiters, daB die Gefahr besteht, daB bei wesentliehen Entwieklungsschritten wert volle Giiter fUr unwichtig erkliirt werden und in Vergessenheit geraten konnen. Es wird manehmal nieht gesehen, was sie beitragen oder zumindestens wie wiehtig sie fiir spiitere Aufgaben sein konnen. 1m konkreten geht es mir urn die geistigen Giiter, die von der Mathematik geschaffen wurden und die im Widerspruch zu manchen heute beobaehtbaren und notwendigen Entwieklungstendenzen zu stehen seheinen. 1 Uberarbeit.et.e und erweiterte Fassung eines Vortrages bei der 3. Internationalen Konferenz iiber Anwen- dungen und Modellbildung im Mat.hematikunterricht im September 1987 in Kassel. Eine englische Version dieses Aufsa\.zes ist in gekiirz\.er FassulIg erschienell ill BLUM et al. (1989) ulld erscheint in ungekiirzter Fassung in RESTIVO e\. al. (1991). (JMD 12 (91) 4, S. 323-345)

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Page 1: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

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Roland Fischer Mathematik und gesellschaftlicher Wandel 1

Summary: Society today needs more collective self-reflection. Mathematics could contribute to this goal if it undergoes substantial changes (in teaching, research and application). The main role of mathematics is to be an instrument and instrumentalism impedes self-reflection. There are two orientations for mathematics which could broaden the possibilities of mathematics for collective self-reflection: analysis of basic assumptions (mathematics as a mirror of mankind) and problem description instead of problem solving (mathematics as a means of presentation and communi­cation). This orientations can be illustrated by examples from applied mathematics, in special consideration of social sciences and economics.

Die Botsehaft, die ich mit diesem Vortrag vermitteln mochte, ist - kurz gefaBt - die

folgende: Die menschliehe Gesellsehaft steht in ihrem EntwieklungsprozeB heute vor spe­

zifischen Aufgaben, die nur durch vermehrte kollektive Selbstreflexion bewiiltigt werden

konnen. Fiir deren Forderung und damit fUr eine gedeihliehe Weiterentwicklung der

Mensehheit kann die Mathematik niitzlieh sein, wenn sie bestimmte Neuorientierungen

vornimmt.

Grundsatzlieh bin ieh Optimist. Ich glaube, daB sieh die Mensehheit in jedem Fall zum

Guten weiterentwiekeln wird. Zum Guten, damit meine ich, daB es weniger Leid fiir den

Einzelnen, mehr Fiireinander statt Gegeneinander und mehr Selbsterkenntnis geben wird,

wenn aueh Riieksehliige und Irrwege nieht zu vermeiden sind. Urn diese jedoeh gering zu

halten und vor allem, urn die Ubergiinge so zu gestalten, daB die Mensehen sieh einstellen

konnen, dafiir, meine ieh, konnen wir etwas tun. leh glaube weiters, daB die Gefahr besteht,

daB bei wesentliehen Entwieklungsschritten wert volle Giiter fUr unwichtig erkliirt werden

und in Vergessenheit geraten konnen. Es wird manehmal nieht gesehen, was sie beitragen

oder zumindestens wie wiehtig sie fiir spiitere Aufgaben sein konnen. 1m konkreten geht

es mir urn die geistigen Giiter, die von der Mathematik geschaffen wurden und die im

Widerspruch zu manchen heute beobaehtbaren und notwendigen Entwieklungstendenzen

zu stehen seheinen.

1 Uberarbeit.et.e und erweiterte Fassung eines Vortrages bei der 3. Internationalen Konferenz iiber Anwen­

dungen und Modellbildung im Mat.hematikunterricht im September 1987 in Kassel. Eine englische Version

dieses Aufsa\.zes ist in gekiirz\.er FassulIg erschienell ill BLUM et al. (1989) ulld erscheint in ungekiirzter

Fassung in RESTIVO e\. al. (1991).

(JMD 12 (91) 4, S. 323-345)

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324 R. Fischer

Komplexitat, Selbstorganisation und Selbstreflexion

Bevor ich auf die Moglichkeiten der Mathematik eingehe, mochte ich andeuten, wie ich

die Situation der menschlichen Gesellschaft heute sehe. Ich bin kein Gesellschaftswis­

senschaftler, sodaB meine Diagnose nur eine oberfliichliche sein kann und sich auBerdem

auf die Sichtweisen von entsprechenden Experten stiitzen muB. So hat der amerikanische

Sozialforscher John NAISBITT (1984) zehn sogenannte "Megatrends" zusammengestellt,

von denen er annimmt, daB sie in der Zukunft zumindestens in der westlichen Welt eine

besondere Rolle spielen werden. Das Verfahren war im Prinzip sehr einfach: Es basiert auf

der Inhaltsanalyse von mehr als 2 Millionen Artikeln in Lokalzeitungen in den USA. U.a.

sind folgende Trends herausgekommen:

• Notwendigkeit des strategischen Denkens III groBen Systemen (zeitlich, riiumlich

usw.) - aufgrund von Vernetzungen (okologischer, okonomisch-technischer, sozialer

Art usw.) ;

• Trend zur Dezentralisierung, von der Hierarchie zum sozialen Netzwerk

• vom Entweder/Oder-Denken zur Rollenvielfalt .

In bestimmter Weise scheinen diese Trends Antworten auf ein Phiinomen zu sein, von dem

heute ebenfalls viel die Rede ist: Komplexitiit. Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, an einer

Tagung iiber "Complexities of the Human Environment" teilzunehmen (von der Honda­

Foundation im Juli 1987 in Wien durchgefiihrt). Es wurde dort viel iiber Komplexitiit im

technologischen, im wirtschaftlichen und im Umwelt-Bereich gesprochen ,und es wurden

Ansiitze zu deren "Bewiiltigung" diskutiert: Entwicklung geeigneter Technologien, mehr

(internationale) Zusammenarbeit, Schaffung eines offentlichen BewuBtseins iiber diese Pro­

bleme sowie Entwicklung einer neuen Ethik. Fiir besonders interessant und weiterfiihrend

habe ich einen Beitrag des deutschen Soziologen Niklas LUHMANN gehalten, der durch

eine gleichsam epistemologische Ubedegung das Feld der Betrachtung substantiell erwei­

terte. Er sagte: Komplexitiit ist nicht allein eine Eigenschaft eines bestimmten beobachte­

ten Sachverhalts (Umwelt, Technik, Wirtschaft, ... ), sondern es ist auch eine Eigenschaft

der Beobachtung, d.h. der Relation zwischen "Sachverhalt" und dem Beobachter. Um das

Resultat von Beobachtungen zu verstehen, miissen auch die Beobachter beobachtet werden.

Global gesprochen: Die Beobachtung eines "Gegenstandes" durch die "Gesellschaft" muB

durch eine Selbstbeobachtung der Gesellschaft erganzt werden.

Page 3: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

Mathematik und Gesellschaft 325

Ein erstes Resultat der Selbstbeobachtung und eine mogliche Erkliirung der Komplexitiit

ist die Tatsache, da13 die Gesellschaft heute nicht als einheitlicher monolithischer Block

gesehen werden kann. LUHMANN sieht sie als ein Gefiige von relativ autonomen "sozia­

len Systemen". Beispiele von mehr oder weniger autonomen sozialen Systemen sind die

Wirtschaft, die Wissenschaft oder das Recht.

Der Begriff des sozialen Systems wird heute in der Soziologie intensiv diskutiert, wobei

sich Anleihen in Biologie und Kybernetik als fruchtbar erwiesen haben, wo zur Erkliirung

des Wesens und der Funktionsweise lebendiger Organismen bestimmte Begriffe und Theo­

rien entwickelt wurden. Zentral sind dabei die Begriffe der "Selbstorganisation" sowie des

"Selbstbezugs", wie sie vor aHem von den Biologen Umberto MATURANA und Francisco

VARELA verwendet werden. Ais wesentlich fiir lebendige Systeme wird gesehen, da13

sie in der Lage sind, ihre eigene Organisation zu reproduzieren (autopoietische Systeme).

VARELA (1986) vertritt den Standpunkt, daB neben einer an Maschinen orientierten Sy­

stemtheorie eine solche, die mehr dem Charakter der lebendigen Systeme entspricht, ent­

wickelt werden solle. Den Unterschied sieht VARELA vor allem darin, da13 maschinelle

Systeme durch ihr InputjOutput-Verhalten charakterisiert werden konnen, wiihrend fur

lebendige Systeme ihre innere Organisation, der innere Zusammenhalt und die Struktur

entscheidend sind. Diese interne Regelhaftigkeit - VARELA nennt sie auch "operational

closure" - fiihrt zu sogenannten "eigen-behaviors", welche unabhiingig von der Umwelt

entwickelt werden. Interaktionen mit der Umwelt erfolgen nun nicht in Form von Inputs

in den Organismus (etwa Informationen), die verarbeitet werden und dann zu Outputs

(eventuell beobachtbarem Verhalten) fiihren, sondern: Selbstorganisierte Systeme wahlen

aus, entsprechend ihrer inneren Organisation, sie deuten die Umwelt, sie geben manchen

Dingen einen Sinn, anderen keinen. VARELA schreibt:

... for an autonomous machine characterized by its closure and its eigen-behavior, what happens is that these eigen-behaviors will specify out of the noise what of that noise is of relevance. So, what you have is a laying down of a world, a laying down of a relevant "Umwelt". A world becomes specified or endowed with meaning; out ofeigen­behaviors, there arises possibility of generating "sense". So what we are talking about here is the contrast between an instructive Turing automaton and an autonomous machine capable of creating (or generating) sense. (VARELA 1986, S. 119).

Was sagen diese aus der Biologie kommenden Betrachtungen iiber soziale Systeme aus?

Es konnte sein, daB auch die Identitiit solcher Systeme etwas mit Selbstbezug, "operatio­

nal closure" und Entwicklung eines "eigen-behavior" zu tun hat. Fur hoher organisierte

Page 4: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

326 R. Fischer

Lebewesen, wie z.B. fiir den Menschen, hat man das ja immer angenommen. Die empiri­

schen Grundlagen der Forschungen VARELAs betreffen aber Zellen, Nervensysteme oder

Immunsysteme. Wenn sogar diese Systeme in der Lage sein sollten, durch die Interak­

tion ihrer Bestandteile so etwas wie eine "kollektive Seele" zu entwickeln, sollten nicht

dann auch soziale Systeme dazu in der Lage sein? Es gibt Hinweise darauf, daB dies der

Fall ist, und diese Sichtweise wird, wie schon erwiihnt, von manchen Soziologen vertreten,

aber auch von Managementwissenschaftlern. Ohne auf mehr Einzelheiten einzugehen -

ich verweise z.B. auf LUHMANN (1986) und ULRICH/PROBST (1984) - gehe ich im

weiteren von der Annahme aus, daB der Begriff des sozialen Systems in Verbindung mit

Selbst-Organisation und Selbstbezug einige Bedeutung fiir die Erkliirung des Ist-Zustandes

und damit fiir die weitere Entwicklung der Menschheit besitzt.

Ausgangspunkt des Exkurses in die (biologische und soziologische) Systemtheorie war die

Forderung Niklas Luhmanns nach einer Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Eine solche

Selbstbeobachtung gibt es natiirlich (zumindest) seit die Menschen ihre Geschichte auf­

zeichnen, die Sozialwissenschaften sind ein Ausdruck der Selbstbeobachtung, aber auch

Literatur, Massenmedien etc. Was nicht immer mit der notigen Konsequenz erfolgt(e), ist

der Rtickbezug auf "uns" selbst, d.h. das konsequente Stellen der Frage "Was hat das alles

mit uns zu tun?". Eine Selbstbeobachtung, die diese Frage immer wieder stellt, mochte

ich Selbstreflexion nennen. Selbstreflexion kann individuell erfolgen, sollte aber auch fiir

soziale Systeme moglich sein. In diesem Fall nenne ich sie kollektive Selbstreflexion. Sie

kann darin bestehen, daB Systemteile jeweils sich selbst und einander beobachten und sich

dartiber verstiindigen (insbesondere tiber den "blinden Fleck", den jedes (Sub- )System

hat). In dieser Differenz zwischen" Agieren" und "Reflektieren" entsteht Bewufitsein; Be­

wuBtsein z.B. tiber das, was in unserer Wahrnehmung der Umwelt (Natur) aus eigenen

(Vor- )Urteilen, Angsten und Wiinschen enthalten ist; oder BewuBtsein tiber Identitiit und

Funktion des jeweiligen sozialen Systems seiner Organisation und "eigen-behavior" - und

seiner verborgenen Ziele. BewuBtsein tiber (oder der) soziale(n) Systeme ist Voraussetzung

ftir eine erweiterte Handlungsfiihigkeit.

Instrumentalismus und Reflexion

Es stellt sich nun die Frage: Kann die Mathematik zu jenem ProzeB kollektiver Selbstrefle­

xion etwas beitragen? Auf den ersten Blick enthiilt die Mathematik gegenliiufige Tenden-

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Mathematik und Gesellschaft 327

zen. Die wichtigste derartige Tendenz: Die Mathematik wird primar als ein In$trument

gesehen, mit dem der Mensch - als erkennendes oder handelndes \Yesen - einer Sache

(z.B. Natur) gegentibertritt. Mit Hilfe dieses Instruments distanziert er sich auch Yon der

Sache, d.h. er drtickt aus, daB er etwas anderes ist. 1m Bereich der N aturerkenntnis hat

der Mensch die Mathematik gewissermaBen zwischen sich und die Katur geschoben (ob­

wohl er auch Natur ist). Durch diesen doppelten Akt der Trennung wurde zunachst die

Natur, dann auch die Mathematik zu einem Gegen$tand, den man erforschen, des sen man

sich bedienen kann. Wobei im konkreten Fall die Mathematik noch mehr mit der Katur

(Mathematik als Sprache der Natur) zu tun zu haben schien als mit dem 11enschen. So

etwas wirkt der Selbstreflexion entgegen.

~ ~lathematikl

Natur, Umwelt

Ein zweiter Beleg ftir die Ansicht, daB hier Mathematik auf der falschen Seite steht, er­

gibt sich aus der von VARELA vorgenommenen Gegentiberstellung von maschinellen und

autonomen Systemen. Als Instrument der Erfassung von Input/Output-Beziehungen, als

Hilfe bei der Bemtihung, von auBen etwas in Systemen zu bewirken, hat sich die Mathe­

matik bislang wohl mehr mit den maschinellen Systemen beschaftigt. Nicht von ungefahr

wird mathematische Systemtheorie oft mit "Kontrolltheorie" gleichgesetzt. Ein Beitrag

der Mathematik zur Selbstreflexion sozialer Systeme ist aus dieser Sicht unwahrscheinlich.

Allerdings: Die eben tiber den Charakter der Mathematik gemachten Aussagen stellen

selbst ein Moment der Reflexion dar; Reflexion nicht nur tiber eine bestimmte Sache, son­

dem auch Selbst-Reflexion tiber uns selbst, tiber unsere Beziehung zur Mathematik und zu

jenen Bereichen, die wir mittels Mathematik behandeln. Allgemeiner: Jedes Instrument,

das der Mensch bentitzt, kann auch als AnlaB, als Ausgangspunkt zur Selbstreflexion ge­

nommen werden, denn in ihm spiegeln sich ja Eigenschaften, Interessen und Zwecke des

Menschen - individuell und kollektiv - wider. Je "machtiger" ein Werkzeug ist, desto

mehr Moglichkeiten ftir diese Widerspiegelung bietet es.

Page 6: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

328 R. Fischer

Eine zweite Moglichkeit der Nutzung von Mathematik zur gesellschaftlichen Selbstreflexion

geht davon aus, daB diese Reflexion einen kommunikativen ProzeB zwischen Menschen

bzw. Gruppen von Menschen bedeutet. Die Kommunikation kann durch Mathematik

unterstiitzt werden. In diesem Fall kommt gerade der instrumentelle Charakter von Ma­

thematik zum Tragen, allerdings mit se!bstreflexiver Zielsetzung, was sowohl auf die Art

der Mittel als auch auf deren Handhabung einen EinfluB haben wird.

Ich mochte im folgenden zwei Orientierungen fiir die Mathematik (Lehre, Forschung, An­

wendung) vorschlagen, die den beiden genannten Moglichkeiten entsprechen. Diese Ori­

entierungen sind in der Mathematik moglicherweise immer schon angelegt gewesen, durch

den oben beschriebenen Instrumentalismus wurden sie jedoch verschiittet und zugedeckt.

Ich nenne diese Orientierungen:

• Analyse von Grundvoraussetzungen mathematischer Begriffe und Theorien - Ma­

thematik als Spiegel des Menschen;

• Problembeschreibung statt Problemlosung - Mathematik als Darstellungs- und Kom­

munikationsmittel.

Analyse von Grundvoraussetzungen

Ich beginne mit einem Beispiel: Bekannt ist die Formel

fiir ein Kapitel nach t Jahren bei eJ;ltsprechender Verzinsung. (Je nachdem, welche Werte

fiir t zugelassen sind, gilt die Formel fiir verschiedene Kapitalisierungsintervalle und auch

fiir die sogenannte "stetige Verzinsung".) Nicht so bekannt ist die Tatsache, daB die obige

Forme! Losung von zwei Funktionalgleichungen ist. FaBt man K t als Funktion von Ko und

von t auf, also

Kt = f(Ko, t)

so sind dies die beiden folgenden Gleichungen:

f(Ko + Kb, t) = f(Ko, t) + f(Kb, t)

f(Ko, t + tf) = f(f(Ko, t), t')

Page 7: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

Mathematik und Gesellschaft 329

(Vgl. EICHHORN 1978, Seite 10)

Beide Gleichungen kann man als Invarianzeigen8chaften bei Teilung interpretieren. Die

erste bezieht sich auf eine Teilung de8 Kapita18, die zweite auf eine Teilung der Zeit.

Etwas konkreter: Die erste Gleichung besagt: Wenn man das Anfangskapital auf zwei Teile,

niimlich Ko bzw. Kri, aufteilt und beide verzinst, eventuell bei verschiedenen Banken, so

erhiilt man in Summe dasselbe Ergebnis, wie wenn man das Gesamtkapital bei einer Bank

verzinst hiitte. Die zweite Gleichung besagt: Wenn ich ein Kapital zuniichst fur die Zeit t

anlege, dann abhebe, aber gleich wieder einzahle fur die Zeit t', so erhalte ich dasselbe,

wie wenn ich das urspriingliche Kapital gleich fiir den gesamten Zeitraum t + t' angelegt

hiitte. In gewisser Weise sind dies Grundannahmen der Zinseszinsrechnung. Wir wissen,

daB sie streng genommen in der Praxis nicht erfullt sind. Fur ein groBer'es Kapital erhiilt

man mehr Zinsen und ebenso dann, wenn man ein bestimmtes Kapital von vornherein fur

einen liingeren Zeitraum bindet.

Eine Interpretation des obigen Beispiels in sozialem Kontext ware die folgende: Der Haupt­

zweck groBer Kapitalbetrage fur langere Zeitraume in unserer Wirtschaft ist der, daB damit

Menschen zur Zusammenarbeit veranlaBt werden konnen, so daB sie mehr erreichen konnen

als die Summe dessen, was jeder als einzelner tun kann, ausmachen wurde. Die klassische

Zinseszinsformel abstrahiert von dieser Zwecksetzung. Sie abstrahiert einerseits von der

Anstrengung, die notig ist, Menschen - oder Kapital - fur langere Zeit zusammenzu­

bringen, wie auch davon, daB dann mehr herauskommen kann, als die Summe des getrennt

Erreichbaren ergeben wiirde.

Bekanntlich tragt die Mathematik selbst zur Reflexion ihrer Begriffe, Theorien und Ver­

fahren sehr viel bei - im obigen Beispiel durch den Beweis des Satzes, daB die Zinseszins­

formel Losung eines bestimmten Systems von Funktionalgleichungen ist. Man kann sagen:

Die Theorien der angewandten und auch der reinen Mathematik sind Ergebnisse solcher

Reflexionen. In Ihnen wird untersucht, unter welchen Voraussetzungen welche Verfahren

angewendet werden konnen, was die Resultate besagen usw. (man denke beispielsweise

an die mathematische Statistik). Allerdings gibt es bei diesen Reflexionen Unter8chiede

hin8ichtlich ihrer Bedeutung fur 80ziale Selbstreflexion.

Denken wir an den Zahlbegriff. Man kann eine Theorie der naturlichen oder der reel­

len Zahlen als eine Reflexion uber den Zahlbegriff auffassen. Dabei geht es urn logi­

sche Abhiingigkeit zwischen Aussagen, urn interne Konsistenziiberlegungen, urn relative

Page 8: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

330 R. Fischer

Existenzbeweise, um Herleitung tiefliegender Siitze (z.B. iiber Primzahlverteilung). Eine

andere Perspektive der Reflexion des Zahlbegriffs, die ich im Hinblick auf soziale Selbstre­

flexion jedoch fiir bedeutsamer halte, nimmt die M efltheorie ein. Es geht bei ihr um die

Frage, unter welchen Voraussetzungen es sinnvoll ist, Dingen der "Wirklichkeit" Zahlen

zuzuordnen, und was das bedeuten kann. Als Voraussetzung des Messens wird dabei die

Konstruktion einer Abbildung

f : A --tIR

von einem Gegenstandsbereich A in die reellen Zahlen angesehen, wobei bestimmte Relatio­

nen im Gegenstandsbereich in "verniinftige" Relationen im Bereich der Zahlen abgebildet

werden sollen, z.B. auf die natiirliche Ordnung oder auf die Addition. Ein einfacher Satz

der MeBtheorie iiber die Moglichkeit einer solchen Konstruktion ist der folgende:

Satz: Sei A eine hochstens abziihlbare Menge und Seine biniire Relation auf

A. Dann existiert eine Abbildung f : A -----> IR mit

Va, bE A : as b {=:::> f(a) < f(b)

genau dann, wenn Seine strikte schwache Ordnung ist. (V gl. ROBERTS 1979,

S. 101,102,109).

(Eine strikte schwache Ordnung ist eine asymmetrische Relation, deren Nega­

tion transitiv ist.)

Je nach dem Grad der Eindeutigkeit einer "MeBabbildung" f unterscheidet man verschie­

dene sogenannte "Skalentypen". Bekannt sind z.B. Verhiiltnisskalen, Ordinalskalen usw.

Die Theorie liefert weiter, daB bestimmte Operationen mit den MeBgroBen nur unter be­

stimmten Voraussetzungen sinnvoll sind. Dazu gehort etwa die bekannte Tatsache, daB

die Bildung des arithmetischen Mittels bei Ordinalskalen kein geeignetes Verfahren ist.

Wenn die MeBtheorie auch innerhalb der mathematischen SchluB- und Darstellungsweise

verbleibt, eroffnet sie doch recht grundsiitzliche Perspektiven. Sie untersucht die Prinzipien

unseres messenden Tuns, sie stellt aber auch Fragen nach Alternativen, z.B. nicht nume­

rische Messung oder mehrdimensionale Messung (siehe ROBERTS 1979). Ich mochte hier

eine ganz konkrete didaktische Empfehlung aussprechen: Die MeBtheorie sollte zur Stan­

dardausbildung von Mathematikern gehoren, wodurch neben der vorherrschenden Tendenz

der theoretischen Verfeinerung und Aufspiirung interner Strukturzusammenhange eines

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Mathematik und Gesellschaft 331

Begriffes auch die Reflexionen iiber seine Beziehungen nach auBen treten wiirde, und zwar

auf einer prinzipielleren Ebene,als es mit einzelnen Beispielen mathematischer Modellbil­

dung moglich ist.

Ein wei teres Beispiel eines fruchtbaren Feldes fiir Reflexionen ist die mathematische Wirt­

schaftstheorie. Ich habe mich damit eingehender beschaftigt (vgl. FISCHER 1987, 1988),

mochte hier aber nur einige Andeutungen machen. Zu den Grundvoraussetzungen der so­

genannten Gleichgewichtstheorie gehort die Trennung der Wirtschaftswelt in verschiedene

Einheiten. Die Beziehungen zwischen diesen Einheiten werden durch Geld- und GiiterfluB

sowie durch Information uber die Preise bestimmt. Dariiber hinausgehende Wechselwir­

kungen werden vernachlassigt. Weiters wird vorausgesetzt, daB jede Einheit sich rational

verhiilt und zwar im Sinne der Maximierung einer jeweils bestimmten reellen Funktion

("Profit" bzw. "Nutzenfunktion").

Die Adaquatheit dieser Theorie wurde sehr grundsatzlich in Zweifel gezogen. Beispielsweise

behauptet KORNAI (1975) ,daB zwischen den Wirtschaftseinheiten wesentlich mehr Infor­

mation ausgetauscht wird als bloB jene iiber Preise. Dariiber hinaus entwirft die Theorie ein

Bild der Wirtschaft, das dem einer grofien Maschine entspricht, ohne gemeinsamen Willen

und ohne kollektive Freiheit - sondern Willen und Freiheit nur fur die Teile, namlich fiir

die verschiedenen Einheitenj diese konnen z.B. ihre Praferenzordnungen wahlen, wenn sie

bestimmte allgemeine Bedingungen beachten. Aber nicht nur Wille und Freiheit werden

geteilt, sondern auch Rationalitiit. Der "rational economic man", der seinen Profit oder

seine Nutzenfunktion zu maximieren versucht, ohne Rucksicht auf das, was andere tun, ist

die zentrale Figur. 1m konkreten Fall kann die Annahme einer geteilten, individualisierten

Rationalitiit die Bewaltigung von Problemen verhindern, die gemeinsame Anstrengungen

erfordern, die etwas anderes sind als die Summe der Optimierungsanstrengungen der ein­

zelnen Einheiten. (Das klassische spieltheoretische Beispiel einer solchen Situation ist das

Gefangenendilemma (SEN 1982, S. 63).)

Uber ihre Inadaquatheit hinaus konnen solche Theorien auch ein Gefahrenpotential dar­

stellen. Dies deshalb, weil derartige Theorien nicht nur beschreibende,sondern auch nor­

mative Funktion haben. Man versucht, die Wirklichkeit so zu gestalten, wie es die Theorie

vorsieht. Allgemeiner: Durch eine Theorie der obigen Art kann ein soziales System auf

der Ebene eines maschinellen, von Input/Output-Beziehungen gepragten Systems gehalten

und in seiner Entwicklung zu mehr BewuBtsein und zu mehr Handlungsfahigkeit behindert

Page 10: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

332 R. Fischer

werden.

In noch grundsatzlicherer Weise sieht der Wirtschaftstheoretiker Thomas KUCZYNSKI

(1987) Grenzen der Mathematisierung wirtschaftlicher Phanomene: Die Tatsache, daB

es in der Mengenlehre verboten ist, einzelne Elemente einer Menge unter Bezug auf die

gesamte Menge zu definieren, steht fiir ihn im Widerspruch zu dem sozialwissenschaftlichen

Ansatz, das Individuum als "ensemble der gesellschaftlichen Verhaltnisse" aufzufassen (vgl.

auch FISCHER 1988).

Das letzte Beispiel fiir die Orientierung "Mathematik als Spiegel der Menschheit", das ich

anfiihren mochte, ist gleichzeitig das prinzipiellste: eine Betrachtung iiber Zusammenhiinge

zwischen der Organisation des Wissens und der Organisation der Gesellschaft. Von dem

Philosophen und Gruppendynamiker Gerhard SCHWARZ (1985) stammt der Gedanke, die

vier Axiome der klassischen Logik, namlich Identitatsaxiom, der Satz vom Widerspruch,

~er Satz vom ausgeschlossenen Dritten sowie das Prinzip vom zureichenden Grund, als

Axiome der Hierarchie (als Form sozialer Organisation) zu deuten. Ich habe die Deutung

erweitert, indem ich die "Gleichung" aufstellte:

Logik: Hierarchie = Mathematik : Biirokratie

(siehe FISCHER 1987). Die Analogie wird auf Grund verschiedener Gemeinsamkeiten

zwischen Mathematik und Biirokratie hergestellt, z.B.: verselbstandigtes Regelsystem,

Materialisierung der Regeln, Verfahrensorientierung. Urn MiBverstandnisse zu vermeiden:

Ich habe nicht die iibliche negative Einstellung zur Biirokratie. Fiir viele Angelegenhei­

ten ist sie eine effiziente Organisationsform, jedenfalls war sie ein historisch notwendiger

Schritt bei der Entwicklung von Organisationsformen. Das Studium und die Schaffung von

Biirokratien kann auch sehr faszinierend sein - so faszinierend wie Studium und Schaff en

von Mathematik.

Man kann die obige Gleichung auch in der folgenden Form anschreiben:

Logik: Mathematik = Hierarchie : Biirokratie

Nun bedeutet sie, daB die Logik eine ahnliche Rolle fiir die Mathematik spielt wie die

Hierarchie fiir die BiirokI'atie: Logik bzw. Hierarchie sind in gewissem Sinn das jeweilige

"organisatorische Skelett".

Page 11: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

Mathematik und Gesellschaft 333

In diesem Zusammenhang sei ein Ergebnis der Kleingruppenforschung erwiihnt, das auf

einen Zusammenhang zwischen der Art der verarbeiteten Information und der Gruppen­

organisation hindeutet. Bei storungsfreier Kommunikation iiber klare Sachverhalte erzielt

eine hierarchisch geordnete Gruppe bessere Resultate (bei der Koordination der Informa­

tion). Wenn aber "Starungen" eingebracht werden, indem Informationsinhalte vorgegeben

werden, iiber die nicht so klar gesprochen werden kann, sind "heterarchische" Gruppen den

hierarchischen iiberlegen. Sie sind in der Lage, eine Sprache zu entwickeln, wohingegen

hierarchische Gruppen zu zerfallen drohen (siehe FOERSTER 1984).

Problem-Beschreibung

Das folgende Beispiel stammt aus einem Vortrag von Fred ROBERTS (1986) und soll

dazu dienen, den Unterschied zwischen konventioneller mathematischer Problemlasung

und dem, was ich hier meine, aufzuzeigen. Der Vortragende stellte da!; folgende Problem:

Gegeben ist das rechteckige StraJ3ennetz einer GroBstadt. Alle StraBen sind

in beiden Richtungen befahrbar. Infolge starken Verkehrs treten jedoch oft

Stauungen auf und die Luft weist hohe Abgaswerte auf. Man beschlieBt daher,

alle StraBen zu Einbahnstraf3en zu machen. Wie soll das geschehen?

Eine Forderung ist natiirlich die, daB man von jedem Punkt zu jedem kommen konnen soll.

Mathematisch ausgedriickt: Der entstehende Digraph soll stark zusammenhangend sein.

Doch welche Forderungen sind dariiber hinaus zu stellen? Welche Kriterien fiir Effektivitat

gibt es? Von ROBERTS wurden unter anderem folgende Vorschlage gemacht:

Fiir zwei Knoten u, v des StraBennetz-Graphen (d.h. Kreuzungen) seien d( u, v)

bzw. d(u, v) die Langen der kiirzesten Verbindungen im alten (ungerichteten)

bzw. im neuen (gerichteten) Graphen. Man kann nun die folgenden GraBen

betrachten (n = Anzahl der Knoten):

Page 12: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

334 R. Fischer

(1) maxu,v d(u, v)

(2) 1 -n 2_n Lu#V d(u,v)

(3) maxu,v[d( u, v) - d( u, v)]

(4) n2~n Lu#v[d(u, v) - d(u, v)]

(5) 1 Lumaxv n

d(u, v)

(6) 1 -n Lu[maxv d(u, V) - maxv d(u, V)]

Beziiglich jeder der angegebenen GroBen kann man argumentieren: Je kleiner diese GroBe,

desto besser ist die Losung. Eine im Hinbliek auf eine bestimmte GroBe optimale Losung

ist gegeben, wenn diese GroBe minimal ist.

ROBERTS hat dann mit Hilfe komplizierter kombinatoriseher Uberlegungen Losungen fiir

Teilprobleme angegeben, insbesondere fiir zwei der genannten Optimalitatskriterien. D.h.

es wurden entspreehende EinbahnstraBenmuster angegeben.

Ieh stelle nun die Frage: Was bedeutet eine solehe Losung fUr die Praxis? !eh meine:

Nieht allzuviel. Das beginnt damit, daB es unwahrscheinlich ist, daB zunachst aIle StraBen

"ZweibahnstraBen" sind und mit einem Schlag zu EinbahnstraBen gemacht werden sollen,

was in den Kriterien (3), (4) und (6) implizit angenommen wird. Gravierender ist die allen

Kriterien zugrunde liegende Annahme, daB alle StraBen gleiche Bedeutung haben. In der

Praxis ist aber die Besiedlung nieht gleichmaBig, es gibt Haupt- und NebenstraBen, es gibt

Bezirke, in denen Menschen arbeiten und solche, in denen sie wohnen, wodureh bestimmte

Routen besondere Bedeutung haben. Sowohl Maximumbildung als auch Mittelwertbil­

dung erseheinen somit problematisch. Mit anderen Worten: Es ist nicht anzunehmen, daB

auch nur eines der angegebenen "globalen" Optimalitiitskriterien der Sache angemessen ist.

Aueh andere glob ale Kriterien konnen kaum besser sein. Es konnte auBerdem sogar sein,

daB die Mensehen dieser Stadt aus bestimmten, zunaehst nieht erklarbaren, Griinden ein­

fach wollen, daB eine bestimmte StraBe in beiden Richtungen befahrbar bleibt. SchlieBlich

miiBte man aueh heutzutage mit Biirgerinitiativen reehnen, wenn man irgendeine Losung in

der Praxis durchsetzen mochte. ROBERTS wies in seinem Vortrag auf ahnliche Probleme

hin.

Page 13: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

Mathematik und Gesellschaft 335

Bedeutet das nun, dafi Mathematik hier iiberhaupt nicht angebracht ist? Ich glaube,

daB sich mathematische Begriffe und Darstellungsformen in diesem Fall zur Beschreibung

des Problems ganz gut eignen. Ungerichteter und gerichteter Graph liefern zunachst ein

anschauliches Bild der Situation und konnen fiir Experimente beniitzt werden (z.B. Simula­

tion). Die Formulierungen der GroBen (1), (2) oder (3) wei sen auf verschiedene grundsatz­

liche Standpunkte bei der Optimierung hin. Weitere Begriffe konnten gebildet werden, die

beispielsweise das offentliche Verkehrsnetz einbeziehen, den Rang von StraBen als Haupt­

und NebenstraBe entsprechend dem derzeitigen VerkehrsfluB, eine Bezirkseinteilung der

Stadt usw. Dabei konnten auch Begriffe der Graphentheorie Verwendung finden, z.B. der

des "Flusses" in einem bewerteten Graph, oder neue erfunden werden. Die Komplexitat

des Problems wiirde dabei natiirlich in einer Weise anwachsen, daB eine ."mathematische"

Losung in immer weitere Ferne riicken wiirde. Es ware aber auch nicht Aufgabe dieses

Prozesses, das Problem endgiiltig zu losen. Aufgabe ware es eben, wie oben erwahnt, das

Problem zu beschreiben, damit die betroffenen Bewohner der Stadt oder ihre Vertreter

aufgrund dieser Beschreibung verniinftige Entscheidungen treffen konnen.

Wie hangt das mit Selbstreflexion zusammen? Offensichtlich handelt es sich nicht urn eine

so grundlegende wie bei den Betrachtungen des Zusammenhanges zwischen Mathematik

und Hierarchie, nicht einma! wie bei jenen tiber die Zineszinsformel. Aber: Es geht urn die

Reflexion der Interessen und Bediirfnisse der Menschen eines bestimmten sozialen Systems

im Hinblick auf eine Problemsituation. Natiirlich gibt es solche Reflexionen auch bei

konventioneller mathematischer Vorgangsweise. Man mochte die Wiinsche und Interessen

der Betroffenen erfahren, urn das Modell verfeinern zu konnen. Das Ziel ist allerdings

immer eine (die) endgiiltige Losung. Emotional miissen daher neue Gesichtspunkte oder

Widerspriiche von den Modellerstellern als Storungen empfunden werden. Sie mochten,

daB man ihnen doch endlich sagt, was man will, damit sie eine Losung finden konnen. Dem

gegeniiber versteht sich der Mathematiker bei der von mir vorgeschlagenen Orientierung

als Explorateur des Problems, der den Menschen hilft, ihre Vorstellungen zu artikulieren,

der auf Alternativen hinweistj ja jemand, der gegebenenfalls sogar die Losung verzogert.

Wahrend in der klassischen Vorgangsweise der Mathematiker versucht, die Komplexitat zu

reduzieren und Alternativen auszuschlieBen, handelt er im anderen Fall entsprechend dem

"ethischen Imperativ", der von Heinz von FOERSTER (1984, S. 3) so formuliert wurde:

" Act always so as to increase the number of choices" .

Page 14: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

336 R. Fischer

Aus verschiedenen Anwendungsgebieten der Mathematik sind Stimmen zu vernehmen, die

in iihnliche Richtung argumentieren - wenn auch meist nicht so radikal. Auf drei dieser

Gebiete mochte ich kurz eingehen.

Das erste Gebiet ist die angewandte Systemanalyse. In der Niihe von Wien befindet sich

das "International Institute for Applied Systems Analysis", eine gemeinsame Einrichtung

westlicher und ostlicher Industriestaaten, wo unter anderem Computersimulationen fiir

groBe okologische, okonomische und andere Systeme erstellt werden. In einem Vortrag

des Direktors des Instituts, Thomas H. LEE, bei der eingangs erwiihnten Tagung iiber

"Complexities of the Human Environment" sprach dieser von einer Trendiinderung in

der Modellierung von Systemen. Statt der Verwendung klassischer mathematischer Ver­

fahren (vor allem aus dem Bereich der Operationsforschung), die jeweils auch Losungen

angeboten haben, werden in den letzten Jahren vor allem sogenannte "interactive decision­

support-systems" entwickelt. Deren Aufgabe ist es nicht, den Menschen Entscheidungen

abzunehmen, sondern sie bei der Entscheidungsfindung zu unterstiitzen. Noch deutlicher

hat dies der bekannte Systemanalytiker Dennis MEADOWS (1986) bei einem Vortrag in

Wien zum Ausdruck gebracht. Aufgabe sogenannter "strategischer Modelle" ist nicht die

Vorhersage der Zukunft. Sie erfiillen vielmehr folgende Aufgaben:

• Research

• Communication

• Legitimation

• Education (MEADOWS 1986, S. 83)

Nur die erste dieser vier Funktionen bezieht sich primiir auf die "Sache"; es geht hier um

die Erkundung des Problemfeldes. Die drei anderen Funktionen haben ausdriicklich mit

Kommunikation bzw. der Herstellung sozialer Beziehungen zu tun (bei "Legitimation"

geht es um die Legitimation des Modellerstellers im Kreise der gesellschaftlich relevanten

Personen in Bezug auf das jeweilige Problem).

Ein zweiter Bereich mathematischer Anwendungen, in dem ebenfalls die Tendenz "Mathe­

matik zur Problembeschreibung" explizit zu vernehmen ist, ist die schon genannte mathe­

matische Okonomie. Eines der wichtigsten Probleme im okonomischen Bereich ist die Be­

urteilung wirtschaftlicher Ungleichheit, etwa in einem Staat. Von Wirtschaftstheoretikern

wurden verschiedene Indizes zu deren Messung entwickelt. Urn eine Vorstellung davon

Page 15: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

Mathematik und Gesellschaft 337

zu vermitteln, gebe ich zwei solche Indizes an. Fur den ersten Index seien yt, . .. , Yn die

Einkommen der Personen in einer Gemeinschaft und Jl das arithmetische Mittel dieser

Einkommen. Man nennt dann

c = J~ L:f=l(Yi - J.l)2

J.l

den "Variationskoeffizienten" dieser Verteilung (vgl. SEN 1973, S. 27). Fur das zweite

Mail benotigt man noch eine Funktion, die jedem Einkommen den aus diesen Einkommen

gezogenen Nutzen zuordnet ("Nutzenfunktion"). Eine solche Funktion U wird im allgemei­

nen als monoton wachsend und konkav angenommen, sodail mit wachsendem Einkommen

pro Geldeinheit immer weniger Nutzen gezogen werden kann. Damit kann nun folgendes

Ungleichheitsmail gebildet werden:

Es wird der Index von DALTON genannt (vgl. SEN 1973, S. 37). 1st U streng konkav, so

ist D = 0 genau dann, wenn aile Yi gleich sind. Fur C ist die entsprechende Eigenschaft

unmittelbar ersichtlich. Bei beiden MaBen ist plausibel: Je groBer die Ungleichheit, desto

groBer ist der entsprechende Index.

Aber die MaBe sind verschieden. Ordnet man Staaten nach dem MaB cler Ungleichheit

ihrer Einkommensverteilung, so konnen sich bei verschiedenen Inclizes verschiedene Rang­

orclnungen ergeben. Auilerdem haben einzelne MaBe verschiedene Eigenschaften, die als

mehr oder weniger wunschenswert erachtet werden. Interessant ist z.B. die Frage: Wie

reagiert der Wert eines Index auf Umverteilungen von reich zu arm im mittleren oder hohe­

ren Einkommensbereich? (In jedem Fall soli naturlich der Wert kleiner werden). Oder:

Sollen UngleichheitsmaBe das absolute Einkommensniveau berucksichtigen, sollen sie bei

proportionalen oder bei additiven Einkommensanderungen invariant bleiben? Ein Unter­

schied wird gesehen zwischen "deskriptiven" Indizes, wie dem Variationskoeffizienten, und

sogenannten "normativen", wie dem DALTONschen, wo in Form cler Nutzenfunktion eine

bestimmte "Norm" bei der Definition benutzt wird. Der Wirtschaftstheoretiker Amartya

SEN spricht sich fur ein Nebeneinander der verschiedenen Indizes aus, wobei es ihm wichtig

ist, daB die einzelnen Maile nicht zu stringent interpretiert werden. Er schreibt:

I have tried to argue in favour of weakening the inequality measures in more than one sense. First of ali, the mixture of partly descriptive and partly normative considera­tions weakens the purity of an inequality index. A purely descriptive measure lacks

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338 R. Fischer

motivation, while a purely normative measure seems to miss important features of the concept of inequality ... Second, even as normative indicators the inequality measures are best viewed as "non-compulsive" judgements recommending something but not with absolutely compelling force. This has implications in terms of the treatment of inequality ran kings as prima facie arguments and permitting situation-specific consi­derations to be brought into the evaluation if such supplementation is needed (SEN 1973, S. 75).

Offensichtlich ist hier ein Umgang mit Mathematik gemeint, der dem Gedanken des Dar­

stellens, Kommunizierens sowie der Problembeschreibung im Sinne kollektiver Selbstrefle­

xion entspricht.

Ais dritten Bereich, wo die genannte Tendenz - die es natiirlich immer gegeben hat, aber

die, so glaube ich zu bemerken, in jiingerer Zeit expliziter in das BewuBtsein der Forscher

tritt - zum Ausdruck kommt, nenne ich die Anwendungen der Mathematik in Psychologie

und Soziologie. Ich zitiere dazu nur den Psychologen Lee CRONBACH, jemand der sich urn

den Einsatz mathematischer Methoden in der Psychologie verdient gemacht hat und der

insbesondere einen "boom" von Forschungsergebnissen nach dem Muster der "aptitude­

treatment-interactions" in den USA mitveranlaBt hat, fiir die die mathematische Statistik

ein wesentliches Hilfsmittel darstellt (genauer siehe FISCHER 1987). Er ist heute Professor

emeritus an der Stanford University und schreibt seit mehr als zehn Jahren kritische Artikel

iiber die Entwicklung der Sozialwissenschaften. Auch wenn sich das Folgende nicht direkt

auf den Einsatz mathematischer Methoden bezieht, meine ich, daB fiir die Mathematik

daraus etwas abgeleitet werden kann. CRONBACH schreibt:

Concepts contribute to pluralistic decision making by helping participants examine their situations and values ... The social scientist helps not by playing expert but by playing educator, eternally pressing the question, "Have you taken X and Z into account?" 'Social science is cumulative not in possessing ever-more-refined answers about fixed questions but in possessing an ever-richer repertoire of questions. The educative influence of a piece of research may extend far into the future. Concepts have enduring value, and so does a sense of what-connects-to what. (CRONBACH 1982, S. 72-73)

Disziplinierung und Vergegenstandlichung

Ich mochte zu den beiden Orientierungen "Analyse von Grundvora~ssetzungen" SOWle

"Mathematik als Kommunikationsmittel" noch folgende Bemerkungen machen. Die beiden

Orientierungen beziehen sich auf Analyse und Synthese von sozialer Wirklichkeit. Die erste

Orientierung betont mehr den Analyseaspekt. Durch die Reflexion iiber bestehende Ma-

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Mathematik und GeseUschaft 339

thematik versucht sie, die sich in dieser Mathematik spiegelnden gesellschaftlichen Verhalt­

nisse zu analysieren. Die zweite Orientierung ist mehr auf Synthese ausgerichtet. Durch

Kommunikation werden soziale Beziehungen geschaffen; soziale Systeme mit ihrer Iden­

titiit, ihrer "operational closure" und ihrem "eigen-behavior" werden konstruiert. Je mehr

mathematische Begriffe als Kommunikationsmittel akzeptiert werden, desto mehr definie­

ren sie auch soziale Beziehungen. Das beste Beispiel ist die Wirtschaft, die teilweise von

mathematischen Konzepten beherrscht wird.

Mit Hilfe von Mathematik wurden immer schon auch soziale Systeme konstruiert, Piidago­

gen haben die Auswirkungen dieses Prozesses auf den einzelnen manchmal als "Diszipli­

nierung" bezeichnet und kritisiert. Ich meine, dafi wir urn das nicht herumkommen, ja

daB sogar ein Mehr an "Disziplinierung" durch Mathematik notig sein wird, daB wir dies

aber bewuBter tun soIl ten und daB wir die Mittel dem Ziel des Bauens von Systemen mit

Menschen besser anpassen sollten.

Die Funktion der Mathematik in den Prozessen kollektiver Selbstreflexion ist Vergegen­

standlichung. Soziale oder andere Verhiiltnisse werden in eine gegenstiindliche Form ge­

bracht,und ich meine das auch wortlich im Sinne von Materialisierung. Mathematik liefert

visuelle Bilder, die in der Regel symbolisch gemeint sind, d.h. zu deren Verstiindnis man be­

stimmte gesellschaftliche Konventionen kennen muB. Solche Bilder sind meines Erachtens

unentbehrlich fiir die Kommunikation, wenn sie iiber kleine Gruppen hinausreichen solI.

D.h. es ist nicht so, dafi wir Mathematik zur kommunikativen Selbstreflexion beniitzen

sollen, weil sie eben da ist - obwohl dieser Grund schon ausreichen wiirde -, sondern

ohne sie, besser ohne eine Welt von Symbolen, die bestimmte Verhiiltnisse widerspiegelt,

wiirden wir uns sehr schwer tun. Der franzosische Priihistoriker· und Anthropologe Andre

LEROI-GOURHAN schreibt: Eine "Gesellschaft, in der die Fiihigkeit zur Schopfung von

Symbolen nachlieBe, verlore zugleich ihre Handlungsfiihigkeit" (LEROI-GOURHAN 1980,

S. 267; siehe auch FISCHER 1984). In diesem Sinn und unter Beachtung der Moglichkeiten

von Computern glaube ich, dafi es eine Bedeutungsverschiebung in der Mathematik vom

Umgang mit gegebenen Symbolapparaten hin zur Schaffung neuer Symbole geben wird, in

Verbindung mit der Untersuchung der Adiiquanz und sozialen Bedeutung der jeweiligen

Kalkiile. Vielleicht ist das gleichzeitig ein Schritt zur "Entzauberung" der Symbole, da

ja immer die Gefahr besteht, daB die an sich notwendige Vergegenstiindlichung des Ab­

strakten durch Mystifizierung zu einer Verabsolutierung jeweiliger Verhiiltnisse wird. Eine

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340 R. Fischer

sehr machtige und im weiteren Sinn mathematische Vergegenstandlichung von Abstraktem

stellt iibrigens das Geld dar, wo uns die erwahnte Gefahr Tag fiir Tag vor Augen tritt.

Es ware interessant, die Beziehung zwischen Disziplinierung und Objektivierung durch

Mathematik von einem sozialphilosophischen Standpunkt aus zu analysieren. Die Objek­

tivierung sozialer Beziehungen bedeutet auf der einen Seite eine Distanzierung zwischen

uns und eben diesen Beziehungen, wodurch eine Befreiung von diesen erfolgen kann. Wir

werden fiihig, diese Beziehungen handzuhaben, sie zu "manipulieren" - all dies kann

die Freiheit des einzelnen und der Gesellschaft vergroBern. Auf der anderen Seite gibt

Objektivierung den sozialen Verhaltnissen einen absoluten, vielleicht sogar ewigen Cha­

rakter - auf diese Weise erhiilt Disziplinierung mehr Nachdruck, sie wird strenger, rigider

und bedriickender. Die Konstruktion sozialer Systeme mit Hilfe von Mathematik wird

dann so betrieben, daB es nur eine Moglichkeit gibt und kein Entkommen. Die "Einsicht

in die Notwendigkeit" oder deren Mangel - beides macht die Dinge fiir den einzelnen

deprimierend.

Ich denke, der Weg, die Vorteile der Objektivierung zu bewahren und ihre Nachteile zu

vermeiden, besteht darin, den Prozep der Objektivierung, die Konstruktion von Symbolen,

bewupter zu mach en und ihn in die Verfiigung der Menschen zu bringen. Auf diese Weise

wiirden die Objekte ihren absoluten, ewigen Wesenszug verlieren, man wiirde Alternativen

sehen. Gleichzeitig wiirden die K onstruktion von sozialen Systemen und die unvermeidliche

Disziplinierung einen spielerischen Charakter annehmen, wie es der Fall ist fiir die Kon­

struktion mathematischer Systeme entsprechend einem formalistischen Verstandnis der

Mathematik. Ich glaube, daB eines der Probleme sozialen Wandels ist, daB wir die sozialen

Verhiiltnisse zu ernst nehmen. Diese Ernsthaftigkeit erlaubt uns nicht jene Flexibilitat,

die notig ware, mit heutigen Problemen fertig zu werden. Mathematik ist mitschuldig an

dieser Ernsthaftigkeit. Auf der anderen Seite wiirde Mathematik auch Spiel und Freiheit

bieten. Ich formuliere es als eine VerheiBung: Sozial haben wir noch nicht jene Stufe von

Freiheit und Flexibilitat erreicht, die wir in der reinen Mathematik erreicht haben. Aber

als ein Optimist sage ich: Wir sind auf dem Weg dahin.

Page 19: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

Mathematik und Gesellschaft 341

Management - wie Reflexion zum Instrument wird

Mein PHidoyer fiir mehr Reflexion erscheint bequem, wenn es aus der Position des Philo­

sophen erfolgt. Was ist allerdings, wenn man "in der Praxis" steht, etwas bewirken soll,

fiir ein soziales System verantwortlich ist? Die Aufgabe, soziale Veriinderungen zuminde­

stens in iiberschaubaren Bereichen herbeizufiihren, wird iiblicherweise dem Management

zugeschrieben. Seit Ende des 2. Weltkrieges hat hier eine Mathematisierung stattgefun­

den unter dem Titel "Operations Research". In den letzten Jahren gewinnt jedoch unter

Management-Theoretikern eine Diskussionsrichtung an Bedeutung, die einerseits auf die

Grenzen dieser mathematischen Methoden hinweist und die andererseits mit jener Sicht

von sozialen Systemen sympathisiert, die ich eingangs geschildert habe. Wesentliche Teile

dieser Auffassung werden von den beiden Schweizer Betriebswirtschaftlern Fredmund MA­

LIK und Gilbert PROBST unter dem Titel "Evolutioniires Management" beschrieben

(1984). Ich mochte auf drei Charakteristika dieser Art von Management und auf deren

Beziehungen zur Mathematik kurz eingehen.

Das erste Charakteristikum besteht darin, daB auch "kunstliche ", von M ens chen geschaf­

fene Organisationen, wie z.B. eine Firma, als selbstorganisierte, sich selbst entwickelnde,

soziale Systeme angesehen werden. Das heiBt z.B., daB eine Firma nicht nur von den

Zwecken, die offiziell festgelegt, und von den Strukturen, die bewuBt geschaffen werden,

bestimmt wird. Sie stellt vielmehr einen Sozialkorper dar, der eine eigene durch mehr

oder minder bewuBte Interaktionen gebildete Identitiit hat, der zum Teil nach versteckten

Regeln funktioniert und damit in gewisser Weise auch unberechenbar ist. Ursachen fiir

Entwicklungen sind zwar menschliche Aktivitiiten, nicht immer aber menschliche Absich­

ten. Ohne bewuBtes Wollen konnen Regeln entstehen, nach denen die Dinge ablaufen.

Als Fazit ergibt sich daraus: Dem rationalen Wirken sind enge Grenzen gesetzt, insbe­

sondere konventionelle mathematische, auf "Losungen" ausgerichtete, Methoden konnen

wesentliche Bereiche der Betriebsfiihrung nicht erfassen.

Der zweite Punkt besteht darin, daB der Manager konsequent als Teil des Systems angese­

hen wird, ja Teil des Systems sein muB, wenn er iiberhaupt etwas bewirken will. Insbeson­

dere muB er Verbindungen eingehen, die tiber das Sammeln objektivierbarer Informationen

hinausgehen. Wenn er das tut, kann er moglicherweise - sozusagen als Katalysator -

Prozesse beeinflussen. In ihrem Buch "Kiinstliche Intelligenz - Von den Grenzen der

Denkmaschine und dem Wert der Intuition", haben die Computerkritiker Hubert und

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342 R. Fischer

Stuart DREYFUS (1987) ein Kapitel dem Thema "Management - Kunst oder Wissen­

schaft" gewidmet. Sie kritisieren darin, an Hand einiger Beispiele, den Einsatz mancher

mathematischer Methoden in der Unternehmensfiihrung. Der Tenor der Kritik: Mathe­

matische Methoden beziehen sich nur auf kontextfreie, zergliederte Informationen. Fiir

den Manager ist damit nur eine relativ niedrige Stufe auf dem Weg zum Expertentum er­

reichbar, niimlich die des "fortgeschrittenen Anfangers", bestenfalls jene der "Kompetenz".

Hohere Stufen, niimlich die der "Gewandtheit" oder die des wirklichen "Expertentums",

sind nur in auch intuitiver Verbindung mit dem jeweiligen sozialen System erreichbar. Die

hoheren Stufen des Expertentums und die damit verbundene Intuition set zen die niederen

Stufen und auch formale Methoden voraus.

Die Methode der distanzierten Informationsverarbeitung entspricht ihrer Meinung nach

auch jenem Karrierestil von Managern, der mit haufigem Jobwechsel verbunden ist und

vor allem in den USA gepflogen wurde und wird. Sie meinen, daB Erfolge japanischer

Unternehmen u.a. auf die enge Verbundenheit der jeweiligen Manager mit dem sozialen

System ihrer Firma zuriickzufiihren sind. Zu den mathematischen Verfahren schreiben sie:

Ganz generell richten aile formalen Entscheidungsmodelle Fragen an den Experten, die ihn in eine distanzierte, objektive Position versetzen, und vermogen sein intuitives Expertenwissen daher nicht anzuzapfen. Wie konventionelle KI oder Expertensysteme leiden auch diese Modelle darunter, daB teilnehmendes Know-how sich nicht durch distanziertes Know-that ersetzen liiBt - ein Problem, das auch bei Versuchen, Fabriken und Biiros zu automatisieren, eine Rolle spielt (DREYFUS/DREYFUS 1987, S. 246).

Das heiBt nicht, daB die Autoren mathematische Verfahren rundweg ablehnen. Ais "Decision­

Support-Systems", im Sinne von "was ware wenn"-Modellen, halten sie diese durchaus

fiir niitzlich. Besonders heben sie in jiingster Zeit entwickelte Computerhilfsmittel zur

Unterstiitzung der Kommunikation und sogar Konversation zwischen Managern hervor,

da "der EntscheidungsprozeB nur einen Bruchteil der Manager-Aktivitaten ausmacht"

(DREYFUS/DREYFUS 1987, S. 257). Sie schreiben:

"Koordinatoren" heiBen beispielsweise die Mitglieder einer neuen Familie von Mikro­computerhilfsmitteln, die Fernando Flores von der Firma Action Technologies in San Francisco zusammen mit Terry Winograd von der Universitiit Stanford und anderen entwarf. Grundgedanke der Geriite ist, daB aile Handlungen des Managements sozial sind, also verb ale Kommunikation von Mensch zu Mensch beinhalten. Die Koordina­toren sollen den Menschen ihre Zusammenarbeit erleichtern. Mit einem Koordinator kann der Manager seine Arbeit wie gewohnt erledigen, indem er nachforscht, instru­iert, befiehlt, befragt, ersucht, vorschliigt, einliidt, verspricht und berichtet. Wiihrend er dies tut, sendet der Koordinator die Mitteilungen des Managers automatisch an dessen Mitarbeiter, fordert zur Kommunikation auf und empfangt die Botschaften der

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Mathematik und Gesellschaft

anderen. Selbstverstandlich versteht der Computer den Sinn dieser Mitteilung nicht. Dennoch vereinfacht er, indem er sie aufzeichnet, lebhafte Unterhaltungen, die im Management unverzichtbar sind. (DREYFUS/DREYFUS 1987, S. 256-257).

343

Die Autoren grenzen diese Methoden auch von Management-Informationssystemen ab, die

oft nur eine unhandliche Fiille von Daten liefern.

Das dritte Charakteristikum der beschriebenen neuen Managementrichtung besteht in der

Auffassung, daB der erfahrene Manager nicht auf Grund bewuBter Uberlegungen iiber die

Zukunft, sondern auf Grund einer grundlichen Kenntnis der Gegenwart entscheidet. Es

sind nicht ausgekliigelte Prognosemodelle, die bei Entscheidungen den Ausschlag geben,

sondern es ist die intuitive Erfassung des sen, was ist (vgl. DREYFUS/DREYFUS 1987).

Wie kann dann der Manager aber etwas bewirken? Indem er ein soziales System mit

seiner gegenwartigen Realitat konfrontiert, ist eine Antwort, die der Managementberater

und Kybernetiker Stafford BEER (1986) gibt. Er sieht dies als ein Element asiatischer

Denkweise bzw. Managementkunst. Bei uns versucht man, Ziele zu definieren, dann eine

Organisation dorthin zu bringen, wobei man oft scheitert. Die andere Moglichkeit ist,

ein System mit seinen Strukturen, Bediirfnissen und Wiinschen zu konfrontieren, es sich

Ziele set zen lassen und dann die innere Dynamik auszuniitzen, urn es dorthin kommen

zu lassen - mit etwas Hilfe und Anleitung. Selbstreflexion wird damit zu einem Instru­

ment und zwar zu einem durchaus wirkungsvollen, wenn man den Berichten verschiedener

Managementberater Glauben schenken darf.

SchluBbemerkung

Ein Grundproblem sozialen Wandels ist heute - und war moglicherweise immer - das

Umgehen mit den gegenlaufigen Tendenzen Vernetzung und Autonomie. Auf der einen

Seite geht es darum, Verbindungen herzustellen bzw. zu erkennen, auf der anderen Seite

besteht das Bediirfnis nach und die Notwendigkeit von Selbstandigkeit. Die Mathematik

kann hier in vielfiiltiger Weise beteiligt werden. Ihr Beitrag beim Erkennen von Zusam­

menhangen wurde immer schon gesehen. DaB sie selbst Ausdruck von sozialen Vernetzun­

gen und Strukturen sein und solche auch schaffen kann, ist weniger offensichtlich. Gerade

in der Reflexion dessen, in ihrer Funktion als Spiegel sozialer Verhaltnisse, kann sie aber

auch Beitrage in Richtung Autonomie leisten. Gleichzeitig ist sie in der Lage, durch ein

besseres Verstandnis ihrer Rolle als Kommunikationsmittel neue Moglichkeiten fiir die Ver-

Page 22: Mathematik und gesellschaftlicher Wandel

344 R. Fischer

bindung zwischen Menschen und zwischen sozialen Systemen zu schaffen. Wir solI ten es

daher nicht zulassen, daJ3 die Mathematik ganzlich vom traditionellen Aufgabenbereich

vereinnahmt wird.

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Prof. Dr. Roland Fischer Universitiit Klagenfurt, Institut fur Mathematik UniversitiitsstraEe 65-67 A-9022 Klagenfurt