leitlinien – attraktivität, implementierung und evaluation

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Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2013) 107, 164—169 Online verfügbar unter www.sciencedirect.com journal homepage: http://journals.elsevier.de/zefq AUS DER AWMF Leitlinien — Attraktivität, Implementierung und Evaluation On the attractiveness, implementation and evaluation of guidelines Monika Nothacker 1,, Cathleen Muche-Borowski 1 , Ina Kopp 1 , Hans Konrad Selbmann 2 , Edmund A. M. Neugebauer 3 1 AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement (AWMF-IMWi), c/o Philipps-Universität, Marburg 2 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), Rangendingen 3 Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF), Witten-Herdecke SCHLÜSSELWÖRTER Leitlinie; Implementierung; Evaluation; Versorgungsforschung; Rahmenkonzept Zusammenfassung Grundlagen und Bedingungen für Leitlinienimplementierung und —evaluation aufzuzeigen war Gegenstand einer gemeinsamen Arbeitstagung von AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) und DNVF (Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e.V.). Der folgende Bericht gibt Inhalte und Diskussionen der Arbeitstagung wieder und beschreibt Vorschläge für zukünftige Aktivitäten. Die Arbeitstagung verdeutlichte die Erfordernis von übergreifenden Rahmenkonzepten, theoriegeleiteter Forschung und gemeinsamen Strategien. Dabei ist der Ausbau strategischer Partnerschaften der für die Gesundheitsversorgung verantwortlichen Organisationen unabding- bare Voraussetzung für eine erfolgreiche Leitlinienimplementierung und -evaluation. (Wie vom Autor eingereicht) KEYWORDS Guideline; implementation; evaluation; health services research; theoretical framework Summary Principles and conditions for guideline implementation and evaluation were the subject of a workshop organised by the German Association of the Scientific Medical Socie- ties (AWMF) and the German Network for Health Services Research (DNVF). This report reflects contents and discussions and suggests possible future activities. The workshop highlighted the need for conceptual frameworks, theory-driven research and concerted strategies. The rein- forcement of strategic partnerships within the health care organisations is an indispensable prerequisite for successful guideline implementation and evaluation. (As supplied by author) Bericht von der Arbeitstagung der AWMF und des DNVF am 9.11.2012 in Frankfurt-. Korrespondenzadresse: Dr. Monika Nothacker, MPH, AWMF-IMWi, c/o Philipps-Universität, Karl-von Frisch-Str. 1, 35043 Marburg, home: Witzlebenstr. 20, 14057 Berlin. Tel.: 01737333755 E-Mail: [email protected] (M. Nothacker). 1865-9217/$ – see front matter http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2013.02.004

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. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2013) 107, 164—169

Online verfügbar unter www.sciencedirect.com

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eitlinien — Attraktivität, Implementierung undvaluation�

n the attractiveness, implementation and evaluation of guidelines

onika Nothacker1,∗, Cathleen Muche-Borowski1, Ina Kopp1,ans Konrad Selbmann2, Edmund A. M. Neugebauer3

AWMF-Institut für Medizinisches Wissensmanagement (AWMF-IMWi), c/o Philipps-Universität, MarburgArbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF), RangendingenDeutsches Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF), Witten-Herdecke

SCHLÜSSELWÖRTERLeitlinie;Implementierung;Evaluation;Versorgungsforschung;Rahmenkonzept

Zusammenfassung Grundlagen und Bedingungen für Leitlinienimplementierung und—evaluation aufzuzeigen war Gegenstand einer gemeinsamen Arbeitstagung von AWMF(Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) undDNVF (Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e.V.). Der folgende Bericht gibt Inhalte undDiskussionen der Arbeitstagung wieder und beschreibt Vorschläge für zukünftige Aktivitäten.Die Arbeitstagung verdeutlichte die Erfordernis von übergreifenden Rahmenkonzepten,theoriegeleiteter Forschung und gemeinsamen Strategien. Dabei ist der Ausbau strategischerPartnerschaften der für die Gesundheitsversorgung verantwortlichen Organisationen unabding-bare Voraussetzung für eine erfolgreiche Leitlinienimplementierung und -evaluation.(Wie vom Autor eingereicht)

KEYWORDSGuideline;

Summary Principles and conditions for guideline implementation and evaluation were thesubject of a workshop organised by the German Association of the Scientific Medical Socie-ties (AWMF) and the German Network for Health Services Research (DNVF). This report reflects

implementation;evaluation;health servicesresearch;theoreticalframework

contents and discussions and suggests possible future activities. The workshop highlighted theneed for conceptual frameworks, theory-driven research and concerted strategies. The rein-forcement of strategic partnerships within the health care organisations is an indispensableprerequisite for successful guideline implementation and evaluation.(As supplied by author)

� Bericht von der Arbeitstagung der AWMF und des DNVF am 9.11.2012∗ Korrespondenzadresse: Dr. Monika Nothacker, MPH, AWMF-IMWi, c/o

Witzlebenstr. 20, 14057 Berlin. Tel.: 01737333755E-Mail: [email protected] (M. Nothacker).

865-9217/$ – see front matterttp://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2013.02.004

in Frankfurt-.Philipps-Universität, Karl-von Frisch-Str. 1, 35043 Marburg, home:

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Leitlinien — Attraktivität, Implementierung und Evaluation

Im Unterschied zu systematischen Erhebungen aus ande-ren Ländern [1,2] liegen für Deutschland nur wenige Datenzur Leitlinienanwendung vor. Grundlagen und Bedingun-gen für Leitlinienimplementierung und — evaluation warendeshalb Gegenstand einer gemeinsamen Arbeitstagung vonAWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medi-zinischen Fachgesellschaften e.V.) und DNVF (DeutscheNetzwerk Versorgungsforschung) am 9. November 2012.

Ziel der Arbeitstagung war, die konzeptionell erforder-lichen Komponenten für eine erfolgreiche Leitlinienimple-mentierung und — evaluierung aufzuzeigen und im Hinblickauf eine mögliche gemeinsame Strategieentwicklung zu dis-kutieren.

Das Produkt Leitlinien - strukturelleVoraussetzungen für dieLeitlinienimplementierung [3]

• Leitlinienanwendung gelingt, wenn Strukturen vorhandensind oder geschaffen werden, die die Implementierungdurchsetzbar und vergleichbar machen. Dies zeigt dieUmsetzung der Therapieempfehlungen der S3-Leitliniezur Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Mamma-karzinoms in fast gleichzeitig zur Leitlinienentwick-lung eingerichteten Brustkrebszentren, deren strukturelleVoraussetzungen mittlerweile deutschlandweit gelten.Aufgrund der Anforderungen an die Zertifizierung vonBrustkrebszentren wurde eine Datenerfassung einge-führt, die die Auswertung leitlinienkonformer Thera-pien ermöglichte. Die Ergebnisse der BMBF-gefördertenFall-Kontroll-Studie BRENDA zeigen Hinweise auf einepositive Korrelation von Leitlinienkonformität und Über-leben [4]. Forschungsbedarf zeigte sich im Bereichder Messung der Leitlinienkonformität und der Arzt-Patientenkommunikation.

Ein weiteres Beispiel einer Nutzung von Zertifizierungs-strukturen für die Implementierung ist die S3-Leitlinie zuAkutschmerz [5].

• Ein Diskussionspunkt im Zusammenhang mit dem Messenvon Leitlinienkonformität war die Wertung von ,,SharedDecision Making‘‘ bzw. von Patientenpräferenzen, diezu anderen Therapieentscheidungen führen können alsdie von der Leitlinie empfohlenen. Abweichende Thera-pieentscheidungen werden bekanntermaßen auch durchweitere individuelle Faktoren - wie Komorbidität undAlter- bedingt, die bisher in Leitlinien wenig abgebildetsind. Leitlinienkonformität als Maß für eine gelungeneUmsetzung zu nutzen stößt hierdurch an Grenzen.

• Die Integration der Analyse von Versorgungs- bzw. Ver-sorgungsforschungsdaten in die Leitlinienarbeit erscheinterforderlich, um unterstützend aufzuzeigen, wo Leit-linienempfehlungen an individuelle Faktoren angepasstwerden müssen.

• Hinsichtlich der erforderlichen Implementierungsstruk-turen bestehen bei verschiedenen Krankheitsbildernje nach spezifischem Setting, in dem Diagnostik undBehandlung stattfinden, ganz unterschiedliche Heraus-

forderungen (z.B. nicht gut definiertes Krankheitsbild,keine ausreichende Erhebung von Behandlungsdaten), fürdie Lösungsansätze gefunden werden müssen. Gemein-sames Ziel ist das Etablieren einer Lernschleife von

165

,,Effectiveness‘‘- Forschung und Weiterentwicklung derLeitlinien.

as macht Leitlinien attraktiv für diemplementierung? [6]

Ärzte präferieren einerseits kurze Leitlinien, in der rele-vante Inhalte auf einen Blick zu finden sind. Andererseitsbesteht der Wunsch nach Leitlinienformaten, die zur ver-tiefenden Auseinandersetzung mit vorhandener Evidenzgenutzt werden können (z.B. zur Fortbildung).Attraktiv werden Leitlinien für den Anwender darüber hin-aus, wenn die Leitlinie als nützlich in der täglichen Praxis,bei Umgang mit Unsicherheit und hilfreich für Patientenbeurteilt wird. Dabei spielen die Aktualität des Themasund der Evidenzaufbereitung eine wichtige Rolle.Ein Diskussionspunkt war die Erfordernis symptomorien-tierter Leitlinien insbesondere in der allgemeinmedizini-schen Versorgung.Die Anwendung verschiedener Leitlinienformate solltehinsichtlich Nutzbarkeit und Effekte durch Forschungbegleitet werden. Dies gilt insbesondere für das Präsen-tieren von Leitlinieninhalten in den ,neuen‘ technischenMedien (Tablets, Smartphones, Mobiles).

mplementierung von Leitlinien als technischend soziale Innovation [7,8]

Vor allem die Verbreitung elektronischer Technologien hatdas vorher bei den Ärzten beheimatete medizinische Wis-sen in weiten Teilen frei verfügbar gemacht (,,E-ScapedMedicine‘‘). Die Öffnung des Wissens geht mit einer ver-änderten Arzt-Patient-Beziehung einher, bei der der Arztzum ,,Experten‘‘ für medizinische Information wird, wäh-rend der Patient zunehmend die Rolle eines Partnersübernimmt (,,Shared Decision Making‘‘) [9,10]. Leitlini-enersteller sind aufgefordert, sich die Erkenntnisse zurBeurteilung von (Gesundheits-)Webseiten zu eigen zumachen und für die ,,Marke Leitlinie‘‘ seriöse, Vertrauenschaffende Produkte zu präsentieren [11—13].Eine Konsequenz des öffentlich gewordenen medizi-nischen Wissens ist, dass Bürgerversionen oder Evi-denzbasierte Patienteninformationen als ebenso wichtigzu werten sind wie Leitlinienversionen für professio-nelle Anwender. Bürgerversionen werden in Deutschlandbereits von einer Reihe vertrauenswürdiger Anbieterentwickelt. Die Entwicklung der laienverständlichen Pro-dukte muss ebenso klaren Regeln folgen wie bei denLeitlinien für die Anwender. Entsprechende Anforderun-gen wurden formuliert [14]. Um widersprüchliche oderredundante Informationen zu einem Thema zu vermeiden,sollten die Entwickler ihre Aktivitäten koordinieren.Zur schnellen Verfügbarkeit der Leitlinienempfehlun-gen für die Anwender können softwarebasierte Systemefür die Entscheidungsunterstützung (Decision SupportSysteme, DSS) beitragen. Studien dazu zeigen mehrheit-

lich positive Ergebnisse v.a. für Disease ManagementProgramme, Einzelmedikation und präventive Maßnah-men [15]. Voraussetzung sind spezifische Empfehlungen(,,what, who, when, where, and how‘‘). Zu prüfen ist,

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ob Leitliniengruppen die Rolle des für Decision SupportSysteme erforderlichen ,,Wissens-Editors‘‘ übernehmenkönnen und ob die Erarbeitung von Erinnerungshilfenund Warnhinweisen bereits im Rahmen der Leitlinienent-wicklung erfolgen kann. In diesem Zusammenhang wurdeauf bereits erarbeitete Materialien zur Entwicklung vonBehandlungspfaden hingewiesen [16].

mplementierungsstrategien — psychologischeffekte mitbedenken [17]

Sozialpsychologisches Wissen ist für eine erfolgrei-che Leitlinienimplementierung unerlässlich (Kernfra-gen: ,,Unter welchen Bedingungen führen Einstellun-gen/Normen zu tatsächlichem Verhalten und welchepsychologischen Effekte können eine Implementierungbehindern)‘‘. Aus der Fülle sozialpsychologischer Theo-rien zeigen die Modelle von Fishbein/Ajzen [18] sowie vonCaciopoppo/Petty [19] Bedingungen für Verhaltens- bzw.Einstellungsänderungen auf.

Fishbein/Ajzen nennen als Voraussetzungen für Ver-haltensänderung bei entsprechend starker Intention:Einstellung, Vereinbarkeit mit subjektiven Normen (wassagen die anderen) und direkt wahrgenommene Verhal-tenskontrolle.

Petty/Caciopoppo weisen neben der ,,zentralenRoute‘‘ (systematische Verarbeitung) auf die ,,periphereRoute‘‘(heuristische Verarbeitung) der Informationsver-arbeitung hin, bei der -z.B. unter Zeitdruck oder beigeringem Vorwissen - weniger die inhaltliche Qualität derArgumente als viel mehr Faktoren wie Sympathie oderidentifizierte Expertenquelle für die Einstellungsänderungausschlaggebend sind [20].

Ein Beibehalten geänderter Einstellungen ist mit,,Immunisierung von Einstellungen‘‘ zu erreichen, beider Pro- und (schwache) Contra-Argumente berücksich-tigt werden [21]. Als behindernd sind Phänomene wieReaktanz [22] oder kognitive Dissonanz [23] zu berück-sichtigen.Für die Leitlinienimplementierung wurden vor diesemHintergrund vor allem drei Quellen fördernder Strategienaufgezeigt:© humanistische Führung [24], in Kurzform:

3 V: Vorbild, Verpflichtung, Verantwortung4 M: Man muss Menschen mögen3 K: Kommunikation, Kooperation, Kompetenz

© ,,Kulturen für ein Center of Excellence‘‘ [25]Von diesen können neben der Implementierungskul-

tur besonders Kundenorientierung, Benchmark-Kulturund Eigentümerorientierung bedeutsam sein. DieImplementierungskultur würdigt Implementierung alsChefsache mit klaren Zuständigkeiten und Terminab-sprachen im Team; Erfolge werden sichtbar gemacht.Wesentlich ist eine offene Kommunikation im Sinnedes kritischen Rationalismus (Sir Karl Popper), bei derArgumente zählen und nicht dogmatisch vorgegangenwird.

© MultiplikatorenmodellDas Multiplikatorenmodell geht von ca. 20% poten-

tiellen Multiplikatoren bei ca. 60% indifferenten Per-sonen und 20% ,,Bedenkenträgern‘‘ aus. Entscheidend

M. Nothacker et al.

ist, die Multiplikatoren zu identifizieren und zu för-dern, um gemeinsam mit ihnen indifferente Personeneinzubinden und ,,Blockierer‘‘ möglichst zu neu-tralisieren. Zur Erreichung aller Zielgruppen ist eshilfreich, diese explizit zu benennen (,,stakeholdermap‘‘) [8].

Es wurde diskutiert, ob Forschungsprojekte sinnvollsind, die Implementierungskonzepte einzelner Fachge-sellschaften evaluieren und deren mögliche Übertragungauf andere Fachgesellschaften prüfen. Ein weiterer disku-tierter Vorschlag war die Einführung eines Benchmarkingsfür Implementierungsstrategien.

valuierung von Leitlinien - woran machen wiren Erfolg von Leitlinien fest? [26—28]

Messen von Leitlinienkonformität bedeutet die Erhebungder Konformität mit einzelnen Leitlinienempfehlungen.Wie oben ausgeführt, unterliegt die Entscheidung zur Kon-formität individuellen Faktoren, die zu explorieren und zuanalysieren sind. Als Auswahlkriterium qualitätsindikator-geeigneter Empfehlungen wird neben dem Potentialfür Versorgungsverbesserung und hoher Konsensstärkeein starker Empfehlungsgrad als ebenso geeignet einge-schätzt wie das Vorliegen hochwertiger Evidenz allein, dadiese nur für wenige Aspekte vorliegt. Neben Empfehlun-gen, die vor allem prozessorientiert sind, sollten auch inder Leitlinie benannte patientenrelevante Qualitätszieleberücksichtigt werden.Die Theorieleitung bisheriger Leitlinienevaluationspro-jekte ist noch wenig überzeugend [1]. Es bestehtBedarf an einem übergreifenden Rahmenkonzept, das dieIdentifikation relevanter Einflussfaktoren auf den Zusam-menhang zwischen Prozess und Outcome ermöglicht. DieNotwendigkeit einer besseren theoretischen Fundierungbesteht für die prozessbezogene Auswertung (formativeEvaluation), aber auch für die Beurteilung des Nutzenseiner Leitlinie insgesamt (summative Evaluation), also dieEinschätzung der Inhaltsvalidität und des Verbesserungs-potentials (Ebenen der Effektmessung nach [29]). Es fehltbisher ein Goldstandard für die Beurteilung der Messgrö-ßen selbst.Im Zusammenhang mit Evaluationsstudien bzw.—erhebungen darf die ,,Diagnostik‘‘ im Hinblick aufdie Implementierbarkeit der Leitlinie, Barrieren derLeitlinienanwendung, eingesetzte Implementierungsstra-tegien, Akzeptanz und herrschende Rahmenbedingungennicht außer Acht gelassen werden [30].Für die Evaluation geeignete Studienformen sind abhän-gig von der Fragestellung und reichen von cluster-randomisierten kontrollierten Studien zum Nachweis desEffekts einer Implementierungsmaßnahme bis zu qualita-tiven Studien z. B. zur Erhebung von Barrieren. Weiteremögliche Designs sind Vorher/Nachher-Kohortenstudien,Fall-Kontrollstudien und Querschnitts- bzw. Registerstu-dien. Dabei sind vermehrt Informationen zu Subgruppen,bei denen die Implementierung gelingt bzw. nicht gelingt,

erforderlich.Bei der Analyse zeitlicher Verläufe, für die sich bei feh-lenden Kontrollgruppen insbesondere auch die Methodedes unterbrochenen Zeitreihendesigns (,,interrupted time

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Leitlinien — Attraktivität, Implementierung und Evaluation

series‘‘) eignet, sollten auch leitlinienunabhängige Ein-flussfaktoren für Veränderungen berücksichtigt werden.

• Endpunkte für die Evaluation können neben den direktpatientenbezogenen Endpunkten Morbidität, Mortalität,Lebensqualität und Gesundheitsverhalten auch die antei-lig gemessene Inanspruchnahme bzw. der Zugang zu einerMaßnahme und die Qualität der Versorgung als Grad derUmsetzung von Leitlinienempfehlungen sein (nach [31]).Die zugrunde liegende Qualität der Leitlinienempfehlun-gen kann mit den verfügbaren Instrumenten methodisch,aber nicht inhaltlich überprüft werden.

• Eine erfolgreiche ,,schließende‘‘ Evaluation erfordertneben Studien nachhaltige, von Vernetzung getrageneStrukturen, um die Datenerhebung und die entsprechen-den Daten(rück-)flüsse an Versorger und Leitliniengruppendauerhaft zu ermöglichen. Dafür gilt es, geeignete Daten-quellen zu identifizieren und zu erschließen (z.B. Datender gesetzlichen Krankenversicherung/Datenzugang nachSGB V, §303a-f [32]). Routinedaten scheinen bisher nurfür wenige Evaluationen, z.B. für die Überprüfung vonArzneimittelverordnungen, geeignet.

• Diskutiert wurde, inwieweit immer randomisierte kontrol-lierte Studien zum Nachweis einer Kausalität erforderlichsind oder ob auch andere Studientypen zum Nachweis vonVeränderungen ausreichen.

• Ein weiterer Diskussionspunkt war der Aufbau eines Eva-luationsrahmenprogramms für Leitlinien.

Fazit und Ausblick

Es besteht ein Bedarf an einer verbesserten Theorieleitungsowohl für die Leitlinienimplementierung als auch für dieEvaluation der Leitlinieneffekte. Hierfür sollten übergrei-fende Rahmenkonzepte entwickelt und angewandt werden,die die Identifikation relevanter Einflussfaktoren auf denZusammenhang zwischen Prozess und Ergebnis ermöglichen.Dabei kann zwischen der Implementierbarkeit von Leitlinienund der Implementierung und Evaluierung unterschiedenwerden. Im Folgenden werden für diese Aspekte Kompo-nenten aufgezeigt, die für eine Strategieentwicklung zudiskutieren sind.

Förderung der Implementierbarkeit von Leitlinien

durch:

• Aktuelle Leitlinien (Thema, Evidenz), im Format kurz,prägnant, in der Praxis hilfreich aber auch Leitlinien-formate, die für intensivere Auseinandersetzung mit dervorliegenden Evidenz (z.B. für Fortbildungen) genutztwerden können.

• ,,Diagnostik‘‘ bzw. Analyse notwendiger Abweichungenvon Leitlinienempfehlungen, zur Ermöglichung einer Indi-vidualisierung von Leitlinienempfehlungen.

• Formulieren spezifischer Empfehlungen, die in DecisionSupport Systeme am Arbeitsplatz eingebracht werden

können

• Benennen von Qualitätszielen, die neben gut begründe-ten starken Empfehlungen als Grundlage von Messgrößendienen können

167

Herstellung von Vertrauen schaffenden elektronischabrufbaren Produkten unter Beachtung von Kriterienguter Webseiten, deren Nutzung und Effekte durch ent-sprechende Forschung begleitet werden.Erstellen von qualitativ hochwertigen Bürger-/Patienten-versionen. Aufforderung der Entwickler vertrauenswürdi-ger Bürger-/Patienteninformationen, ihre Aktivitäten zukoordinieren.

Für die Aktualität, die Leitlinienformate und die Verbrei-ung auch elektronischer Produkte sind in erster Linie dieachgesellschaften sowie die AWMF mit ihrem Qualitätsma-agement für das Leitlinienregister zuständig.

örderung der Implementierung und Evaluationon Leitlinien

mplementierung und Evaluation sind komplexe Aktivitäten,ie strategische Partnerschaften erfordern, die von Leitli-iengruppen vorbereitet und gefördert werden können. Diemsetzung muss von den Partnern, die für die Gesundheits-ersorgung verantwortlich zeichnen (Gemeinsamer Bundes-usschuss, Ärztekammern, Kassenärztlichen Vereinigungen,rankenhausgesellschaften, Berufsverbände, Patientenver-retungen etc.) mitgetragen werden. Folgende Kernpunkteollten bei der weiteren Strategiediskussion berücksichtigterden:

örderung der LeitlinienimplementierungNutzung bzw. Schaffung von Strukturen, die die Leitlini-enanwendung durchsetzbar und vergleichbar machenIntegration von Analysen von routinemäßigen Ver-sorgungsdaten und speziell erhobenen Versorgungsfor-schungsdaten in die Leitlinienarbeit, um unterstützendzu zeigen, wo Leitlinienempfehlungen an individuelleFaktoren angepasst werden müssen, mit dem Ziel desEtablierens einer Lernschleife von ,,Effectiveness‘‘- For-schung und Weiterentwicklung der Leitlinien.Einbinden sozialpsychologischen Wissens zu förderlichen(,,humanistische Führung‘‘ ,,Center of Excellence Kultu-ren‘‘, ,,Multiplikatorenmodell‘‘) aber auch hinderlichenFaktoren (,,kognitive Dissonanz‘‘, ,,Reaktanz‘‘),,Diagnostik‘‘ bzw. Analyse von Implementierungsschrit-ten (Kennen, Verstehen, Wollen, Tun)

Ein ,,Benchmarking‘‘ von Implementierungsstrategienird nicht als zielführend eingeschätzt, da davon ausgegan-en wird, dass je nach Setting und beteiligten Berufsgruppenanz unterschiedliche Implementierungskomponenten zurnwendung kommen müssen.

örderung der LeitlinienevaluationSicherstellung einer neutralen Evaluation unter Eliminie-rung von InteressenkonfliktenBeurteilung der Leitlinienkonformität anhand starker

Empfehlungen und Qualitätszielen mit geeigneten Stu-dienformen, die abhängig von der Fragestellung zuwählen sind (Cluster-randomisierte kontrollierte Studien,Vorher/Nachher-Kohortenstudien, Fall-Kontroll-Studien,

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,,Interrupted time series analysis‘‘, Querschnittsstudien,Registerstudien).Nachhaltige, von Vernetzung getragene Evaluierungs-strukturen, um die Datenerhebung und die entsprechen-den Daten(rück-)flüsse an Versorger und Leitliniengruppendauerhaft zu ermöglich.Identifikation von ,,Best Practice‘‘- Beispielen, Initiierungvon Pilotprojekten

ffene Fragen- Forschungsdesiderate

ie Arbeitstagung von AWMF und DNVF hat erwartungs-emäß mehr Wissenslücken aufgeworfen als geschlossen.ür ein erforderliches Forschungsprogramm zu Themener Leitlinienimplementierung und —evaluierung bedarf esörderorganisationen, die bereit sind, ein entsprechendesostenträger- und sektorenübergreifendes, theoriegelei-etes Förderprogramm über mindestens fünf Jahre zunterstützen. Die Fachgesellschaften der AWMF trageneute schon die steigenden Kosten für die Entwicklungualitativ hoch stehender Leitlinien, von denen das Gesund-eitssystem und die Versorgung der Bürger und Patientenrofitieren. Viele der oben aufgezählten offenen Fragennd Verbesserungspotenziale könnten direkt in das zu erar-eitende Förder- und Forschungsprogramm übernommenerden.

Wir danken den Referentinnen und Referenten:Prof. N. Donner-Banzhoff, Institut für Allgemeinmedizin,

niversität MarburgProf. P. Fischer, Institut für Psychologie, Universität

egensburgProf. I. Kopp, AWMF-Institut für Medizinisches Wissens-

anagement, Universität MarburgProf. R. Kreienberg, Vorsitzender der AWMF-

eitlinienkommission, LandshutProf. M. Scherer, Institut für Allgemeinmedizin, Universi-

ät HamburgDr. I. Schubert, PMV-Forschungsgruppe, Universität KölnU. Siering, IQWIG, KölnProf. J. Wyatt, Dir. emer. ,,Institute for Digital Health

are‘‘, Leeds, UK

iteratur

[1] Grimshaw J, Eccles M, Tetroe J. Implementing clinical guide-lines: current evidence and future implications. J Contin EducHealth Prof 2004 Fall;24(Suppl. 1):S31—7.

[2] Engers AJ, Wensing M, van Tulder MW, Timmermans A, Oosten-dorp RA, Koes BW, et al., Grol R. Implementation of the Dutchlow back pain guideline for general practitioners: a clusterrandomized controlled trial. Spine (Phila Pa 1976) 2005 Mar15;30(6):559—600.

[3] siehe Vortrag von Kreienberg R: ,,Zielhorizont von Leitlinien,was können sie leisten?‘‘ http://www.awmf.org/fileadmin/user upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012 AWMF DNVF/AWMF-DNVF-WS 2012 Kreienberg.pdf [Zugriff am 20.11.12]und Vortrag von Scherer M: ,,Attraktivität von Leitlinien - was

macht sie aus?‘‘.

[4] Wöckel A, Kurzeder C, Geyer V, Novasphenny I, WoltersR, Wischnewsky M, et al. Effects of guideline adhe-rence in primary breast cancer–a 5-year multi-center cohort

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[

M. Nothacker et al.

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[6] siehe auch: Gagliardi AR, Brouwers MC, Palda VA, Lemieux-Charles L, Grimshaw JM. How can we improve guideline use?A conceptual framework of implementability. Implement Sci2011 Mar 22;6:26.

[7] Siehe Vortrag von Donner-Banzhoff N: ,,E-Scaped Medicine:Wo bleibt die gute alte Leitlinie?‘‘ http://www.awmf.org/fileadmin/user upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012AWMF DNVF/AWMF-DNVF-WS 2012 Donner-Banzhoff.pdf[Zugriff am 20.11.2012].

[8] Siehe Vortrag von Wyatt J: ,, Guideline implementation: howto reach different target groups?’’ http://www.awmf.org/fileadmin/user upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012AWMF DNVF/AWMF-DNVF-WS 2012 Wyatt.pdf [Zugriff am23.11.2012].

[9] Nettleton S. The Emergence of E-Scaped Medicine. Sociology2004;38:661—79.

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11] Sillence E, Briggs P, Harris P, Fishwick L. A framework for under-standing trust factors in web-based health advice. Int J ofHuman-Computer Studies 2006;64(8):697—713.

12] Wyatt JC, Wright P. Design should help use of patients’ data.Lancet 1998 Oct 24;352(9137):1375—8.

13] Nielsen J. Heuristic Evaluation, http://www.nngroup.com/topic/heuristic-evaluation/ [Zugriff am 20.1.2013].

14] Klemperer K, Lang B, Koch K, Bastian H, Brunsmann F,Burkhardt M, et al. ,,Gute Praxis Patienteninformation‘‘. Z EvidFortbild Qual Gesundhwes 2010;104(9):66—8.

15] Garg AX, Adhikari NK, McDonald H, Rosas-Arellano MP,Devereaux PJ, Beyene J, et al. Effects of computerizedclinical decision support systems on practitioner perfor-mance and patient outcomes: a systematic review 2005 Mar9;293(10):1223—38.

16] Eckardt J, Sens B, Kirchner H (Hrsg.), Praxismanual IntegrierteBehandlungspfade - Das Erfolgs-Rezept, Economica, 1. Auflage2009, ISBN: 9783870815981.

17] Siehe Vortrag Fischer P Theorien zur Implementierung- was können wir von der Sozialpsychologie lernen?‘‘http://www.awmf.org/fileadmin/user upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012 AWMF DNVF/AWMF-DNVF-WS 2012Fischer.pdf [Zugriff am 23.11.2012].

18] Fishbein M, Ajzen I: Belief, Attitude, Intention and Behavior:An Introduction to Theory and Research. Longman Higher Edu-cation (Juni 1975). ISBN: 0201020890.

19] Cacioppo JT, Petty RE. A biosocial model of attitude change:Signs, symptoms and undetected physiological responses. In:Cacioppo JT, Petty RE, editors. Perspectives in cardiovascularpsychophysiology. New York: Guilford Press; 1982. p. 151-188.

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[25] Frey D, Peus C, Traut-Mattausch E. Innovative Unterneh-menskultur und professionelle Führung — entscheidendeBedingungen für eine erfolgreiche Zukunft? In: D. Kudernatsch& P. Fleschhut (Hrsg.). Management Excellence — Strategieum-setzung durch innovative Führungs- und Steuerungssysteme.351-378. (2005), Stuttgart: Schäffer-Poeschel.

[26] Siehe Vortrag Kopp I: ,,Messen von Leitlinienkonformität —was bedeutet das?‘‘ http://www.awmf.org/fileadmin/userupload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012 AWMF DNVF/

AWMF-DNVF-WS 2012 Kopp.pdf [Zugriff am 23.11.2012].

[27] Siehe Vortrag Schubert I: ,,Implementierung von Leitlinien:

Ansätze zur Evaluation‘‘ http://www.awmf.org/fileadmin/user upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012 AWMF DNVF/AWMF-DNVF-WS 2012 Schubert.pdf [Zugriff am 23.11.2012].

[

169

28] Siehe Vortrag Siering U: ,,Effekte von Leitlinien — wie kön-nen wir sie bewerten?‘‘ http://www.awmf.org/fileadmin/user upload/Leitlinien/Veranstaltungen/WS2012 AWMF DNVF/AWMF-DNVF-WS 2012 Siering.pdf [Zugriff am 23.11.2012].

29] Rossi PH, Lipsey MW, Freemann HE. Evaluation: A SystematicApproach, (Oct 14, 2003), SAGE.

30] Francke AL, Smit MC, de Veer AJ, Mistiaen P. Factors influencingthe implementation of clinical guidelines for health care pro-fessionals: a systematic meta-review. BMC Med Inform DecisMak 2008 Sep 12;8:38, doi: 10.1186/1472-6947-8-38.

31] Cochrane Effective Practice and Organisation of Care Group(EPOG) http://epoc.cochrane.org/epoc-methods [Zugriff am

32] Siehe Sozialgesetzbuch V, http://www.sozialgesetzbuch.de/gesetze/05/index.php?norm ID=0530301 [Zugriff am20.01.2013].