mathematik und gesellschaftlicher wandel
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Roland Fischer Mathematik und gesellschaftlicher Wandel 1
Summary: Society today needs more collective self-reflection. Mathematics could contribute to this goal if it undergoes substantial changes (in teaching, research and application). The main role of mathematics is to be an instrument and instrumentalism impedes self-reflection. There are two orientations for mathematics which could broaden the possibilities of mathematics for collective self-reflection: analysis of basic assumptions (mathematics as a mirror of mankind) and problem description instead of problem solving (mathematics as a means of presentation and communication). This orientations can be illustrated by examples from applied mathematics, in special consideration of social sciences and economics.
Die Botsehaft, die ich mit diesem Vortrag vermitteln mochte, ist - kurz gefaBt - die
folgende: Die menschliehe Gesellsehaft steht in ihrem EntwieklungsprozeB heute vor spe
zifischen Aufgaben, die nur durch vermehrte kollektive Selbstreflexion bewiiltigt werden
konnen. Fiir deren Forderung und damit fUr eine gedeihliehe Weiterentwicklung der
Mensehheit kann die Mathematik niitzlieh sein, wenn sie bestimmte Neuorientierungen
vornimmt.
Grundsatzlieh bin ieh Optimist. Ich glaube, daB sieh die Mensehheit in jedem Fall zum
Guten weiterentwiekeln wird. Zum Guten, damit meine ich, daB es weniger Leid fiir den
Einzelnen, mehr Fiireinander statt Gegeneinander und mehr Selbsterkenntnis geben wird,
wenn aueh Riieksehliige und Irrwege nieht zu vermeiden sind. Urn diese jedoeh gering zu
halten und vor allem, urn die Ubergiinge so zu gestalten, daB die Mensehen sieh einstellen
konnen, dafiir, meine ieh, konnen wir etwas tun. leh glaube weiters, daB die Gefahr besteht,
daB bei wesentliehen Entwieklungsschritten wert volle Giiter fUr unwichtig erkliirt werden
und in Vergessenheit geraten konnen. Es wird manehmal nieht gesehen, was sie beitragen
oder zumindestens wie wiehtig sie fiir spiitere Aufgaben sein konnen. 1m konkreten geht
es mir urn die geistigen Giiter, die von der Mathematik geschaffen wurden und die im
Widerspruch zu manchen heute beobaehtbaren und notwendigen Entwieklungstendenzen
zu stehen seheinen.
1 Uberarbeit.et.e und erweiterte Fassung eines Vortrages bei der 3. Internationalen Konferenz iiber Anwen
dungen und Modellbildung im Mat.hematikunterricht im September 1987 in Kassel. Eine englische Version
dieses Aufsa\.zes ist in gekiirz\.er FassulIg erschienell ill BLUM et al. (1989) ulld erscheint in ungekiirzter
Fassung in RESTIVO e\. al. (1991).
(JMD 12 (91) 4, S. 323-345)
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Komplexitat, Selbstorganisation und Selbstreflexion
Bevor ich auf die Moglichkeiten der Mathematik eingehe, mochte ich andeuten, wie ich
die Situation der menschlichen Gesellschaft heute sehe. Ich bin kein Gesellschaftswis
senschaftler, sodaB meine Diagnose nur eine oberfliichliche sein kann und sich auBerdem
auf die Sichtweisen von entsprechenden Experten stiitzen muB. So hat der amerikanische
Sozialforscher John NAISBITT (1984) zehn sogenannte "Megatrends" zusammengestellt,
von denen er annimmt, daB sie in der Zukunft zumindestens in der westlichen Welt eine
besondere Rolle spielen werden. Das Verfahren war im Prinzip sehr einfach: Es basiert auf
der Inhaltsanalyse von mehr als 2 Millionen Artikeln in Lokalzeitungen in den USA. U.a.
sind folgende Trends herausgekommen:
• Notwendigkeit des strategischen Denkens III groBen Systemen (zeitlich, riiumlich
usw.) - aufgrund von Vernetzungen (okologischer, okonomisch-technischer, sozialer
Art usw.) ;
• Trend zur Dezentralisierung, von der Hierarchie zum sozialen Netzwerk
• vom Entweder/Oder-Denken zur Rollenvielfalt .
In bestimmter Weise scheinen diese Trends Antworten auf ein Phiinomen zu sein, von dem
heute ebenfalls viel die Rede ist: Komplexitiit. Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, an einer
Tagung iiber "Complexities of the Human Environment" teilzunehmen (von der Honda
Foundation im Juli 1987 in Wien durchgefiihrt). Es wurde dort viel iiber Komplexitiit im
technologischen, im wirtschaftlichen und im Umwelt-Bereich gesprochen ,und es wurden
Ansiitze zu deren "Bewiiltigung" diskutiert: Entwicklung geeigneter Technologien, mehr
(internationale) Zusammenarbeit, Schaffung eines offentlichen BewuBtseins iiber diese Pro
bleme sowie Entwicklung einer neuen Ethik. Fiir besonders interessant und weiterfiihrend
habe ich einen Beitrag des deutschen Soziologen Niklas LUHMANN gehalten, der durch
eine gleichsam epistemologische Ubedegung das Feld der Betrachtung substantiell erwei
terte. Er sagte: Komplexitiit ist nicht allein eine Eigenschaft eines bestimmten beobachte
ten Sachverhalts (Umwelt, Technik, Wirtschaft, ... ), sondern es ist auch eine Eigenschaft
der Beobachtung, d.h. der Relation zwischen "Sachverhalt" und dem Beobachter. Um das
Resultat von Beobachtungen zu verstehen, miissen auch die Beobachter beobachtet werden.
Global gesprochen: Die Beobachtung eines "Gegenstandes" durch die "Gesellschaft" muB
durch eine Selbstbeobachtung der Gesellschaft erganzt werden.
Mathematik und Gesellschaft 325
Ein erstes Resultat der Selbstbeobachtung und eine mogliche Erkliirung der Komplexitiit
ist die Tatsache, da13 die Gesellschaft heute nicht als einheitlicher monolithischer Block
gesehen werden kann. LUHMANN sieht sie als ein Gefiige von relativ autonomen "sozia
len Systemen". Beispiele von mehr oder weniger autonomen sozialen Systemen sind die
Wirtschaft, die Wissenschaft oder das Recht.
Der Begriff des sozialen Systems wird heute in der Soziologie intensiv diskutiert, wobei
sich Anleihen in Biologie und Kybernetik als fruchtbar erwiesen haben, wo zur Erkliirung
des Wesens und der Funktionsweise lebendiger Organismen bestimmte Begriffe und Theo
rien entwickelt wurden. Zentral sind dabei die Begriffe der "Selbstorganisation" sowie des
"Selbstbezugs", wie sie vor aHem von den Biologen Umberto MATURANA und Francisco
VARELA verwendet werden. Ais wesentlich fiir lebendige Systeme wird gesehen, da13
sie in der Lage sind, ihre eigene Organisation zu reproduzieren (autopoietische Systeme).
VARELA (1986) vertritt den Standpunkt, daB neben einer an Maschinen orientierten Sy
stemtheorie eine solche, die mehr dem Charakter der lebendigen Systeme entspricht, ent
wickelt werden solle. Den Unterschied sieht VARELA vor allem darin, da13 maschinelle
Systeme durch ihr InputjOutput-Verhalten charakterisiert werden konnen, wiihrend fur
lebendige Systeme ihre innere Organisation, der innere Zusammenhalt und die Struktur
entscheidend sind. Diese interne Regelhaftigkeit - VARELA nennt sie auch "operational
closure" - fiihrt zu sogenannten "eigen-behaviors", welche unabhiingig von der Umwelt
entwickelt werden. Interaktionen mit der Umwelt erfolgen nun nicht in Form von Inputs
in den Organismus (etwa Informationen), die verarbeitet werden und dann zu Outputs
(eventuell beobachtbarem Verhalten) fiihren, sondern: Selbstorganisierte Systeme wahlen
aus, entsprechend ihrer inneren Organisation, sie deuten die Umwelt, sie geben manchen
Dingen einen Sinn, anderen keinen. VARELA schreibt:
... for an autonomous machine characterized by its closure and its eigen-behavior, what happens is that these eigen-behaviors will specify out of the noise what of that noise is of relevance. So, what you have is a laying down of a world, a laying down of a relevant "Umwelt". A world becomes specified or endowed with meaning; out ofeigenbehaviors, there arises possibility of generating "sense". So what we are talking about here is the contrast between an instructive Turing automaton and an autonomous machine capable of creating (or generating) sense. (VARELA 1986, S. 119).
Was sagen diese aus der Biologie kommenden Betrachtungen iiber soziale Systeme aus?
Es konnte sein, daB auch die Identitiit solcher Systeme etwas mit Selbstbezug, "operatio
nal closure" und Entwicklung eines "eigen-behavior" zu tun hat. Fur hoher organisierte
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Lebewesen, wie z.B. fiir den Menschen, hat man das ja immer angenommen. Die empiri
schen Grundlagen der Forschungen VARELAs betreffen aber Zellen, Nervensysteme oder
Immunsysteme. Wenn sogar diese Systeme in der Lage sein sollten, durch die Interak
tion ihrer Bestandteile so etwas wie eine "kollektive Seele" zu entwickeln, sollten nicht
dann auch soziale Systeme dazu in der Lage sein? Es gibt Hinweise darauf, daB dies der
Fall ist, und diese Sichtweise wird, wie schon erwiihnt, von manchen Soziologen vertreten,
aber auch von Managementwissenschaftlern. Ohne auf mehr Einzelheiten einzugehen -
ich verweise z.B. auf LUHMANN (1986) und ULRICH/PROBST (1984) - gehe ich im
weiteren von der Annahme aus, daB der Begriff des sozialen Systems in Verbindung mit
Selbst-Organisation und Selbstbezug einige Bedeutung fiir die Erkliirung des Ist-Zustandes
und damit fiir die weitere Entwicklung der Menschheit besitzt.
Ausgangspunkt des Exkurses in die (biologische und soziologische) Systemtheorie war die
Forderung Niklas Luhmanns nach einer Selbstbeobachtung der Gesellschaft. Eine solche
Selbstbeobachtung gibt es natiirlich (zumindest) seit die Menschen ihre Geschichte auf
zeichnen, die Sozialwissenschaften sind ein Ausdruck der Selbstbeobachtung, aber auch
Literatur, Massenmedien etc. Was nicht immer mit der notigen Konsequenz erfolgt(e), ist
der Rtickbezug auf "uns" selbst, d.h. das konsequente Stellen der Frage "Was hat das alles
mit uns zu tun?". Eine Selbstbeobachtung, die diese Frage immer wieder stellt, mochte
ich Selbstreflexion nennen. Selbstreflexion kann individuell erfolgen, sollte aber auch fiir
soziale Systeme moglich sein. In diesem Fall nenne ich sie kollektive Selbstreflexion. Sie
kann darin bestehen, daB Systemteile jeweils sich selbst und einander beobachten und sich
dartiber verstiindigen (insbesondere tiber den "blinden Fleck", den jedes (Sub- )System
hat). In dieser Differenz zwischen" Agieren" und "Reflektieren" entsteht Bewufitsein; Be
wuBtsein z.B. tiber das, was in unserer Wahrnehmung der Umwelt (Natur) aus eigenen
(Vor- )Urteilen, Angsten und Wiinschen enthalten ist; oder BewuBtsein tiber Identitiit und
Funktion des jeweiligen sozialen Systems seiner Organisation und "eigen-behavior" - und
seiner verborgenen Ziele. BewuBtsein tiber (oder der) soziale(n) Systeme ist Voraussetzung
ftir eine erweiterte Handlungsfiihigkeit.
Instrumentalismus und Reflexion
Es stellt sich nun die Frage: Kann die Mathematik zu jenem ProzeB kollektiver Selbstrefle
xion etwas beitragen? Auf den ersten Blick enthiilt die Mathematik gegenliiufige Tenden-
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zen. Die wichtigste derartige Tendenz: Die Mathematik wird primar als ein In$trument
gesehen, mit dem der Mensch - als erkennendes oder handelndes \Yesen - einer Sache
(z.B. Natur) gegentibertritt. Mit Hilfe dieses Instruments distanziert er sich auch Yon der
Sache, d.h. er drtickt aus, daB er etwas anderes ist. 1m Bereich der N aturerkenntnis hat
der Mensch die Mathematik gewissermaBen zwischen sich und die Katur geschoben (ob
wohl er auch Natur ist). Durch diesen doppelten Akt der Trennung wurde zunachst die
Natur, dann auch die Mathematik zu einem Gegen$tand, den man erforschen, des sen man
sich bedienen kann. Wobei im konkreten Fall die Mathematik noch mehr mit der Katur
(Mathematik als Sprache der Natur) zu tun zu haben schien als mit dem 11enschen. So
etwas wirkt der Selbstreflexion entgegen.
~ ~lathematikl
Natur, Umwelt
Ein zweiter Beleg ftir die Ansicht, daB hier Mathematik auf der falschen Seite steht, er
gibt sich aus der von VARELA vorgenommenen Gegentiberstellung von maschinellen und
autonomen Systemen. Als Instrument der Erfassung von Input/Output-Beziehungen, als
Hilfe bei der Bemtihung, von auBen etwas in Systemen zu bewirken, hat sich die Mathe
matik bislang wohl mehr mit den maschinellen Systemen beschaftigt. Nicht von ungefahr
wird mathematische Systemtheorie oft mit "Kontrolltheorie" gleichgesetzt. Ein Beitrag
der Mathematik zur Selbstreflexion sozialer Systeme ist aus dieser Sicht unwahrscheinlich.
Allerdings: Die eben tiber den Charakter der Mathematik gemachten Aussagen stellen
selbst ein Moment der Reflexion dar; Reflexion nicht nur tiber eine bestimmte Sache, son
dem auch Selbst-Reflexion tiber uns selbst, tiber unsere Beziehung zur Mathematik und zu
jenen Bereichen, die wir mittels Mathematik behandeln. Allgemeiner: Jedes Instrument,
das der Mensch bentitzt, kann auch als AnlaB, als Ausgangspunkt zur Selbstreflexion ge
nommen werden, denn in ihm spiegeln sich ja Eigenschaften, Interessen und Zwecke des
Menschen - individuell und kollektiv - wider. Je "machtiger" ein Werkzeug ist, desto
mehr Moglichkeiten ftir diese Widerspiegelung bietet es.
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Eine zweite Moglichkeit der Nutzung von Mathematik zur gesellschaftlichen Selbstreflexion
geht davon aus, daB diese Reflexion einen kommunikativen ProzeB zwischen Menschen
bzw. Gruppen von Menschen bedeutet. Die Kommunikation kann durch Mathematik
unterstiitzt werden. In diesem Fall kommt gerade der instrumentelle Charakter von Ma
thematik zum Tragen, allerdings mit se!bstreflexiver Zielsetzung, was sowohl auf die Art
der Mittel als auch auf deren Handhabung einen EinfluB haben wird.
Ich mochte im folgenden zwei Orientierungen fiir die Mathematik (Lehre, Forschung, An
wendung) vorschlagen, die den beiden genannten Moglichkeiten entsprechen. Diese Ori
entierungen sind in der Mathematik moglicherweise immer schon angelegt gewesen, durch
den oben beschriebenen Instrumentalismus wurden sie jedoch verschiittet und zugedeckt.
Ich nenne diese Orientierungen:
• Analyse von Grundvoraussetzungen mathematischer Begriffe und Theorien - Ma
thematik als Spiegel des Menschen;
• Problembeschreibung statt Problemlosung - Mathematik als Darstellungs- und Kom
munikationsmittel.
Analyse von Grundvoraussetzungen
Ich beginne mit einem Beispiel: Bekannt ist die Formel
fiir ein Kapitel nach t Jahren bei eJ;ltsprechender Verzinsung. (Je nachdem, welche Werte
fiir t zugelassen sind, gilt die Formel fiir verschiedene Kapitalisierungsintervalle und auch
fiir die sogenannte "stetige Verzinsung".) Nicht so bekannt ist die Tatsache, daB die obige
Forme! Losung von zwei Funktionalgleichungen ist. FaBt man K t als Funktion von Ko und
von t auf, also
Kt = f(Ko, t)
so sind dies die beiden folgenden Gleichungen:
f(Ko + Kb, t) = f(Ko, t) + f(Kb, t)
f(Ko, t + tf) = f(f(Ko, t), t')
Mathematik und Gesellschaft 329
(Vgl. EICHHORN 1978, Seite 10)
Beide Gleichungen kann man als Invarianzeigen8chaften bei Teilung interpretieren. Die
erste bezieht sich auf eine Teilung de8 Kapita18, die zweite auf eine Teilung der Zeit.
Etwas konkreter: Die erste Gleichung besagt: Wenn man das Anfangskapital auf zwei Teile,
niimlich Ko bzw. Kri, aufteilt und beide verzinst, eventuell bei verschiedenen Banken, so
erhiilt man in Summe dasselbe Ergebnis, wie wenn man das Gesamtkapital bei einer Bank
verzinst hiitte. Die zweite Gleichung besagt: Wenn ich ein Kapital zuniichst fur die Zeit t
anlege, dann abhebe, aber gleich wieder einzahle fur die Zeit t', so erhalte ich dasselbe,
wie wenn ich das urspriingliche Kapital gleich fiir den gesamten Zeitraum t + t' angelegt
hiitte. In gewisser Weise sind dies Grundannahmen der Zinseszinsrechnung. Wir wissen,
daB sie streng genommen in der Praxis nicht erfullt sind. Fur ein groBer'es Kapital erhiilt
man mehr Zinsen und ebenso dann, wenn man ein bestimmtes Kapital von vornherein fur
einen liingeren Zeitraum bindet.
Eine Interpretation des obigen Beispiels in sozialem Kontext ware die folgende: Der Haupt
zweck groBer Kapitalbetrage fur langere Zeitraume in unserer Wirtschaft ist der, daB damit
Menschen zur Zusammenarbeit veranlaBt werden konnen, so daB sie mehr erreichen konnen
als die Summe dessen, was jeder als einzelner tun kann, ausmachen wurde. Die klassische
Zinseszinsformel abstrahiert von dieser Zwecksetzung. Sie abstrahiert einerseits von der
Anstrengung, die notig ist, Menschen - oder Kapital - fur langere Zeit zusammenzu
bringen, wie auch davon, daB dann mehr herauskommen kann, als die Summe des getrennt
Erreichbaren ergeben wiirde.
Bekanntlich tragt die Mathematik selbst zur Reflexion ihrer Begriffe, Theorien und Ver
fahren sehr viel bei - im obigen Beispiel durch den Beweis des Satzes, daB die Zinseszins
formel Losung eines bestimmten Systems von Funktionalgleichungen ist. Man kann sagen:
Die Theorien der angewandten und auch der reinen Mathematik sind Ergebnisse solcher
Reflexionen. In Ihnen wird untersucht, unter welchen Voraussetzungen welche Verfahren
angewendet werden konnen, was die Resultate besagen usw. (man denke beispielsweise
an die mathematische Statistik). Allerdings gibt es bei diesen Reflexionen Unter8chiede
hin8ichtlich ihrer Bedeutung fur 80ziale Selbstreflexion.
Denken wir an den Zahlbegriff. Man kann eine Theorie der naturlichen oder der reel
len Zahlen als eine Reflexion uber den Zahlbegriff auffassen. Dabei geht es urn logi
sche Abhiingigkeit zwischen Aussagen, urn interne Konsistenziiberlegungen, urn relative
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Existenzbeweise, um Herleitung tiefliegender Siitze (z.B. iiber Primzahlverteilung). Eine
andere Perspektive der Reflexion des Zahlbegriffs, die ich im Hinblick auf soziale Selbstre
flexion jedoch fiir bedeutsamer halte, nimmt die M efltheorie ein. Es geht bei ihr um die
Frage, unter welchen Voraussetzungen es sinnvoll ist, Dingen der "Wirklichkeit" Zahlen
zuzuordnen, und was das bedeuten kann. Als Voraussetzung des Messens wird dabei die
Konstruktion einer Abbildung
f : A --tIR
von einem Gegenstandsbereich A in die reellen Zahlen angesehen, wobei bestimmte Relatio
nen im Gegenstandsbereich in "verniinftige" Relationen im Bereich der Zahlen abgebildet
werden sollen, z.B. auf die natiirliche Ordnung oder auf die Addition. Ein einfacher Satz
der MeBtheorie iiber die Moglichkeit einer solchen Konstruktion ist der folgende:
Satz: Sei A eine hochstens abziihlbare Menge und Seine biniire Relation auf
A. Dann existiert eine Abbildung f : A -----> IR mit
Va, bE A : as b {=:::> f(a) < f(b)
genau dann, wenn Seine strikte schwache Ordnung ist. (V gl. ROBERTS 1979,
S. 101,102,109).
(Eine strikte schwache Ordnung ist eine asymmetrische Relation, deren Nega
tion transitiv ist.)
Je nach dem Grad der Eindeutigkeit einer "MeBabbildung" f unterscheidet man verschie
dene sogenannte "Skalentypen". Bekannt sind z.B. Verhiiltnisskalen, Ordinalskalen usw.
Die Theorie liefert weiter, daB bestimmte Operationen mit den MeBgroBen nur unter be
stimmten Voraussetzungen sinnvoll sind. Dazu gehort etwa die bekannte Tatsache, daB
die Bildung des arithmetischen Mittels bei Ordinalskalen kein geeignetes Verfahren ist.
Wenn die MeBtheorie auch innerhalb der mathematischen SchluB- und Darstellungsweise
verbleibt, eroffnet sie doch recht grundsiitzliche Perspektiven. Sie untersucht die Prinzipien
unseres messenden Tuns, sie stellt aber auch Fragen nach Alternativen, z.B. nicht nume
rische Messung oder mehrdimensionale Messung (siehe ROBERTS 1979). Ich mochte hier
eine ganz konkrete didaktische Empfehlung aussprechen: Die MeBtheorie sollte zur Stan
dardausbildung von Mathematikern gehoren, wodurch neben der vorherrschenden Tendenz
der theoretischen Verfeinerung und Aufspiirung interner Strukturzusammenhange eines
Mathematik und Gesellschaft 331
Begriffes auch die Reflexionen iiber seine Beziehungen nach auBen treten wiirde, und zwar
auf einer prinzipielleren Ebene,als es mit einzelnen Beispielen mathematischer Modellbil
dung moglich ist.
Ein wei teres Beispiel eines fruchtbaren Feldes fiir Reflexionen ist die mathematische Wirt
schaftstheorie. Ich habe mich damit eingehender beschaftigt (vgl. FISCHER 1987, 1988),
mochte hier aber nur einige Andeutungen machen. Zu den Grundvoraussetzungen der so
genannten Gleichgewichtstheorie gehort die Trennung der Wirtschaftswelt in verschiedene
Einheiten. Die Beziehungen zwischen diesen Einheiten werden durch Geld- und GiiterfluB
sowie durch Information uber die Preise bestimmt. Dariiber hinausgehende Wechselwir
kungen werden vernachlassigt. Weiters wird vorausgesetzt, daB jede Einheit sich rational
verhiilt und zwar im Sinne der Maximierung einer jeweils bestimmten reellen Funktion
("Profit" bzw. "Nutzenfunktion").
Die Adaquatheit dieser Theorie wurde sehr grundsatzlich in Zweifel gezogen. Beispielsweise
behauptet KORNAI (1975) ,daB zwischen den Wirtschaftseinheiten wesentlich mehr Infor
mation ausgetauscht wird als bloB jene iiber Preise. Dariiber hinaus entwirft die Theorie ein
Bild der Wirtschaft, das dem einer grofien Maschine entspricht, ohne gemeinsamen Willen
und ohne kollektive Freiheit - sondern Willen und Freiheit nur fur die Teile, namlich fiir
die verschiedenen Einheitenj diese konnen z.B. ihre Praferenzordnungen wahlen, wenn sie
bestimmte allgemeine Bedingungen beachten. Aber nicht nur Wille und Freiheit werden
geteilt, sondern auch Rationalitiit. Der "rational economic man", der seinen Profit oder
seine Nutzenfunktion zu maximieren versucht, ohne Rucksicht auf das, was andere tun, ist
die zentrale Figur. 1m konkreten Fall kann die Annahme einer geteilten, individualisierten
Rationalitiit die Bewaltigung von Problemen verhindern, die gemeinsame Anstrengungen
erfordern, die etwas anderes sind als die Summe der Optimierungsanstrengungen der ein
zelnen Einheiten. (Das klassische spieltheoretische Beispiel einer solchen Situation ist das
Gefangenendilemma (SEN 1982, S. 63).)
Uber ihre Inadaquatheit hinaus konnen solche Theorien auch ein Gefahrenpotential dar
stellen. Dies deshalb, weil derartige Theorien nicht nur beschreibende,sondern auch nor
mative Funktion haben. Man versucht, die Wirklichkeit so zu gestalten, wie es die Theorie
vorsieht. Allgemeiner: Durch eine Theorie der obigen Art kann ein soziales System auf
der Ebene eines maschinellen, von Input/Output-Beziehungen gepragten Systems gehalten
und in seiner Entwicklung zu mehr BewuBtsein und zu mehr Handlungsfahigkeit behindert
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werden.
In noch grundsatzlicherer Weise sieht der Wirtschaftstheoretiker Thomas KUCZYNSKI
(1987) Grenzen der Mathematisierung wirtschaftlicher Phanomene: Die Tatsache, daB
es in der Mengenlehre verboten ist, einzelne Elemente einer Menge unter Bezug auf die
gesamte Menge zu definieren, steht fiir ihn im Widerspruch zu dem sozialwissenschaftlichen
Ansatz, das Individuum als "ensemble der gesellschaftlichen Verhaltnisse" aufzufassen (vgl.
auch FISCHER 1988).
Das letzte Beispiel fiir die Orientierung "Mathematik als Spiegel der Menschheit", das ich
anfiihren mochte, ist gleichzeitig das prinzipiellste: eine Betrachtung iiber Zusammenhiinge
zwischen der Organisation des Wissens und der Organisation der Gesellschaft. Von dem
Philosophen und Gruppendynamiker Gerhard SCHWARZ (1985) stammt der Gedanke, die
vier Axiome der klassischen Logik, namlich Identitatsaxiom, der Satz vom Widerspruch,
~er Satz vom ausgeschlossenen Dritten sowie das Prinzip vom zureichenden Grund, als
Axiome der Hierarchie (als Form sozialer Organisation) zu deuten. Ich habe die Deutung
erweitert, indem ich die "Gleichung" aufstellte:
Logik: Hierarchie = Mathematik : Biirokratie
(siehe FISCHER 1987). Die Analogie wird auf Grund verschiedener Gemeinsamkeiten
zwischen Mathematik und Biirokratie hergestellt, z.B.: verselbstandigtes Regelsystem,
Materialisierung der Regeln, Verfahrensorientierung. Urn MiBverstandnisse zu vermeiden:
Ich habe nicht die iibliche negative Einstellung zur Biirokratie. Fiir viele Angelegenhei
ten ist sie eine effiziente Organisationsform, jedenfalls war sie ein historisch notwendiger
Schritt bei der Entwicklung von Organisationsformen. Das Studium und die Schaffung von
Biirokratien kann auch sehr faszinierend sein - so faszinierend wie Studium und Schaff en
von Mathematik.
Man kann die obige Gleichung auch in der folgenden Form anschreiben:
Logik: Mathematik = Hierarchie : Biirokratie
Nun bedeutet sie, daB die Logik eine ahnliche Rolle fiir die Mathematik spielt wie die
Hierarchie fiir die BiirokI'atie: Logik bzw. Hierarchie sind in gewissem Sinn das jeweilige
"organisatorische Skelett".
Mathematik und Gesellschaft 333
In diesem Zusammenhang sei ein Ergebnis der Kleingruppenforschung erwiihnt, das auf
einen Zusammenhang zwischen der Art der verarbeiteten Information und der Gruppen
organisation hindeutet. Bei storungsfreier Kommunikation iiber klare Sachverhalte erzielt
eine hierarchisch geordnete Gruppe bessere Resultate (bei der Koordination der Informa
tion). Wenn aber "Starungen" eingebracht werden, indem Informationsinhalte vorgegeben
werden, iiber die nicht so klar gesprochen werden kann, sind "heterarchische" Gruppen den
hierarchischen iiberlegen. Sie sind in der Lage, eine Sprache zu entwickeln, wohingegen
hierarchische Gruppen zu zerfallen drohen (siehe FOERSTER 1984).
Problem-Beschreibung
Das folgende Beispiel stammt aus einem Vortrag von Fred ROBERTS (1986) und soll
dazu dienen, den Unterschied zwischen konventioneller mathematischer Problemlasung
und dem, was ich hier meine, aufzuzeigen. Der Vortragende stellte da!; folgende Problem:
Gegeben ist das rechteckige StraJ3ennetz einer GroBstadt. Alle StraBen sind
in beiden Richtungen befahrbar. Infolge starken Verkehrs treten jedoch oft
Stauungen auf und die Luft weist hohe Abgaswerte auf. Man beschlieBt daher,
alle StraBen zu Einbahnstraf3en zu machen. Wie soll das geschehen?
Eine Forderung ist natiirlich die, daB man von jedem Punkt zu jedem kommen konnen soll.
Mathematisch ausgedriickt: Der entstehende Digraph soll stark zusammenhangend sein.
Doch welche Forderungen sind dariiber hinaus zu stellen? Welche Kriterien fiir Effektivitat
gibt es? Von ROBERTS wurden unter anderem folgende Vorschlage gemacht:
Fiir zwei Knoten u, v des StraBennetz-Graphen (d.h. Kreuzungen) seien d( u, v)
bzw. d(u, v) die Langen der kiirzesten Verbindungen im alten (ungerichteten)
bzw. im neuen (gerichteten) Graphen. Man kann nun die folgenden GraBen
betrachten (n = Anzahl der Knoten):
334 R. Fischer
(1) maxu,v d(u, v)
(2) 1 -n 2_n Lu#V d(u,v)
(3) maxu,v[d( u, v) - d( u, v)]
(4) n2~n Lu#v[d(u, v) - d(u, v)]
(5) 1 Lumaxv n
d(u, v)
(6) 1 -n Lu[maxv d(u, V) - maxv d(u, V)]
Beziiglich jeder der angegebenen GroBen kann man argumentieren: Je kleiner diese GroBe,
desto besser ist die Losung. Eine im Hinbliek auf eine bestimmte GroBe optimale Losung
ist gegeben, wenn diese GroBe minimal ist.
ROBERTS hat dann mit Hilfe komplizierter kombinatoriseher Uberlegungen Losungen fiir
Teilprobleme angegeben, insbesondere fiir zwei der genannten Optimalitatskriterien. D.h.
es wurden entspreehende EinbahnstraBenmuster angegeben.
Ieh stelle nun die Frage: Was bedeutet eine solehe Losung fUr die Praxis? !eh meine:
Nieht allzuviel. Das beginnt damit, daB es unwahrscheinlich ist, daB zunachst aIle StraBen
"ZweibahnstraBen" sind und mit einem Schlag zu EinbahnstraBen gemacht werden sollen,
was in den Kriterien (3), (4) und (6) implizit angenommen wird. Gravierender ist die allen
Kriterien zugrunde liegende Annahme, daB alle StraBen gleiche Bedeutung haben. In der
Praxis ist aber die Besiedlung nieht gleichmaBig, es gibt Haupt- und NebenstraBen, es gibt
Bezirke, in denen Menschen arbeiten und solche, in denen sie wohnen, wodureh bestimmte
Routen besondere Bedeutung haben. Sowohl Maximumbildung als auch Mittelwertbil
dung erseheinen somit problematisch. Mit anderen Worten: Es ist nicht anzunehmen, daB
auch nur eines der angegebenen "globalen" Optimalitiitskriterien der Sache angemessen ist.
Aueh andere glob ale Kriterien konnen kaum besser sein. Es konnte auBerdem sogar sein,
daB die Mensehen dieser Stadt aus bestimmten, zunaehst nieht erklarbaren, Griinden ein
fach wollen, daB eine bestimmte StraBe in beiden Richtungen befahrbar bleibt. SchlieBlich
miiBte man aueh heutzutage mit Biirgerinitiativen reehnen, wenn man irgendeine Losung in
der Praxis durchsetzen mochte. ROBERTS wies in seinem Vortrag auf ahnliche Probleme
hin.
Mathematik und Gesellschaft 335
Bedeutet das nun, dafi Mathematik hier iiberhaupt nicht angebracht ist? Ich glaube,
daB sich mathematische Begriffe und Darstellungsformen in diesem Fall zur Beschreibung
des Problems ganz gut eignen. Ungerichteter und gerichteter Graph liefern zunachst ein
anschauliches Bild der Situation und konnen fiir Experimente beniitzt werden (z.B. Simula
tion). Die Formulierungen der GroBen (1), (2) oder (3) wei sen auf verschiedene grundsatz
liche Standpunkte bei der Optimierung hin. Weitere Begriffe konnten gebildet werden, die
beispielsweise das offentliche Verkehrsnetz einbeziehen, den Rang von StraBen als Haupt
und NebenstraBe entsprechend dem derzeitigen VerkehrsfluB, eine Bezirkseinteilung der
Stadt usw. Dabei konnten auch Begriffe der Graphentheorie Verwendung finden, z.B. der
des "Flusses" in einem bewerteten Graph, oder neue erfunden werden. Die Komplexitat
des Problems wiirde dabei natiirlich in einer Weise anwachsen, daB eine ."mathematische"
Losung in immer weitere Ferne riicken wiirde. Es ware aber auch nicht Aufgabe dieses
Prozesses, das Problem endgiiltig zu losen. Aufgabe ware es eben, wie oben erwahnt, das
Problem zu beschreiben, damit die betroffenen Bewohner der Stadt oder ihre Vertreter
aufgrund dieser Beschreibung verniinftige Entscheidungen treffen konnen.
Wie hangt das mit Selbstreflexion zusammen? Offensichtlich handelt es sich nicht urn eine
so grundlegende wie bei den Betrachtungen des Zusammenhanges zwischen Mathematik
und Hierarchie, nicht einma! wie bei jenen tiber die Zineszinsformel. Aber: Es geht urn die
Reflexion der Interessen und Bediirfnisse der Menschen eines bestimmten sozialen Systems
im Hinblick auf eine Problemsituation. Natiirlich gibt es solche Reflexionen auch bei
konventioneller mathematischer Vorgangsweise. Man mochte die Wiinsche und Interessen
der Betroffenen erfahren, urn das Modell verfeinern zu konnen. Das Ziel ist allerdings
immer eine (die) endgiiltige Losung. Emotional miissen daher neue Gesichtspunkte oder
Widerspriiche von den Modellerstellern als Storungen empfunden werden. Sie mochten,
daB man ihnen doch endlich sagt, was man will, damit sie eine Losung finden konnen. Dem
gegeniiber versteht sich der Mathematiker bei der von mir vorgeschlagenen Orientierung
als Explorateur des Problems, der den Menschen hilft, ihre Vorstellungen zu artikulieren,
der auf Alternativen hinweistj ja jemand, der gegebenenfalls sogar die Losung verzogert.
Wahrend in der klassischen Vorgangsweise der Mathematiker versucht, die Komplexitat zu
reduzieren und Alternativen auszuschlieBen, handelt er im anderen Fall entsprechend dem
"ethischen Imperativ", der von Heinz von FOERSTER (1984, S. 3) so formuliert wurde:
" Act always so as to increase the number of choices" .
336 R. Fischer
Aus verschiedenen Anwendungsgebieten der Mathematik sind Stimmen zu vernehmen, die
in iihnliche Richtung argumentieren - wenn auch meist nicht so radikal. Auf drei dieser
Gebiete mochte ich kurz eingehen.
Das erste Gebiet ist die angewandte Systemanalyse. In der Niihe von Wien befindet sich
das "International Institute for Applied Systems Analysis", eine gemeinsame Einrichtung
westlicher und ostlicher Industriestaaten, wo unter anderem Computersimulationen fiir
groBe okologische, okonomische und andere Systeme erstellt werden. In einem Vortrag
des Direktors des Instituts, Thomas H. LEE, bei der eingangs erwiihnten Tagung iiber
"Complexities of the Human Environment" sprach dieser von einer Trendiinderung in
der Modellierung von Systemen. Statt der Verwendung klassischer mathematischer Ver
fahren (vor allem aus dem Bereich der Operationsforschung), die jeweils auch Losungen
angeboten haben, werden in den letzten Jahren vor allem sogenannte "interactive decision
support-systems" entwickelt. Deren Aufgabe ist es nicht, den Menschen Entscheidungen
abzunehmen, sondern sie bei der Entscheidungsfindung zu unterstiitzen. Noch deutlicher
hat dies der bekannte Systemanalytiker Dennis MEADOWS (1986) bei einem Vortrag in
Wien zum Ausdruck gebracht. Aufgabe sogenannter "strategischer Modelle" ist nicht die
Vorhersage der Zukunft. Sie erfiillen vielmehr folgende Aufgaben:
• Research
• Communication
• Legitimation
• Education (MEADOWS 1986, S. 83)
Nur die erste dieser vier Funktionen bezieht sich primiir auf die "Sache"; es geht hier um
die Erkundung des Problemfeldes. Die drei anderen Funktionen haben ausdriicklich mit
Kommunikation bzw. der Herstellung sozialer Beziehungen zu tun (bei "Legitimation"
geht es um die Legitimation des Modellerstellers im Kreise der gesellschaftlich relevanten
Personen in Bezug auf das jeweilige Problem).
Ein zweiter Bereich mathematischer Anwendungen, in dem ebenfalls die Tendenz "Mathe
matik zur Problembeschreibung" explizit zu vernehmen ist, ist die schon genannte mathe
matische Okonomie. Eines der wichtigsten Probleme im okonomischen Bereich ist die Be
urteilung wirtschaftlicher Ungleichheit, etwa in einem Staat. Von Wirtschaftstheoretikern
wurden verschiedene Indizes zu deren Messung entwickelt. Urn eine Vorstellung davon
Mathematik und Gesellschaft 337
zu vermitteln, gebe ich zwei solche Indizes an. Fur den ersten Index seien yt, . .. , Yn die
Einkommen der Personen in einer Gemeinschaft und Jl das arithmetische Mittel dieser
Einkommen. Man nennt dann
c = J~ L:f=l(Yi - J.l)2
J.l
den "Variationskoeffizienten" dieser Verteilung (vgl. SEN 1973, S. 27). Fur das zweite
Mail benotigt man noch eine Funktion, die jedem Einkommen den aus diesen Einkommen
gezogenen Nutzen zuordnet ("Nutzenfunktion"). Eine solche Funktion U wird im allgemei
nen als monoton wachsend und konkav angenommen, sodail mit wachsendem Einkommen
pro Geldeinheit immer weniger Nutzen gezogen werden kann. Damit kann nun folgendes
Ungleichheitsmail gebildet werden:
Es wird der Index von DALTON genannt (vgl. SEN 1973, S. 37). 1st U streng konkav, so
ist D = 0 genau dann, wenn aile Yi gleich sind. Fur C ist die entsprechende Eigenschaft
unmittelbar ersichtlich. Bei beiden MaBen ist plausibel: Je groBer die Ungleichheit, desto
groBer ist der entsprechende Index.
Aber die MaBe sind verschieden. Ordnet man Staaten nach dem MaB cler Ungleichheit
ihrer Einkommensverteilung, so konnen sich bei verschiedenen Inclizes verschiedene Rang
orclnungen ergeben. Auilerdem haben einzelne MaBe verschiedene Eigenschaften, die als
mehr oder weniger wunschenswert erachtet werden. Interessant ist z.B. die Frage: Wie
reagiert der Wert eines Index auf Umverteilungen von reich zu arm im mittleren oder hohe
ren Einkommensbereich? (In jedem Fall soli naturlich der Wert kleiner werden). Oder:
Sollen UngleichheitsmaBe das absolute Einkommensniveau berucksichtigen, sollen sie bei
proportionalen oder bei additiven Einkommensanderungen invariant bleiben? Ein Unter
schied wird gesehen zwischen "deskriptiven" Indizes, wie dem Variationskoeffizienten, und
sogenannten "normativen", wie dem DALTONschen, wo in Form cler Nutzenfunktion eine
bestimmte "Norm" bei der Definition benutzt wird. Der Wirtschaftstheoretiker Amartya
SEN spricht sich fur ein Nebeneinander der verschiedenen Indizes aus, wobei es ihm wichtig
ist, daB die einzelnen Maile nicht zu stringent interpretiert werden. Er schreibt:
I have tried to argue in favour of weakening the inequality measures in more than one sense. First of ali, the mixture of partly descriptive and partly normative considerations weakens the purity of an inequality index. A purely descriptive measure lacks
338 R. Fischer
motivation, while a purely normative measure seems to miss important features of the concept of inequality ... Second, even as normative indicators the inequality measures are best viewed as "non-compulsive" judgements recommending something but not with absolutely compelling force. This has implications in terms of the treatment of inequality ran kings as prima facie arguments and permitting situation-specific considerations to be brought into the evaluation if such supplementation is needed (SEN 1973, S. 75).
Offensichtlich ist hier ein Umgang mit Mathematik gemeint, der dem Gedanken des Dar
stellens, Kommunizierens sowie der Problembeschreibung im Sinne kollektiver Selbstrefle
xion entspricht.
Ais dritten Bereich, wo die genannte Tendenz - die es natiirlich immer gegeben hat, aber
die, so glaube ich zu bemerken, in jiingerer Zeit expliziter in das BewuBtsein der Forscher
tritt - zum Ausdruck kommt, nenne ich die Anwendungen der Mathematik in Psychologie
und Soziologie. Ich zitiere dazu nur den Psychologen Lee CRONBACH, jemand der sich urn
den Einsatz mathematischer Methoden in der Psychologie verdient gemacht hat und der
insbesondere einen "boom" von Forschungsergebnissen nach dem Muster der "aptitude
treatment-interactions" in den USA mitveranlaBt hat, fiir die die mathematische Statistik
ein wesentliches Hilfsmittel darstellt (genauer siehe FISCHER 1987). Er ist heute Professor
emeritus an der Stanford University und schreibt seit mehr als zehn Jahren kritische Artikel
iiber die Entwicklung der Sozialwissenschaften. Auch wenn sich das Folgende nicht direkt
auf den Einsatz mathematischer Methoden bezieht, meine ich, daB fiir die Mathematik
daraus etwas abgeleitet werden kann. CRONBACH schreibt:
Concepts contribute to pluralistic decision making by helping participants examine their situations and values ... The social scientist helps not by playing expert but by playing educator, eternally pressing the question, "Have you taken X and Z into account?" 'Social science is cumulative not in possessing ever-more-refined answers about fixed questions but in possessing an ever-richer repertoire of questions. The educative influence of a piece of research may extend far into the future. Concepts have enduring value, and so does a sense of what-connects-to what. (CRONBACH 1982, S. 72-73)
Disziplinierung und Vergegenstandlichung
Ich mochte zu den beiden Orientierungen "Analyse von Grundvora~ssetzungen" SOWle
"Mathematik als Kommunikationsmittel" noch folgende Bemerkungen machen. Die beiden
Orientierungen beziehen sich auf Analyse und Synthese von sozialer Wirklichkeit. Die erste
Orientierung betont mehr den Analyseaspekt. Durch die Reflexion iiber bestehende Ma-
Mathematik und GeseUschaft 339
thematik versucht sie, die sich in dieser Mathematik spiegelnden gesellschaftlichen Verhalt
nisse zu analysieren. Die zweite Orientierung ist mehr auf Synthese ausgerichtet. Durch
Kommunikation werden soziale Beziehungen geschaffen; soziale Systeme mit ihrer Iden
titiit, ihrer "operational closure" und ihrem "eigen-behavior" werden konstruiert. Je mehr
mathematische Begriffe als Kommunikationsmittel akzeptiert werden, desto mehr definie
ren sie auch soziale Beziehungen. Das beste Beispiel ist die Wirtschaft, die teilweise von
mathematischen Konzepten beherrscht wird.
Mit Hilfe von Mathematik wurden immer schon auch soziale Systeme konstruiert, Piidago
gen haben die Auswirkungen dieses Prozesses auf den einzelnen manchmal als "Diszipli
nierung" bezeichnet und kritisiert. Ich meine, dafi wir urn das nicht herumkommen, ja
daB sogar ein Mehr an "Disziplinierung" durch Mathematik notig sein wird, daB wir dies
aber bewuBter tun soIl ten und daB wir die Mittel dem Ziel des Bauens von Systemen mit
Menschen besser anpassen sollten.
Die Funktion der Mathematik in den Prozessen kollektiver Selbstreflexion ist Vergegen
standlichung. Soziale oder andere Verhiiltnisse werden in eine gegenstiindliche Form ge
bracht,und ich meine das auch wortlich im Sinne von Materialisierung. Mathematik liefert
visuelle Bilder, die in der Regel symbolisch gemeint sind, d.h. zu deren Verstiindnis man be
stimmte gesellschaftliche Konventionen kennen muB. Solche Bilder sind meines Erachtens
unentbehrlich fiir die Kommunikation, wenn sie iiber kleine Gruppen hinausreichen solI.
D.h. es ist nicht so, dafi wir Mathematik zur kommunikativen Selbstreflexion beniitzen
sollen, weil sie eben da ist - obwohl dieser Grund schon ausreichen wiirde -, sondern
ohne sie, besser ohne eine Welt von Symbolen, die bestimmte Verhiiltnisse widerspiegelt,
wiirden wir uns sehr schwer tun. Der franzosische Priihistoriker· und Anthropologe Andre
LEROI-GOURHAN schreibt: Eine "Gesellschaft, in der die Fiihigkeit zur Schopfung von
Symbolen nachlieBe, verlore zugleich ihre Handlungsfiihigkeit" (LEROI-GOURHAN 1980,
S. 267; siehe auch FISCHER 1984). In diesem Sinn und unter Beachtung der Moglichkeiten
von Computern glaube ich, dafi es eine Bedeutungsverschiebung in der Mathematik vom
Umgang mit gegebenen Symbolapparaten hin zur Schaffung neuer Symbole geben wird, in
Verbindung mit der Untersuchung der Adiiquanz und sozialen Bedeutung der jeweiligen
Kalkiile. Vielleicht ist das gleichzeitig ein Schritt zur "Entzauberung" der Symbole, da
ja immer die Gefahr besteht, daB die an sich notwendige Vergegenstiindlichung des Ab
strakten durch Mystifizierung zu einer Verabsolutierung jeweiliger Verhiiltnisse wird. Eine
340 R. Fischer
sehr machtige und im weiteren Sinn mathematische Vergegenstandlichung von Abstraktem
stellt iibrigens das Geld dar, wo uns die erwahnte Gefahr Tag fiir Tag vor Augen tritt.
Es ware interessant, die Beziehung zwischen Disziplinierung und Objektivierung durch
Mathematik von einem sozialphilosophischen Standpunkt aus zu analysieren. Die Objek
tivierung sozialer Beziehungen bedeutet auf der einen Seite eine Distanzierung zwischen
uns und eben diesen Beziehungen, wodurch eine Befreiung von diesen erfolgen kann. Wir
werden fiihig, diese Beziehungen handzuhaben, sie zu "manipulieren" - all dies kann
die Freiheit des einzelnen und der Gesellschaft vergroBern. Auf der anderen Seite gibt
Objektivierung den sozialen Verhaltnissen einen absoluten, vielleicht sogar ewigen Cha
rakter - auf diese Weise erhiilt Disziplinierung mehr Nachdruck, sie wird strenger, rigider
und bedriickender. Die Konstruktion sozialer Systeme mit Hilfe von Mathematik wird
dann so betrieben, daB es nur eine Moglichkeit gibt und kein Entkommen. Die "Einsicht
in die Notwendigkeit" oder deren Mangel - beides macht die Dinge fiir den einzelnen
deprimierend.
Ich denke, der Weg, die Vorteile der Objektivierung zu bewahren und ihre Nachteile zu
vermeiden, besteht darin, den Prozep der Objektivierung, die Konstruktion von Symbolen,
bewupter zu mach en und ihn in die Verfiigung der Menschen zu bringen. Auf diese Weise
wiirden die Objekte ihren absoluten, ewigen Wesenszug verlieren, man wiirde Alternativen
sehen. Gleichzeitig wiirden die K onstruktion von sozialen Systemen und die unvermeidliche
Disziplinierung einen spielerischen Charakter annehmen, wie es der Fall ist fiir die Kon
struktion mathematischer Systeme entsprechend einem formalistischen Verstandnis der
Mathematik. Ich glaube, daB eines der Probleme sozialen Wandels ist, daB wir die sozialen
Verhiiltnisse zu ernst nehmen. Diese Ernsthaftigkeit erlaubt uns nicht jene Flexibilitat,
die notig ware, mit heutigen Problemen fertig zu werden. Mathematik ist mitschuldig an
dieser Ernsthaftigkeit. Auf der anderen Seite wiirde Mathematik auch Spiel und Freiheit
bieten. Ich formuliere es als eine VerheiBung: Sozial haben wir noch nicht jene Stufe von
Freiheit und Flexibilitat erreicht, die wir in der reinen Mathematik erreicht haben. Aber
als ein Optimist sage ich: Wir sind auf dem Weg dahin.
Mathematik und Gesellschaft 341
Management - wie Reflexion zum Instrument wird
Mein PHidoyer fiir mehr Reflexion erscheint bequem, wenn es aus der Position des Philo
sophen erfolgt. Was ist allerdings, wenn man "in der Praxis" steht, etwas bewirken soll,
fiir ein soziales System verantwortlich ist? Die Aufgabe, soziale Veriinderungen zuminde
stens in iiberschaubaren Bereichen herbeizufiihren, wird iiblicherweise dem Management
zugeschrieben. Seit Ende des 2. Weltkrieges hat hier eine Mathematisierung stattgefun
den unter dem Titel "Operations Research". In den letzten Jahren gewinnt jedoch unter
Management-Theoretikern eine Diskussionsrichtung an Bedeutung, die einerseits auf die
Grenzen dieser mathematischen Methoden hinweist und die andererseits mit jener Sicht
von sozialen Systemen sympathisiert, die ich eingangs geschildert habe. Wesentliche Teile
dieser Auffassung werden von den beiden Schweizer Betriebswirtschaftlern Fredmund MA
LIK und Gilbert PROBST unter dem Titel "Evolutioniires Management" beschrieben
(1984). Ich mochte auf drei Charakteristika dieser Art von Management und auf deren
Beziehungen zur Mathematik kurz eingehen.
Das erste Charakteristikum besteht darin, daB auch "kunstliche ", von M ens chen geschaf
fene Organisationen, wie z.B. eine Firma, als selbstorganisierte, sich selbst entwickelnde,
soziale Systeme angesehen werden. Das heiBt z.B., daB eine Firma nicht nur von den
Zwecken, die offiziell festgelegt, und von den Strukturen, die bewuBt geschaffen werden,
bestimmt wird. Sie stellt vielmehr einen Sozialkorper dar, der eine eigene durch mehr
oder minder bewuBte Interaktionen gebildete Identitiit hat, der zum Teil nach versteckten
Regeln funktioniert und damit in gewisser Weise auch unberechenbar ist. Ursachen fiir
Entwicklungen sind zwar menschliche Aktivitiiten, nicht immer aber menschliche Absich
ten. Ohne bewuBtes Wollen konnen Regeln entstehen, nach denen die Dinge ablaufen.
Als Fazit ergibt sich daraus: Dem rationalen Wirken sind enge Grenzen gesetzt, insbe
sondere konventionelle mathematische, auf "Losungen" ausgerichtete, Methoden konnen
wesentliche Bereiche der Betriebsfiihrung nicht erfassen.
Der zweite Punkt besteht darin, daB der Manager konsequent als Teil des Systems angese
hen wird, ja Teil des Systems sein muB, wenn er iiberhaupt etwas bewirken will. Insbeson
dere muB er Verbindungen eingehen, die tiber das Sammeln objektivierbarer Informationen
hinausgehen. Wenn er das tut, kann er moglicherweise - sozusagen als Katalysator -
Prozesse beeinflussen. In ihrem Buch "Kiinstliche Intelligenz - Von den Grenzen der
Denkmaschine und dem Wert der Intuition", haben die Computerkritiker Hubert und
342 R. Fischer
Stuart DREYFUS (1987) ein Kapitel dem Thema "Management - Kunst oder Wissen
schaft" gewidmet. Sie kritisieren darin, an Hand einiger Beispiele, den Einsatz mancher
mathematischer Methoden in der Unternehmensfiihrung. Der Tenor der Kritik: Mathe
matische Methoden beziehen sich nur auf kontextfreie, zergliederte Informationen. Fiir
den Manager ist damit nur eine relativ niedrige Stufe auf dem Weg zum Expertentum er
reichbar, niimlich die des "fortgeschrittenen Anfangers", bestenfalls jene der "Kompetenz".
Hohere Stufen, niimlich die der "Gewandtheit" oder die des wirklichen "Expertentums",
sind nur in auch intuitiver Verbindung mit dem jeweiligen sozialen System erreichbar. Die
hoheren Stufen des Expertentums und die damit verbundene Intuition set zen die niederen
Stufen und auch formale Methoden voraus.
Die Methode der distanzierten Informationsverarbeitung entspricht ihrer Meinung nach
auch jenem Karrierestil von Managern, der mit haufigem Jobwechsel verbunden ist und
vor allem in den USA gepflogen wurde und wird. Sie meinen, daB Erfolge japanischer
Unternehmen u.a. auf die enge Verbundenheit der jeweiligen Manager mit dem sozialen
System ihrer Firma zuriickzufiihren sind. Zu den mathematischen Verfahren schreiben sie:
Ganz generell richten aile formalen Entscheidungsmodelle Fragen an den Experten, die ihn in eine distanzierte, objektive Position versetzen, und vermogen sein intuitives Expertenwissen daher nicht anzuzapfen. Wie konventionelle KI oder Expertensysteme leiden auch diese Modelle darunter, daB teilnehmendes Know-how sich nicht durch distanziertes Know-that ersetzen liiBt - ein Problem, das auch bei Versuchen, Fabriken und Biiros zu automatisieren, eine Rolle spielt (DREYFUS/DREYFUS 1987, S. 246).
Das heiBt nicht, daB die Autoren mathematische Verfahren rundweg ablehnen. Ais "Decision
Support-Systems", im Sinne von "was ware wenn"-Modellen, halten sie diese durchaus
fiir niitzlich. Besonders heben sie in jiingster Zeit entwickelte Computerhilfsmittel zur
Unterstiitzung der Kommunikation und sogar Konversation zwischen Managern hervor,
da "der EntscheidungsprozeB nur einen Bruchteil der Manager-Aktivitaten ausmacht"
(DREYFUS/DREYFUS 1987, S. 257). Sie schreiben:
"Koordinatoren" heiBen beispielsweise die Mitglieder einer neuen Familie von Mikrocomputerhilfsmitteln, die Fernando Flores von der Firma Action Technologies in San Francisco zusammen mit Terry Winograd von der Universitiit Stanford und anderen entwarf. Grundgedanke der Geriite ist, daB aile Handlungen des Managements sozial sind, also verb ale Kommunikation von Mensch zu Mensch beinhalten. Die Koordinatoren sollen den Menschen ihre Zusammenarbeit erleichtern. Mit einem Koordinator kann der Manager seine Arbeit wie gewohnt erledigen, indem er nachforscht, instruiert, befiehlt, befragt, ersucht, vorschliigt, einliidt, verspricht und berichtet. Wiihrend er dies tut, sendet der Koordinator die Mitteilungen des Managers automatisch an dessen Mitarbeiter, fordert zur Kommunikation auf und empfangt die Botschaften der
Mathematik und Gesellschaft
anderen. Selbstverstandlich versteht der Computer den Sinn dieser Mitteilung nicht. Dennoch vereinfacht er, indem er sie aufzeichnet, lebhafte Unterhaltungen, die im Management unverzichtbar sind. (DREYFUS/DREYFUS 1987, S. 256-257).
343
Die Autoren grenzen diese Methoden auch von Management-Informationssystemen ab, die
oft nur eine unhandliche Fiille von Daten liefern.
Das dritte Charakteristikum der beschriebenen neuen Managementrichtung besteht in der
Auffassung, daB der erfahrene Manager nicht auf Grund bewuBter Uberlegungen iiber die
Zukunft, sondern auf Grund einer grundlichen Kenntnis der Gegenwart entscheidet. Es
sind nicht ausgekliigelte Prognosemodelle, die bei Entscheidungen den Ausschlag geben,
sondern es ist die intuitive Erfassung des sen, was ist (vgl. DREYFUS/DREYFUS 1987).
Wie kann dann der Manager aber etwas bewirken? Indem er ein soziales System mit
seiner gegenwartigen Realitat konfrontiert, ist eine Antwort, die der Managementberater
und Kybernetiker Stafford BEER (1986) gibt. Er sieht dies als ein Element asiatischer
Denkweise bzw. Managementkunst. Bei uns versucht man, Ziele zu definieren, dann eine
Organisation dorthin zu bringen, wobei man oft scheitert. Die andere Moglichkeit ist,
ein System mit seinen Strukturen, Bediirfnissen und Wiinschen zu konfrontieren, es sich
Ziele set zen lassen und dann die innere Dynamik auszuniitzen, urn es dorthin kommen
zu lassen - mit etwas Hilfe und Anleitung. Selbstreflexion wird damit zu einem Instru
ment und zwar zu einem durchaus wirkungsvollen, wenn man den Berichten verschiedener
Managementberater Glauben schenken darf.
SchluBbemerkung
Ein Grundproblem sozialen Wandels ist heute - und war moglicherweise immer - das
Umgehen mit den gegenlaufigen Tendenzen Vernetzung und Autonomie. Auf der einen
Seite geht es darum, Verbindungen herzustellen bzw. zu erkennen, auf der anderen Seite
besteht das Bediirfnis nach und die Notwendigkeit von Selbstandigkeit. Die Mathematik
kann hier in vielfiiltiger Weise beteiligt werden. Ihr Beitrag beim Erkennen von Zusam
menhangen wurde immer schon gesehen. DaB sie selbst Ausdruck von sozialen Vernetzun
gen und Strukturen sein und solche auch schaffen kann, ist weniger offensichtlich. Gerade
in der Reflexion dessen, in ihrer Funktion als Spiegel sozialer Verhaltnisse, kann sie aber
auch Beitrage in Richtung Autonomie leisten. Gleichzeitig ist sie in der Lage, durch ein
besseres Verstandnis ihrer Rolle als Kommunikationsmittel neue Moglichkeiten fiir die Ver-
344 R. Fischer
bindung zwischen Menschen und zwischen sozialen Systemen zu schaffen. Wir solI ten es
daher nicht zulassen, daJ3 die Mathematik ganzlich vom traditionellen Aufgabenbereich
vereinnahmt wird.
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Prof. Dr. Roland Fischer Universitiit Klagenfurt, Institut fur Mathematik UniversitiitsstraEe 65-67 A-9022 Klagenfurt