lh 9hujhjhqzluwljxqj ghu 'lqjh - oei.fu-berlin.de · zustellen, um die dinge zu fühlen, um...

20

Upload: dangnhi

Post on 17-Sep-2018

214 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Anke Hennig

2/2009

Die Vergegenwärtigung der Dinge

ARBEITSPAPIERE DES OSTEUROPA-INSTITUTS DER FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN

ABTEILUNG KULTUR

Das Osteuropa-Institut der Freien Universität beschäftigt sich als multidisziplinäres regional-

wissenschaftliches Zentralinstitut in Forschung und Lehre mit den Gebieten Ost-, Ostmittel-

und Südosteuropas.

In der Reihe „Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts“ stellt die Abteilung Kultur aktuelle

Ergebnisse aus ihrer Arbeit der Öffentlichkeit zur Verfügung (Neue Reihe).

Die Arbeitspapiere erscheinen in unregelmäßiger Folge. Abdruck nur mit Genehmigung des

Autors / der Autorin.

Adresse:

Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin

Garystr. 55

14195 Berlin

http://www.oei.fu-berlin.de/kultur/

Tel.: ++49 30 838 52076

Fax: ++49 30 838 54036

Mail: [email protected]

© 2009 bei Anke Hennig

Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin

Abteilung Kultur

Herausgeber: Prof. Dr. Georg Witte

Redaktion: Henrike Schmidt, Matthias Schwartz

ISSN 1869-4683

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts

der Freien Universität Berlin

Abteilung Kultur

Anke Hennig

Die Vergegenwärtigung der Dinge

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

Zusammenfassung:

In der russischen Moderne beginnt ein beispielloser Dynamismus von Veränderungs-

prozessen die Identität der Dinge aufzulösen. Diese können nun kaum noch in ihrer

Statik wahrgenommen werden, ja, selbst sie in ihrer Bewegtheit zu begreifen scheint

bereits unangemessen. Denn das „dynamische Ding in Bewegung“ bewegt sich nicht

nur hinsichtlich seiner Umgebung, wie Jeremija Joffe 1927 schrieb, sondern auch hin-

sichtlich seiner selbst. Ein solches Ding ist durch seine Veränderung in den Zeitlauf

eingebunden und ist nun nicht mehr einfach gegenwärtig (räumlich präsent) sondern

muss stets vergegenwärtigt werden.

In diesem Zusammenhang ist die formalistische Konzeption einer Zeitgenossenschaft

der Dinge herauszuarbeiten, auf deren Hintergrund die obsessive Dingästhetik eines

seiner Hauptvertreter, Viktor Šklovskijs, zu verstehen ist. Die Ästhetisierung der Dinge

in der russischen Avantgarde erscheint hier als Strategie, um den Dingen eine dauern-

de Gegenwart zu geben und ihnen die Form eines ästhetischen Objektes zu verleihen,

das über seinen Artefaktcharakter hinaus eine Struktur seiner „Aktualisierung“ besitzt

(Jan Mukařovský). Das Problem lässt sich an den verlorenen Objekten illustrieren, die

nur als Doppelbilder zwischen Projekt und Rekonstruktion in die Kunstgeschichte ein-

gegangen sind, wie etwa Vladimir Tatlins Freischwingender Stuhl.

Das Arbeitspapier stellt die nur leicht korrigierte Fassung eines Vortrags dar, der auf

der Tagung „Dinge im zeitlichen und kulturellen Transfer“ am Kunsthistorischen Insti-

tut/Max-Planck-Institut Florenz, 25.-28.10.2007, gehalten wurde.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

Autorin: Dr. Anke Hennig arbeitet am Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im

Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin. Sie studierte

russische und deutsche Literatur und promovierte mit einer medienhistorischen Disser-

tation zur sowjetischen Kinodramaturgie der 30er Jahre. Im näheren thematischen Um-

feld der vorliegenden Studie entstanden folgende Untersuchungen:

• Das kontinuierliche Dauern der Veränderung. Jeremija Joffes synthetisches

Kunstkonzept. In: Kinetographien, hg. von Inke Arns, Mirjam Goller, Susanne

Strätling, Georg Witte, Bielefeld: Aisthesis Verl. 2004, S. 115-137

• Die Progeria des Films. In: Wiener Slawistischer Almanach 58 (2006), S. 79-

115

• Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarden zwi-

schen Abstraktion und Dinglichkeit. hg. von Anke Hennig; Georg Witte. Wiener

Slawistischer Almanach, Sb. 71 Wien / München 2008

[email protected]

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

Inhalt:

0. Einleitung ........................................................................................................................... 8

1. Die Differenzqualität des ästhetischen Objektes.......................................................... 10

2. Die Gegenwartskonzeption Viktor Šklovskijs............................................................... 12

3. Das avantgardistische Ding............................................................................................ 14

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

0. Einleitung Dieses Arbeitspapier geht der Frage nach, wie es im Umfeld der russischen Avantgar-

de und ihrer Theorie – des russischen Formalismus – zu einer neuen Konzeption der

Dinge kommt. Dabei lösen sich die Dinge aus ihrem statischen „An Sich“ und geraten

in Bewegung. Während die Phänomenologie die Identität des Dinges noch in seiner

Bewegung ergründen wollte (Maurice Merleau-Ponty), war der russische Theoretiker

Jeremija Joffe 1927 schon einen Schritt weiter gegangen: Als er schrieb, das „dynami-

sche Ding in Bewegung“ bewege sich nicht nur hinsichtlich seiner Umgebung, sondern

auch hinsichtlich seiner selbst,1 fasste er nicht mehr die Identität, sondern die Verände-

rung des Dinges als den Kern seines räumlichen und zeitlichen Transfers auf. Der for-

malistische Begriff der Verschiebung – russisch „sdvig“ – umreißt die genannten Phä-

nomene: das Heraustreten der Dinge aus ihren kulturellen Kontexten, „das Herausrei-

ßen des Stuhls aus der Reihe der Möbel“, wie es bei Viktor Šklovskij heißt, und ihr Ein-

treten in Prozesse der Veränderung. Mit dieser Veränderung schließt sich das Ding

dem Zeitlauf an und ist nun nicht mehr einfach gegenwärtig (immer räumlich präsent)

sondern muss stets aufs Neue vergegenwärtigt werden.

Die Ästhetisierung der Dinge in der russischen Avantgarde erscheint hier als Strategie,

um die Dinge gegenwärtig zu machen und ihnen die Form eines ästhetischen Objektes

zu verleihen, das über seinen Artefaktcharakter hinaus eine Struktur seiner „Aktualisie-

rung“ besitzt (Jan Mukařovský). Eine solche Struktur der Zeitgenossenschaft der Dinge

ist durchaus nicht komplikationsfrei und lässt sich in ihrer Problematik an den verlore-

nen Objekten illustrieren, die nur als protentiv-retentionale Doppelbilder in die Kunstge-

schichte eingegangen sind, etwa an Vladimir Tatlins „Freischwingendem Stuhl“, der

sich zwischen einer Fotografie des Modells des zukünftigen Dinges und einer nach-

träglichen Rekonstruktion aus posthistorischen Zeiten bewegt.

Mein Beitrag wird sich in drei Teile gliedern.

1) Im ersten Teil werde ich erläutern, was im Formalismus unter einer ästhetischen

Differenzqualität verstanden wird, wenn es heißt, konstitutiv für Kunst sei eine Ver-

fremdung der Dinge. Hier wird es darum gehen zu zeigen, wie mit dem Verfahren der

Verschiebung – des sdvig – ein konstruktives Verfahren entsteht, um eine Differenz-

qualität in die Dinge einzuführen, und zwar eine Differenz zeitlicher Natur. Dabei

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 8

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

scheint mir der Terminus der Verschiebung das formalistische Verständnis eines

Transfers auszudrücken. Damit einhergehend ist auch bei der Beschreibung des künst-

lerischen Ereignisses der Verschiebung, mit dem die Dinge zu neuem Leben erwa-

chen, selbst eine Verschiebung zu beobachten. Während in den vorrevolutionären Lo-

sungen die zentrale Verschiebung vom kulturell codierten Gegenstand (predmet) zum

vorkulturellen Ding (vešč’) erfolgt, für die das Ding-Motiv des Steins steht, ist in den

nachrevolutionären Texten häufig ein Bezug auf den historischen Paradigmenwechsel

der Kulturen zu beobachten, der sich in das Motiv des Wiener Stuhls kleidet. Aus einer

archetypischen Gegenüberstellung eines toten, kulturell codierten Gegenstandes und

eines lebendigen vorkulturellen Dinges wird eine historische Verschiebung vom symbo-

lischen Gegenstand der toten zaristischen Kultur zum lebendigen Ding der gegenwärti-

gen revolutionären Avantgarde.

2) Im zweiten Abschnitt geht es darum, die sich aus diesen Verschiebungen ergebende

Gegenwartskonzeption zu erläutern. Die Gegenwart bei Viktor Šklovskij erweist sich

dabei als eine asynchrone, als eine Gegenwart, die nur dann wahrnehmbar ist, wenn

sie andere Zeitschichten aufruft. Hier wird die bekannteste formalistische Konzeption

der Gegenwart – diejenige der Zwischenraumzeit (promežutok) von Jurij Tynjanov – zu

berücksichtigen sein. Während Tynjanov versucht, den Ort der Gegenwart im Prozess

der Geschichte als Intervall zu bestimmen, scheint das Interesse Viktor Šklovskijs dar-

auf gerichtet zu sein, die Gegenwart als Zeitform näher zu bestimmen. Hier bildet sich

die Idee einer Zeitgenossenschaft der Dinge heraus, die mitverantwortlich ist für die

avantgardistische Entgrenzung der Künste in eine Dingästhetik, die sich im Konstrukti-

vismus und in der Linken Front der Künste (Levyj front iskusstv, Abk. LEF) beobachten

lässt.

3) Im dritten Teil werde ich einen kurzen Exkurs zur Dingentwicklung der Avantgarde

machen und anhand der Vorgeschichte von Vladimir Tatlins „Freischwingendem Stuhl“

zeigen, wie die asynchrone Struktur dieses Dinges entsteht. Hier wird vor allem die

überbordende Dingästhetik zu betrachten sein – die im Russischen sogar einen eige-

nen Terminus erhalten hat, den des „Veščizm“ und als deren Proklamator Viktor

Šklovskij gilt. „Veščizm“ wäre mit Dingismus ins Deutsche zu übersetzen – alternativ

könnte man sich der Bezeichnung des konstruktivistischen Theoretikers Nikolaj Tara-

bukin anschließen, der von einem „Reismus“ sprach. Hier wird zu entwickeln sein, wie

das Ding in einer zeitlichen Differenzqualität verstanden wird.

1 Joffe, Jeremija: Kul’tura i stil’. Leningrad 1927, 356.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 9

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

1. Die Differenzqualität des ästhetischen Objektes Die Verfremdung der Dinge

Viktor Šklovskijs schreibt in seinem bekannten Manifest des Formalismus:

„Die Automatisierung frisst die Dinge, die Kleider, die Möbel, die Frau und die Schrecken des Krieges. [...] Und gerade um das Empfinden des Lebens wiederher-zustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen, existiert das, was man Kunst nennt. Ziel der Kunst ist es ein Empfinden des Dinges zu vermitteln, als Sehen und nicht als Wiedererkennen; Das Verfahren der Kunst ist die Verfrem-dung der Dinge und die Erschwerung der Form [...] Die Kunst ist ein Mittel, um das Machen der Dinge zu erleben [...].“2

Liest man diese Passagen vor dem Hintergrund einer Krise der Erfahrung in der Mo-

derne, bleibt an ihnen am rätselhaftesten, was eine Verfremdung der Dinge sein könn-

te. Die slawistische Tradition verallgemeinert im Begriff der Verfremdung das Negieren

eines Hintergrundes.3 Insbesondere sind die Aspekte einer Dekontextualisierung,4

einer Desemiotisierung der verwendeten Zeichensysteme,5 und der dekanonisierende

Effekt der Verfremdung hervorgehoben worden.6 Den Prozessen der Dekontextualisie-

rung, Desemiotisierung und Dekanonisierung korrespondieren Prozesse der Rekontex-

tualisierung, Resemiotisierung, Rekanonisierung. Das Ding wird nicht nur aus seinem

angestammten Kontext, aus dem Kanon herausgerissen und seines Namens entklei-

det, es wird auch in einen neuen Kontext verschoben, mit einem ungewöhnlichen Wort

bezeichnet und in einen neuen Kanon versetzt. Diesen Vorgang in seiner Gesamtheit

bezeichnet Viktor Šklovskij als Verschiebung.

Ich möchte dieser Liste einen Aspekt hinzufügen, der für die formalistische Konzeption

der Kunstgeschichte bedeutsam ist, und den ich vorerst als De- und Rehistorisierung

des Dinges bezeichnen würde. In dieser Dehistorisierung kommt es nicht zu einer

2 Šklovskij, Viktor: Kunst als Verfahren. In: Striedter, Jurij (Hg.): Russischer Formalismus. München 1969, 2-36, hier: 15. Am prominentesten in dieser Passage ist der Stein, den wieder steinern zu machen Aufga-be der Kunst sei. Die Kunst erscheint hier als eine Praxis der Wiederherstellung der Dinglichkeit der Dinge und im letzten Satz selbst als Ding. Auf den ersten Moment wirkt es so, als fielen in diesen Passagen die Identität und die Selbstreflexivität der Dinge mit einer Produktionsästhetik zusammen, die uns ihre Herstel-lung vor Augen führt. 3 Lachmann, Renate: Die „Verfremdung“ und das „Neue Sehen“ bei Viktor Šklovskij. In: Poetica 1-2 (1970), 226-249. 4 Žmegač, Viktor: Verfremdung. In: ders.; Borchmeyer, Dieter (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Tübingen 1994, 453–457, hier: 454. 5 Hansen-Löve, Aage A.: Die „Realisierung“ und „Entfaltung“ semantischer Figuren zu Texten. In: Wiener Slawistischer Almanach 10 (1982), 197–252, hier: 202.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 10

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

überhistorischen Konzeption des Dinges, sondern zu einem Parallelismus von Zeit und

Geschichte. Das Ding muss aus seinem historischen Zusammenhang herausgelöst

und in die Gegenwart versetzt werden, wenn es als historisches Phänomen wahr-

nehmbar sein soll. Das Ding bekommt auf diese Art und Weise selbst eine historische

Struktur, vor deren Hintergrund es sich als gegenwärtiges abzeichnet. Während die

Erneuerung von Kunstwerken der Vergangenheit durch eine verfremdende Aktualisie-

rung zu gelingen scheint, bereitet die negativistische Verfremdungsfigur jedoch auch

gewisse Schwierigkeiten, die in Bezug auf die Gegenwartskunst deutlich werden. Die

Gegenwartskunst, die sich durch Verfremdung des literaturhistorischen Kanons zu

konstituieren hat, scheint aus diesem Kanon herauszufallen. Ob der Unkunst-Status,

der ihr aufgrund der Verfremdung der Kunst anhaftet mit der Rehistorisierung aufgeho-

ben wird, hängt allein von der Zukunft ab. Sichtbar wird dies eben an den konstruktivis-

tischen Dingen, die der Kunst aufgrund der Dingästhetik der Avantgarde angehörten,

als Kunstverfremdungen aber zugleich nicht zur Kunst gehörten, was möglicherweise

zu ihrem Verlust beigetragen hat. Da die Unkunstwerke Negationen sind, erscheinen

sie als perspektivlose Abweichungen, als Fehler, und als historische Sackgassen. Jurij

Tynjanov hat diese historische Diskontinuität, in der sich das historische Intervall als

Riss bildet, als tragisches Verschwinden künstlerischer Manifeste in einer „Zwischen-

raumzeit“ („promežutok“) der Geschichte geschildert. Eine Rehistorisierung der Un-

kunstphänomene ist eigentlich nur dann möglich, wenn die Kunstgeschichte zufällig

jene Richtung einschlägt, in die das Verfremdungswerk ausgebrochen war, so dass es

im Nachhinein als Vorläufer einer bestimmten Ästhetik erscheint. Da es dabei aber nun

gleichzeitig nicht zu einer Automatisierung, zu einem Wiedererkennen kommen darf,

muss das Ding also permanent auf der Grenze zwischen Kunst und Unkunst verblei-

ben. Das Ding muss in seiner Rehistorisierung das dehistorisierende Moment noch zu

erkennen geben. Das Problem der Unvorhersehbarkeit der zukünftigen Kunstgeschich-

te lässt sich nicht direkt lösen (Rückdatierung). Hier ist nur eine indirekte Lösung vor-

stellbar, die darin besteht, das Ding nicht als identisch-gegenwärtiges vorzustellen,

sondern es den Prozess der historischen Verschiebung als gegenwärtigen ausdrücken

zu lassen. Das heißt, das gegenwärtige Ding muss in seiner Struktur ausstellen, wie es

sich verschoben hat.

Im Anschluss an seine Konzeption der Zwischenraumzeit arbeitet Jurij Tynjanov die

negative Argumentationsfigur weiter aus. Bei ihm wird das Kunstwerk zum Kampf-

kunstwerk, insofern es den Prozess des historischen Kampfes der literarischen Fakten

6 Kujundžić, Dragan: The Returns of History. Russian Nietzscheans after Modernity. New York 1997, 76 ff.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 11

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

in seiner eigenen Struktur ausdrückt. Das Werk ist nur solange aktualisierbar, wie es in

sich das Potential zur Hervorhebung neuer Dominanten gegenüber unterliegenden

Momenten der Konstruktion aufweist. Die nachträgliche Vorläuferschaft ist demnach

also auch als negative denkbar, als tradierte Dissidenz.

2. Die Gegenwartskonzeption Viktor Šklovskijs

Die Gegenwartskonzeption Viktor Šklovskijs hat also eine doppelte Struktur, die ich

vorläufig als Zeitgenossenschaft bezeichnen möchte. Sie entfaltet sich in einem mehr-

fach wiederkehrenden Sujet, in dem die Gegenwart einer anderen Zeit gegenüberge-

stellt wird. Eine solche Gegenüberstellung der Zeiten kommt etwa in den Doppeltiteln

der drei Texte „Zeitgenossen und Gleichzeitige“ („Sovremenniki i sinchronisty“), „Da-

mals und Jetzt“ („Togda i sejčas“), „Vom Vergangenen und Gegenwärtigen“ („O proš-

lom i nastojaščem“) zum Ausdruck. Der Witz besteht, wie ich vorerst nur andeuten

möchte, nicht nur darin, dass der Gegenwart jeweils eine andere Zeit gegenübertritt,

sondern auch darin, dass sich zugleich die Struktur der Gegenwartskonstitution und ihr

Übertreten in die Geschichte wiederholen.

Die drei Texte entstanden in je unterschiedlichen Phasen der formalistischen Theorie-

bildung und der Entwicklung des Œuvres von Viktor Šklovskij. „Zeitgenossen und

Gleichzeitige“ („Sovremenniki i sinchronisty“) erschien 1924 auf dem Höhepunkt der

Entwicklung des systemischen Formalismus in der Zeitschrift „Russischer Zeitgenosse“

(„Russkij sovremennik“), die im folgenden Heft den meistrezipierten formalistischen

Text zur Frage der Zeit abdruckte, Tynjanovs „Zwischenraumzeit“ („Promežutok“). In

dem Text „Zeitgenossen und Gleichzeitige“ erläutert Šklovskij wie dasjenige, was die

Literaturgeschichte uns als damalige Gegenwart überliefert hat, in die Geschichte ein-

gegangen ist. Dabei wird deutlich, dass der Eintritt in die vergangene Gegenwartslitera-

tur und damit in die Literaturgeschichte bereits nach dem gleichen Muster der Verfrem-

dung des Kanons und der Verschiebung des literarischen Systems erfolgte, wie es die

zeitgenössische Avantgarde anwandte, um sich als Gegenwartskunst zu etablieren.

Auf der einen Seite wiederholt also die zeitgenössische Gegenwart das Verfahren, mit

dem die vergangene Gegenwart sich historische Bedeutung verschafft hatte. Auf der

anderen Seite gelingt eine solche Gegenwartskunst nur dann, wenn sie das Prinzip der

historischen Veränderung bereits in sich selbst realisiert und eine Verschiebung des

literarischen Systems betreibt. Die Gegenwart erweist sich somit als Zeitgenosse der

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 12

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

Literaturgeschichte. Der Titel des Textes macht dies noch einmal deutlich: „Zeitgenos-

sen und Gleichzeitige“ verweist darauf, dass die Gegenwart zum einen durch die

Gleichzeitigkeit der Synchronie gekennzeichnet ist, aber darüber hinaus noch ein Ver-

hältnis zur Diachronie unterhält, aus dem sich eine historische Zeitgenossenschaft er-

gibt.

Der zweite Text, auf den ich eingehen möchte, Šklovskijs Feuilleton „Damals und Jetzt“

(„Togda i sejčas“), stammt aus dem Jahre 1929, der Spätphase der Avantgarde, und

erschien in dem Sammelband „Literatur des Fakts“ („Literatura fakta“). Der Formalis-

mus war zu diesem Zeitpunkt bereits in ein selbstreflexives Stadium eingetreten, in

dem ihm die eigene Entwicklung methodologisch und historisch überschaubar er-

schien. Kern dieses Textes ist ein methodologischer und literaturhistorischer Kalauer –

derjenige des Faktums. Er stützt sich auf der einen Seite auf den Titel des Sammel-

bandes „Literatur des Fakts“. Auf der anderen Seite bezieht er sich auf Jurij Tynjanovs

berühmten Text „Das literarische Faktum“ („Literaturnyj fakt“), in dem er dargestellt

hatte, dass der Begriff der Literatur historisch beweglich ist und die literarischen For-

men einer Epoche in einer anderen Epoche durchaus kein literarisches Faktum darstel-

len müssen. Noch im gleichen Jahr macht Šklovskij diese Gegenüberstellung in dem

Artikel „Fakt des Alltags und literarisches Faktum“ („Fakt byta i fakt literaturnyj“)7 expli-

zit. Der Hinweis, dass die Theorie der „literarischen Faktographie“ mit der Historizität

der künstlerischen Fakten zu rechnen habe, betrifft auch die faktographische Dingäs-

thetik. An dieser Stelle kann ich nur kurz darauf verweisen, dass das Ding in allen

Strömungen der Avantgarde zu einem künstlerischen Faktum erhoben wird.8 Ich möch-

te nur ein Beispiel nennen: Sergej Tretjakovs faktographisches Manifest, in dem er die

„Biographie des Dings“ als neues Genre einer Faktenliteratur proklamierte. Darüber

hinaus bilden aber auch die anderen avantgardistischen Strömungen eine Beziehung

zum Ding aus, die sie auch dann noch explizit in ihre Programmatiken aufnehmen,

wenn sie den konstruktivistischen „Dingismus“ ablehnen (wie etwa Solomon Nikritin).

Das Ding, das also ein epochenspezifisches künstlerisches Faktum der Avantgarde ist,

bildet auch die Zeitform des künstlerischen Faktums an sich aus - und spannt sich so-

mit zwischen einem „Damals und Jetzt“ auf.

Ein dritter Text erschien 1939 in Šklovskijs Textsammlung „Tagebuch“ und trägt den

Titel „Vom Vergangenen und Gegenwärtigen“ („O prošlom i nastojaščem“). In ihm bil-

7 Šklovskij, Viktor: Fakt byta i fakt literaturnyj. In: Večernaja Moskva 14.12.1929.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 13

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

det sich auch der Paradigmenwechsel von der avantgardistischen zur stalinistischen

Kultur ab. Fast ein Jahrzehnt nach dem Ende der Avantgarde und drei Jahre nach der

Antiformalismuskampagne des Jahres 1936 sorgt sich dieser Text stärker um die Ver-

teidigung der inzwischen verfemten avantgardistischen Vergangenheit als um die sozi-

alistisch-realistische Gegenwartsliteratur der ausgehenden dreißiger Jahre. Die realis-

tische Literatur habe – so Šklovskij – die Gegenwart nicht ausgelassen“9 und gebe

dem Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart die Gestalt eines negativen Paralle-

lismus: „Es gibt in unserer Literatur noch viel verdeckte Glut, Feuer für neue Verwand-

lungen der Vergangenheit zur Aneignung der Gegenwart.“10 Jede Gegenwart negiere

die Vergangenheit und setze sie in dieser Verfremdung fort. Die Literaturgeschichte

selbst beginnt sich hier als ein UN-UN-terbrochener Prozess darzustellen, der sich

durch einen Zickzackkurs - den „Weg von der Verneinung zur Bestätigung“ vollzieht.11

War es in den avantgardistischen Texten darum gegangen, die eigene Gegenwart in

einer Zeitgenossenschaft mit der Geschichte zu überwinden, so geht es nun darum,

wie die negierte Vergangenheit zu einer Zeitgenossenschaft mit dem historischen Pro-

zess zu bringen ist, das heißt darum, wie eine vergangene Zukunft zu aktualisieren ist.

3. Das avantgardistische Ding

Die Dinge der Avantgarde bilden einen kulturgeschichtlichen und einen kunsthistori-

schen Hintergrund in sich ab. Nach dem exponentiellen Dingwachstum in der russi-

schen Industrialisierung hatten der Wertverlust, die Serialisierung und die Identitätskri-

se dieser massenhaft gleichen Dinge zu einer tief greifenden Artefaktskepsis geführt.

Parallel dazu ist in den bildenden Künsten ein Prozess der Entgegenständlichung zu

verzeichnen. Im Anschluss an die Artefaktzerstörungen in Krieg, Revolution und Bür-

gerkrieg war Malevičs suprematistische „Welt als Ungegenständlichkeit“ nicht nur das

Programm einer abstrakten Welt, sondern bis zum Ende des Bürgerkrieges und des

Kriegskommunismus Lebensrealität.

8 Ich arbeite an einer Edition avantgardistischer Texte zur Programmatik des Dings, die im Herbst 2009 erscheinen wird. 9 „не пропустил настоящего“ Šklovskij, Viktor: O prošlom i nastojaščem. In: Dnevnik. Moskau 1939, 118, deutsche Übersetzung von mir. 10 „Много еще в нашей литературе cкрытого жара, огня для превращения прошлого и овладения настоящим.“ Šklovskij, Viktor: O prošlom i nastojaščem. In: Dnevnik. Moskau 1939, 125, deutsche Über-setzung von mir. 11 „путь через отрицание к утверждению“ Šklovskij, Viktor: O prošlom i nastojaščem. In: Dnevnik. Mos-kau 1939, 118, deutsche Übersetzung von mir.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 14

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

Die Suche nach einem neuen Dingverständnis in der wieder anlaufenden Produktion

während der NĖP, der Neuen Ökonomischen Politik, schlägt sich in dem Schwanken

der konstruktivistischen Dingkunst zwischen Dinglichkeit und Gegenstandslosigkeit,

Fetischismus und Verwerfung nieder. Einige Stationen dieser Entwicklung seien hier

nacheinander vorgeführt:

Abb.1 Aleksandr Rodčenko: Raumkonstruktion Nr. 11, Quadrat im Quadrat (Prostranstvennaja

konstrukcija, Kvadrat v kvadrate) 192112

Aleksandr Rodčenkos gegenstandslose Konstruktion, dieses „räumliche Ding“

(„prostranstvennaja vešč’“), wie er die № 11 seiner zweiten Serie nennt,13 besteht aus

einer auseinander genommenen suprematistischen Fläche, die zu einem Ding entfaltet

wurde. Sie lässt sich wieder einfalten und zu einer Fläche zusammenlegen (Abb. 1).

12 Abbildung aus: Galerie Gmurzynska; Lawrentjew, Alexander; Chan-Magomedow, Selim O.; Stepanowa, Warwara (Hg.): Alexander Rodchenko. Spatial constructions. Raumkonstruktionen. Ostfildern-Ruit 2002, 79. (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2009. 13 So die Bildunterschrift in: Kinofot 2; 1922.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 15

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

Abb.2 Gustav Klucis: Stehende Konstruktion 192114

Abb.3 Gustav Klucis: Entwurf für ein Standsystem (Ėkzis stendovoj ustanovki) 192215

14 Abbildung aus: Gaßner, Hubertus; Nachtigäller, Roland (Hg.): Gustav Klucis. Retrospektive. Ostfildern-Ruit 1991, 102. (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2009. 15 Abbildung aus: Wolter, Bettina-Martine; Schwenk, Bernhart (Hg.): Die große Utopie. Die russische Avantgarde 1915-1932. Frankfurt a.M. 1992, Nr. 131. (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2009.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 16

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

Ein ähnliches Motiv findet sich bei Gustav Klucis, der in seiner stehenden Konstrukti-

on16 vorführt, wie das Bild des schwarzen Quadrates von der Wand genommen und als

Ding auf den Boden gestellt wird (Abb. 2). Seine gegenstandslosen Konstruktionen

werden dann auch verschiedentlich als Bilder-Dinge („kartiny-vešči“) bezeichnet. Auch

in seinem Entwurf für ein Standsystem ist die gegenstandslose Konstruktion ebenso

wiederzuerkennen wie das Prinzip der Entfaltung und Einfaltung des Dings wahrzu-

nehmen ist (Abb. 3). Idealerweise wird das Ding nach seinem Gebrauch erneut in die

plane gegenstandslose Fläche zurückverwandelt, aus der es hervorgegangen ist.

Abb. 4 Aleksandr Rodčenko: Entwurf einer ausziehbaren Rednertribüne für den Arbeiterklub 192517

16 Das Original ist verloren. Ein Foto dieser Konstruktion befindet sich im roten Album II, das Klucis 1936/37 für eine geplante Werkschau anfertigte. Dort ist es zusammen mit weiteren Objekten unter dem Titel „Konstruktivismus, volumenhaft-räumliche Konstruktionen“ („Konstruktivizm, ob“emno-prostranstvennye konstrukcii“) abgebildet. 17 Abbildung aus: Rodtschenko, A. M.: Aufsätze, Autobiographische Notizen, Briefe, Erinnerungen. Dres-den 1993, 134. (c) VG Bild-Kunst, Bonn 2009.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 17

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

In den konstruktivistischen Multifunktionsmöbeln nimmt diese Doppelstruktur bereits

eine sehr komplexe Form an (Abb. 4). Diese „Komplexmöbel“ sind Dinge, die zugleich

Tisch, Bett und Sofa sind, das heißt den eingangs erwähnten „dynamischen Dingen“

zugehören, die sich auch hinsichtlich ihrer selbst verändern. Das Prinzip der Entfaltung

und Einfaltung der Dinge bleibt auch hier erkennbar. Hinzu kommt jedoch, dass sich im

Auf- und Untertauchen der Dinge ein zeitliches Nacheinander einstellt, in dem immer

nur eines der verbundenen Dinge gegenwärtig ist (Abb. 5).

Abb.5 Abram Damskij: Entwurf für ein Tischsofa18

Erst der späte Konstruktivismus stößt auf das Schicksal der einzelnen Dingelemente

im mechanischen Nacheinander. Als Nikolaj Tarabukin bemerkt, dass das Ding aus der

Großindustrie verschwindet, weil diese immer mehr Maschinenteile anstelle von Din-

gen herstellt, wird erkennbar, dass das Arrangement von Dingen zu einem maschinel-

len Ablauf auch die Dinglichkeit ihrer Elemente zum Verschwinden bringt. Vladimir Tat-

lin versucht, das Ding in seiner Funktion zu erhalten: „Das Ding soll in unserer Vorstel-

lung [...] jene Einheit werden, die aufgerufen ist, bestimmte, ihr vorgeschriebene Funk-

tionen zu erfüllen. In einzelnen Momenten kann das Ding zerfallen, nur ein Einzelteil

18 Abbildung aus: Khan-Magomedov, Selim (Hg.): VHUTEMAS. Moscou 1920-1930. Paris 1990, 666.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 18

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

des Ganzen werden, aber fortfahren irgendwelche Funktionen zu erfüllen.“19 Zugleich

bemerkt er aber, dass ganze Gruppen von Dingen, die andere Dinge in sich einschach-

teln, wie das Komplexmöbel im Übrigen auch, selbst zu Dingen mutieren, und als

Dingarchive nur zu ihrer exponentiellen Vermehrung beitragen: „Unser ganzes Leben,

und sogar unsere Produktion wird von Dingen belastet, und hauptsächlich von solchen,

die andere Dinge beherbergen. Man muss danach streben, sie zu vernichten, von ih-

nen nur einzelne Teile nehmen [...]“.20 In der Gruppe ISORAM bekommt Tatlins „Krie-

gerklärung an die Kommoden und Buffets“ eine historische Dimension (Abb. 6).

Abb.6 ISORAM21

In einem Bürgerkrieg der Dinge verdrängt der gegenwärtige konstruktivistische Stuhl

das vergangene aristokratische Sitzmöbel.

19 „Вещь в нашем предcтавлении должна [...] cтать той единицей, которая призвана оcущеcтвлять определенные, ей назначенные, функции. Моментами эта вещь может раcпаcтьcя, стать только частью целого, но продолжать исполнять какие-то функции.“ Tatlin, Vladimir: Problema sootnošenija čeloveka i vešči. In: Rabis 15 (1930), 9, deutsche Übersetzung von mir. 20 „Вcя наша жизнь, да и производcтво, обременены вещами и главным образом теми, которые хранят другие вещи. Надо стремится к тому, чтобы уничтожить их, взять от них только отдельные чаcти. [...]“ Tatlin, Vladimir: Problema sootnošenija čeloveka i vešči. In: Rabis 15 (1930), 9, deutsche Übersetzung von mir. 21 Titelblatt der Zeitschrift RABIS 49 (1929).

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 19

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

Die projektionistische Ordnung der Dinge zieht die Konsequenz aus dem zeitlichen

Nacheinander der Dinge und aus der Alternative zwischen Dingarchiven und Dingver-

nichtung wird bei Solomon Nikritin eine „Historiotheorie“. So schrieb er 1927:

„Was ihre Bestandteile betrifft, haben die heutigen perfekten Maschinen durchaus Bezug zu den originären Instrumenten der Zivilisation und entwickeln sich aus ih-nen. Die Bestandteile dieser Instrumente haben ihren EIGENEN (unleserlich) orga-nischen Platz im System (unleserlich) der Konstruktionen gefunden – bevor ein Flugzeug abhebt, rast es auf Wagenrädern dahin, (Schlitten?), Radio und Telefon funktionieren auf der Basis des Rohrs, der Flöte des antiken Hirten.“22

Wenn das Flugzeug seine Räder einfährt, so verschwindet hier das Auto im Flugzeug

ebenso wie einst das Ding in der Kommode verschwunden war und wie auch das kon-

struktivistische Sofa in den Tisch eingefaltet worden ist. Das Auto im Flugzeug bildet

darüber hinaus aber die historische Verschiebung mit ab, in der diese beiden Dinge

aufeinander folgende Stadien des technischen Fortschritts darstellen.

Abb.7 Vladimir Tatlin: Fotografie des Freischwingenden Stuhls23

22 Nikritin, Solomon: Museum des statischen Films. In: Licht und Farbe in der russischen Avantgarde. Die Sammlung Costakis. Berlin 2005, 354-356, hier: 356. 23 Abbildung aus: Tatlin, Vladimir: Chudožnik = organisator byta. RABIS 48 (1928).

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 20

Anke Hennig, Die Vergegenwärtigung der Dinge

In Vladimir Tatlins „Freischwingendem Stuhl“ findet man die skeptische Variante einer

solchen historischen Struktur, in der das Verschwinden überwiegt. Tatlin hatte dieses

Modell eines Freischwingers aus dem eben zitierten (Holz)-Rohr für die Massenpro-

duktion vorgesehen, aber außer dieser Photographie gibt es keine weiteren Zeugnisse

von diesem Ding mehr. Tatlin war beim Entwurf dieses Dinges dem Innovationsprinzip

und dem Verfremdungsprinzip des Kunstwerkes gefolgt. Mit der Abwendung vom Wie-

ner Stuhl im Plan eines zukünftigen Dinges entspricht es dem frühesten formalistischen

Modell des gegenwärtigen Dinges – der Zeitgenossenschaft. Aber die Entwicklung der

Kunst war ab den 30er Jahren in eine andere Richtung erfolgt, so dass der Stuhl in

einer „Zwischenraumzeit“ der Geschichte verschwunden ist und damit dem zweiten

Modell der künstlerischen Gegenwart im Formalismus – dem des Intervalls entspricht.

Abb.8 Vladimir Tatlin: Freischwingender Stuhl – Rekonstruktion24

Während der Stuhl als Ding verschwunden ist, hat seine nachträgliche Rekonstruktion

jene dritte Struktur der Zeitgenossenschaft erreicht, in der es auf der Grenze zwischen

Kunst und Nichtkunst, Existenz und Inexistenz, Zukunft und Vergangenheit vergegen-

wärtigt wird. Die Zeitgenossenschaft des Dings mit dem historischen Prozess lässt es

also erst im Transfer durch alle drei Zeiten zu einem gegenwärtigen Ding werden.

24 Abbildung aus: Shadowa, Larissa (Hg.): Tatlin. Weingarten 1987, Nr. 257/258.

Arbeitspapiere des Osteuropa-Instituts, Kultur, 2 / 2009 21