leo bardon, annie - weißt du noch

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Annie Girardot prägte den Stil einer ganzen Generation selbstbewusster Frauen: Sie trat seit 1955 in mehr als 170 Filmen auf und war über Jahrzehnte hinweg eine der beliebtesten Schauspielerinnen Frankreichs und Europas. 2001 und 2005 spielte sie in zwei erfolgreichen Filmen des österreichischen Regisseurs Michael Haneke – zu diesem Zeitpunkt war sie bereits schwer an Alzheimer erkrankt. Eine kleine Gruppe von Vertrauten hatte beschlossen, die Krankheit sowohl vor ihr als auch vor der Öffentlichkeit zu verheimlichen. Annie Girardot starb am 28. Februar 2011 in Paris in einem Hospiz. Ihr engster Vertrauter erzählt von der schrecklichen Entdeckung, dem Kampf darum, das Geheimnis zu wahren, den Erfolgen der mutigen Frau gegen ihren übermächtigen Gegner, den Reaktionen von Familie, Freunden und Kollegen sowie der Öffentlichkeit - und schließlich von ihrem Scheitern in Würde.

TRANSCRIPT

Léo Bardon

Annie,weißßt du noch ...

erinnerungen

Verlag André thiele

Leseauszug

© VAT Verlag M

ainz

ww

w.vat-m

ainz.de

in Zusammenarbeit mit ßophie Blandinières.Aus dem Französischen von ßabine carolin Richter.© für die originalausgabe: Michel Lafon Publishing, Anniete souviens-tu …, 2009© für die deutsche Ausgabe: VAt Verlag André iele, 2012Alle Rechte am deutschen text vorbehalten.ßatz: Felix Bartels, osakaumschlaggestaltung: gestaltungsmerkmal.de, dresdenumschlag unter Verwendung eines Bildes von Pascalito /ßygma / cordisdruck: winterwork, Borsdorferste Auflage, Februar 2012

www.vat-mainz.de

ißBn 978-3-940884-77-0

PRoLog

ßie fehlt mir. warum sie mir fehlt, möchte ich ih-nen erzählen. um gegen die ßtille anzukämpfen,die eingezogen ist. um nichts zu vergessen, vor al-lem nicht, wie viel Mut sie hatte und wie groß ihrherz war. um zu sagen, wie sehr ich sie liebe undwie unverzeihlich der Zynismus dieser Krankheitist, deren namen auszusprechen mir noch immerschwerfällt. ein name, den ich gerne vergessenwürde. A l z h e i m e r . ein verfluchter name, einhässlicher name.

Als ich dieses Buch schrieb, war sie noch von dieserwelt. und doch nicht mehr. ßie war noch am Le-ben. Annie lebte, war aber auch schon ein bisschengestorben, in Vergessenheit geraten.

Vor einem Jahr ist sie gestorben. dieses Buch istauch ein nachruf.

ich fühle mich jetzt allein, doch mir bleibt, was sieverloren hat, die erinnerung. ich erinnere mich andie Zeit, als das schreckliche weiß noch nicht dawar und an das danach. Als alles anfängt, sich zuverschlechtern, als alles beginnt, sich aufzulösen.An die Zeit, als sich das ende schon abzeichnet,die Leere.

normalerweise geht man von einer leeren ßeite hinzu einer beschriebenen. Aber Alzheimer hat es sich

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zur Aufgabe gemacht, das ins gegenteil zu verkeh-ren. Man geht von einer vollen zu einer leerenßeite, bis hin zur vollständigen Leere. Von ßchwarzzu weiß. Von Farbe ins dunkle. das kann nurAlzheimer. ich will ihnen davon erzählen und dannwerde ich verstummen. wie Annie verstummte.

Paris, dezember 2011

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»ßie dA, weR ßind ßie?«

Annie und Léo sitzen im wohnzimmer bei Annie.ßie sitzen da schon eine weile und schauen fern.

Annie: »guten Abend, geht es ihnen gut?«Léo: »Aber Annie, ich bin es doch! ich bin es,

Léo!«Annie: »Ah, ßie kennen Léo? wissen ßie, Léo, das

ist mein Freund, und er ist wirklich großartig.«Léo: »…«

Am liebsten hätte ich keine ohren, am liebstenwäre ich taub. Für gewöhnlich bin ich Léo, dieQuasselstrippe, der Zuhörer. Aber in diesem Au-genblick fühle ich nichts mehr. weder meine ohrennoch meine ßtimme. Alles in mir ist erstarrt. Mankennt mich als Léo, den Lebenslustigen, den wit-zigen, nun sitze ich hier in diesem kleinen ßessel,traurig und stumm.

Annie kennt mich so gut, und trotzdem erkenntsie mich nicht. Für sie bin ich irgendein Besucher,irgendein typ, dem sie erzählt, wie viel ihr dieserLéo bedeutet. ßie hat mir einmal, zu einer Zeit, alssie mich noch nicht für einen Fremden hielt, gesagt:»ohne euch«, und damit meinte sie mich und Va-léra, »wäre ich längst tot.« ich bin mir bewusst,dass man an einsamkeit zerbrechen kann.

Annie, Léo, Léo, Annie. eine alte, sehr müde ge-schichte. Längst erloschen für alle anderen, nurnicht für mich. All die Bilder, die wie ein Film inmeinem müden gehirn ablaufen und die sich un-

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entwegt wiederholen, habe ich vollständig bewahrt.ich erinnere mich an alles. ich erinnere mich fürzwei.

nachdem Annie ins Pflegeheim gebracht werdenmusste, konnte ich mir, gleich einem trauma, ei-nem schwarzen Loch, merkwürdiger weise nichtsmehr ins gedächtnis rufen. doch dann, über eineArt umweg, begann ich die Vergangenheit zu sehenund zu hören. Annie, Léo, Léo, Annie. Annie, Léo,die Krankheit. Annie, Léo, Valéra, Anne, dieKrankheit. Annie. die Krankheit.

»ßie da, wer sind ßie?«»Mein name ist Alzheimer. Man braucht nicht

nach mir zu rufen, ich bin einfach da. und ichwarne ßie, ich bin boshaft. ich komme mit derAbsicht, alles zu zerstören, bis es keine erinnerungmehr gibt: keine Annie, kein Lachen, keinen Léo,keine worte. Bis es nicht einmal mehr genugßchweigen gibt.«

das Problem ist Annies Berühmtheit, und sie istsogar sehr berühmt. noch vor Annie ist sie die gi-rardot, die große französische ßchauspielerin mitfünfzig Jahren Karriere und mehr als einhundert-fünfzig Filmen. es ist diese zierliche ßilhouette,dieses offene gesicht, diese ßtimme und das be-sondere Lachen, das den Franzosen so vertraut ist.ßie ist nahezu jedem bekannt und ist für viele diebeliebteste ßchauspielerin. wo auch immer ich mitihr erscheine, sie wird stets von allen erkannt. nun

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ja, von fast allen. der herr jedenfalls, der nebenihr im Zug nach Paris sitzt, scheint sich vollkom-men sicher zu sein: »oh, guten tag, Madame! ichkenne ßie. ßie sind wirklich eine großartige ßchau-spielerin. ich bin sehr froh, ihnen zu begegnen,Madame Moreau!« ich beobachte Annie, ihre Re-aktion hinter ihrer großen ßonnenbrille. ich weißgenau, dass sie etwas antworten wird. ßie hat immereine gute entgegnung parat. niemals bissig, stetshumorvoll. Manchmal ein bisschen derb. im Au-diardschen ßlang sozusagen, einer Mischung ausPariser original und ßtraßenjargon. ßie dankt demherrn höflich und sagt: »oh, ßie sind sehr freund-lich, Monsieur. und ja, ich stimme ihnen zu, Ma-dame Moreau ist auch großartig, aber ich, Mon-sieur, ich bin die girardot!«

Fakt ist, dass es sie nicht im geringsten kümmert,wenn man sie nicht erkennt. das wichtigste fürsie ist geliebt zu werden. ßie fragt mich andau -ernd: »Mein Léo, liebst du mich noch?« Als ob siesich der Antwort niemals sicher wäre oder diesenur für einen bestimmten Zeitraum gültig seinkönnte.

Madame girardot ist ein ßtar. ich bewundere sie.Ja, ich kann sagen, ich verehre sie für all das groß-artige, das sie im Kino und auf der Bühne getanhat. Aber das, was mich mit ihr wirklich verbindet,ist sie selbst. ich habe immer geglaubt, sie wäreeine zu starke Frau, um sich lieben zu lassen. dochletztendlich war sie es, die es peu à peu verstand,

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mich nah an sich zu binden und mich bei ihr zuhalten. Als was? das ist die Frage, und sie ist nichteinfach zu beantworten. Meine Position lässt sichschwer definieren. Auf jeden Fall passe ich in keineßchublade. Als es mit Annie begann, existierte ichoffiziell nicht. es gab demzufolge in den erstenJahren nicht selten Fragen zu der dauerhaften Präsenz des jungen typen an Annies ßeite. ist dasetwa ihr Liebhaber? der Verdacht, dass ich mit ihr schlafe, ist lächerlich. ich bin schwul. und ichwerde nicht einfach für die girardot das ufer wechseln.

»Vielleicht ist er ihr dealer?« Man hatte mir dieseFrage nie direkt gestellt, bis mich eines nachts beieinem Fest ein typ fragte, ob ich nicht Koks oderecstasy zu verkaufen hätte. ich dachte bis datonicht, dass ich den Anschein erweckte, ein dealerzu sein. Über dieses Ansinnen war ich verblüfftund entgegnete empört: »ßagen ßie, für wen haltenßie mich denn?« er fuhr mich schroff an: »ich hieltdich für den dealer der girardot!« ich war kom-plett sprachlos.

Bin ich ein ßchmarotzer? das wäre wohl dasßchlimmste. Aber nein, ich habe kein entgelt er-halten. Annie entlohnte mich für meine Arbeit als»persönlichen Assistenten«, indem sie mir einekleine wohnung bereitstellte. wäre ich ein Parasit,es wäre leicht gewesen, mich an Annie zu berei-chern, und ich hätte ausgesorgt. Aber das gegenteilist der Fall. ich habe alles verloren.

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obwohl mich Annie sehr schnell überall als ihrenVertrauten vorstellte, als Léo, der sich um sie küm-mert und der ihre geschäfte führt, haben die LeuteZeit gebraucht, um mich offiziell anzuerkennen.das bin ich gewöhnt. ich bin ein niemand, einerunter vielen. Léo Bardon. dieser name sagt keinemetwas, und das ist nicht gerade lustig, weil ich ei-gentlich ßchauspieler bin. gut, man hat mich bishernur in kleinen Kinorollen sehen können. nicht großgenug also, um dem Publikum im gedächtnis zubleiben. es ist somit nichts Befremdliches, wennsich jemand nach meinem namen erkundigt undfragt, was ich mit Annie zu schaffen habe. ich nehmeihm das nicht übel. Mich verletzt das nur wenig.Viel unangenehmer ist es, sich wie ein eindringlingzu fühlen. ßo wie bei Patrick ßébastien. das warnoch ganz am Anfang im Jahre 1999, während derdreharbeiten zu dem Film T’aime. es war nichtzwingend nötig, dass ich anwesend war. Aber Fram-boise, eine befreundete ßängerin der gruppe LaBande à Basile, über die die Begegnung mit ßébastienentstanden ist, bat mich mit stoischer Beharrlichkeit,unbedingt zu kommen. ßie rief mich jeden tag an,und immer beklagte sie sich über Annie. ßie sagtemir, dass sie abscheulich wäre und ihr charakternicht zu ertragen sei. um diese Klagen zu beenden,fügte ich mich schließlich, und weil vor ort keinhotel mehr über freie Zimmer verfügte, sagte Annieohne zu zögern: »er schläft bei mir.«

um von den Leuten, die mich anfangs noch nichtkennen, akzeptiert zu werden, komme ich stets be-

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laden mit geschenken an. Zu jener Zeit besitzeich unmengen an ßpielzeug der Marke Action Man,weil ich kurz zuvor auf einer werbetour gewesenbin. trotz der vielen geschenke fühle ich michnicht wohl. ich verbringe meine erste nacht imhaus von Patrick ßébastien und schlafe sehrschlecht. Früh am Morgen trinkt der Meister imFreien seinen Kaffee. ßeine Jungs sind auch da undamüsieren sich mit den ßpielsachen. während erihnen zuschaut, sagt er so laut, dass ich es gut ver-nehmen kann: »wer also ist der große Prinz, derso viele geschenke mitbringt?« ich werde immerkleiner in meinem ßtuhl. ein paar Monate spätersieht mich Patrick ßébastien beim Abendessen zurVorpremiere seines Films T’aime mit kalten, ver-ächtlichen Augen an, als ich gerade versuche, ab-zutauchen und fragt: »ßie da, wer sind ßie eigent-lich?« ich bin nicht in der Lage, zu antworten,obwohl doch die Antwort so einfach ist. Anniewar ja nicht die erste, die auf die unterstützungeines Privatsekretärs vertraute. die wahrheit ist,dass ich nicht antworten kann, weil ich selbst nichtgenau weiß, wer ich bin.

im Laufe der Monate habe ich mich in meinerRolle verloren. Mein ganzes ßein hat sich in derneuen Funktion aufgelöst. nach und nach war ichnichts anderes mehr, als der Léo, der sich mit Anniebeschäftigt. wenn man einmal gelernt hat, denMund zu halten, ist es später schwierig zu sprechen.Als mir also ßébastien an diesem Abend diese töd-liche Frage stellte, vermochte ich nicht einmal zu

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stottern. die Antwort ist eigentlich eine Frage, dieich mir selbst stellen muss: »wer bin ich eigent-lich?«

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»weR Bin ich?«

Früher war ich ein kleiner ßtar. das sagten jeden-falls die erwachsenen über mich. die ßorte kleinerJungen, die man beachtet, weil sie viel gestikulierenund dummheiten machen. ich war einer von denteenagern, die auf die nerven gehen oder begeis-tern, je nach ßituation. hauptsache, es passierteetwas. ich war schon immer anders. ßo habe ichmich selbst eher als den duracell-hasen aus derwerbung gesehen, der einfach weiter winkt, auchwenn die werbung schon vorbei ist. ich war neu-gierig und ziemlich verrückt und habe schon immerdas Komische dem ernsten vorgezogen. es seidenn, mir blieb keine Möglichkeit mehr, mich überalles und jeden lustig zu machen. Vor allem übermich selbst. ßo, wie es auch Annie mit vielen din-gen und mit sich selbst machte. ßogar über ihreKrankheit haben wir anfangs gelacht.

ich glaube, dass schon sehr früh mein talentzum ßchauspiel deutlich wurde. Allerdings am fal-schen ort, in der ßchule. genau da, wo man esnicht versteht, Klassenclowns zu fördern, sondernwo sie abgelehnt werden. doch das habe ich zuspät begriffen, nämlich erst, als sie mich in eine»Klasse für auffällige Kinder« gesteckt hatten. dieidee war, mich aus dem allgemeinen unterrichtherauszunehmen, um mir eine Ausbildung als Flie-senleger anzubieten. diese idee empfand ich jedochals komplett lebensfremd. das war alles andere alseinleuchtend. ßie lobten meine Qualitäten im Fran-zösischen, aber schlugen mir zeitgleich vor, denBeruf des Fliesenlegers zu erlernen. ich bekam we-der den Bericht über mich zu sehen, noch fragte

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mich irgendjemand wirklich nach meiner Mei-nung. in null Komma nichts fand ich mich geis-tesabwesend mit einem hammer auf Fliesen klop-fend wieder. Man kann wahrlich nicht behaupten,dass mich das aufblühen ließ.

glücklicherweise war das nicht von langer dauer.Meine eltern akzeptierten, dass ich mich an derPariser ßchauspielschule anmeldete und am coursßimon teilnahm. dort war ich endlich untergleichgesinnten in meinem element. wenn ichnicht gerade als Possenreißer auf der Bühne descours ßimons agierte, dann hockte ich mich unterden großen tisch im wohnzimmer, um alleßchwarz-weiß Filme anzuschauen, die im Fernse-hen liefen. Filme anschauen und ßchlafen, das wa-ren die einzigen Aktivitäten, die ich lautlos prak-tizierte. der Flimmerkasten faszinierte mich, ichwar hingerissen. Bei meinen eltern in Levalloisoder bei meiner geliebten großmutter, die ein großer Fernsehfan war, verbrachte ich ßtunden damit, laufende Bilder aufzusaugen. dabei ver-schlang ich unter anderem auch den Film Dr. Françoise Gailland, dargestellt von Annie girardot.ßie spielte darin eine moderne, kämpferische Frau.ich bewunderte diese tV-heldin, weil sie michmit ihrem Altruismus und ihrer Rebellion gegenungerechtigkeit berührte. und sie erinnerte michan meine Mutter, eine beherzte gastwirtin, so-wie an meine großmutter, eine emanzipiertegrande dame, die im Arbeitsministerium ih-ren dienst tat. Meine kleine, liebe großmutter.

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durch sie weiß ich, was Freiheit und Lebensfreudebedeuten.

Für den theoretischen unterricht gehe ich in dencours ßimon. wieder einmal gelte ich als Faxen-macher und das seit meinem ersten Vorsprechen.ich trage der direktorin von Apollinaire das be-rühmte gedicht Sous le pont Mirabeau vor. dieklopft auf einen Metallaschenbecher, um ordnungin die Klasse zu bekommen. ich habe gerade be-gonnen, da geht meine darbietung schon schief.die unerfahrenheit spielt mir einen ßtreich, esfolgt ein Blackout. ich bin absolut nicht mehr inder Lage, mich an das wichtigste zu erinnern, näm-lich daran, was unter der Brücke Mirabeau fließt.Also sage ich, dass es mir entfallen ist, und besitzegleichzeitig die dreistigkeit, mein amüsiertes Pub -likum zu befragen: »nun sagt schon, was fließt un-ter der Brücke Mirabeau? gute Frage! Könnt ihrmir nicht helfen? ich habe leider absolut keine Ah-nung mehr!« die Klasse ist vergnügt und die di-rektorin regt sich an ihrem Aschenbecher ab. ichjedoch bin begeistert, ich liebe solchen Quatsch.darüber hinaus werde ich gerade als König derclowns gefeiert. etwas weniger erheitert bin ichdann, als die direktorin mich von der Bühnescheucht und mir den ßpitznamen »de Funès nu-mero 2« gibt. ich bin sehr strebsam zu jener Zeitund jung. ich habe also absolut nicht vor, die num-mer 2 von irgendjemandem zu sein, auch nichtvon de Funès, selbst wenn ich ihn unendlich be-wundere. ich besitze noch den ßtolz eines Anfängers

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und bin überzeugt, dass der tag kommen wird, andem man mein talent als ßchauspieler erkennenund feiern wird.

dieser tag kam jedoch nicht, weil der Film nichtso verlaufen ist, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.oder besser gesagt, es wurde ein ganz anderer Film.der Film von Annies Leben. es ist ihr eigenerFilm, in dem ich eine denkwürdige Rolle spiele.Aber einige Jahre gehen ins Land, bevor man dasallgemein erkennt. Bis auf wenige ßituationen wardas nicht weiter tragisch. denn ich wusste ja, dassich der Prinzipal war. ich kannte meinen nutzen,die Bedeutung meiner Anwesenheit an Anniesßeite. Am ende ausgelaugt und abgehetzt, überka-men mich doch Zweifel, das gestehe ich. die er-schöpfung gab mir flüsternd den gnadenstoß:»hey, don Quichotte, du kannst nichts mehr aus-richten. du kämpfst gegen windmühlen. Kannstdu denn nicht erkennen, dass du verlierst? Mankann nichts mehr für sie tun. es ist vollkommennutzlos, was du da machst!«

Abgesehen von Annie selbst erhielt ich erst vielspäter Anerkennung von anderen, als nicolas Bau-lieus tV-dokumentation Annie Girardot – ainsiva la vie, im Jahre 2008 ausgestrahlt wurde. erstan diesem tag habe ich endlich gefühlt, dass ichmich nie mehr rechtfertigen muss. der Film zeigtall das, was wir mit Annie erlebt haben. er erklärtdas, was ich Patrick ßébastien einige Zeit vorhernicht antworten konnte: Annies Liebe, ihre Zu-

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neigung, unsere Zärtlichkeit, meine Aufmerksam-keiten, ihre wunden, meine Liebesbezeugungen.wir haben uns immer verstanden, auch dann, wennes mal ziemlich stürmisch zuging. Annie hatte ihregründe, mich gern zu haben. ßie verabscheute ßtill-stand, hatte unmengen Liebe zu geben – und ichebenso. Alle beide besitzen wir ein Übermaß anZärtlichkeit.

Bei der wahl ihrer Rollen hatte Annie girardotein Prinzip: ßie lehnte es ab, bösartige Rollen zuspielen. die hätten ihr ßchmerzen bereitet. des-wegen weigerte sie sich beharrlich, derartige Ange-bote anzunehmen. es war also völlig sinnlos, siezu bitten, im Film jemanden umzubringen. Auchfür Rollen mit Betrügern stand Annie nicht zurVerfügung. wenn ich ihr das ende eines drehbuchsvorlas, in dem vorgesehen war, sie zu einer Mörde-rin zu machen, rebellierte sie konsequent. »ohnein, niemals! ich bringe niemanden um. ich habein keinem einzigen Film jemals jemandem etwaszuleide getan, und ich werde heute ganz bestimmtnicht damit anfangen! entweder sie ändern dasende oder ich mache es nicht. Punkt.« ßo wurdeeine Kugel zu einem herzinfarkt oder zu einemAutounfall. ich lächelte schon im Vorfeld, weil ichihre Reaktion bereits auswendig kannte. oft sahich, wie sie sich vor dem Fernseher aufregte, wennin den nachrichten wieder gewaltszenen zu sehenwaren. Annie war gegen Krieg und jegliche Formvon Leid. das geballte Böse machte sie unendlichwütend, sie verstand das nicht. ßie wünschte nie-mandem den tod, nicht einmal dem miesesten ty-

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pen. das ßchlimmste, was sie sagen konnte, war:»den sollte man wegsperren.« ßie selbst ist es auch,die sich stets zu helfen weiß, wenn es darum geht,sich an die guten dinge zu erinnern. und zwarausschließlich an die guten.

Freude zu bereiten, glück zu verschenken, Annietat es unentwegt. Am Anfang unserer Freundschaftversuchte sie oft, mich zum Lachen zu bringen. ßowusste sie beispielsweise von meiner Bewunderungfür Muriel Robin. Also organisierte sie heimlicheine Begegnung. ßie bat mich ganz nebenbei, zumcafé Banana zu kommen, wo eine kleine Überra-schung auf mich warten würde. nichtsahnendblieb ich also, gekleidet wie ich war, völlig zerknit-tert und verschwitzt. Aber wie hätte ich auch vor-hersehen sollen, dass ich gleich meinem idol be-gegnen würde.

Als ich dort ankomme, entdecke ich Muriel Robinsofort. ßie ist mit Annie auf der tanzfläche, unddie damen amüsieren sich. ich nähere mich denbeiden, aber die Komikerin hält mich für einenßtörenfried und stellt sich schützend vor den ßtar.ich bleibe angewurzelt stehen wie ein idiot undverhasple mich in einem Anfall von ßchüchtern-heit. dabei fühle ich mich sehr ungeschickt, unddieses gefühl löst sich auch nicht wieder auf. derganze Abend ist schrecklich. Auf dem Rückwegwerfe ich Annie vor, mich nicht gewarnt zu haben.ich werfe ihr an den Kopf, dass ich ihr doch eingeschenk mitgebracht hätte, wenn ich es gewusst

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hätte. Annie nimmt mir meine Kommentare ziem-lich übel. ßie wird wütend:

Annie: »Aha, du bist also der Meinung, dass ichMist gebaut habe. habe ich das jetzt richtig ver-standen?«

Léo: »nein, das wollte ich nicht sagen. ich freuemich natürlich sehr über deine Überraschung,aber du hättest mir doch wenigstens sagen kön-nen, dass es gut wäre, wenn ich mich umziehenwürde.«

Annie: »Ach, ich habe es satt. Jedes Mal, wenn ichdir eine Freude machen will, geht es schief!«

Léo: »das ist nicht der Punkt, Annie. wenn du esmir nur ein bisschen angedeutet hättest, hätteich mich auch gefreut.«

in ihrem Zorn beschimpft Annie alles, was sichauf dem tisch befindet. wütend schmeißt sießkripte, Bücher, Akten und anderes umher. eintornado tobt. Mit einem Male fliegt der ganzeKram über meinen Kopf. ich bin fassungslos undunterbreche kurz ihren wutausbruch: »okay, dannhaue ich jetzt ab, und ich habe keine Ahnung, werdas alles wieder aufheben wird.« ich halte wortund verschwinde kurzerhand. Vor dem haus, alsich gerade mein Moped besteigen will, klingelt dashandy. es ist Annie. »hallo, mein Lieber, hast dumich noch gern?« ich sage, dass ich sie natürlichnoch gern habe und sie sich jetzt beruhigen undschlafen gehen soll. Aber zu dieser Zeit muss wohlschon diese kleine zwanghafte ßeite von ihr Besitz

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ergriffen haben. ßie ruft mich noch einmal undnoch einmal an, um mir immer dieselbe Frage zustellen. die Frage, die sie ängstigt und die ihr keineRuhe lässt. Annie will absolut sicher sein, dass ichihr nicht böse bin, damit sie ruhig schlafen kann.

ßie lacht und wirft ihren Kopf zurück. ihr grünerßchal flattert im wind. Annie ruft: »ich liebe dasLeben, ich liebe das Kino!« ich beginne zu träumen.in meinem traum habe ich sie entführt. Mit neuenKleidern bin ich zu ihr ins Pflegeheim gegangen.wir lachten beide, als ich den Raum betrat. Raschhabe ich ihr geholfen, sich umzuziehen, und dannhaben wir uns heimlich davongemacht. wir warenüberglücklich und nahmen uns vor, all das zu tun,was wir als Kinder schon immer tun wollten; wiezwei Verrückte, die entkommen sind. wir würdenessen, lachen, geschichten erzählen, spazieren ge-hen und streiten. wir würden alles tun, so wie frü-her. weil mir das so wichtig ist, würden wir zumMeer fahren, denn ich bin noch immer Bretone.und wir würden auch den himmel bestaunen, derfür Annie so wichtig ist, den sie anschaut, wannimmer es geht. im Auto, im Flugzeug … überall.Annie würde nie und nimmer ins heim zurück-kehren wollen, das ist mir klar. Außerdem würdeich sie niemals zurückbringen können, das brächteich nie übers herz.

Annie: »ßag mir, Léo …«Léo: »Ja, Annie?«Annie: »du lässt mich nie im ßtich, nicht wahr?«

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unßeRe Begegnung

ISBN 978-3-940884-77-018.90 EUR [D]