lebe wild und gefährlich

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Ziel dieses Buches ist es, Widerstand

zu unterstützen und dabei zu helfen,

politische Opposition gegen herr­

schende Verhältnisse zu organisieren.

Jutta Ditfurth entwickelt in ihrer

großen Streitschrift auf der Grund­

lage ihrer langjährigen politischen

Erfahrung die Position einer radikalen

Ökologie, eines linken Feminismus

und eines radikal neuen Sozialismus.

Ihr Ziel ist die Wiedererrichtung einer

breiten linken Widerstandskultur,

jenseits der Sozialdemokratie und des

grünen Reformismus, und die Wie­

derbelebung politischer Utopien, die

unter anderem an den Erfahrungen

der Pariser Kommune anknüpfen. In

polemischer Schärfe, mit Witz und per­

sönlichem Engagement setzt sich Jutta

Ditfurth kritisch mit der Resignation,

mit Opportunismus und Zynismus

unter ehemaligen Linken und bei den

Grünen auseinander. Sie skizziert die

brennenden globalen Probleme, die in

den nächsten Jahrzehnten das Leben

der Menschen bestimmen und an de­

nen sich auch die politischen Kämpfe

der Zukunft vollziehen werden: die

ökoimperialistischen Raubzüge Euro­

pas, der USA und Japans in die »Dritte

Welt«, die Enteignung des Lebens

durch Gen- und Reproduktionstech­

nologien, Rassismus und deutsches

und europäisches Großmachtstreben.

So ist ein Buch entstanden,das sich als

Orientierung für parlamentarische und

außerparlamentarische Opposition in

den 90er Jahren versteht.

Die Autorin

Jutta Ditfurth, 1951 in Würzburg gebo­

ren, Diplom-Soziologin, studierte auch

Kunstgeschichte und Politik. Arbeit

in Forschung und Lehre. Tätigkeiten

in der Atom- und Chemieindustrie,

in Krankenhäusern und Banken. Seit

1980 Journalistin, zahlreiche Veröf­

fentlichungen zu ökologischen und

allgemeinpolitischen Th emen. Politisch

aktiv seit Ende der 60er Jahre, später

in der Frauenbewegung und vor allem

der Anti-AKW-Bewegung. Mitbegrün­

derin der Grünen, von 1984 bis 1988

deren Sprecherin im Bundesvorstand.

Seit 1989 Mitglied im Bundesvorstand

der Fachgruppe Journalismus in der

IG Medien. Arbeitet in ökologischen

linken Bewegungen.

Bücher

Träumen, Kämpfen, Verwirklichen

– Politische Texte bis 1987, Köln 1988

Die tägliche legale Verseuchung un­

serer Flüsse und wie wir uns dagegen

wehren können, Ein Handbuch mit

Aktionsteil. (Mitherausgeberin Rose

Glaser), Hamburg 1987

un

verk

äufl

ich

V. 050101

Jutta Ditfurth

Lebe wild und gefährlich Radikalökologische Perspektiven

Kiepenheuer & Witsch

Für Nidia Diaz und Ignacio Ellacuria (†)

El Salvador

Egbenaha Bani und Khalil Sid Mohamed

Westsahara

Rudi Dutschke (†)

Bundesrepublik Deutschland

© 1991 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotographie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden Umschlag: Rudolf Linn, Köln Umschlagfoto: Kurt Steinhausen Satz: Fotosatz Froitzheim, Bonn Druck und Bindearbeiten: Mohndruck, Gütersloh ISBN 3-462-02106-0

Inhalt

Standort und AntriebskräfteVorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Die Menschen sollen sich selbst regieren Eine Reportage über die Pariser Kommune von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Hoff nung als Waff e Keine politischen Veränderungen ohnekonkrete Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .49

DeutschlandreiseNotizen aus einem fremden Land . . . . . . . . . . 75

Denn der Mensch ist ein Teil der Natur Antikapitalismus, Ökologie und die soziale Frage 102

Seit der Osten im Westen liegt, steht der Feind im Süden Ökoimperialistische Raubzügegegen den Trikont . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

1992: 500 Jahre Eroberung Lateinamerikas . .149

Golfschläge gegen die Mohawk, Kanada . . . .153

Was ist Ökoimperialismus? . . . . . . . . . . .162

Die Täter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Exkurs: Weltwirtschaft und Verschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Weltbank, Club für Tod, Vernichtung und . . .

GATT oder die grenzenlose Freiheit des . . . . .

Japanisches Kapital und japanischer Staat: . .

IWF, Agentur der Täter . . . . . . . . . . . 187

Rendite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

Ökoterroristen . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Taten, Methoden und Opfer . . . . . . . . . . . 217

Die Vergiftung der Erde stammt aus den kapitalistischen Zentren . . . . . . . . .217Die Zuckerkaiser von Brasilien und

Riesenstaudämme gegen selbstbestimmte

Die ökologische Schatzkammer

Aralsee – das blaue Meer wird Wüste,

Färben, gerben, sterben –

Baumwolle für die »Erste« Welt,

Tausende von Tonnen DDT

der Stoff, aus dem die Profi te sind . . . . . .221

Entwicklungsmöglichkeiten . . . . . . . . . 227

Madagaskar verbrennt . . . . . . . . . . . 229

UdSSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Lederindustrie in Indien . . . . . . . . . . . 253

Pestizide für die »Dritte«, Sudan . . . . . . 257

von der Weltbank . . . . . . . . . . . . . . 260

Die Hoechst AG: Pharmaschrott in unterentwickelt gehaltene Länder . . . . . 261 Das Gift der Weißen – Giftmüllexporte in den Trikont . . . . . . . 267

Nachrichten aus dem ökoimperialistischen . . . . Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Sackgassen und Wege zur Befreiung von Mensch und Natur im Trikont

Der Brady-Plan – keine echte Chance . . . . 297 Tropenwaldaktionsplan der Weltbank – Kolonialisierung mit anderen Mitteln . . . . . 304 Schuldenerlaß gegen Naturschutz oder wem gehört die Natur? . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Widerstand im Trikont und Perspektiven . . 331 Ökoimperialismus, Klasse, Rasse und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Epilog: Khalil Sid Mohamed, Westsahara, über Mensch und Natur. . . . . . . . . . . . . 352

Die Grünen – ohne Zukunft? . . . . . . . . . . . . 356

Die »Jahrhundertchance« rosa-grüne Koalition: ein Pleitemodell . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Schöne Aussichten? . . . . . . . . . . . . . . . 397

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Widerstand und Perspektiven

Diese ungeheure Seichtigkeit des Seins . . . 400Leben wir in einer Demokratie? . . . . . . . 409

Öffnung der Gewerkschaften?. . . . . . 444

Im Namen des Embryo die Enteignung vonSelbstbestimmung und Leben . . . . . . . . 449Wachstumszitadelle Europa: Antifaschis ­

Öl-Krieg am Golf – die offenen und verdeck-

Außerparlamentarische Opposition –

mus und Internationalismus . . . . . . . . . 467

ten Kriege gegen den Trikont stoppen . . . 482

subversiv, organisiert und solidarisch . . . 488

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498

Standort und Antriebskräfte

Vorwort

Konkrete Utopien werden heute so heftig tabuisiert wie erotische Literatur in der viktorianischen Epoche. Es wird der Versuch unternommen, die Diskussion über Perspektiven radikaler, ökologischer, feministi­scher und linker Politik an den Rand der Gesellschaft zu drängen, damit den herrschenden Verhältnissen keine starke Opposition entsteht. Aber so wenig sich Erotik auf Dauer verdrängen läßt, so wenig ist die Lust auf und der Traum von anderen gesellschaftlichen Zuständen zu unterdrücken. Viele Menschen fühlen sich von der politischen Entwicklung überrollt, und sie sind noch weniger in der Lage als zuvor, ihr Leben selbst zu bestimmen. Es wird Zeit, Resignation und Zy­nismus aufzubrechen, bevor weiteres politisches Ter­rain an unsere GegnerInnen von rechts verlorengeht. Menschen, die die herrschenden Verhältnisse radikal verändern wollen, können sich Passivität und innere Emigration nicht mehr leisten. Es haben schon zu viele aufgegeben und den Verhältnissen trotz besserer Erkenntnis lieber nachgegeben, als ihnen zu widerste­hen und sie zu bekämpfen. Die kommenden sozialen Kämpfe brauchen die Beteiligung vieler Menschen mit ihren eigenen Erfahrungen und Anschauungen für die so dringend notwendige linke Opposition. Die

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Auseinandersetzungen, die dieses »neue Deutschland« verdient, benötigen Diskussionen, Organisation, Akti­on und Theorie. Ich wollte kein Buch für eingeweihte kleine linke Kreise schreiben, sondern den Versuch machen, meine radikalökologischen Positionen mög­lichst allgemeinverständlich zu vermitteln und zur Diskussion zu stellen.

Mein politischer Traum ist eine breite, radikale, ba­sisdemokratische außerparlamentarische Opposition, die linke, radikalökologische, ökosozialistische, femi­nistische, antifaschistische und internationalistische Positionen verbindet und weiterentwickelt. Eine neue APO soll es sein, die sowohl aus der alten APO als auch aus den Fehlern linker Organisationen, den sozialen Bewegungen und der Entwicklung der Grünen lernt.

Wir leben mitten in einem der kapitalistischen Zen­tren, Europa, das sich anschickt vor USA und Japan die Weltmacht Nummer 1 zu werden. Die herrschende Elite dieses Landes will aus der Bundesrepublik die Führungsnation in Europa und damit eine Weltmacht im europäischen Mantel machen. Diese wird sich mit den USA und Japan einen noch gnadenloseren Kampf um den Zugriff auf menschliche und natürliche Ressourcen in der sogenannten Dritten Welt liefern. Schon jetzt kommen in diesen Kriegen, die vor allem mit ökonomischen Waffen geführt werden, Millionen von Menschen um. Wir leben im Herzen der Bestie, des (Mit)Täters Bundesrepublik Deutschland. Was ist unsere politische Verantwortung? Eines sicher nicht:

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Resignation, Zynismus, Denkfaulheit und Mangel an Phantasie.

Was wir brauchen ist Klarheit in der Analyse, nicht »neues« oder »queres« Denken, sondern Denken und eine Verständigung darüber, in welchen Verhältnissen wir leben, welche Geschichte wir haben, welche Un­terdrückung und Vernichtung von Mensch und Natur dieser Staat und bundesdeutsches Kapital hier und in anderen Teilen der Welt mitverschuldet, von wel­cher Qualität die soziale Utopie sein soll, die unseren alltäglichen Kämpfen die Richtung gibt, von welchen Fragen unsere Kämpfe handeln sollen, mit wem wir heute Bündnisse schließen können und mit welcher politischen Perspektive.

Frankfurt, im Januar 1991 Jutta Ditfurth

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Die Menschen sollen sich selbst regieren1

Eine Reportage über die Pariser Kommune von 1871

»Die große soziale Maßregel der Kommu­ne war ihr eignes arbeitendes Dasein. Ihre besondern Maßregeln konnten nur die Richtung andeuten, in der eine Regierung des Volks durch das Volk sich bewegt.«

Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich

Es ist wieder einmal Mode, das »Ende der Utopie« zu verkünden. Vorzugsweise tun das diejenigen, die gestern besonders rigoros starre, abstrakte Utopie­modelle vor sich her getragen haben. Aber Menschen haben nie aufgehört, gegen Ungerechtigkeit und Un­terdrückung zu kämpfen. Wann ein Kampf ausbricht und welche subjektiven und objektiven Bedingungen dafür zusammenkommen müssen, weiß mensch vorher selten. Eines aber fehlt keiner dieser sozialen Auseinandersetzungen: die Vorstellung von einer an­deren gesellschaftlichen Wirklichkeit, die aus den er­niedrigenden Bedingungen der jeweiligen Gegenwart herausführt. Diese konkrete Utopie einer anderen sozialen Wirklichkeit kann unter unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen vollständig unterschiedlich aussehen.

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Wenn sie heute von Europa reden, nehmen die Herr­schenden selbstverständlich nie Bezug auf eines der eindrucksvollsten, real existierenden Beispiele eines solchen Kampfes. Am Ende des deutsch-französischen Krieges von 1870/1871 gelang es den ArbeiterInnen, Handwerkern und kleinen Leuten von Paris, die bür­gerliche Staatsmacht in Paris aus den Angeln zu heben. Im Juli 1870 hatte der Krieg zwischen dem Norddeut­schen Bund unter militärischer Führung Preußens und Frankreich auf französischem Boden begonnen. Sie kämpften um die Hegemonie in Europa. 2 Tage nach der französischen Teilkapitulation bei Sedan, wo Bismarck französische Kriegsgefangene einkassierte, die er 8 Monate später an den französischen Minister­präsidenten Thiers zur Niederschlagung der Pariser Kommune zurückgab, riefen Pariser ArbeiterInnen am 4. September 1870 in Paris die Republik aus. Sie stürzten die Regierung Bonapartes. Die französischen Gegner der Republik, versammelt in der »Regierung der nationalen Verteidigung«, schlossen am 28. Januar 1871 einen vorläufigen Friedensvertrag mit dem preu­ßischen Gegner, um die drohende Gefahr einer Revolu­tion im Land abzuwehren. Bismarcks Ziel war erreicht: die Vereinigung Deutschlands von oben unter der Führung Preußens. König Wilhelm von Preußen wurde deutscher Kaiser. Im endgültigen Friedensvertrag, der am 10. Mai 1871 in Frankfurt unterzeichnet wurde, ver­lor Frankreich Elsaß und Lothringen und verpflichtete sich zur Zahlung von 5 Milliarden Francs.

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Paris aber war im Krieg gegen die Preußen nicht zu verteidigen gewesen, ohne seine Arbeiterklasse zu be­waffnen. Aber Paris in Waffen, das bedeutete zugleich – in den Augen der Herrschenden – die Gefahr einer Revolution. Ein Sieg von Paris über den preußischen Gegner wäre auch ein Sieg der französischen ArbeiterIn­nen über Staat und Kapital gewesen. Zur Verteidigung gegen die Preußen hatten die PariserInnen ihre eigene, hauptsächlich aus Arbeitern bestehende Nationalgarde aufgebaut, Männer aus allen Stadtteilen und Bezirken von Paris. Ihre Geschütze kauften sie von ihrem eigenen Geld. Diese Geschütze waren in der Kapitulationserklä­rung Thiers als ihr Eigentum anerkannt und deshalb von der Ablieferung der Waffen an den preußischen Sieger ausgenommen. Die Lüge Thiers, die Waffen gehörten dem Staat, sollte die Entwaffnung von Paris vorbereiten, um die Republik in ganz Frankreich zu beseitigen. Die Nationalversammlung, in ihrer bürger­lichen bis royalistischen Zusammensetzung Gegnerin der Republik, war bereits, als Affront gegen Paris, nach Versailles ausgelagert worden. Der öffentliche Schwur der Abgeordneten vom 1. November 1870, das Mandat an die Republik zurückzugeben, wurde gebrochen. Sie arbeiteten auf den Sturz der Republik hin.

Thiers hatte gedroht, die Hauptstadt »zu enthaupten und zu enthauptstadten« (»décapiter und décapitali­ser«). Er übertrug Republikfeinden und Schlächtern die höchsten militärischen und politischen Funktionen in Paris. Die Nationalversammlung in Versailles hatte,

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trotz des Krieges, Gesetze über Zahlung von Wechseln und Mieten erlassen, die ArbeiterInnen, KleinbürgerIn­nen, Handel und Kleinindustrie in den Ruin zu stürzen drohten. Die Nationalversammlung hatte keine Zeit zu verlieren. Das zweite Kaisertum hatte die Staatsschuld verdoppelt und die großen Städte in schwere Schulden gestürzt. Der Sieger Preußen verlangte nun 5 Milliarden Francs zu 5 Prozent Zinsen. »Nur durch gewaltsamen Sturz der Republik konnten die Aneigner des Reich­tums hoffen, die Kosten eines von ihnen selbst herbei­geführten Krieges auf die Schultern der Hervorbringer dieses Reichtums zu wälzen« (Marx).

Paris stand dieser Verschwörung im Wege. Paris verstand die Anzeichen und reorganisierte die National­garde. Die Stadt verfügte somit über Hunderttausende im Volk verankerte, loyale Kämpfer. Jede Ebene der Nationalgarde hatte in den Stadtvierteln ihre Vertreter für die nächsthöhere Ebene selbst und direkt gewählt, bis zum Zentralkomitee. 215 von 266 Bataillonen hatten dem Zentralkomitee der Nationalgarde ihr Vertrauen geschenkt. Das erste Dekret der neu gewählten Kom­mune war folgerichtig die Ersetzung des stehenden Heeres durch die Nationalgarde des Volkes. Paris wollte die alte Ordnung nicht mehr, und es konnte Widerstand leisten, weil es infolge der preußischen Belagerung die französische Armee losgeworden war. Der Konflikt schwelte, es fehlte noch der Funke.

Im Morgengrauen des 18. März 1871, Paris liegt noch im Dunkeln, marschieren Truppen der französischen

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Regierung in die Pariser Viertel Montmartre, Belleville und La Vilette. 6000 Soldaten stampfen durch die Stra­ßen, der Pariser Nationalgarde die Kanonen zu stehlen. Drei Tage später berichtet Friedrich Engels in London, was ihm das Pariser Komitee der Internationalen Ar­beiterassoziation (IAA) mitgeteilt hatte2: »… die Stadt (befand sich jetzt) in den Händen des Volkes; die Trup­pen, die nicht auf die Seite des Volkes übergegangen seien, seien nach Versailles zurückgezogen worden, und die Nationalversammlung wisse nicht, was sie machen solle. Keiner der Männer des Zentralkomitees (der Nationalgarde) sei berühmt …, aber der Arbeiterklasse seien sie gut bekannt.« Engels erwähnt nicht, daß die Nationalgarde von den Frauen alarmiert wurde, die als erste merkten, was sich da in ihren Straßen abspielte.

Irgendwer läutet an diesem Samstagmorgen die Sturmglocke. Menschen eilen und klopfen an Türen und Fenster. Paris wacht auf. Frauen, Männer und Kinder drängen sich zum Schutz ihrer Nationalgarde und umringen die Truppen der Regierung Thiers. Versailles’ General Claude-Martin Lecomte, der zwei Monate zuvor vor dem Stadthaus Frauen und Kinder erschießen ließ3, befiehlt seinen Soldaten viermal: »Schießt in die Menge!« Statt dessen drehen die Solda­ten die Gewehre um und erschießen den General und später einen zweiten, General Clement Thomas, den Schlächter der Juni-Revolution von 18484. Die übrigen gefangenen Offiziere werden, Augenzeugenberichten zufolge, fair behandelt.

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Hunger, Elend, Unterdrückung und die Verwei­gerung demokratischer Entwicklungen haben in den Menschen Wut aufgestaut, die jetzt aus ihnen her­ausbricht. Sie donnern an die Türen des Stadthauses, der Polizeipräfektur, der Ministerien. Die Regierung, deren Plan vereitelt worden ist, flieht zum Sitz der Nationalversammlung nach Versailles.5 Das Volk von Paris nimmt sich die Macht, und das »Zentralkomitee der republikanischen Föderation der Nationalgarde« ist seine provisorische Regierung. Es wird seine Macht, vorübergehend zugunsten des gewählten Kommu­nerates, kurz Kommune genannt, niederlegen. »Das Unwahrscheinliche herrscht«, jammert ein großbür­gerlicher Zeitgenosse.

»Wir maßen uns nicht an, an die Stelle derjenigen zu treten, die der Atem des Volkes hinweggefegt hat. Bereitet also sogleich die Kommunalwahlen vor und führt sie durch, und laßt uns die einzige Belohnung zuteil werden, die wir uns je gewünscht haben: Euch die wahrhafte Republik errichten zu sehen«, ruft das Zentralkomitee die Bevölkerung auf. Es stellt den Willen der Menschen fest, »die Leitung der öffent­lichen Angelegenheiten in ihre eigenen Hände (zu) nehmen«.

Der Verkehr auf den Boulevards von Paris ist in diesen Tagen lebhaft wie immer. Die Geschäfte sind geöffnet. Im Nordosten bis zum Südosten um Paris liegt die preußische Armee, im Westen die Truppen Versailles’, noch sind sie ungeordnet. Die Kommune

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begeht ihren entscheidenden Fehler: Sie zieht nicht nach Versailles, um die geflohene Regierung zu besie­gen, jetzt, wo sie schwach ist. Die Gegner der Kommune können sich sogar in Paris organisieren und sich an der Kommunewahl beteiligen. Die Wahlen sind geheim. Jeder Stadtbezirk wählt auf Listen für je 20 000 Ein­wohner einen Gemeinderat. Frauen haben im Paris der Kommune weder ein aktives noch ein passives Stimmrecht.

»Es gibt kein Beispiel in der Geschichte, wo eine provisorische Regierung es eiliger gehabt hätte, ihr Mandat in die Hände der Gewählten … zu legen«, ver­teidigt das Journal Officiel, die Zeitung der Kommune, die Aufständischen am 22. März gegen die bürgerliche und reaktionäre Presse, die die KommunardInnen als Abschaum der Menschheit beleidigt. »Die Arbeiter, deren Hände alles schaffen … die im Elend leben in­mitten des Reichtums, der Früchte ihrer Arbeit und ihres Schweißes, soll mensch sie ewig beschimpfen können? Soll es nie erlaubt sein, an ihrer Emanzipation zu arbeiten, ohne daß sich gegen sie eine Flut von Ver­leumdungen erhebt? Die Bourgeoisie, die ihre Eman­zipation vor mehr als einem dreiviertel Jahrhundert vollendete6 … will sie nicht begreifen, daß es jetzt am Proletariat ist, seine Emanzipation zu vollbringen?« Schuld an der Situation Frankreichs sei einzig und allein die herrschende Klasse, weil sie den Ruin des Vaterlandes dem sicheren Sieg der Republik – aus Angst vor der Revolution – vorgezogen habe und sich

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selbst angesichts der Invasion und Okkupation durch die Deutschen nicht gescheut habe, den Bürgerkrieg zu entfesseln, der nun mit der Revolution beantwortet worden sei.

Der Tag der Wahl für die 1 799 980 EinwohnerIn­nen wird mehrfach verschoben, vom 22. auf den 23. und schließlich auf Sonntag, den 26. März 1871. Das Zentralkomitee hat vergeblich versucht, sich mit allen Bürgermeistern von Paris über die Durchführung der Wahlen zu einigen. Noch am Donnerstag vorher zieht mit dem Ruf »Es lebe die Ordnung!« eine angeblich unbewaffnete Demonstration der Anhänger Versailles’ durch Paris. Als sie das Hauptquartier der National­garde angreifen und einige Nationalgardisten und ein Mitglied des Zentralkomitees töten, schießt die Nationalgarde zurück.

Am Samstag, dem 25. März 1871, erläßt das Zentral­komitee der Nationalgarde jenen legendären Aufruf zur Kommunewahl:

»… Bürger! Vergeßt keinen Augenblick, daß nur diejenigen Männer Euch am besten dienen werden, welche Ihr aus Eurer Mitte erwählt; denn diese teilen mit Euch dasselbe Leben und die gleichen Leiden. Mißtraut ebenso den Ehrgeizigen wie den Empor­kömmlingen. Die einen wie die anderen werden bei ihren Handlungen nur vom Eigennutz gelenkt und halten sich zu guter Letzt stets für unersetzlich. Miß­traut den Schwätzern, sie sind unfähig zu handeln und werden einer Ansprache, einem rednerischen Erfolg

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oder geistreichen Worte alles andere opfern. – Mei­det ferner die großen Günstlinge des Glücks. Denn gar zu selten ist der Reiche geneigt, den Arbeiter als seinen Bruder zu betrachten. Suchet vielmehr Männer von aufrichtiger Überzeugung, entschlossene, tätige Männer des Volkes von geradem Sinne und erprobter Ehrenhaftigkeit. – Gebt denjenigen den Vorzug, welche nicht um Eure Wahlstimme buhlen; denn das wahre Verdienst ist bescheiden. Es ist die Sache der Wähler, ihre Männer zu kennen, und letztere dürfen sich nicht hervordrängen. Solltet Ihr auf diese Betrachtung eini­gen Wert legen, so sind wir fest überzeugt, daß es Euch gelingen wird, die wahre Volksvertretung einzusetzen und Bevollmächtigte zu finden, welche sich niemals als Eure Herren aufspielen werden.«

Paris hat gewählt, und Leo Frankel, ein Ungar und einer der Organisatoren der Internationalen Arbeite­rassoziation (IAA) in Frankreich schreibt am 30. März begeistert an seinen Freund Karl Marx in London: »… wünschte ich nichts sehnlicher, als daß diejenigen, die aus Unwissenheit Gegner unsere Sache sind, der Proklamierung der Kommune hätten beiwohnen kön­nen. Sie würden Achtung bekommen haben vor der majestätischen, Ehrfurcht gebietenden Haltung des Pariser Volkes … Gegen drei Uhr nachmittags begann gestern der Aufmarsch der Nationalgarden-Bataillone. Festlich geschmückt, unter dem Gesang der Marseil­laise und anderer revolutionärer Lieder rückten sie heran und nahmen Stellung auf dem Stadthausplatz,

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in der Rivolistraße und auf dem Boulevard Sebastopol. Außer ihren Bataillonsabzeichen führten sie auch rote Fahnen mit sich. In den Straßen wogte das Volk … vor dem Stadthaus war eine rotausgeschlagene, drei Stufen hohe Estrade errichtet, die mit roten Fahnen, phrygischen Mützen und sozialistischen Emblemen … geschmückt war.« 160 000 Nationalgardisten mar­schieren unter dem Klang von Trompeten. Kein Plakat hat aufgerufen, nur eine einzige Zeile im Journal Of­ficiel hat den Termin angekündigt. Auf einer Bühne vor dem Gebäude sind die neu gewählten Mitglieder der Kommune versammelt. Sie tragen rote Schärpen. Auf dem Giebel weht die Fahne der Kommune, an einem großen Tisch sitzt das Zentralkomitee in der Uniform der Nationalgarde. Die Menge aus vielleicht 100 000 Menschen ist mucksmäuschenstill, als das Komitee feierlich sein Mandat für erloschen erklärt, und brau­sender Beifall überflutet den Platz, als das Komitee die Macht an die Kommune von Paris übergibt. Ein Bürger verliest laut die Namen der Gewählten. Die Menschen, die sich auf Mauern, Fenstersimsen, Dächern und dem Platz drängen, klatschen und rufen: »Vive la Kommu­ne! Vive la République!«

Die Wahlergebnisse werden verkündet: Die Inter­nationale hat 17 Mitglieder, das Zentralkomitee der Nationalgarde 13, die Blanquisten 7 Vertreter, die radikale Presse und die revolutionäre Partei 9 Vertre­ter, die bürgerlichen Clubs 21 und die gemäßigte oder bourgeoise Partei 15.7 »Die Augen vieler alter National­

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gardisten füllten sich mit Tränen. Es waren ja darunter viele, die in den Junitagen 1848 und im Dezember 1851 selbst auf den Barrikaden gestanden hatten … Nach Beendigung der Feier fand ein Defi lieren sämtlicher Nationalgarden vor den Mitgliedern der Kommune statt. … Wir haben nicht vergebens gekämpft, wenn auch die Republik noch einmal im Blute des Bürger­krieges erstickt werden sollte«, schließt Frankel seinen Brief an Marx. Einen Tag später wird er Arbeits- und Industrieminister sein – »in Erwägung, daß die Fahne der Kommune die Fahne der Weltrepublik ist und daß Ausländer zugelassen werden«. Einen Monat später verkündet ein Erlaß den besonderen Schutz des Eigen­tums von Ausländern. »Noch nie (war) eine Regierung in Paris so … höflich gegenüber Ausländern«, notiert Marx in London.

Thiers schäumt: »Wo sie sich entschlossen haben, zu wählen, haben sie die Mehrheit erlangt, die sie immer dann erlangen werden, wenn sie sich ihrer Rechte be­dienen.« Er will Paris aushungern und die Provinzen mit dem Argument aufhetzen, die Kommune verzögere den Abzug der deutschen Armee. Aber auch das ist eine Lüge. Zwischen Preußen und Paris ist kein Krieg mehr. Im Gegenteil, die Kommune hat die Friedens­präliminarien angenommen, und Preußen hat Paris seine Neutralität erklärt. Thiers droht unverhüllt: »Wenn im übrigen die Regierung, um möglichst lange ein Blutvergießen zu verhüten, gezögert hat, so ist sie doch nicht untätig geblieben, und die Mittel zur Wie­

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derherstellung der Ordnung werden darum nur um so besser vorbereitet und um so verläßlicher sein.«

Die geflüchtete Regierung verbietet in ganz Frank­reich die freie Meinungsäußerung. Jede noch so zag­hafte Äußerung zugunsten der Kommune von Paris wird in der Nationalversammlung niedergebrüllt. Alle aus Paris kommenden Zeitungen werden verbrannt. Versailles schickt Spione und Provokateure im ganzen Land aus und verbietet selbst Versammlungen der De­legierten der großen Städte, aus Angst vor einer allzu offensichtlichen Unterstützung von Paris und seiner ansteckenden Wirkung auf die anderen Städte.8

»Die Kommune bildete sich aus den durch allgemei­nes Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbst­redend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parla­mentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften ent­kleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetz­bare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller anderen Verwaltungszweige, auch die Richter, die immer im Dienst der jeweiligen Regierung gestanden hatten. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts mußte der öffentliche Dienst für Arbeiter­lohn besorgt werden. Die erworbenen Anrechte und

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Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. Die öffentlichen Ämter hörten auf, das Privateigentum der Handlanger der Zentralregierung zu sein. Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der Kommune gelegt«, schreibt Karl Marx in seiner Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich«.

Die Kommune sagt: »Die Stadt muß ebenso wie die Nation ihre Versammlung haben, die ohne Unterschied Munizipalversammlung oder Gemeindeversammlung oder Kommune heißt«. Diese Kommune soll abrufbar sein, die Bürger ständig nach ihrem Willen befragen, ihre Mitglieder sollen jederzeit öffentlicher Kritik aus­gesetzt und rechenschaftspflichtig sein. Die Kommune will die autonome Entscheidung über ihren Haushalt und die Steuern. Sie will der Stadt eine nationale Miliz geben, die die Bürger gegen die Regierung verteidigt, anstelle eines stehenden Heeres, das die Regierung ge­gen die Bürger verteidige, und sie verlangt die Abschaf­fung der politischen Polizei. Die Nationalgarde soll das Recht behalten, ihre Leitung selbst zu wählen.

Die Kommune wählt aus ihrer Mitte am 29. März besondere Komitees, für Unterricht, Arbeit, Finanzen, Wohlfahrt, Nationalgarde, Polizei und so weiter. Über Reformen in der Produktion, der Schulbildung, den Finanzen und beim kommunalen Eigentum will die Kommune von nun an die EinwohnerInnen von Paris selbst entscheiden lassen, keine nationale Regierung.

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Dekrete zu erlassen soll dem Rat nicht wichtiger sein, als sich einem Plebiszit zu unterwerfen. Schon in den ersten Tagen ihrer Existenz offenbarte die Kommune ihren politischen Charakter: Sie läßt die politischen Gefangenen frei. Sie verteilt eine Million Francs an die Ärmsten. Sie verbietet die Versteigerung nicht einge­löster Pfänder in Leihhäusern, später verfügt sie die kostenlose Rückgabe aller verpfändeten Alltagsgüter mit einem Wert von weniger als 20 Francs. Und sie schafft, mitten im Bürgerkrieg, die Nachtarbeit für Bäckergesellen ab. Kein Arbeitgeber darf den Ange­stellten oder ArbeiterInnen Geldstrafen mehr vom Lohn abziehen, »die im voraus festgesetzten Löhne müssen restlos ausgezahlt werden«, und die Kommune macht alle seit dem 18. März diktierten Geldstrafen und Lohnabzüge rückgängig.

Am 30. März 1871, nur 4 Tage nach der Wahl, ver­öffentlicht die Kommune das Dekret über die Mieten. Die Nationalversammlung in Versailles hatte, trotz des Krieges, Gesetze über Zahlung von Wechseln und Mieten erlassen, die ArbeiterInnen, KleinbürgerInnen, Handel und Kleinindustrie in den Ruin zu stürzen drohte. In 5 Artikeln wird sämtlichen Mietern, auch von möblierten Zimmern, die Zahlung der Mieten für Oktober 1870, Januar und April 1871 erlassen. Bereits gezahlte Mieten werden in Zukunft angerechnet. Mie­ter erhalten für 6 Monate ein einseitiges Kündigungs­recht. Bereits ausgesprochene Kündigungen von Seiten der Vermieter können auf Wunsch der Mieter um drei

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Monate hinausgeschoben werden. Elie Reclus, ein 43jähriger Ethnologe, der von der Kommune zum Lei­ter der Nationalbibliothek berufen wird, kommentiert dieses Dekret in seinem Tagebuch: »Die Bevölkerung von Paris, die zu neunzehn Zwanzigsteln aus Mietern9

besteht, ist von diesem ersten, so klaren, so einfachen und radikalen Dekret begeistert.«

Durch die konkreten Maßnahmen der Kommune, die die Lebensbedingungen der Menschen so radikal verbessern, schrumpft die restliche Legitimation der Nationalversammlung. Einige bürgerliche Journali­sten täuschen überraschend Verständnis vor: mensch wisse ja, daß nicht alle »plötzlich aus dem Dunkel aufgetauchten Führer der Revolution sämtlich Un­würdige und Schwachköpfe« seien, nicht die gesamte Nationalgarde »Trunkenbolde« und »Wahnsinnige«, und unter den Forderungen seien auch einige, denen nachzukommen »recht und billig« wäre. Versprechun­gen, die verraten, daß Versailles die sozialen Probleme kennt und sie bislang bewußt ignoriert hat.

Die Kommune bestimmt, daß das Gehalt der Ange­stellten in der gesamten Kommunalverwaltung höch­stens 6000 Francs im Jahr betragen darf. Übertriebene Gehälter und Vergünstigungen in Staatsdiensten ent­sprechen einer demokratischen Republik nicht. Das Jahresgehalt der LehrerInnen wird auf 2000 Francs verdoppelt. Die Kommunemitglieder bekommen 15 Francs am Tag, soviel, wie ein »fleißiger Arbeiter in einem guten Beruf« verdient. Sie bekommen dieses

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Gehalt für 3 oder 4 Funktionen, die jeder von ihnen ausübt. Für jede einzelne Funktion hatten vorangegan­gene Regierungen 30 000 bis 100 000 Francs im Jahr bezahlt. Nie war eine Regierung billiger.

Der politische Alltag der Kommune ist anders als der jeder anderen Regierung, die neu ihr Amt antritt. »We­der im Stadthaus, noch in einem Ministerium, noch in einer Mairie war auch nur ein einziger Angestellter zurückgeblieben. Um zu erfahren, wo die Büros lagen, um zu erfahren, wo sich zum Beispiel die Register be­fanden, in die die Trauungen, Geburten und Todesfälle einzutragen sind, mußte mensch sich an den Portier wenden, wenn er noch da war, oder ganze Tage mit der Suche nach den einfachsten, absichtlich versteckten und oft beiseite geschafften Gegenständen verbringen« schreibt Arthur Arnould, Mitglied des Kommunerates in seiner Geschichte der Pariser Kommune.

Wir, fährt Arnould fort, »waren mit Arbeit überhäuft und vor Müdigkeit erdrückt, wir hatten nicht eine Minute Ruhe … Stellt mensch sich denn vor, was wir für ein Leben während dieser 72 Tage geführt haben? Was für eine erdrückende Arbeitslast unser Gehirn be­schäftigte und zerstörte? Als Mitglieder der Kommune hatten wir im allgemeinen zweimal täglich Sitzung. Um zwei Uhr und abends bis spät in die Nacht hinein. Diese beiden Sitzungen wurden pünktlich unterbrochen, da­mit wir ein bißchen Nahrung zu uns nehmen konnten. Außerdem gehörte jeder von uns einer Kommission an, die die Arbeit irgendeines Ministeriums zu dirigieren

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hatte und mit der Verwaltung einer dieser Abteilun­gen beauftragt war … deren Leitung die gesamten Kräfte eines Mannes vollauf in Anspruch genommen hätte. Außerdem waren wir Maires, Standesbeamte und sollten unsere verschiedenen Arrondissements verwalten. Viele von uns hatten ein Kommando in der Nationalgarde, und es gab vielleicht nicht einen unter uns, der nicht alle paar Augenblicke zu den Vorposten oder in die Festung eilen mußte, um die Kämpfenden zu ermuntern, ihre Beschwerden anzuhören, Strei­tigkeiten zu schlichten oder die militärische Lage mit eigenen Augen zu beurteilen. Jeder von uns hatte also unter diesen schrecklichen Bedingungen, da der klein­ste Irrtum, der kleinste falsche Schritt alles in Frage stellen konnte, tausend verschiedenartige Aufgaben, die für acht bis zehn Menschen ausgereicht hätten, zu übernehmen und ordentlich durchzuführen. Wir schliefen nicht. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich mich in diesen zwei Monaten auch nur zehnmal ausgezogen und schlafen gelegt hätte. Ein Lehnstuhl, ein Sofa, eine Bank dienten uns als Lager für einige, häufig unterbrochene Minuten.«

In jedem Augenblick ihrer Existenz liegt über der Kommune die Bedrohung durch Versailles. Am 30. März und am 1. April kommt es im Westen der Stadt zu ersten militärischen Auseinandersetzungen mit Versailler Truppen. Granaten und Kartätschen töten und verwunden Kommunarden in der Nähe des Dorfes Neuilly. Über die Frage, ob die Nationalgarde nach

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Versailles marschieren soll, gibt es in der Kommune weiter heftige Auseinandersetzungen. Die Befürworter sagen: Das ist ein Kampf ohne Versöhnung, eine Frage um Leben und Tod, die einzige Antwort auf Gewalt ist Gewalt. Die schändliche Versammlung in Versailles, die Paris unter Quarantäne setze, diffamiere, sämtli­che Rechte mißachte, von Nachrichtenverbindungen abschneide, versuche, die Stadt auszuhungern, müsse bekämpft werden, solange sie noch nicht alle Kräfte voll gegen Paris mobilisiert habe. Aber es setzen sich die Mitglieder der Kommune mehrheitlich durch, die meinen, ein militärischer Angriff schade dem Ansehen der Kommune.

Die deutschen Truppen beobachten die Stadt. Die Kämpfe am 2. und 3. April gehen schlecht für die Kom­mune aus. Während Blut fließt, trennt die Kommune die Kirche vom Staat: »Die Kommune von Paris, in Erwägung, daß der erste Grundsatz der französischen Republik die Freiheit ist, in Erwägung, daß die Gewis­sensfreiheit die erste aller Freiheiten ist, in Erwägung, daß das Kultusbudget diesem Grundsatz widerspricht, da es einen Teil der Bürger entgegen seinem eigentli­chen Glauben besteuert, in Erwägung schließlich, daß die Geistlichkeit an den Verbrechen der Monarchie gegen die Freiheit mitschuldig war10, verordnet die Kommune die Trennung von Kirche und Staat, die Abschaffung des Kultusbudgets und die Enteignung des Kirchenbesitzers.« Victor-Henri Rochefort, später deportiert, sagt: »Unser ewiger Glaube ist, daß Christus

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in einem Stall geboren wurde und daß daher der einzige Schatz, den Nôtre-Dame in ihrer Kammer besitzen soll, ein Strohbündel ist«.

Die Kommune untersucht Gerüchte und fi ndet her­aus, daß die Versailler Regierung neben der alten eine neue, schneller arbeitende und transportable Guillo­tine in Auftrag gegeben und bereits im voraus bezahlt hatte. Sie verbrennt die beiden »Schandwerke« am 6. April, um 10 Uhr, öffentlich auf der Place de la Mairie, »zum Zwecke der Reinigung des Stadtbezirks und der Einsegnung der neuen Freiheit.«

Die Truppen der Regierung in Versailles nehmen Kommunarden gefangen und erschießen sie. Immer wieder finden Pariser Kommunarden die Opfer noch gefesselt. Die Kommune hingegen behandelt ihre Kriegsgefangenen human, wie viele der Gefangenen bei den späteren Prozessen bezeugen werden, was aber nicht zur Milderung der Strafen beitragen wird. Die Kommune wird gedrängt, ein Geiselgesetz zu verab­schieden, indem sie androht, für den Fall der weiteren Erschießung von Gefangenen durch Versailles nach dem Prinzip Aug’ um Aug’, Zahn um Zahn zu verfah­ren. Obwohl dieses Gesetz nur Anwendung finden kann, wenn die Versailler sich inhuman verhalten, wird dieser Beschluß von den Gegnern der Kommune als »scheußlichste Verletzung der Menschenrechte hingestellt«. Die Kommune wendet das Gesetz kein einziges Mal an. Nach kurzem Zögern fühlt sich Ver­sailles ermutigt, weiter zu töten.

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Seit 5 Monaten liegt Paris unter deutscher Belage­rung. Der Handel ist abgebrochen. Die Postverbin­dungen funktionieren nicht mehr. Briefe aus und in die Stadt fallen unter Thiers Zensur. Lebensmittel für Paris werden von den Belagerern geraubt. Versailles diffamiert Paris über die bürgerliche Presse in der französischen Provinz und im Ausland. Paris ist für Frankreich die in den Augen Versailles so gefährliche Verheißung der Republik und der kommunalen Frei­heiten: Thiers Appell an die Provinzen, ihm Truppen gegen Paris zur Hilfe zu senden, stößt dort auf offene Weigerung. Es erreichen so viele Delegationen und Schreiben Versailles, die die Anerkennung der Re­publik, die Bestätigung der kommunalen Freiheiten und die Auflösung der Nationalversammlung, deren Mandat längst erloschen sei, verlangen, daß Präsident Thiers seinen Justizminister Dufaure veranlaßt, den Staatsanwälten in einem Rundschreiben vom 23. 4. zu befehlen, »den Ruf nach Versöhnung« künftig als ein Verbrechen zu ahnden. Die Gemeinderatswahlen, zu deren Festsetzung sich Thiers gezwungen sieht, nehmen ihm die letzte politische Legitimation: Von 700 000 Gemeinderäten erhält die Rechte weniger als 8000 Mandate. Zudem bedrohten die neu gewählten Gemeinderäte die »usurpatorische Versammlung« von Versailles mit einer eigenen Nationalversammlung in Bordeaux.

Die Kommune sieht sich nicht als neue Elite Frank­reichs. Sie hat ein durch und durch radikaldemokrati­

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sches Selbstverständnis. Gegen den Parlamentarismus setzt sie die direkte Demokratie eines Räteprinzips. Die direkt gewählten Abgeordneten sollen jederzeit absetzbar und den Wählern direkt verantwortlich sein. Sie will Vorbild für die anderen französischen Städte und Gemeinden sein, die in ihrer Form ihre eigene spezifi sche Gestalt finden sollen. Die Landgemeinden in den Bezirken sollen Abgeordnete in die Bezirksver­sammlung der Bezirkshauptstadt senden und diese wiederum Abgeordnete in die nationale Delegation nach Paris. Was an Entscheidungen für die Zentral­regierung übrigbleibt, soll an kommunale, das heißt, streng verantwortliche Beamte übertragen werden. Die Kommune vernichtet die Staatsmacht. Selbstregierung und nicht Herrschaft ist ihr Prinzip. Die Pariser Kom­mune will Vorbild sein, nicht dogmatisches Schema. Sie soll die politische Form für die Städte und Dörfer Frankreichs werden, in der sich dann selbstbestimmtes Leben und befreite Arbeit entwickeln können.

Lange war jeder Versuch der Bauern, sich von hohen Steuern, Hypothekenschuld, Enteignung, der Konkurrenz kapitalistischer Bodenwirtschaft und le­benslanger harter Arbeit zu befreien, mit Repressalien beantwortet worden. Marx ist sicher, daß drei Monate freien Verkehrs zwischen dem kommunalen Paris und den Provinzen einen allgemeinen Baueraufstand zu­wege brächte, weil die Politik der Kommune sich an die lebendigen Interessen und dringenden Bedürfnisse der Bauern richten würde. Die Großgrundbesitzer und

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ihre politische Vertretung in Versailles wissen das und umgeben Paris mit einer Polizeiblockade. Könnte die Kommune von Paris die »Blutsauger« der Bauern, den Notar, den Advokaten, den Gerichtsvollzieher und andere »gerichtliche Vampire« in von ihm gewählte, bezahlte und absetzbare Kommunalbeamte verwan­deln, wäre er befreit von Willkürherrschaft. »Der Bauer würde es gutgeheißen haben, daß die Kosten für die Pfaffen nicht mehr von Steuereintreibern eingetrieben, sondern freiwillig sein sollen« (Marx).

Die Kommune appelliert an den »Bruder« auf dem Land: »Kommt es darauf an, ob der Bedrücker Groß­grundbesitzer oder Industrieunternehmer heiße? Bei dir wie bei uns ist der Tag lang und hart und bringt nicht mal so viel ein, wie die leiblichen Bedürfnisse verlangen. … Kindern ist oft genug das gleiche Rak­kerleben beschieden. … Paris will, daß der Sohn des Bauern eine ebenso gute Erziehung erhalte wie der Sohn des Reichen, und zwar umsonst, in Erwägung, daß die menschliche Wissenschaft das gemeinsame Gut aller Menschen ist, für die Lebensführung nicht weniger wichtig als das Auge zu Sehen.«11 Als die Professoren der Hochschule für Medizin ihre Posten verlassen und die Vorlesungen eingestellt werden, richtet die Kommune im April eine Kommission ein zur Gründung freier Universitäten. Die Kommune will ein kommunales, kostenloses Bildungswesen.

Es soll von nun an keine ganz Reichen und keine ganz Armen mehr geben: »Die Erde den Bauern, das

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Werkzeug den Arbeitern, die Arbeit für alle.« 104 Jah re später wird eine ähnliche Forderung eine der von den Gegnern der portugiesischen Revolution von 1975 am härtesten bekämpften Losungen: »A terra a quem trabalha – Die Erde dem, der sie bearbeitet«. Kooperativen bewirtschaften enteignetes Großgrund­besitzerland, und den armen Bauern und BäuerInnen beginnt es besserzugehen, bis mit Hilfe internationalen Kapitals und der politischen Unterstützung vor allem der bundesdeutschen Sozialdemokratie diesen sozialen Erfolgen der Garaus gemacht wird.

Nie zuvor kämpften die Frauen von Paris in so großer Zahl, und sie kämpften auch bewaffnet. Nie zuvor wurden so viele Frauen vom Gegner so gezielt ermordet. In vielen Augenzeugenberichten jener Tage finden sich erstaunte und verächtliche Berichte über die »kämpfenden Weiber«. Jelisaweta Tomanows­kaja, 20 Jahre, russische Revolutionärin im Exil, gründet am 11. April den »Frauenbund zur Verteidi­gung von Paris«, dem rund 4000 Frauen angehören. In einem Brief schreibt sie: »Wir mobilisieren alle Frauen von Paris, ich mache öffentliche Versamm­lungen. In allen Arrondissements haben wir in den Mairies Frauenkomitees gebildet, außerdem noch ein Zentralkomitee … Wenn die Kommune siegt, wird unsere politische Organisation zu einer soliden, und wir werden Sektionen der Internationale gründen … Unsere Versammlungen werden von 3000 bis 4000 Frauen besucht.«

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Die Kommune sichert, während die Kämpfe vor den Toren der Stadt heftiger werden, die Existenz der LebensgefährtInnen gefallener Kommunarden und die der Kinder gefallener Kommunarden und Kom­munardInnen durch eine Grundrente. Die Kommune habe durch diese »wenigen Worte für die Befreiung der Frau, für ihre Würde, mehr getan … als alle die Morali­sten und Gesetzgeber der Vergangenheit.« Sie habe die Frau damit »auf die Stufe völliger bürgerlicher Gleich­heit mit dem Mann« gestellt und so »einen tödlichen Hieb gegen das religiös-monarchistische Eheinstitut (geführt), wie wir sie in der modernen Gesellschaft vor uns haben« schreibt ein Zeitgenosse.

Viele Fabriken liegen von ihren Besitzern und Lei­tern verlassen in den Stadtmauern. Das verschärft Arbeitslosigkeit und Not. Die Kommune setzt viel zu spät, am 16. April, einen Untersuchungsausschuß ein, der die ungenutzten Anlagen inventarisiert und die Bedingungen für eine sofortige Wiederinbetriebnahme erfaßt. Die Betriebe werden von kooperativen Arbei­terassoziationen geführt. Ein Schiedsgericht soll im Fall der Rückkehr der ehemaligen Besitzer die Bedin­gungen für die Abtretung der Fabriken einschließlich möglicher Entschädigungen festlegen.

Der Krieg dringt in die Stadt. Trotzdem ist Preußen unzufrieden. Die Versailler machen keine großen Fort­schritte, die Gefechte sind noch zu unblutig, größte Gefahren drohten Europa, am besten sei, die Stadt auszuhungern, an Vorwänden fehle es ja nicht, be­

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schwert sich Albert Prinz von Sachsen – später König von Sachsen – bei General Moltke. In der Hoffnung, die Niederschlagung des Aufstandes zu beschleunigen, ha­ben die Deutschen ihren französischen Kriegsgegnern auf Seiten der Versailler viele Rechte zurückgegeben: Sie dürfen wieder selbst Steuern eintreiben. Post und Telegraphenämter sind wieder in ihrer Verfügung.

Die französischen Regierungstruppen werden von 40 000 auf 100 000 Mann erweitert. Moltke meint, die einfachste Lösung sei es, Paris von beiden Seiten abzusperren. Aber er befürchtet, daß die »Herren Thiers und Favre … sich vergnügt die Hände reiben, öffentlich aber über die Vergewaltigung der deutschen Barbaren wehklagen und als Wohltäter von Paris die Verbindung nach Süden freigeben« würden. »Man hat uns nötig genug, aber mensch schämt sich unser. Wir sind zur Hilfeleistung bereit, aber wir müssen darum angegangen werden, und für Europa bedürfen wir darüber schwarz auf weiß.« Der deutsche General von Papen schreibt am 26. April nach Berlin: »Es (ist) himmlisch, daß sie nun selbst das heilige Paris zu bom­bardieren anfingen.«

Eine Delegation von Freimaurern, Kritiker der Kommune, aber Anhänger der Pariser Gemeindefrei­heiten, zieht am 22. April nach Versailles: »Es wim­melt ›sagten wir zu Herrn Thiers‹, in den Kellern von Nevilly, Ternes und Sablonville von Greisen, Weibern und Kindern, welche sich seit länger als 3 Wochen in der schrecklichsten und peinvollsten Lage befinden,

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›sie seien‹ vor die traurige Wahl gestellt, entweder … Hungers zu sterben oder beim Verlassen ihrer Schlupf­winkel den feindlichen Kugeln zum Opfer zu fallen … schon hat der Tod unter ihnen reiche Ernte gehalten … Wir bitten sie also im Namen der heiligsten Gesetze der Menschheit, einen Waffenstillstand von mindestens 24 Stunden zu bewilligen!« Sie werden verspottet und ausgelacht. Zurück in Paris erklären sie wütend das Ende ihrer Neutralität und dem Regime Thiers die Gegnerschaft. Wenige Tage später wird mit großen Reden und pathetischen Worten die Verbrüderung zwischen Freimaurern und Kommune gefeiert. Die Freimaurer werden nun an der Seite der Nationalgarde an der Schlacht teilnehmen. Der Krieg diktiert immer mehr das Geschehen. Feindliche Geschosse regnen auf das Fort Issy im Süden der Stadt. Die Munition der Kommunarden ist knapp. Der Nachschub kommt nicht, ist nicht organisiert. Fort Issy, ein zentraler Verteidigungspunkt, fällt.

Die Kommune macht einen entscheidenden Fehler. Sie läßt die Bank von Frankreich unangetastet. Engels schreibt: »Am schwersten begreifl ich ist allerdings der heilige Respekt, womit mensch vor den Toren der Bank von Frankreich ehrerbietig stehenblieb. Das war auch ein schwerer politischer Fehler. Die Bank in den Händen der Kommune – das war mehr wert als 10 000 Geiseln.« Die Abgesandten, die sie zur Kontrolle der Bank in diese schickte, versagten oder begingen Verrat. Die bewaffnete Besetzung der Bank, die Unterbindung

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aller Finanztransaktionen zugunsten Versailles’ und die Nutzung der Finanzen zur Unterstützung der Kom­mune, hätten die Niederlage – vielleicht – abwenden können. Durch diese Schwäche der Kommune konnte die Bank innerhalb von zwei Monaten 257 790 000 Francs für den Kampf gegen die Kommune an Thiers auszahlen, während die Kommune nach zähen Ver­handlungen nur 16 000 000 Francs von der Bank erhielt.12

Um mit der kritischer werdenden Situation fertig zu werden, setzt die Kommune-Mehrheit am 1. Mai in Kampfabstimmungen und unter heftigen Auseinander­setzungen den Wohlfahrtsausschuß durch, bestehend aus 5 Mitgliedern, die in Einzelabstimmungen nomi­niert werden. Er erhält weitreichende Vollmachten über alle Arbeitsgruppen und Unterausschüsse und ist nur der Kommune gegenüber verantwortlich. Bei der Nominierung der 5 Ausschußmitglieder wurden nur 37 Stimmen abgegeben, weil 25 Ratsmitglieder aus Protest die Stimmabgabe verweigerten. Der Sitzungs­bericht wird erst veröffentlicht, nachdem die Minder­heit heftig gegen seine Geheimhaltung protestiert hat. Der Sicherheitszuständige der Kommune, Courbet, verbietet am 5. Mai 7 Zeitungen, weil es dem allgemei­nen Moralempfinden zuwiderlaufe, »diejenigen durch diese Blätter ständig verleumden und beleidigen zu lassen, die unsere Rechte verteidigen, die ihr Leben hingeben für die Freiheiten der Kommune und ganz Frankreichs«.

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Wer seine Waffen ablege, behielte sein Leben. Nur »gemeine Verbrecher«, wie die »Mörder« der Generäle Thomas und Lecomte, seien davon ausgenommen, ap­pelliert Thiers an die Pariser Nationalgarde. Wir wissen doch, lügt Thiers, »daß Ihr euch, sobald die Soldaten die Stadtbefestigungen überschreiten, der National­fahne anschließen werdet, um unserer tapferen Armee eine blutige und grausame Tyrannei zerstören zu helfen … Öffnet uns die Tore«, schreibt er, »wenn nicht, habe Versailles alles Recht, Frankreich zu retten«.

Unabhängig von Thiers’ vergeblichen Aufrufen werden die Auseinandersetzungen innerhalb der Kompanien der Kommune heftiger. Es gibt Offiziere, die Kommandos niederlegen und sich beschweren: »… fühle ich mich außerstande, länger die Verantwort­lichkeit eines Kommandos zu tragen, wo jedermann berät und wo niemand gehorche.« Die Kommune würde ständig beraten, aber selten beschließen, die Organisation sei schlecht.

Weil Thiers die Bevölkerung belüge, Frauen und Kinder Tag für Tag die Opfer der brudermörderischen Versailler Geschosse seien, und weil Thiers zum Ver­rat auffordere, werden »die beweglichen Güter der Habe des Thiers … seitens der Domänenverwaltung in Beschlag genommen, das Haus der Thiers auf dem Platz Georges wird der Erde gleichgemacht«, lautet der Beschluß des Wohlfahrtsausschusses am 11. Mai. Im Sitzungsprotokoll des Kommunerates liest mensch eine für diese Kriegszeiten ganz sonderbare Debatte.

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Der berühmte Maler und Kommunebürger Courbet, damals 51 Jahre alt, fragt, was mensch mit der Samm­lung antiker Bronzen des Angeklagten Thiers machen solle? Die seien eines Museums würdig. Ob mensch sie in den Louvre oder in das Stadthaus bringen oder lieber versteigern lassen solle? Gerade die Bronzen hätten doch einen Wert von etwa 1,5 Millionen Francs. »Vergeßt nicht, daß diese kleinen Kunstbronzen die Geschichte der Menschheit sind. Und wir wollen die Vergangenheit der Intelligenz für die Erbauung der Zukunft aufbewahren, wir sind keine Barbaren.« Bürger Protot widerspricht heftig: »Ich bin ebenfalls ein Freund der Kunst; allein ich bin der Ansicht, alle Stücke, welche das Bild der Orleans darstellen, in die Münze zu schicken. Was die übrigen Kunststücke be­trifft, so liegt auf der Hand, daß man die nicht zerstören wird.« Mitten im Bürgerkrieg wird eine Kommission mit 5 Mitgliedern eingerichtet, die den immensen Wert der Schätze Thiers schätzen und ihre Zukunft klären soll. Thiers Haus wird am Tag nach der Debatte geschliffen.

Am 16. Mai geht – vermutlich durch Sabotage – die Rappsche Patronenfabrik in die Luft, mehr als 100 Arbei terInnen werden getötet. Hundertfache Schläge, Scheiben zittern, Häuser sinken ein, eine ungeheure, halbdurchsichtige Wolke, Explosion, Rauchwolken über der Stadt, eine Riesenflamme, »als ob der Ab­grund der Hölle geöffnet sei, fürchterlich verstümmelte Leichname sollen aus Fenstern gefl ogen sein, mensch

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habe die Beine hier, die Arme dort gefunden«. Nächt­liche Spaziergänger fragen sich, wieso die Versailler Truppen nicht überhaupt schon in Paris sind, wo Issy völlig in ihrer Hand sei und viele Wälle nachts über­haupt nicht mehr bewacht würden. Gegen 17 Uhr des gleichen Tages versammeln sich etwa 25 000 Men­schen in der Abendsonne zwischen den beiden Barri­kaden an der Rue de la Paix und der Rue Castillone, zwischen den Tuilerien und dem neuen Opernhaus. Die kaiserliche Säule auf dem Vendôme-Platz13, »ein Symbol viehischer Gewalt und falschen Ruhmes, eine Bekräftigung des Militarismus, eine Verneinung des internationalen Rechts, ein dem Besiegten durch die Sieger zugefügter Schimpf, ein fortwährender Mord­anschlag auf einen der drei großen Grundsätze der französischen Republik, die Verbrüderung« soll um­gestürzt werden. Nationalgardisten stampfen zwischen Gewehrpyramiden her, ungeduldige Kinder schreien, rote Fahnen sind aufgepflanzt. Am Fuß der Säule wird gehackt, eine Winde zieht an Seilen um den Gipfel der Säule, die Statue stürzt in einer undurchdringlichen Staubwolke mit enormem Lärm zu Boden, während die Marseillaise ertönt. Versailler Offiziere schäumen vor Wut über die Zerstörung »dieses Denkmals der Siege unserer Väter über das verbündete Europa«.

Der Wohlfahrtsausschuß schränkt die Pressefreiheit ein. Alle Artikel müssen nun wieder von ihrem Verfas­ser unterschrieben werden. Zehn Zeitungen werden verboten, neue dürfen vor dem Ende des Krieges nicht

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mehr erscheinen. Im Fall des Zuwiderhandelns wer­den auch die Drucker als Komplizen verfolgt und ihre Druckerpressen versiegelt. Das Zentralkomitee hatte sich nach der Kommunalwahl am 26. März zunächst aufgelöst, trat aber bald wieder zusammen. Einige Zeit gab es ein »gewisses Spannungsverhältnis«, gelegent­lich auch offene Rivalitäten, zwischen Zentralkomitee und dem Kommunerat mit seinen 107 Mitgliedern. Es gab bis zuletzt nur unpräzise abgegrenzte Befugnisse. Am 19. Mai – nur 9 Tage vor dem Ende der Kommune – feiern Kommunerat und Zentralkomitee ihre Aus­söhnung. Auszug aus einem gemeinsamen Anschlag an das »Volk von Paris!« und an die »Nationalgar­de!«: Die beiden Träger der Kommune halten es für notwendig, »Gerüchte über Mißhelligkeiten … ein für allemal durch eine Art öffentlichen Vertrag zunichte« zu machen.

Am 18. Mai war der Friedensvertrag mit Preußen, den Thiers am 10. Mai in Frankfurt am Main un­terschrieben hat, von der Nationalversammlung in Versailles bestätigt worden. Bismarck darf nun mit Zustimmung Versailles die Pariser Forts so lange be­setzt halten, bis er mit dem Stand der Dinge in Paris zufrieden ist. Er wird zum Schiedsrichter über die inneren Angelegenheiten Frankreichs. Die erste ver­traglich vereinbarte Kriegsentschädigungsrate wird vom Sieger großmütig auf einen Zeitpunkt nach der »Pazifikation« von Paris verschoben. Marx: »Daß nach dem gewaltigsten Krieg der neuern Zeit die siegreiche

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und die besiegte Armee sich verbünden zum gemeinsa­men Abschlachten des Proletariats – ein so unerhörtes Ereignis beweist … die vollständige Zerbröckelung der alten Bourgeoisiegesellschaft … Die Klassenherrschaft ist nicht länger imstande, sich unter der nationalen Uniform zu verstecken; die nationalen Regierungen sind eins gegenüber dem Proletariat!«

Versailles hetzt zur letzten Schlacht. Die Offiziere werden angewiesen, die Soldaten nicht von »Racheak­ten« abzuhalten. Es sei zu befürchten, daß nach dem Sieg die Richter die »Pariser Canaille« nicht erkennen und deshalb viel zu mild verfahren würden. Die Re­gierung ruft zum Mord auf: »Also, weniger Bildung und weniger Menschenbildung ihr Herren, aber mehr Erfahrung und mehr Tatkraft … Keine Gefangenen! Findet sich im Haufen ein wirklich ehrbarer Mann, mit Macht fortgerissen, den werdet ihr leicht erkennen, unter solchem Menschenschlage sticht der ehrenwerte Mann mit seinem Strahlenscheine hervor. Gewährt den braven Soldaten die Freiheit, ihre Kameraden zu rächen und auf dem Schauplatz und im Grimm der Schlacht zu tun, was sie mit kaltem Blut am nächsten Tage nicht mehr tun würden! Feuer!«

21. Mai 1871: Viele Einfallstraßen liegen unbewacht. Versailles wird von seinen Spitzeln informiert. Nach anfänglichem Erstaunen und Zögern dringen die Regierungstruppen vom Westen her immer weiter in die Stadt vor. Bismarck hatte vorzeitig französische Kriegsgefangene frei gelassen, um Versailles’ Truppen

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gegen Paris zu stärken. Die 130 000 Mann der Versail­ler Truppen wagen anfangs den Angriff auf Paris nicht. »Soldaten und Führer fürchteten sich vor Paris. Sie glaubten, die Straßen würden sich auftun, die Häuser über ihnen einstürzen«, spottet ein Kommunarde.

Der Kommunerat ist auf seiner Sitzung am gleichen Tag noch feierlich gestimmt von der Versöhnung von Rat und Zentralkomitee zwei Tage zuvor. Mitten in die Sitzung platzt ein Bote und verliest eine Depesche von Oberbefehlshaber Dombrowski: »Die Versailler haben sich den Einmarsch erzwungen!« Entsetztes Schweigen breitet sich aus. Die Sitzung löst sich auf. Die Kommu­ne wird nicht mehr tagen. Niemand verlangt eine wei­tere Sitzung. Viel zu spät werden im Kriegsministerium jene strategischen Punkte diskutiert, die 6 Wochen lang außer acht gelassen worden seien. Die Versailler rücken an manchen Stellen ohne einen einzigen Schuß in die Stadt ein. Die Nationalgardisten und die Ein­wohnerInnen von Paris kämpfen bis zur Erschöpfung auf den Barrikaden. Sie erhalten keine Verstärkung mehr. Am Ende fliehen sie oder werden erschlagen oder erschossen. Ein Augenzeuge berichtet, daß es in allen Straßen von Männern und Frauen und Kindern wimmelt, die Pflastersteine tragen, um Barrikaden zu bauen. Paris kämpft mit so ungeheurer Wut, daß an einer Stelle zwanzigtausend Regierungssoldaten volle drei Stunden benötigen, um den von einigen Dutzend Menschen verteidigten Damm auf dem Montmartre zu erobern.

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Die Kommune stirbt, während in New York, wie in vielen Städten der Welt in diesen Wochen, Massen­versammlungen von ArbeiterInnen ihre Solidarität demonstrieren. Am 24. Mai erobern die Versailler das Stadtzentrum. Häuser von KommunardInnen werden mit Petroleum übergossen, die Menschen darin bei lebendigem Leib verbrannt. Viele KommunardInnen werden schubweise auf die Straße geführt und an die nächste Mauer gestellt. Die Mitrailleusen, Vorläuferin des Maschinengewehrs, laufen heiß. Die Kommunar­dInnen werden auf dem Abhang des Hügels am Weg nach Saint Denis erschossen, in den Vierteln Batignol­les und Montmartre. Parks werden zu Schlachthöfen. Manche Treppen auf Montmartre bestehen nur noch aus Leichen. Einer Frauenbarrikade gelingt es auf dem Place Blanche mehrere Stunden lang ihre Barrikade zu verteidigen und sich dann zurückzuziehen. An einer anderen Barrikade bleibt eine Frau zurück. Als die Versailler Soldaten in Schußweite kommen, feuert sie das Geschütz ab, bis sie stirbt.

Die französischen Botschafter und Gesandten Frank reichs im Ausland erreicht ein Telegramm aus Versailles: »Wenn Sie also erfahren, daß ein am At­tentat von Paris beteiligtes Individuum die Grenze der Nation überschritten hat, bei der sie akkreditiert sind, ersuchen Sie von den Lokalbehörden, seine sofortige Verhaftung zu fordern und mich zu benachrichtigen, damit ich die Sache durch ein Auslieferungsbegehren in Ordnung bringe.« In London bereiten Marx, Engels

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und andere SympathisantInnen der Pariser Kommune Fluchtquartiere vor.

Marx ändert aufgrund der Lehren aus der Pariser Kommune einen Grundgedanken des Kommunisti­schen Manifestes. Am 12. April 1871 schreibt er an Louis Kugelmann in Hannover: »Wenn Du das letzte Kapitel meines ›Achtzehnten Brumaire‹ nachsiehst, wirst Du finden, daß ich als nächsten Versuch der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andre zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen, und dies ist die Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies ist auch der Versuch unserer heroischen Pariser Par­teigenossen. Welche Elastizität, welche historische Initiative, welche Aufopferungsfähigkeit in diesen Parisern! Nach sechsmonatiger Aushungerung und Verruinierung, durch inneren Verrat noch mehr als durch den auswärtigen Feind, erheben sie sich, unter preußischen Bajonetten, als ob nie ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland existiert habe und der Feind nicht noch vor den Toren von Paris stehe! Die Geschichte hat kein ähnliches Beispiel ähnlicher Grö­ße! Wenn sie unterliegen, so ist nichts daran schuld als ihre ›Gutmütigkeit‹. Es galt, gleich nach Versailles zu marschieren, nachdem erst Vinoy, dann der reak­tionäre Teil der Pariser Nationalgarde selbst das Feld geräumt hatte. Der richtige Moment wurde versäumt aus Gewissensskrupel. Man wollte den Bürgerkrieg

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nicht eröffnen, als ob der mischievous avorton (bos­hafte Zwerg) Thiers den Bürgerkrieg nicht mit seinem Entwaffnungsversuch von Paris bereits eröffnet gehabt hätte! Zweiter Fehler: Das Zentralkomitee gab seine Macht zu früh auf, um der Kommune Platz zu machen. Wieder aus zu ›ehrenhafter‹ Skrupulosität! Wie dem auch sei, diese jetzige Erhebung von Paris – wenn auch unterliegend vor den Wölfen, Schweinen und gemeinen Hunden der alten Gesellschaft – ist die glorreichste Tat unsrer Partei seit der Pariser Juni-Insurrektion. Man vergleiche mit diesen Himmelstürmern von Paris die Himmelssklaven des deutsch-preußischen heiligen römischen Reichs mit seinen posthumen Maskeraden, duftend nach Kaserne, Kirche, Krautjunkertum und vor allem Philistertum.«

Noch im Herbst 1870 hatten Marx und Engels die Pariser Arbeiter vor dem Aufstand gegen die neue bürgerliche Regierung gewarnt. Die Arbeiter hätten es nicht nur mit der bourgeoisen Regierung zu tun, son­dern auch mit den preußischen Eroberern, die jeder­zeit bereit seien, zugunsten der herrschenden Klasse einzugreifen. Aber Marx verteidigt später die Pariser Kommune gegen ihre zahlreichen Kritiker, die natür­lich alles besser gemacht hätten: »Die Weltgeschichte wäre allerdings sehr bequem zu machen, wenn der Kampf nur unter der Bedingung unfehlbar günstiger Chancen aufgenommen werden würde.«14

Das Ende der Pariser Kommune von 1871 war nicht das Ende der Utopie. Die Lehren der Kommune gingen

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in die Kämpfe der revolutionären Bewegungen, nicht nur in Europa, ein. Wir finden ihre Spuren beispiels­weise in der deutschen Revolution von 1918/19, im Spanischen Bürgerkrieg von 1936, in der portugiesi­schen Revolution von 1975, in Nicaragua und El Sal­vador und – in den sozialen Bewegungen in der Bun­desrepublik seit den 70er Jahren, einschließlich der Grünen. Soziale Utopien entstehen immer dann, wenn die Verhältnisse, in denen Menschen leben, diesen un­erträglich geworden sind. Warum sollte ausgerechnet jetzt das Ende aller Utopie gekommen sein?

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Hoff nung als Waff e

Keine politischen Veränderungen ohne konkrete

Utopie

»Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Ge­lingen verliebt, statt ins Scheitern. Hoffen, über dem Fürchten gelegen, ist weder passiv wie dieses, noch gar in ein Nichts gesperrt. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu veren­gen, kann gar nicht genug von dem wissen, was sie inwendig gezielt macht, was ihnen auswendig verbündet sein mag. Die Arbeit dieses Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören. Sie erträgt kein Hunde­leben, das sich ins Seiende nur passiv ge­worfen fühlt, in undurchschautes, gar jäm­merlich anerkanntes. Die Arbeit gegen die Lebensangst und die Umtriebe der Furcht ist die gegen ihre Urheber, ihre größtenteils sehr aufzeigbaren, und sie sucht in der Welt selber, was der Welt hilft; es ist findbar. Wie reich wurde allzeit davon geträumt, vom besseren Leben geträumt, das möglich

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wäre. Das Leben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen, darin ist ein Teil lediglich schale, auch entnervende Flucht, auch Beute für Betrüger, aber ein anderer Teil reizt auf, läßt mit dem schlecht Vorhan­denen sich nicht abfinden, läßt eben nicht entsagen. Dieser andere Teil hat das Hoffen im Kern, und er ist lehrbar. Er kann aus dem ungeregelten Tagtraum wie aus dessen schlauen Mißbrauch herausgeholt werden, ist ohne Dunst aktivierbar. Kein Mensch lebte je ohne Tagträume, es kommt aber darauf an, sie immer weiter zu kennen und dadurch unbetrüglich, hilfreich aufs Rechte gezielt zu halten. … Möchten die Tagträume also wirklich voller werden, das ist, heller, unbeliebiger, bekannter, begriffener und mit dem Lauf der Dinge vermittelter …. Denken heißt Überschreiten.«

Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung15

Die Kommune von Paris erhob sich unter härtesten Bedingungen in den aufrechten Gang. Schritt für Schritt, während vor den Stadtmauern gekämpft wurde, Bomben auf Paris fielen und die Menschen von Lebensmittellieferungen abgeschnitten wurden, während die Bedrohung keine Sekunde schwand, verwirklichte die Kommune in der kurzen Zeit, die ihr blieb, ihre »sozialen und politischen Maßregeln«.

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Es schien, als entlade sich der Traum eines anderen Lebens, entwickelt aus der Kritik an den wirklichen Bedingungen ihrer Existenz im Paris des Jahres 1871, wie eine Explosion. Trotz zum Teil wesentlicher takti­scher und strategischer Differenzen der verschiedenen politischen Strömungen in der Kommune, war den KommunardInnen das Wissen um die notwendigen Veränderungen der Lebens-, Wohn- und Arbeitsver­hältnisse der Menschen gemeinsam. Die Menschen träumten nach vorn, und doch hatte niemand auch nur kurze Zeit die trügerische Gewißheit eines siche­ren Sieges. Sie hatten Hoffnung, sie waren sich ihres Grundanliegens und seiner Legitimität sicher, und sie ergriffen die Chance, die ihnen die geschichtlichen Ereignisse boten. Als der Aufstand ausbrach, brach ein überraschend fertig entwickeltes Konzept einer freien Kommune in Paris, als Kern eines republikani­schen Frankreich, aus den Köpfen. Ihre Utopie nahm so rasch konkrete Gestalt an, daß mensch beim Lesen der Quellen meint, in London die Köpfe von Marx und Engels rauchen zu sehen, als sie alles an Augenzeu­genberichten, Zeitungsartikeln und Einschätzungen, dessen sie habhaft werden können, zusammentragen, um zu bewerten, was in Paris geschieht.

Die Kommune war praktizierte direkte Demokratie. Sie bildete sich aus direkt gewählten Stadträten. Diese waren verpflichtet, ihre Entscheidungen jederzeit zu veröffentlichen und zu rechtfertigen. Und: sie waren jederzeit abwählbar. Die Mehrheit der Stadträte be­

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stand aus Arbeitern oder »anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse« (Marx). Die Polizei verlor sämt­liche politischen Funktionen und wurde auf das Maß eines dem Willen der Kommune selbst unterworfenen Werkzeugs begrenzt. Auch sie war jederzeit absetzbar, wie alle Beamten in allen Zweigen der Verwaltung. Mit der Abschaffung von Privilegien und materiellen Vorteilen verschwanden die »Staatsparasiten«, die hochbezahlten, stets den Herrschenden verpflichte­ten »Staatswürdenträger« wie von selbst. Öffentliche Ämter waren kein Privatbesitz mehr. Ihre ganze Ver­waltung und politische Initiative nahm die Kommune in ihre eigenen Hände. Die Menschen regierten sich selbst, für rund zwei Monate, bis sie von französischen und preußischen Henkern abgeschlachtet wurden. Die Macht der Kirche wurde gebrochen, indem sie vom Staat getrennt, ihrer geraubten Reichtümer enteignet, auf die private Unterstützung der an sie Glaubenden angewiesen wurde. Schulen, Erziehung und Ausbil­dung war für alle kostenlos, die Wissenschaft nicht mehr in der Verfügungsgewalt der Regierung. Weder materieller noch moralischer Zwang preßte Männer und Frauen in eine einzige Lebensform wie die Ehe. Kinder aus nichtehelichen Beziehungen waren den ehelichen gleichgestellt, für das Jahr 1871 eine Unge­heuerlichkeit. Die Kommune sah sich als Modell für die anderen Gemeinden Frankreichs, die alle die ihnen gemäße Form der Selbstregulierung fi nden sollten. Die Kommune von Paris stellte durch ihre pure Existenz

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die zentralistische Konstruktion Frankreichs in Fra­ge, deren Hauptstadt und Regierungssitz sie ja selbst gewesen war. Sie stellte den Staat selbst in Frage und war die erste gelungene proletarische Revolution.

Ich glaube nicht, daß viele Grüne wissen, daß einige der »sozialen und politischen Maßregeln« der Pariser Kommune 109 Jahre später in Abgrenzung zu den per­vertierten Ritualen repräsentativ-parlamentarischer Demokratie »basisdemokratische Prinzipien« genannt werden würden. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß sich die KommunardInnen von Paris hätten vorstellen können, daß die Grünen jene Prinzipien nach wenigen Jahren ohne Not preisgeben würden. Die grünen »Maßregeln« von 1980 hießen Rotation, Diätenbegrenzung, Transparenz von Entscheidungen und prinzipielle Öffentlichkeit von Sitzungen und Ver­sammlungen der Partei und ihrer Gremien, imperati­ves Mandat und die Trennung von Amt und Mandat. Daß sie sehr systematisch Stück für Stück zerschlagen werden, im immer gleichen durchsichtigen Mechanis­mus zwischen Druck von außen und Aufnahme des Drucks von innen, ist kein zufälliges politisches Spiel. Solange eine politische Bewegung oder eine opposi­tionelle Partei in einer kapitalistischen Gesellschaft sich ihrer Berechenbarmachung verweigert und auf grundsätzlicher Konfrontation besteht, trägt sie noch zu viel Sprengstoff in sich, Munition für andere, wirk­lich demokratische Verhältnisse. Solcherlei Hoffnung muß zerstört werden.

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Manche Menschen, die in einer unvergleichlich bes­seren Situation leben als die Pariser KommunardInnen des Jahres 1871, meinen, sie brauchen keine Utopie. Hans Magnus Enzensberger, Prototyp für den Zick­zackkurs vieler Altlinker nach rechts, nimmt Abschied von der Utopie16, die doch nur, behauptet er, ein spezi­fisches Produkt der europäischen Kultur gewesen sei. Ihr »Export« inklusive »bis ins Detail« ausgearbeiteter Gesellschaftsentwürfe »in die entlegensten Teile der Welt« habe »verheerendste Erfolge« gehabt. Es mag sein, daß Enzensberger über sich spricht und daß er zu den Linken gehörte, die sich als Avantgarde für den Rest der Welt begriffen. Aber warum müssen Leute ihre eigenen Fehler anderen an die Brust heften? Sie könnten sich doch einfach mit Anstand in ihr neues gesellschaftliches Milieu verabschieden.

Statt sorgfältig zu trennen, was falsch und was richtig war, zahlt er mit der Denunziation linker Positionen seinen Preis für den Weg zurück in den Mief der bürgerlichen Gesellschaft. Die Behauptung: »Ohne Utopie könne man nicht leben« sei falsch, schreibt Enzensberger. »Tausende von menschlichen Gesellschaften« habe es gegeben, »die ohne Utopien ausgekommen sind«. Das beweise doch, daß Leben ohne sie möglich sei. Wir wollen nicht in Frage stellen, daß Enzensberger ohne Utopie auskommt. Daß er aber dieser ganzen Welt sogleich alle Utopien abspricht, lassen wir ihm nicht durchgehen. Er ignoriert mit einem einzigen Satz die Vielzahl verschiedenartiger

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befreiender Zukunftsvorstellungen in Tausenden von menschlichen Gesellschaften.

Keine Linke in einem kapitalistischen Staat, die noch bei Verstand ist, hat je behauptet, daß ihre spezifische konkrete Utopie die Antwort auf die Probleme der Inkas oder nordafrikanischer NomadInnen oder einer der neuen osteuropäischen Kolonien sein könne. Dar­über hinaus kann ein »bis ins Detail« ausgearbeiteter Gesellschaftsentwurf, einer Gesellschaft von außen und von oben oktroyiert, keine begrüßenswerte Utopie sein. Utopien sind keine Sternschnuppen, sondern Konzept gewordene Träume von Menschen, die nicht so leben wollen, wie sie leben. Damit hat jede Utopie den Kopf vielleicht im Weltall, die Füße aber in den spe­zifischen ethnischen, kulturellen und ökonomischen Verhältnissen der Menschen in einer Gruppe, einer Region oder einem Land. Lassen wir Ernst Bloch auf Enzensberger antworten: »Das ungeheure utopische Vorkommen in der Welt ist explizit fast unerhellt. Von allen Seltsamkeiten des Nichtwissens ist dies eine der auffälligsten«.17

Der Export von Utopien, für Enzensberger gleich­bedeutend mit dogmatischen Gesellschaftsentwürfen, »in die entlegensten Teile der Welt«, gehört »zu den verheerendsten Erfolgen der europäischen Kultur«. Dieser Satz ist es wert, langsam gelesen zu werden. Er wirft den Linken pauschal Kulturimperialismus vor. Tatsächlich gehört zu den »verheerendsten Erfolgen der europäischen Kultur« der Nationalismus und seine

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direkten Verwandten Rassismus, Antisemitismus und Militarismus und – wenn auch auf andere Weise – der repräsentative Parlamentarismus. Ein äußerst traditi­onsreiches und erfolgreiches europäisches Exportgut ist die Kolonialisierung und Versklavung von Ländern der »Dritten Welt«.

Dagegen nun erhoben und erheben sich fortschritt­liche, demokratische oder kommunistische Befrei­ungsbewegungen. Eine nationale Befreiungsbewe­gung, getragen von den ärmsten LandarbeiterInnen, ArbeiterInnen, HandwerkerInnen und Intellektuellen, angeführt von Guerilleros unter Fidel Castro, Che Guevara, Camillo Cienfuegos und anderen, siegte beispielsweise 1959 gegen die mächtige USA, die rei­chen Geschäftsleute, die Großgrundbesitzer und die Mafia. Es ist Castros Verdienst, diese Bewegung und die kubanischen KommunistInnen, die bereit waren, aus ihren dogmatischen Fehlern zu lernen, Anfang der 60er Jahre in ein gemeinsames Bündnis von neuer Qualität geführt zu haben. So wurde es möglich, in einem extrem unterentwickelten Land unter der per­manenten Bedrohung und Blockade durch die USA einen Lebensstandard für alle Menschen zu erreichen, der in Zentralamerika und den meisten Ländern Süda­merikas ohne Beispiel ist. Es geht um den Unterschied zwischen Armut und Elend, zwischen ausreichender, aber einfacher Ernährung, die rationiert werden muß, und dem Hungertod. Zwischen – wenn auch materiell begrenzter – Perspektive und stumpfer Hoffnungslo­

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sigkeit. Für Millionen ein Unterschied um ein ganzes Leben, ihr eigenes.18

»Kuba importierte aus Moskau nicht ein vorgefer­tigtes Modell vertikaler Machtstrukturen, sondern war gezwungen, sich in eine Festung zu verwandeln, um nicht von seinem allmächtigen Feind mit Messer und Gabel zum Frühstück verspeist zu werden. Und trotz dieser Bedingungen brachte das kleine unterent­wickelte Land erstaunliche Heldentaten zustande: Im Moment weist Kuba eine niedrigere Analphabetenrate und weniger Kindersterblichkeit auf als die USA« sagt Eduardo Galeano, ein uruguayischer linker Theoretiker und Schriftsteller19, und fährt fort: »Heute erlebt Kuba Stunden tragischer Einsamkeit. Gefährliche Stunden: Die Invasion von Panama und das Auseinanderbrechen des sogenannten sozialistischen Lagers beeinflussen Kubas innere Entwicklung auf die, wie ich fürchte, schlechteste Art und Weise, denn so wird der Tendenz zu bürokratischer Abriegelung, ideologischer Strenge und gesellschaftlicher Militarisierung Vorschub ge­leistet.«

Kuba hat große Fehler gemacht, und es macht sie noch. Lange Jahre wurden sexuelle Minderheiten unterdrückt, die Freiheit der politischen Opposition eingeschränkt, und sehr spät erlaubte der kubanische Staat eine breite direkte Beteiligung an seinen parla­mentarischen Strukturen. Heute lauern Kubas mäch­tige westeuropäische und US-amerikanische Gegner auf das Scheitern des kleinen Staates. Eine der ersten

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gemeinsamen Handlungen der »wiedervereinigten« deutschen Entwicklungspolitik war die Streichung von Entwicklungshilfe für Kuba. Damit ist die Existenz der unbestreitbaren Erfolge der kubanischen Revolution bedroht. Was immer aus Kuba werden wird, es wird nicht das Resultat der »verheerenden Folgen« des Exports linker dogmatischer Utopien sein, sondern des terroristischen Exports des »bis ins Detail« der Profitscheffelei, der psychologischen Manipulation und der Unterdrückung ausgefeilten Kapitalismus.

Enzensbergers »Abschied von der Utopie«, der sein eigener ist, hat für ihn die »ironische Pointe«, daß drei »zentrale Verheißungen« der Utopie schon längst eingelöst seien. »Daß Absterben des Staates« sei zum Beispiel eingelöst, weil »eine zentrale Instanz«, die den »Gesamtprozeß« steuere, »nicht mehr auszu­machen« sei. Beweis für diese absurde Feststellung sei, daß Regierungen sich mit einem »beschränkten Zeithorizont«, gefesselt in »engen Spielräumen«, bewegten und zudem Bonn, ein Dorf, Hauptstadt sei. Er will nicht zugeben, daß die Herrschaft, die von sei­ten des Staates und des Kapitals ganz kontinuierlich und über wechselnde Regierungszusammensetzungen hinweg ausgeübt wird, fast völlig unberücksichtigt von Wahlen bestehen bleibt.

Sarkastisch denunziert Enzensberger die zweite große Verheißung, den »Internationalismus«, der sei sogar »ironisch erfüllt«, weil sich Kapitalisten und Techniker »aller Länder« vereinigt hätten. Das Funk­

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tionieren seiner ihm heftig gefallenden Beispielorga­nisation, des Weltpostvereins, erfüllt ihn wie auch die Funktionstüchtigkeit der »Internationale des Kapitals« mit Bewunderung. Vor dem Weltmarkt steht er wie Klein-Magnus. Der bleibt ihm anonym, obgleich seine Akteure Namen tragen und seine Strukturen weitge­hend analysiert sind.

Die dritte Verheißung, an die er sich noch erinnern mag, die Gleichheit, ist für ihn »überfl üssig« geworden. Er müht sich, seinen blanken Zynismus mit vermeint­lich objektiven Begründungen auf ein höheres Niveau zu heben. Er gesteht zwar nebenher »die verzweifelte Lage vieler unterentwickelter Nationen« zu, meint aber, es sei nicht nötig, »diese weiter zu beschreiben.« Zwar sei »von faktischer Gleichheit nirgends die Rede«, in den Industriegesellschaften aber habe sich längst eine »parodistische Version dieses Ideals verwirklicht«: Im Stau sind alle Autos gleich. Dieses Beispiel stimmt nicht einmal in sich selbst. Bei Hitze im Stau ist der in der klimaanlagengekühlten Limousine mit Minibar und Au­totelefon allemal besser dran als die, die im Kleinwagen schwitzend der Gedanke an die Stechuhr plagt.

Enzensberger setzt an die große Leerstelle seiner alten Hoffnungen die altbekannte »praktische Ver­nunft« und die überaus originelle Entdeckung, daß es den Menschen um ganz praktische Dinge geht. Um was denn sonst? Wo ist der Widerspruch zur Utopie?

Menschen entwickeln aus ihrer Kritik an ihrem Alltag ihre Vorstellung von einem anderen Leben.

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Woher kommt denn sonst das gemessen an den Macht­verhältnissen »utopische«, so konkrete und mit der Wirklichkeit so hervorragend vermittelte Verlangen nach autofreien Innenstädten, nach konvertierten und dezentralisierten Chemiefabriken, nach anderen herrschaftsfreien Beziehungen und nach sinnvoller selbstbestimmter Arbeit?

Enzensberger verkündet, daß die Demokratie ein »offener, produktiver, riskanter Prozeß ist, der sich selbst (!; d. A.) organisiert«, und wie schön es doch sei, daß unbehelligt vom Einfluß einer nicht näher spezifizierten intellektuellen Elite der Alltag ausgebro­chen sei. Gab es je eine Zeit ohne »Alltag«? Manche Intellektuelle erklären den eigenen Verlust politi­scher Ziele zum kollektiven Problem, analysieren die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr, sondern beschreiben nur noch unsystematisch kaum begriffene Erscheinungen. Bloch sagt: »Es gibt seit Marx keine überhaupt mögliche Wahrheitsforschung und keinen Realismus der Entscheidung mehr, der die subjekti­ven und objektiven Hoffnungs-Inhalte der Welt wird umgehen können; es sei denn bei Strafe der Trivialität oder der Sackgasse.« Auf Enzensberger trifft beides zu, er landet trivial in der Sackgasse.

Konkrete Utopie hat weder die Absicht noch die Wirkung, die je spezifischen Wünsche und Bedürfnisse der Menschen zu ersticken. Konkrete Utopie ist weder ein Einbauschrank noch ein Gedankengefängnis noch eine Bibel. Eine konkrete Utopie, die im Kopf eines

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einzelnen Menschen aus feinen, sehr genauen Mosaik­steinen zu einem präzisen Gemälde zusammengesetzt sein kann, darf in der Verallgemeinerung als konkrete Utopie, einer z. B. Bewegung, nicht mehr sein als ein Skelett aus grundlegenden Prinzipien, die die Größe und ungefähre Gestalt der künftigen Gesellschaft grob skizzieren. Die konkret utopischen Vorstellungen dür­fen nicht gepreßt sein in ein fertiges, abgeschlossenes Modell, sie sind sich ständig wandelndes und weiter­entwickelndes Resultat sozialer Auseinandersetzun­gen, müssen diese vorantreiben und werden zugleich von diesen geformt. Für eine soziale Bewegung, eine Befreiungsbewegung oder eine unterdrückte Klasse, also für die politisch Handelnden füllt sich dann in einer konkreten historischen Phase weiterentwickel­ter Kämpfe in einer Region dieses Skelett schon mit Muskeln und Nerven. Dieser Prozeß ist offen, er ist geprägt durch den Prozeß des Kampfes selbst und die Errichtung einer künftigen Gesellschaft, die selbst ein dynamischer Prozeß ist. »Die Hoffnungslosigkeit ist selber … das Unaushaltbarste, das ganz und gar den menschlichen Bedürfnissen Unerträgliche. Weshalb sogar der Betrug, damit er wirkt, mit schmeichelhaft und verdorben erregter Hoffnung arbeiten muß.«20 In den Tagträumen der Menschen, die auch gesellschaft­liches Produkt sind, liegen die eigentlichen Träume zwischen viel glitzerndem Müll verschüttet. »Das Le­ben aller Menschen ist von Tagträumen durchzogen, darin ist ein Teil lediglich schale, auch entnervende

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Flucht, auch Beute für Betrüger, aber ein anderer Teil reizt auf, läßt mit dem schlecht Vorhandenen sich nicht abfinden, läßt eben nicht entsagen. Dieser andere Teil hat das Hoffen im Kern, und er ist lehrbar.«21 Utopie ist nichts Abgehobenes, nichts vom Alltag der Menschen Losgelöstes. Politische Arbeit bedeutet auch, Wind zu entfachen, damit sich Verkalkungen vom Kern der Träume lösen. Wer die Hoffnungen ganz bestreitet, nimmt den Menschen den Sinn des Lebens, gibt sie der Resignation, den Ersatzwelten wie dem Konsum, wohl der wirkungsvollsten Droge, der vollständigen Perspektivlosigkeit preis. Wer keinen Traum von sei­nem Leben hat, weit über den ablaufenden Tag hinaus, aber wenigstens in einem winzigen Punkt verknüpft mit diesem Leben, wohin soll der oder die gehen?

Hoffnungsbetrüger im Blochschen Sinne sind die Sozialdemokraten. Sie erregen vage Hoffnung, um sogleich den ganzen Traum in ihre taktischen Manöver einzupassen. Kaum haben sie mit spitzem Zeigefinger das Traumgebilde berührt, stutzen sie es auf die Statur von Gartenzwergen. Es liegt nicht daran, daß ihnen kei­ne Perspektiven einfi elen. SozialdemokratInnen wollen keine Utopie, die zur Wirklichkeit drängt. Sie brauchen utopische Versatzstücke für Predigten, Jubiläumsfei­ern und Wahlkampfreden. Eine wirkliche soziale Uto­pie, die immer den Explosivstoff zur Umwälzung der herrschenden Verhältnisse enthält, ließe im direkten Kontrast sozialdemokratische Reformvorschläge so lächerlich klein dastehen, wie sie wirklich sind.

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Ohne soziale Utopie versackt linke Politik, die selbst­verständlich auch für radikale, substantielle Reformen kämpfen muß, im dumpfesten Reformismus, im Her­umdoktern an den Symptomen sozialer Probleme bei gleichzeitiger Beteiligung oder mindestens Duldung des herrschenden politischen Weges, der Ursache derselben Probleme ist. Die konkrete Utopie einer künftigen, besseren Gesellschaft gibt die Kraft für die notwendigen täglichen Auseinandersetzungen. Sie bestimmt die Richtung des Kampfes, das prozeßhafte Ziel und die Qualität eines Schrittes in ihre Richtung. Kleine Schritte mag mensch Reform nennen, fallen objektive und subjektive Bedingungen zusammen, wächst die Voraussetzung für eine Revolution der sozialen Verhältnisse.

Was ist nun das utopische Skelett der Vorstellung einer befreiten Gesellschaft? Was sind die Prinzipien, an denen sich die jeweilige konkrete Utopie messen lassen muß? Marx schrieb 1871 über die Kommune22: »Ihr wahres Geheimnis war dies: Sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich voll­ziehen konnte. Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassung eine Unmöglichkeit und eine Täuschung. Die politische Herrschaft des Produzen­ten23 kann nicht bestehen neben der Verewigung sei­ner gesellschaftlichen Knechtschaft …. Jawohl, meine

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Herren (Großgrundbesitzer und Kapitalisten; d. A.) die Kommune wollte jenes Klasseneigentum abschaffen, das die Arbeit der vielen in den Reichtum der wenigen verwandelt. Sie beabsichtigte die Enteignung der Ent­eigner. Sie wollte das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, jetzt vor allem Mittel zur Knechtung und Ausbeutung der Arbeit, in bloße Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwan­delt. Aber dies ist der Kommunismus, der ›unmögli­che‹ Kommunismus!«

Hier schon sieht mensch, wie anmaßend es von den politisch Verantwortlichen der angeblich sozialisti­schen osteuropäischen Staaten war, sich Kommunisten zu nennen. Produktionsmittel, Erdboden und Kapital befanden sich in den Händen einer herrschenden Elite und nicht in der selbstbestimmten Verfügungsgewalt der Produzierenden. Das utopische Prinzip Selbstbe­stimmung bedeutet das Ende von Fremdbestimmung und Ausbeutung.

Die Forderung nach selbstbestimmtem Leben, zu dem selbstbestimmtes Arbeiten und Produzieren un­auflöslich gehört, entzieht der systematischen Herr­schaft von Menschen über Menschen die Grundlage. Damit kann eine politische Konstruktion, wie sie ein »Staat« darstellt, der die Interessen des Kapitals (auch repressiv) durchsetzt, abfedert und den Überbau liefert, nicht mehr bestehen, allenfalls ein verändertes Gebilde in einer Übergangsphase. Ist der Staat abgebaut und

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regeln die Menschen ihre Angelegenheiten selbst, kön­nen sie dieses unvermittelt in dezentralen Einheiten der Selbstorganisation tun: innerhalb von Gemeinde–, Stadtteil–, Nachbarschafts- oder Arbeitsräten. Räte repräsentieren jedoch die sie Delegierenden nicht über einen langen Zeitraum, sondern rotieren in ihrer Funktion. Sie sind jederzeit abwählbar und treffen ihre Entscheidungen offen. Die einzelnen Einheiten am Wohnort, dem Ort von Ausbildung oder in der Produk­tion sind durch koordinierende Gremien verbunden, für deren Mitglieder dieselben Regeln gelten.

Menschen müssen, wenn sie ihre Angelegenhei­ten selbst regeln sollen, auch dazu fähig sein. Das ist erlernbar. Diese Räte sind dauerhafte und zentrale Organisationsformen der Demokratie und stehen voll­ständig im Gegensatz zu den die authentischen Inter­essen und Bedürfnisse der Menschen verwässernden, wegfilternden und verfälschenden Einrichtungen der repräsentativ-parlamentarischen »Demokratie«.

Selbstbestimmung in der Produktion und Aufhe­bung der Ausbeutung des Menschen meint, daß den Produzierenden der Wert, den sie schaffen, selbst gehört. Es gibt keine Kapitaleigner mehr, die den Mehrwert, den Wert der produzierten Güter über die bezahlte Arbeitszeit hinaus, einsacken, nach Belieben investieren oder auf internationalen Finanzmärkten zinsgünstig anlegen. Selbstbestimmung bedeutet, daß die Produzierenden entscheiden, was und wie produziert wird. In diese Entscheidungen sind die

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KonsumentInnen und die vom konkreten Produkti­onsprozeß Betroffenen einzubeziehen. Betroffen sind zumindest die in der Nähe lebenden und mit den Produktionsanlagen sozial verstrickten Menschen. Das »Wie« der Produktion betrifft die Gesundheit der Arbeitenden, also die konkreten Verfahren in der Produktion, die verwandten Stoffe und Produkte, wie auch die sozialen und ökologischen Bedingungen des Abbaus von Ressourcen und der Verwendung der hergestellten Güter.

Die Befreiung der Arbeit hebt die scharfe Trennung zur »freien Zeit« auf, für die unter der Bedingung von Ausbeutung wie für eine Zuflucht gekämpft werden muß. Arbeit soll selbstbestimmter Kreativität, solida­rischer Kooperation und der Befriedigung wirklicher Bedürfnisse dienen und nicht auf Verschleiß und Verschwendung zielen, wie es die Produktion unter kapitalistischen Bedingungen tut.

Ein weiterer utopischer Anspruch, der nach der Auf­hebung des Patriarchats, der Herrschaft von Männern über Frauen, geht viel weiter als die Beseitigung des Kapitalismus. Patriarchale Strukturen durchziehen alle Teile der Welt, alle Kulturen, alle Lebensbereiche bis in die persönlichsten Beziehungen hinein, subtiler und tiefer als dies selbst kapitalistische Strukturen tun, und sind mit diesen unauflöslich zu einer Herr­schaftsform verschmolzen. Die Unterdrückung von Frauen geschieht politisch und ökonomisch, was nicht notwendigerweise identisch ist oder zusammenhängt.

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Die Existenzbedingungen von Frauen sind im Sinne von Julie Mitchells24 immer das Produkt mehrerer Strukturen, der Produktion, der Reproduktion, der Sexualität und der Sozialisation. Nur durch die Ver­änderung aller 4 Schlüsselbereiche sei, so Mitchells, die Befreiung der Frau möglich. Die Veränderung des Produktionsbereiches soll die Ausgrenzung der Frauen aus ihm aufheben, besonders aber die Zuweisung auf bestimmte Arbeiten. Die Veränderung im Reproduk­tionsbereich setzt die Aufhebung der geschlechtsspe­zifischen Arbeitsteilung zwischen dem sogenannten privaten und dem öffentlichen Sektor – und innerhalb beider selbst – voraus. Die Zerschlagung patriarchaler Herrschaft in der Sozialisation von Kindern betrifft deren Ausbildung außerhalb, aber ganz besonders auch in der Familie. Der Kampf der Frauen um se­xuelle Selbstbestimmung findet gegenwärtig seinen aktuellsten Ausdruck in der Kampagne gegen Gewalt gegen Frauen und vor allem der Auseinandersetzung um den § 218.

Internationalismus ist die schärfste Waffe gegen den Nationalismus. In einem illegalen Flugblatt schreibt Rosa Luxemburg 1916: »Zwei Nationalitäten gibt es in Wirklichkeit in jedem Lande: die der Ausbeuter und die der Ausgebeuteten.« Nationalismus als Vorbedin­gung für Unterdrückung, Rassismus, Kolonialismus und Krieg meint die Höherwertigkeit des nationalen Zusammenhangs, die (Re-)Integration in den Staat, die Unterdrückung autonomistischer Bewegungen

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im Inneren oder von Befreiungsbewegungen, deren Interessen auf die nationalstaatlichen, die verteidigt werden sollen, prallen.

Internationalismus, ein weiterer Anspruch einer künftigen Gesellschaft, ist wesentlich mehr als Anti-Nationalismus. Internationalistische Politik meint eine von jedem Nationalismus befreite antiimperialistische Praxis. Eine sahrauische Widerstandskämpferin in der Befreiungsbewegung Frente Polisario steht mir näher als eine deutsche Rita Süßmuth (CDU), deren Partei die Lieferung von Waffen an das Königreich Marokko, daß die Sahrauis verfolgt, mindestens zuläßt. So sehr ich Kirchen für Maschinen halte, die Tod und Leid über Millionen von Menschen gebracht haben und bringen, der Jesuitenpater und Befreiungstheologe Ignacio El­lacuria aus San Salvador, der die Guerilla unterstützte und deshalb von Regierungsoffi zieren massakriert wurde25, hat meine Solidarität, nicht aber ein bigotter Frauenhasser namens Dyba, der bischöfl iche Glöckner von Fulda. Jeder Amazonasbewohnerin, die um ihr Le­ben und ihre kulturelle Existenz kämpft, fühle ich mich näher als einem Vertreter eines deutschen Konzerns, der für Situationen wie die vorgenannte verantwortlich ist. Wenig verbindet mich mit einem Oskar Lafontaine, dessen Politik unter anderem Eurochauvinismus und europäische »Verteidigungsgemeinschaft«, also Aufrü­stung, bedeutet und der für die Zerschlagung erkämpf­ter Arbeitsrechte durch Vernebelung des öffentlichen Bewußtseins steht. Viel verbindet mich dagegen mit

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verfolgten GewerkschafterInnen in Guatemala oder den Philippinen, auch wenn ich deren Sprache nicht gelernt habe.

»Wir sind ein Volk« ist eine wirkungsvollere und deshalb gefährlichere Demonstrationsparole als eine neofaschistische Parole der NPD. Es gibt viele ehe­malige Linke, die gern glauben wollen, daß sich die Gefahr eines wiedererstarkenden deutschen Nationa­lismus in einem vereinigten Europa schon irgendwie von selbst auflöst. Mensch versucht, gewissermaßen unreflektiert, über die deutsche Supermacht in die europäische Weltmacht zu hüpfen. Innerhalb dieser Weltmacht beansprucht »Deutschland« jetzt schon laut und vernehmlich den Führungsanspruch. Die­ser Führungsanspruch und diese sich in Konkurrenz zu den USA und Japan erfolgreich konstituierende ökonomische und politische Weltmacht bedeuten: verschärfte, noch brutalere imperiale Raubzüge in die »Dritte Welt« und immer wieder Krieg, und sei es am Golf. Der gesamteuropäische »Citoyen«, der gern seine euronationale Ruhe hätte, wird das ignorieren oder später ein bißchen herumheulen, jedenfalls alles versuchen zu tun, was ihm die politische Auseinander­setzung heute vermeiden hilft.

Das Verhältnis zur Natur in einer utopischen Gesell­schaft wird bestimmt sein vom Wissen um die Kom­pliziertheit natürlicher Vorgänge und die Endlichkeit natürlicher Ressourcen auch unter einer rationellen und ökologischen Nutzung. Der Mensch wird sich frei

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gemacht haben von der Ansicht, daß einzelne Teile der Natur ihm ihre Nützlichkeit für ihn selbst nachgewie­sen haben müssen, bevor er ihnen ein Existenzrecht zugesteht. Der Mensch wird dann wissen und danach handeln, daß seine Gesundheit und sein Leben von natürlichen Zusammenhängen abhängt, die er und sie oft nicht im geringsten durchschauen.

Eigentlich ist der häufig verwendete Begriff »Na­turzerstörung« undeutlich. Irgendeine Natur wird es immer geben. Aber sie wird bei voranschreitender Zer­störung, gleichgültig aus welchen Gründen, nicht mehr die Gestalt und spezifische Zusammensetzung haben, daß Menschen, von den sozialen Lebensbedingungen an dieser Stelle einmal abgesehen, in ihr existieren können. Daß die Natur den Menschen nicht braucht – nimmt mensch ihn einmal als Teil der Natur aus seiner Verflechtung mit der Natur heraus –, sondern der Mensch diese bestimmte Natur, diese Erkenntnis ist einer der wenigen Berührungspunkte linker Öko­logInnen mit konservativen UmweltschützerInnen. Diese Übereinstimmung bricht sofort auseinander, wird die Frage gestellt: Wer ist schuld, wer profitiert, und wer ist Opfer an und von dieser Naturzerstörung und: Was sind die Strategien, und wieweit soll die Umwälzung der ökonomischen Verhältnisse greifen, durch die diese Zerstörung angerichtet wird?

Eine zukünftige, utopische Gesellschaft hat das kol­lektive Bewußtsein, daß eine zu große Wachstumsrate der Weltbevölkerung, gemeinhin »Überbevölkerung«

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genannt, nicht etwa Ursache ökologischer Zerstörung, sondern Folge von imperialistischer Herrschaft, von Kulturzerstörung und Armut ist, deren Auswirkun­gen auch ökologische Probleme beeinflußt. Da es in einer künftigen Gesellschaft keine imperialistischen Dritte-Welt-Kriege mehr geben wird, also die Chance für eine gerechte Nutzung des natürlichen Reichtums, wird sich die Zahl der Menschen auf ein für sie selbst und für die spezifische Natur, in der wir leben – und damit wieder für uns selbst –, verträgliche Zahl ein­pendeln. In einer von Ausbeutung, Unterdrückung, Demütigung und Herrschaft befreiten Gesellschaft sind alle Menschen nicht formal (etwa beim Wahlakt), sondern wirklich gleich. Sie sind gleich in ihrem Recht, unterschiedlich zu sein, aber gleiche Möglichkeiten und Freiheiten zu haben. Sie sind nicht mehr gefangen in Fesseln von Herkunft oder Geschlecht. Sie werden nicht mehr gezwungen, sich bestimmten weiblichen oder männlichen Idealtypen anzugleichen, sich ein Leben lang in ein oder zwei Tätigkeiten abzustumpfen, sondern können die Vielfalt des Lebens mit seinen unendlichen Möglichkeiten genießen. Sie sind gleich in ihren sozialen und demokratischen Rechten, auf die gesellschaftliche Entwicklung frei von jeglicher Repression Einfluß zu nehmen. Sie sind gleich in ge­genseitigem Respekt vor kultureller Vielfalt, die nur eine Grenze kennt: Niemand darf von einem anderen unterdrückt oder diskriminiert werden, sei er oder sie gesund oder krank, jung oder alt, andersdenkend oder

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einer anderen ethnischen Gruppe angehörend. In einer solchen Gesellschaft werden Kirchen und andere Sek­ten keine Rolle mehr spielen, weil sie der Freiheit des Menschen und seinem Recht, sein Leben im Diesseits zu verwirklichen, entgegenstehen. Es wird das Recht des Menschen sein, kontroverse Auffassungen in den sozialen Auseinandersetzungen auszutragen.

Soziale Utopien sind zur kollektiven Hoffnung ge­wordenes Leiden am konkreten alltäglichen Leben. Daß etwas »utopisch« sei, im Sinne von weit weg in Raum und Zeit, wird uns vorzugsweise von denen vorgeworfen, die alles tun, damit das so bleibt. Sie bestreiten nicht einmal die theoretische Möglichkeit der Umsetzung des einen oder anderen utopischen Prinzips, sondern stabilisieren die realexistierenden Verhältnisse, weil es ihre Vorstellungskraft überschrei­tet, daß diese jemals abgeschafft werden könnten.

Weder die »große Zusammenbruchskrise« des Ka­pitalismus »noch seine revolutionäre Überwindung« sei zu erwarten, weil er »außerordentlich bestands­fähig und expansiv« und von Zeit zu Zeit in der Lage sei, sein Gesicht radikal zu verändern. »Angesichts dessen und nach dem Scheitern der verschiedenen realsozialistischen Experimente kann heute weniger denn je angegeben werden, wie eine den Kapitalismus überwindende, befreite und emanzipierte Gesellschaft aussehen soll, welcher Weg dahin führt und von wem sie zu erkämpfen wäre«, schreibt Joachim Hirsch26. Ist es nicht vielmehr so, daß wir schon länger wissen,

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daß das mechanische Bild vom automatischen Zu­sammenbrechen des Kapitalismus seinen verdienten Platz im Revolutionsmuseum erhalten sollte, und ist es nicht so, daß wir sehr genau wissen, daß und wie wandlungs- und anpassungsfähig dieser Kapitalismus ist? Wir haben gelernt, daß er grandios mit seinem Repressionsinstrumentarium zu jonglieren vermag: vom blutigen Krieg bis zur zarten Infragestellung einer bürgerlichen Karriere. Das System, in dem wir leben, ist enorm integrationsfähig und saugt in Schüben Teile der Widerstandskultur, die wir aufbauen, auf. Meist genügt die richtige Mischung aus einer Prise Repression und etwas Integration und Sozialprestige, zumindest in den Kapitalmetropolen. Ist unter die­sem Gesichtspunkt das Scheitern der bürokratischen Kommandowirtschaft nicht auch eine Chance? Als Teil derjenigen Linken, die ihre Identität auch in der Auseinandersetzung mit der DDR gebildet haben, fühle ich mich befreit von den unproduktiven Diskussionen, über sinnlose Rechtfertigungen darüber etwa, daß die DDR doch gar keine andere Chance gehabt habe, als zu werden wie sie ist.

Die Sehnsucht der Menschen nach anderen Formen des Lebens und Arbeitens ist lebendig. Manchmal muß mensch nur etwas graben, um das leicht Verschüttete ins Bewußtsein zu bringen. Der Alltag der Menschen im Kapitalismus, ob in den kapitalistischen Metropolen oder in der Peripherie, liefert immer neue Gründe zu seiner Beseitigung. Es ist an der Zeit, über die Verhält­

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nisse einfach nur die Wahrheit zu sagen – Schlimmeres ist ihnen nicht anzutun – und gemeinsam zu überle­gen, mit wem, in welchen Bündnissen und mit wel­chen Kampfmethoden wir in unserem Leben unserer konkreten Utopie eines wilden, freien, solidarischen Lebens näherkommen.

»Konkreter Utopie kommt es … darauf an, den Traum von ihrer Sache, der in der geschichtlichen Bewegung selbst steckt, genau zu verstehen. Es kommt ihr, als einer mit dem Prozeß vermittelten, darauf an, die Formen und Inhalte zu entbinden, die sich im Schoß der gegenwärtigen Gesellschaft bereits entwik­kelt haben.« (Ernst Bloch)27

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Deutschlandreise

Notizen aus einem fremden Land

März 1990, es ist meine erste Reise in ein mir fremdes Land. Bis zum Fall der Mauer hatte ich Einreiseverbot in die DDR. Bei meinen Versuchen, die Grenze zu über­schreiten, wies mich die Vopo immer mit den gleichen Worten zurück: »Ihre Einreise in die DDR ist zur Zeit nicht erwünscht!«

Leipzig, 5. März 1990, morgens: »60 Pfennige – die Bild-Zeitung! 60 Pfennige – die Bi-hi-ild-Zeitung!«. Vor dem Haupteingang des Bahnhofs verkaufen eine Frau und ein Mann an einem einfachen Tisch unter dem Bahnhofsdach das Hetzblatt. Beinahe alle Men­schen, die von beiden Seiten an dem Verkaufsstand vorbeieilen oder stoßweise aus einer Unterführung ge­spuckt werden, halten an, drängeln, strecken ihr Geld für das schrill bedruckte Papier hin. Der Verkaufsstand ist so dicht umlagert, als gäbe es mitten im Winter frische Erdbeeren für eine Mark das Kilo.

Es sind noch 13 Tage bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990. Der kleine Staat ist schon zur Annexion freigegeben. Die Eigner der Bild-Zeitung, die Ende der 60er Jahre ein gesellschaftliches Hetzklima schufen, in dem Linke zum Abschuß freigegeben waren und die damit zumindest moralisch für den Tod von Rudi Dutschke, der aus der DDR kam und später an den Fol­gen eines Attentats starb, verantwortlich sind, wissen,

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auf welch gut vorbereiteten Nährboden sie in diesem Land treffen. Sie riechen gute Geschäfte, ideologische wie materielle.

»Für die Linken hat die Revolution nichts gebracht. Wir sind nicht mehr Leute als vor dem 9. November. Wer vorher was getan hat, tut auch jetzt was«, sagt Mar­tin28 von der Vereinigten Linken in Leipzig. Das Haus der Demokratie, in dem die oppositionellen Gruppen Räume fanden, liegt in der Bernhard-Göring-Straße im Süden Leipzigs, außerhalb der Innenstadt. Es ist in gutem Zustand. Am Eingang sitzt ein Pförtner, der niemanden aufhält, der nur Auskünfte gibt. Ein japani­sches Fernseh-Team will zu den Grünen, Jugendliche zu den Ökolöwen. Das ganze Haus ist voll mit Büros. Das Gebäude sieht aus wie eine Kleinstadtschule: ein Treppenhaus in der Mitte, rechts und links gehen Flure ab mit den Klassenzimmern, rechts in jedem Stockwerk die Frauenklos, links die für Männer. Die Straßen im Viertel sind gerade und breit, wenig Bäume, die Häuser dunkelgrau mit bröckelndem Putz. Dutzende von Häusern stehen leer. Eine Provokation für jede Wohnungssuchende Besetzerin. Martin träumt von einem links-alternativen Viertel, mit Zentren, Cafés, Bibliothek. Nur die BesetzerInnen fehlen. »Allein kann ich doch nicht zwölf Wohnungen besetzen«. 7 Monate später wird mensch seinen Wunsch in Berlin-Fried­richshain in die Tat umsetzen.

Die Leipziger Gruppe der Vereinigten Linken er­wägt ihren Namen zu ändern. Den Versuch zu einer

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Initiative für eine Vereinigte Linke, so der volle Name der Gruppe, sehen sie gescheitert. Viel ließ sich nicht vereinigen. Die Verhandlungen mit dem Bündnis 90, bestehend aus dem Neuen Forum, Demokratie jetzt und der Initiative Frieden und Menschenrechte, schei­terten an den Bürgerrechtsgruppen. Die gaben zu ver­stehen: »Nur zu unseren Bedingungen oder gar nicht«. Das Bündnis 90 hatte außerdem, wie bald darauf auch die westdeutschen Grünen, sich dem Trend der Zeit angepaßt und sich zur prinzipiellen Unterstützung des Wiedervereinigungsprozesses – bei Kritik im Detail -entschlossen. Dies und ihre unkritische positive Be­setzung des Begriffs »Marktwirtschaft« sei der Anlaß für die Trennung gewesen.

Die Initiative für eine Vereinigte Linke führte da­nach einige Wochen lang hoffnungsvoll Gespräche mit der grünen Partei und dem Unabhängigen Frauen­verband. Es gab gute Chancen für ein Wahlbündnis, hätte es da nicht die Einmischung der realpolitischen Grünen aus der Bundesrepublik gegeben. Der grüne Bundestagsabgeordnete und hessische Realo Dietrich Wetzel, der auch für den Bundestag kandidierte, und der Fraktionsangestellte Jürgen Schnappertz schrei­ben am 12. Februar 1990, 5 Wochen vor der letzten DDR-Wahl, in einem Bericht an die grüne Bundestags­fraktion29: »(Es) besteht die Gefahr, daß sich neben dem ›Bündnis 90‹ ein zweites, links-sozialistisches Bündnis herausbildet, das bei dem teilweise marxi­stischen Profil seiner Mitgliedsorganisationen in der

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DDR mit Schimpf und Schande scheitern würde. Das wäre vielleicht nicht weiter schlimm, wenn es nicht stark danach aussähe, daß sich die Grüne Partei daran beteiligte.« Dann müsse mensch sich »ostentativ von diesem Wahlbündnis und damit auch von der Grünen Partei distanzieren und ausschließlich das ›Bündnis 90‹ unterstützen.« Die Unterstützung eines »links-so­zialistischen Wahlbündnisses« wäre »wie ein Bazillus« und schade den Grünen in der Bundesrepublik. Die Einmischung der Bundestagsgrünen in die inneren Angelegenheiten der jungen DDR-Opposition zeitigte realpolitische Früchte. Die Grüne Partei entscheidet auf ihrer republikweiten Gründungsversammlung in Halle/ DDR mit 193 zu 41 Stimmen gegen ein Bündnis mit der Vereinigten Linken.30

Martin von der VL spricht freundlich von den Grü­nen. Er ist nach wie vor an Zusammenarbeit interes­siert. Er findet bloß, daß ihr Verständnis von Ökologie oftmals zu eng an reinem Naturschutz orientiert sei und die Verbindung zu den sozialen Problemen fehle. Seine Hoffnung auf eigene Verankerung in der künf­tigen Volkskammer wird erfüllt werden: »Wißt Ihr, 0,25 Prozent der Stimmen reichen uns, um bei den Wahlen am 18. März einen Kandidaten durchzubrin­gen«. Er hofft auf zwei. Die Vereinigte Linke hatte dann nach den Wahlen, für die kurze letzte Phase der DDR, einen Vertreter, Thomas Klein aus Berlin (Ost), im Parlament. Die Wahlen werden von der herrschen­den Meinung in der Bundesrepublik am Wahlabend

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fast hysterisch als »erste freie Wahlen in der DDR seit 1932« gefeiert werden. Wie »frei« sind Wahlen, in deren Vorfeld die politische Landschaft durch Geld, Beratungspower und Mediengewalt zum Abklatsch der bundesrepublikanischen Parteienlandschaft de­formiert wird?

Wir nähern uns an diesem 5. März 1990 in Leipzig dem Karl-Marx-Platz, dem Ort der allmontäglichen Kundgebung. Es ist kurz nach sechs Uhr abends. Um den Brunnen vor dem Gewandhaus stehen wenige Dutzend junge DemonstrantInnen etwas verloren herum. Bei den Montagsdemos, an denen sich viele ältere Linke aus Furcht, von Rechtsradikalen verdro­schen zu werden, nicht mehr beteiligen, tragen kleine Gruppen von Jugendlichen mutig Transparente und DDR-Fahnen. Das Symbol des DDR-Staates, unter dessen Repressionen sie früher zu leiden hatten, wur­de zum Symbol letzter Autonomie und DDR-Identität gegen die drohende Überwältigung aus dem Westen. Einer trägt die DDR-Fahne trotzig wie eine Weste, er hat sich Armlöcher in den Stoff geschnitten. Ein junges Paar sitzt in der Kälte auf einer Bank, mit zor­nigem Blick auf die Kundgebung, die Knie mit dem Stoffsymbol bedeckt. Auf dem großen Platz stehen weniger als tausend DemonstrantInnen. Sie baden im Scheinwerferlicht und wedeln mit schwarz-rot­goldenen nationalistischen Stofflappen und Fähn­chen, dazwischen immer wieder, neofaschistische Transparente. Auf dem Weg zum Platz und bevor wir

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die Szene identifizieren können, hören wir wütendes, verächtliches Geheul der Zuhörer. Über der johlenden Menge, auf dem schmalen Balkon der Oper, stehen die RednerInnen. Eine Vertreterin des Unabhängigen Frauenverbandes verlangt »Widerstand gegen Gewalt gegen Frauen«. Das Gejohle kippt um in Wutgebrüll der Kundgebungsteilnehmer, zu 90 Prozent Männer, als sie verlangt »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit«. Das trifft offensichtlich den Nerv noch präziser.

Unter dem Balkon, breitbeinig den ganzen Aufgang zum alten Gebäude besetzend, stehen, brüllen, schrei­en, agitieren Neonazis unter bundesdeutscher Leitung, feuern die KundgebungsteilnehmerInnen an, die sich zum größten Teil durch Anstecker und Parolen als DSU-AnhängerInnen ausweisen. Im wandernden Licht mobiler greller Scheinwerfer sehen wir die Gesichter der Neonazis scharf gezeichnet. Viele Junge tragen Transparente und Fahnen. Den Ton, den Rhythmus der Schreie, die Parolen stimmen Ältere an. Den ak­tivsten unter ihnen erkenne ich wieder, er kommt aus der Bundesrepublik, ist kurzgeschoren, breitschultrig, trägt Kampfkluft, Knobelbecher, brüllt herum. Die Scheinwerfer von Sat 1 und anderen Kamerateams stö­ren ihn überhaupt nicht. Rechtsradikale Transparente staffeln sich hintereinander die breite Treppe empor und bilden das »Kopfbild« der Demo. Sie verstopfen den Blick auf den Haupteingang vollständig: »Deutsch­land erwache! Für eine ökologische Wende!« Daneben ein Herz schwarz-rot-gold umrandet mit »Ein Herz

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für Deutschland«. Ein Transparent der NPD (West). Die »Jungen Nationaldemokraten« tragen rot-wei­ße Transparente: »Deutschland erwache!«. Andere: »Nicht SED, nicht SPD, Freiheit statt Sozialismus«. Das erscheint im Kontrast zur offenen Hetze fast harm­los. Aufgeputschte Jugendliche, ununterscheidbar von den Jungfaschisten, wedeln mit der sächsischen Lan­desfahne. Beliebt ist auch: »Stettin, Stettin deutsche Stadt wie Berlin!« Ich lese: »Zerstörte Natur …«. Meine Aufmerksamkeit wird vom Stakkato-Geschrei »Rote raus, Rote raus!« abgelenkt, in den ein großerTeil der Menge einfällt. Ich sehe zurück: »Zerstörte Natur zerstörte Heimat? Wir wollen eine andere Zukunft. NPD«. Harmlos blöde dagegen: »Ein Präsident für alle Deutschen – Richard von Weizäcker«.

Die Rednerinnen auf dem Balkon über der Kundge­bung tun, als seien sie im Fernsehen und nicht wirklich hier. Keine, keiner sagt etwas gegen Neofaschismus. Alle, außer dem Unabhängigen Frauenverband, sind zu feige, die Auseinandersetzung mit der aufgeheizten Menge aufzunehmen oder wenigstens die Kundgebung unter lautem Protest zu verlassen: die Grüne Partei nicht, die Sozialdemokraten nicht, der Demokratische Aufbruch nicht. Die Neonazis haben ein bequemes Fo­rum. Niemand anders als sie bestimmen den Charakter der vorletzten Montagsdemonstration. Eine Woche später, auf der letzten Montagsdemo am 12. März 1990, werden die InitiatorInnen der Leipziger Demon­strationen ihre Montagstradition sentimental feiern.

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Eine Aufarbeitung und eine Auseinandersetzung mit dem längst veränderten Charakter der Kundgebung, mit der Dominanz von DemokratiefeindInnen und FaschistInnen findet nicht statt. An diesem Abend des 5. März 1990 geht, sichtbar wie selten, ein Stück demokratischer Raum verloren.

Opportunistisch, bis auf die unabhängigen Frauen, halten alle auf dem Platz ihre Wahlreden, versuchen das Geschrei unter ihnen zu übertönen. Der Moderator kündigt jede Rednerin, jeden Redner an. Seine Stimme wird gereizter. Einmal sagt er, die PDS habe auf ihren Beitrag verzichtet. Höhnisches Gejohle. Eine Rednerin biedert sich der Menge an: »Ich spreche zu Ihnen als Spitzenkandidatin des Demokratischen Aufbruch, und daß ich eine Frau bin, sehen Sie ja …«. »Hähähä«, johlt es zu ihren Füßen. »Nee, sehe ich gar nicht«, blökt ei­ner. Sie fängt sich ein bißchen Beifall ein, als sie dem Staat die Familie und vor allem die Kinder entreißen will, und ruft: »Mit der Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit muß endlich Schluß sein! Die Frau darf nicht mehr für ihre Wahl für die Familie bestraft werden!« Ein neues Transparent schiebt sich auf die Treppe: »Europäischer Nationalismus ist Fortschritt«. Eine kleine Frau, die Republikaner-Flugblätter verteilt, wird von einem langen NPD-Mann angeschnauzt: »Was soll das? Du weißt doch, daß Ihr hier schlecht angesehen seid. Das machen wir hier!« Schönhuber ist als Antityp via Westfernsehen in die DDR gestrahlt worden, die NPD nicht. Das macht eine Rollenteilung

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zwischen den neofaschistischen Gruppen möglich. Die Republikaner-Frau verzieht sich.

Der Vertreter der CDU (Ost) ruft: »Das ist der Platz, wo nächste Woche unser Bundeskanzler Kohl erwartet wird!« Beifall. Die LDP fordert »Gesunde Nationalparks in Sachsen«, und beliebt macht sich ein anderer Redner mit dem Slogan: »Alle Rechte den Kommunen und nicht den Kommunisten!« und daß »der Platz, auf dem wir hier stehen, bald wieder Augustusplatz heißen muß«, weil August der Starke mehr für Sachsen geleistet habe als Marx und Engels. Ein paar Tage später werben Riesenplakate der CDU, im Westen gedruckt, für die Kundgebung mit Helmut Kohl und laden auf den »Platz vor der Oper« ein, der Marx-Engels-Platz heißt.

Ein Redner höhnt, mensch habe eine Strafanzeige gegen Gysi in Gang gebracht und, mensch stelle sich das einmal vor, das Gericht habe mitgeteilt, »man wisse nicht, wo Herr Gysi wohnt«. Die Reaktion der Menge ist eine körperliche Bedrohung für den PDS-Vorsitzenden. Im Landtagswahlkampf im Oktober 1990 werden PDS-Veranstaltungen in der ehemaligen DDR regelmäßig von Neofaschisten Ost und West auf­gemischt werden. Sie zetteln Schlägereien an, treten Linke mit ihren Stiefeln blutig und krankenhausreif. Ich werde vergeblich in bundesdeutschen Zeitungen nach Berichten über diese Übergriffe suchen. Jungna­zis, die in dieser Nacht vom 5. auf den 6. März lernen, »Rote zu jagen«, skandieren vorzugsweise: »Wir haben

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nur ein Vaterland, nicht wie Willy Brandt«. Seit vor einigen Montagen eine antifaschistische Demonstran­tin zusammengeschlagen wurde und schwerverletzt und blutend auf dem Platz liegenblieb, ist die Zahl der GegendemonstrantInnen sehr klein geworden. Wir erleben, wie gegen Ende der Kundgebung Jagd gemacht wird auf die kleine Gruppe von Jugendlichen am Brunnen. Die fliehen in die naheliegende Mensa. Weil sie heute voller Menschen ist, trauen sich die Rechtsradikalen nicht hinein.

Ich dachte, Antifaschismus sei in der Bundesre­publik beschämend schwach entwickelt, und hoffte, wenigstens darin sei uns die DDR voraus. Ich erinnere mich an keinen größeren Nazi-Aufmarsch unter freiem Himmel, der bei »uns« in den letzten Jahren erfolg­reich und ungehindert stattfinden konnte. An diesem Abend sehen wir mit eigenen Augen, wie der Erfolg, eine Kundgebung unter ihr Joch bekommen zu haben, das Selbstbewußtsein bundesdeutscher Neofaschisten hebt und wie ihre Zöglinge (Ost) die Lektion in sich aufsaugen.

Wir kommen nachts in Dresden an. Die barocke Innenstadt liegt dunkel am Fluß. Wir halten irgendwo in der Altstadt, auf der Suche nach einer Kneipe und einem Telefon. Wir finden an der Ecke eines neuen großen Gebäudes einen Bierkeller und fl iehen vor Eisbein und anderen fetten Deftigkeiten in ein italie­nisches Restaurant um die Ecke in einem Hotel. Eine DDR-Kneipe finden wir nicht. Später stellen wir fest,

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daß beides, der Bierkeller und das italienische Restau­rant, dem gleichen neuen Fünf-Sterne-Hotelkomplex gehört. Im Foyer des Hotels schwirren die Gesprächs­fetzen durcheinander. Wenn mein Gehör das Wirrwarr sortiert, höre ich, daß es fast immer um das gleiche geht: Geschäftsleute (West) bieten ihre hervorragen­den Kenntnisse, Fähigkeiten und Waren mit leicht oder derb herablassendem Ton Geschäftsleuten (Ost) an: »Wir haben unser ganzes Know-how mitgebracht … Da sind wir im Westen konkurrenzlos … Wenn Sie Fortschritte machen wollen, müssen Sie …«.

Diese Nacht verbringen wir bei Menschen, die wir nicht kannten, einem Fotografen und einer Biblio­thekarin, in einer Wohnung in einem schönen alten Haus im Osten Dresdens. Neulich ist der Balkonsims heruntergedonnert. Wir reden die halbe Nacht bei Wein und Tee. Walter und Susanne31 sind sich bewußt, was sie verlieren werden. »Literatur wird nie wieder so wichtig sein, wie sie es für uns war«, sagt Susanne, die Bibliothekarin. »Literatur war auch Publizistik und Soziologie. In vielen Erzählungen der DDR-Literatur sind sehr aktuelle Probleme in Geschichten versteckt, die völlig unpolitisch wirken. Die Menschen warteten richtig auf Bücher, bis sie endlich kamen. Und wer seines ausgelesen hatte, hat es im Freundeskreis verlie­hen, und wir sprachen darüber. Wir haben überhaupt mehr Zeit füreinander als die Menschen in der BRD. Auf mich«, fährt Susanne fort, »machen die Leute in der Bundesrepublik immer einen gehetzten Eindruck,

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sie müssen immer darauf schauen, genug Geld zu verdienen, selbst wenn sie keinen besonderen Luxus wollen.«

Beide konnten gelegentlich in die Bundesrepublik ausreisen und haben dort ein paar Freunde. Aber für den Westen haben sie sich nie sonderlich interessiert. Jahr für Jahr reisten sie in den Osten, meist in die Sowjetunion, stiefelten auf den Hochplateaus von Armenien herum, zelteten auf der Krim, sahen sich Georgien an. Mit Rucksack, Schlafsack und ein bißchen Geld. Ein Visum für ihre wochenlangen Reisen hätten sie nie bekommen, also sind sie mit einem Visum für Bulgarien losgefahren und mit einem Transitvisum für die Sowjetunion. Unterwegs setzten sie sich regelmä­ßig von der Transitstrecke ab und reisten illegal durch die UdSSR. Wären sie von Streifen erwischt worden, von Miliz, Militär oder Grenztruppen, hätte das Knast bedeutet, eine hohe Geldstrafe und sofortige Auslie­ferung. Sie hatten immer Glück, auch weil Susanne sehr gut Russisch spricht. Viele Jugendliche in der DDR haben auf diese Weise wenigstens ein bißchen Abenteuerlust und Neugier befriedigt. In dieser langen Nacht in Dresden erfahren wir viele Geschichten, die uns den anderen Alltag der DDR malen.

Einige Wochen später, im April 1990, dürfen sich in der Zeitschrift Tempo, deren Name Sinn macht, weil bei ihr selten in Ruhe nachgedacht wird, Tempo-AutorInnen über die DDR ausbreiten. Bettina Röhl, Tochter der klugen toten Ulrike Meinhof, schreibt

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dummdreist: »Der Sozialismus … erstickte alles, was lebt. Alles Schöne, jeden Lebenstrieb, jeden Willen, etwas zu schaffen und zu erhalten. Den Glauben an die Individualität, an den Menschen, an Gott und an jede Art von Sinn. Die Menschen in der DDR sehen aus, als seien sie gefoltert worden…«.32

Für Mittwoch, den 7. März 1990, bin ich zu einer Dis­kussionsveranstaltung zur Grünen Partei nach Bernau eingeladen. Etwa 50 Menschen sitzen im ersten Ober­geschoß über der Jugendkneipe im Kreis. Die ganzen nächsten Stunden fühle ich mich an die ersten Jahre der Grünen erinnert. GründerInnenzeit, voller Idealismus, viel Ahnungslosigkeit und Hoffnung. Umweltprobleme gibt es vor Ort genug: Das Naturschutzgebiet Schorf­heide soll mit Hotels und Freizeiteinrichtungen bebaut werden. Eine Fabrik, die Teile für Computer herstellt, vergiftet die Luft. Der alte Stadtpark ist herunterge­kommen. Die Regierung verkauft alles, was ihr gehört, macht heimliche Verträge. Die Grünen haben zu wenig Geld. Kein Geld für eine Zeitung, ihr Büroraum im Haus der Demokratie hat 16 Quadratmeter und soll in Zukunft statt 4 D-Mark 12 D-Mark pro Quadratmeter kosten. Das wäre das Aus. Die Grünen sind engagiert, aber sie merken nicht sofort, daß im Publikum einige Menschen sitzen, die gern angesprochen werden wür­den, ob sie bei einem der Projekte mitmachen wollen. So warten beide Seiten aufeinander.

Neuenhagen, eine großflächige kleine Stadt im Osten Berlins im Bezirk Frankfurt an der Oder.

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Diesmal sitze ich an einem kleinen Tisch im Saal der Kirchengemeinde mit einem Blumentopf auf dem Tisch vor rund 170 Menschen auf Stuhlreihen. Nach meinem Vortrag, in dem ich Argumente gegen die Wiedervereinigung vortrage und über künftige öko­logische und soziale Probleme spreche, meldet sich als erste eine junge Frau zu Wort, die sich fast trotzig als PDS-Mitglied zu erkennen gibt und gelassener wird, als niemand sie ausgrenzt, sondern die anderen freundliches Interesse an ihrer Meinung zeigen. Das Publikum ist gemischt. Mitglieder des Kirchenchors, SchülerInnen, eine Ökobäuerin, LehrerInnen liefern eine lebhafte Diskussion. Das heißeste Thema an diesem Abend ist die Gentechnik und die Frage, ob Wissenschaft und Technik wertfrei sein können. Auf der rumpeligen Rückfahrt im geliehenen Auto neh­men wir einen Korbflechter mit nach Ostberlin. Er sagt: »Vorher hatten wir Druck von oben, alle waren dagegen. Aber alle wußten auch: Ihr Leben lang sind die Preise für wichtige Lebensmittel gleich, die Miete bezahlbar, lauter feste Koordinaten. Nun ist alles weg. Es gibt keinen fixen Punkt mehr«.

11. März: In einem Dorf irgendwo in der DDR lebte eine alte Frau, Herta Ritter. Sie war Kommunistin, in der Gemeinde für ihr soziales Engagement respek­tiert. Jetzt wird sie von früheren SED-Mitläufern angepöbelt. Steine fliegen in ihr Fenster. Sie sagt: »Es war alles umsonst«, und nimmt sich mit Alkohol und Schlaftabletten am 10. Februar das Leben.33

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Wahlnacht, 18. März, ich sitze vor der Glotze. Das ZDF schaltet um 18.46 Uhr ins Haus der Demokra­tie, dort seien die Leute, die »unter Einsatz ihres Lebens« die »Revolution« gemacht haben. 7 Monate später wird das den Sender nicht daran hindern, eine Sendekonzeption für die Beteiligung der politischen Parteien in Wahlkampfsendungen zu beschließen, in der die »Revolutionäre« glatte 2mal einige Minuten vorkommen, während das ZDF wie die ARD, ganz Staatsfernsehen, Kohl und Lafontaine Stunden der Selbstdarstellung einräumen. Um 20.50 Uhr in dieser Wahlnacht im März sitzt die Schauspielerin an der Volksbühne (Berlin-Ost), Steffie Spira, auf Einladung des ZDF vor einer Bar und soll interviewt werden. Als sie ihren Respekt für Hans Modrow (PDS) ausdrückt und von diesem »reizenden, wirklich reizenden Herrn Gysi« spricht und daß doch beide aus der PDS »so eine lebendige Partei gemacht« hätten, wird sie vom Inter­viewer Dieter Kronzucker ruppig unterbrochen. Der murmelt etwas Abfälliges ins Mikro und läßt die alte Frau einfach stehen. Machte er das mit Kohl, bräche wahrscheinlich die Revolution im Bundeskanzleramt aus. Die Grünen sind geknickt, Vera Wollenberger läßt sich als »Mutter der Revolution« vorstellen. Der Neu-Sozialdemokrat Schily meint: »Ein Argument für die Wahl ist das hier«, zeigt stolz eine Banane und fügt jovial an: »Das kann ich verstehen, daß die Menschen auch mal Südfrüchte haben wollen.« In der TV-Bun­destagsrunde nach 22.15 Uhr tritt Ralf Fücks, damals

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Bundesvorstandssprecher der Grünen, auf, Mitglied der Gruppe Aufbruch bei den Grünen. Wieviele Grüne hören wohl an diesem Abend aus seinen Äußerungen für eine gesamtdeutsche Opposition für Ökologie und Bürgerrechte seine Hinweise auf die Absicht seiner Gruppe, die Grünen mit Hilfe eines Teils der Bürger­rechtsbewegung in der DDR zu spalten, heraus?

Ohne dies empirisch überprüft zu haben, habe ich den Eindruck, daß Politiker, die in der Bewertung politischer Ereignisse nicht offen über ihre Interessen sprechen wollen, häufig tief aus einem patriarchalen und sexistischen Pool von Begriffen schöpfen, um ihre Reden etwas aufzupeppen. Für Otto Graf Lambsdorff (FDP) war die DDR im Sommer 1990 die Braut, über deren »zögerliches Ja« er sich ärgerte. Beim Konflikt zwischen der Sowjetunion und Litauen sprach Gor­batschow im gleichen Jahr von »Scheidungsforma­litäten«, Die Tageszeitung titelte am 19. Mai 1990 anläßlich der Unterzeichnung des Staatsvertrages in lateinisch den »Coitus non interruptus« der beiden Deutschländer.34 Auch linke grüne Kritiker einer rosagrünen Koalition reden gelegentlich davon, daß mensch sich mit der SPD nicht in ein »gemeinsames Bett legen« oder »nicht unter eine Decke kriechen« dürfe. Das offenbart ein merkwürdiges Verhältnis zur Sexualität, denn das Beispiel soll doch wohl Mißach­tung bebildern?

In den Buchhandlungen Ost-Berlins kaufen West-Linke in diesen Wochen im Frühjahr 1990 Bücher, für

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die sich in der DDR niemand mehr zu interessieren scheint. Manche Käufer führen sich auf wie der reiche Onkel aus Amerika. Eine ältere Buchhändlerin packt für einen solchen Kunden ärgerlich ein Buchpaket zu­sammen und schweigt. Wir kommen anschließend mit ihr ins Gespräch. Sie will die Wiedervereinigung nicht, und sie sagt: »Wir hätten das auch allein geschafft! Wir hätten die Regierung gestürzt, eine neue Regierung eingesetzt. Wir hätten die Grenzen für alle geöffnet und wären ein eigenes Land geblieben.«

Die Chance ihres Lebens ist vertan. Wie sie denken viele, die an einer Veränderung beteiligt waren, über deren Rahmenbedingungen (die Politik der Sowjetu­nion unter Gorbatschow und die verborgenen und öf­fentlichen Ereignisse von der Öffnung der ungarischen Grenze bis zum plötzlichen Öffnen der Berliner Mauer) andere entschieden und entscheiden werden. In diesen Tagen lerne ich, daß bei aller Kritik am sozialdemokra­tischen Programm und den hierarchischen Strukturen der PDS deren Wahlergebnis mehr ausdrückt als die Zahl politischer SympathisantInnen. Es symbolisiert für viele Menschen einen Rest an authentischer DDR-Identität.

Ein paar Tage später bin ich zu einer Diskussion-veranstaltung in Rostock eingeladen. Versammelt sind Menschen aus allen linken und oppositionellen Gruppen einschließlich der VertreterInnen der Frau­enbewegung. Es gibt eine lange Diskussion über die Geschichte der Linken, Stalinismus und die Zukunft.

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Wir sitzen im Keller eines Jugendzentrums. An die­sem Abend wie in vielen anderen Diskussionen mit Jugendlichen lerne ich, daß es viele kluge, politische Jugendliche gibt, die mit einer wahnsinnigen Wut den Ausverkauf des Landes, in dem sie aufgewachsen sind, beobachten. Ihre Geschichte wird ihnen geklaut, vertraute Straßenschilder abmontiert, ein Teil der El­terngeneration flippt auf westlichen Konsum ab, und viele soziale Beziehungen halten die Veränderungen nicht aus und zerbrechen. Sie wollen von den älteren Linken beharrlich wissen, was sie denn dagegen tun wollen. Deren Antworten befriedigen die jüngeren DiskussionsteilnehmerInnen nicht. In mir wächst die vage Hoffnung, daß in der DDR selbst eine rebellische, widerstandsbereite Generation entstehen könnte, die den Westen von Osten aufmischt. Oder ist das zu idealistisch? Andere Beobachtungen auf meiner Reise geben meiner Hoffnung eher noch Nahrung.

Im Juni des Jahres 1990 besuche ich ein kleines Dorf in Vorpommern. Auf der Fahrt dahin fahren wir lange Zeit auf schmalen Alleen, im Wechsel beidseitig um­säumt von Birken, Ulmen und Weiden. Der kleine Ort besteht aus roten Backsteinhäusern, in der Mitte eine Kirche, neben der zentralen Kreuzung ein bewohntes Storchennest und eine wunderbar verkehrsberuhigen­de schlaglochübersäte Dorfstraße. Wir sprechen mit einer 57jährigen Frau, die hier als Tochter des Försters aufgewachsen ist und die Geschichte des Ortes kennt, das Kriegsende, die Flüchtlingstrecks, die Russen, die

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kamen und alle Kühe nach Rußland trieben oder die dablieben und sich im Schloß einquartierten. Für die Landarbeiter sei es zuerst schwer gewesen, sich an die Selbständigkeit zu gewöhnen, als das Schloßgut in der Bodenreform von 1948 zur LPG umgewandelt worden sei. Das »Volkseigene Gut Tierproduktion« (VEGT) habe jetzt Absatzschwierigkeiten, die Zwischenhändler drük­ken die Waren aus dem Westen rein, die DDR-Waren werden einfach nicht verkauft, und die Verkaufsstellen auf den Dörfern werden die Marktwirtschaft wohl nicht überleben. Wie es weitergeht? Woher soll sie das wissen. Einer der ersten Pläne sei, die Dorfstraße zu asphaltieren und richtige, saubere Bürgersteige anzulegen.

Ein paar Tage später, in Neubrandenburg, erzählt mir Friedrich Heilmann vom Vorstand der Grünen Par­tei35 in Brandenburg eine Geschichte: In Boitzenburg liegt ein Schloß, daß früher einer Familie von Arnim gehört hat und das nach dem Krieg die SED übernahm. Nachdem die Menschen in dem Ort unter den Junkern gewisse Teile des Parks wie eine öffentliche Grünanla­ge hatten benutzen dürfen, machte die SED den Park dicht. Nach langen Auseinandersetzungen und vielen Protesten erlaubte die Partei irgendwann, daß kranke Kinder aus dem Ort einmal in der Woche für 3 Stunden die Sauna im SED-Schloß benutzen dürfen. So trug eine Partei, die sich sozialistisch nannte, dazu bei, die feudale Vergangenheit zu verklären.

In einem Vorort von Berlin berichtet ein Mann von LKW-Fahrern, die gezwungen worden seien – wieso

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lassen sich erwachsene Menschen immer so leicht zu irgend etwas zwingen? –, frisch gebackenes, noch warmes Brot von der Bäckerei oder Brotfabrik zur Schweineverfütterung zu fahren. Blumenkohl sei untergegraben worden und Fleisch, was eine Riesen­sauerei gewesen sei. Die Verkaufsstellen würden von westlichen Zwischenhändlern bestochen oder mit der Behauptung bedroht, wenn sie sich weigern würden, nur noch Westprodukte zu nehmen, würden sie in Zukunft nicht beliefert. Dazu käme, daß viele Konsu­mentInnen sich blind und unkritisch auf Westprodukte stürzten, auch wenn sie viel zu teuer oder schlechter als DDR-Produkte seien. Die Leute hätten kein Selbstbe­wußtsein, und die Bauern wehrten sich viel zu spät. Auf einem Markt stehen zwei Körbe Eier nebeneinander. Ein Korb »West-Eier« für je 1 Mark, »Ost-Eier« für 20 Pfennig. Als die Westeier alle verkauft sind, geht der Standinhaber mit den beiden Körben hinter seinen Wagen und legt die Osteier in den Westeierkorb.

Der »deutsche Sieg« bei der Fußballweltmeister­schaft in Rom im Juli 1990 ist genau das, was dieses besoffene Deutschland noch braucht. Neben Fußball­fans feiern Hooligans, Skinheads und Rechtsradikale in Bielefeld, Dortmund, Köln, Hamburg und Berlin Straßenschlachten. In Köln wird ein Türke fast ge­lyncht. In anderen Städten werden sie »nur« gejagt und zusammengeschlagen. Überall Fahnenmeere, alkoholisierte Chöre, Böllerschüsse. »Deutsch-Land, Deutsch-Land«-Gekreisch und »Sieg-tak-tak-tak,

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Sieg-tak-tak-tak«. Warum nicht gleich »Sieg heil«? In der Taz, die so viel Wert darauf legt, wenigstens in der originellen sprachlichen Verpackung dumpfen in­tellektuellen Mittelmaßes Vorreiter zu sein, leitartikelt Axel Kintziger am 10. Juli: »Auf deutschen Straßen und Plätzen ist wieder was los …. Und die Linke, die sich, weil außerhalb der Parlamente verharrend, seit über zwei Jahrzehnten die Straße angeeignet hatte, ist kon­sterniert … Diese Fragen … verstellen eine wesentliche Erkenntnis: Überwiegend junge Leute nehmen sich in Deutschland etwas heraus, was den freudetrunkenen Massen von Rom oder Buenos Aires niemals übel ge­nommen worden ist. (Es folgen einige »mitreißende« Beispiele aus weiteren Ländern; d. A.) … Die Massen haben sich von dem vereinsamten Besäufnis vor dem heimischen Fernseher verabschiedet, sie ziehen in den öffentlichen Raum und freuen sich kollektiv … Vielleicht vergessen sie dabei Auschwitz. Aber sie be­reiten keine Neuauflage von Auschwitz vor.« Haben die Massen im Faschismus auf der Straße gestanden und KZs verlangt, haben sie Auschwitz in diesem Sinne vorbereitet, oder war es nicht vielmehr so, daß sie duldeten, applaudierten, wegsahen, denunzierten, profitierten und mitmordeten?

Es gibt LeserInnenreaktionen auf diesen Leitarti­kel.36 Die LeserInnenbriefseite der taz hat, wie so oft, die Funktion eines Ventils für die linken LeserInnen. Die SchreiberInnen fragen: »Ist Freude gleich Freude? Worüber freuen sie sich denn? Über einen deutschen

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Sieg. Der Hintergrund der Euphorie ist nichts als chau­vinistische Nationaltümelei.« (Mathias Barkhausen, Bielefeld). »Dadurch, daß es in anderen Ländern auch Nationalismus gibt, wird der deutsche nicht harmloser …. Die Reichskriegsflaggen und die Hitlergrüße haben einfach niemanden gestört, obwohl sie sicher jeder wahrgenommen hat. Aber so war es immer, wenige schlagen zu und viele applaudieren.« (Peter Birke, Frankfurt). Und Thomas Kralovsky aus Berlin-West schreibt: ›»Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste … Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, fortdauern‹« schrieb der Philosoph Adorno vor vielen Jahren …. (der Taz-Autor) ignoriert … daß deutscher Nationalismus, deutsche Überfälle, deutsche Kriegs­erklärungen, deutsches Hegemonialstreben, deutsche Massenvernichtung in deutschen KZs wahrlich auch in alle Zukunft gute Gründe sind, antinationale, an­tideutsche und vaterlandsverräterische Gesinnung und Politik zu betreiben.«

Antje Vollmer predigt am 21. Juni 1990 im Deut­schen Bundestag: »Wer den deutschen Fußballern in diesen Tagen zuschaut, der verliert – wie auch ich – irgendwie die Angst vor den Deutschen. Sie spielen nämlich nicht nur gut und erfolgreich, sie spielen auch irgendwie schön und irgendwie richtig eman­zipatorisch.« Franz Beckenbauer (kein Mitglied des Bundestages) antwortet ihr: »Wir sind die Nummer eins in der Welt. Aber die Auswahl wird noch größer,

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noch kompakter durch die ostdeutschen Spieler. Wir sind über Jahre nicht mehr zu besiegen. Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist so.«37 Es gibt offenbar gegenwärtig keinen »Erfolg« – und das ist der Kern­begriff von Vollmers Rede –, und sei er auch noch so deutschnational und reaktionär, an dem Antje Vollmer nicht auch ein bißchen teilhaben will. Ihre politische Identität rankt sich augenscheinlich nur noch um den sehnlichen Wunsch, endlich von der herrschenden Klasse richtig geliebt und vom »Volk« als Teil der herrschenden Elite anerkannt zu werden. Fast jede ihrer Bundestagsreden ist einzig Anbiederei an die herrschenden Eliten. Ihre zentrale Forderung an dieses Land ist seit Monaten: »Generationswechsel«. Kann ein junger Mann kein Faschist sein und eine alte Frau keine linke Kämpferin? Ihr inhaltsleeres Verlangen nach Ersatz der 65jährigen durch die 40jährigen be­deutet: »Ran an die Machttöpfe!« Es scheint ihr völlig gleichgültig zu sein, wieviel Unterdrückung, Naturzer­störung und Kriegsvorbereitung sie im Herrschafts­apparat »mitzuverantworten« hätte. Antje Vollmer war auch die erste, die im Bundestag »von der neuen Rolle Deutschlands als Weltmacht« sprach und davon, daß die Grünen dieser Weltmacht »das neue geistige Band« zu liefern hätten.38 Einer ihrer Berater, Udo Knapp, schreibt am 11. 8.1990 in der taz, daß eine neue internationale Weltpolizei, unter Beteiligung Deutsch­lands, notfalls auch mit militärischen Mitteln am Golf einschreiten müsse, und ein anderer Vollmer-Berater,

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Bernd Ulrich, empfiehlt in diesem Zusammenhang, endlich aus dem Schatten Hitlers hervorzutreten: »Ir­gendwann aber im Verlauf der letzten 40 Jahre wurde, was human war – nämlich ein ganzes Volk in Haftung zu nehmen – reaktionär.«39 Im Sommer 1990 fi nde ich in einem Artikel von Rainer Trampert40, den Vergleich des Staatsvertrages zwischen der BRD und der DDR mit einem Kolonialvertrag aus dem 19. Jahrhundert: »Am 4. Dezember 1884 trafen sich unter der glühen-den Sonne Afrikas der Sultan Muinin Sagara und Dr. Carl Peters mit ihren Delegationen und schlossen einen Staatsvertrag mit folgendem Wortlaut ab: ›Sul­tan Muinin Sagara und Dr. Carl Peters, als Vertreter der Gesellschaft für deutsche Kolonisation, schließen hierdurch einen ewigen Freundschaftsvertrag. Sultan Muinin Sagara erhält eine Reihe von Geschenken; weitere Geschenke für die Zukunft werden ihm ver­sprochen. Sultan Muinin Sagara tritt das alleinige und ausschließliche Recht völliger und uneingeschränkter privatrechtlicher Nutzung von ganz Usagara an Herrn Dr. Carl Peters ab, ferner alle diejenigen Rechte, wel­che nach dem Begriff des deutschen Staatsrechts den Inbegriff staatlicher Oberhoheit ausmachen.«

Irgendwann im September halte ich die Kopie ei­nes gemeinsamen Antrages der CDU, der SPD und der Grünen im Frankfurter Rathaus in Händen. Für die Grünen hat Brigitte Sellach folgenden Text unter­schrieben: »Tag der deutschen Einheit. Die Stadtver­ordnetenversammlung wolle beschließen: Anläßlich

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des Tages der deutschen Einheit wird am 3. Oktober 1990 die Stadt in der Paulskirche einen Festakt durch­führen, bei dem geeignete Persönlichkeiten aus dem inländischen und ausländischen öffentlichen Leben Gelegenheit gegeben wird, das historische Ereignis zu würdigen.« Einem kleinen Zeitungsbericht ent­nehme ich die Deformation der Köpfe einiger grüner realpolitischer Repräsentanten im Jahr der nationalen Besoffenheit. Ein Foto zeigt zwei grüne Realos in breit grinsender Begeisterung. Die Zeitung schreibt: »›Wir haben doch ein Herz für Deutschlands erklärte Stadt­rat Koenigs und präsentierte mit Grünen-Chef Lutz Sikorski den ›Sekt für die Einheit‹ im Römer.«41 Wie unerträglich bewußtlos können Menschen, die aus der Linken kommen, eigentlich noch sein?

17. Oktober 1990: Was sich auf den Wirtschaftssei­ten verschiedener Tageszeitungen schon einige Zeit ankündigt, wird zur Tatsache. Eine der mächtigsten Kriegsverbrecherorganisationen aller Zeiten, die IG Farben beziehungsweise die als deren Verwalterin des Restvermögens fungierende »IG Farben in Auflö­sung (i. A.)«42 will für ihren Besitz im Osten mit 884 Millionen D-Mark entschädigt werden. Die Firma betrieb ein eigenes KZ bei Auschwitz, in dem 30 000 Menschen starben, in allen Lagern und Betrieben der IG schätzungsweise 45 000. Die Strafen für die Ver­antwortlichen in den Nürnberger Prozessen waren lächerlich gering. Die USA brauchte das ökonomische und politische Bündnis mit der BRD. Nach wenigen

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Jahren waren die meisten IG-Farben-Bosse, von den viele hohe SS-, SA- oder NSDAP-Funktionen innege­habt hatten, wieder in verantwortlichen Positionen: bei Bayer, Hoechst und BASF. Die Auflösungsfirma IG Farben I.A. löste sich nicht auf, sondern existierte weiter und legte nun wieder gewaltig zu. Die Ankün­digung der Ansprüche im Osten ließ den Kurs der unheimlichen Firma in wenigen Tagen um rund 13 Prozent hochschnellen.43

Ich lese Ende Oktober 1990, fast ein Jahr nach dem Fall der Mauer, daß Polizisten in Leipzig auf Rechtsradi­kale geschossen und zwei in die Beine getroffen haben. Diese hatten mit Steinen auf sie geworfen. Mit BRD und DDR stoßen offensichtlich zwei unterschiedliche staatliche Repressionszustände aufeinander. Der eine grobschlächtig brutal, plump in der Überwachung und Verletzung von demokratischen Rechten, der andere vielleicht noch brutaler, aber auf High-Tech-Niveau, modern, subtiler in seinen Methoden und zumindest so raffiniert, daß er seine Repressionsmethoden so handhabt, daß das nackte Gesicht der Repression sich immer nur einem Teil der Gesellschaft zeigt. Ist es nicht wirklich eine Leistung der herrschenden Meinung, die Diskussion über Monate vollständig auf die DDR-Stasi gelenkt zu haben? Forderungen wie die nach Abschaffung demokratiefeindlicher Einrichtungen wie dem Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischen Abschirmdienst (MAD), Verfassungsschutz (VS), dem CIA und etwa der US-Überwachungsorganisation

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NSA kommen in der öffentlichen Diskussion zur Zeit nicht vor. Ungestört kann die NSA z. B. sämtliche Te­lefongespräche in der BRD abhören und mit Hilfe von leistungsstarken Computern politisch auswerten.

Es gab eine richtig gute Nachricht in dieser Zeit. Gleich nach der Öffnung der Mauer im November versammelten sich Brandt, Kohl, Momper und Gen­scher zu einer öffentlichen Danksagung auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin. Als sie nach langen Reden gemeinsam die Nationalhymne an­stimmten, gellte ein Pfeifkonzert um ihre Ohren. In den abendlichen Fernsehnachrichten waren die schrillen Pfiffe geschnitten, sie waren wohl zu laut gewesen, um sie wegzumischen.

Unter dem Deckel der DDR schmorten Untertanen­geist und Fremdenhaß. Beide Eigenschaften passen in die kommende Entwicklung Deutschlands, das seinen Führungsanspruch in der kommenden Weltmacht Europa durchsetzen will. »Dem Volke«, schreibt Rosa Luxemburg, »müssen die Interessen der herrschenden Klasse als seine eigenen Interessen erscheinen, damit es opferbereit und gehorsam in den Krieg zieht.«

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Denn der Mensch ist ein Teil der Natur

Antikapitalismus, Ökologie und die soziale Frage

»Schmeicheln wir uns nicht zu sehr mit unsern menschlichen Erfolgen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben. Die Leute, die in Mesopotamien, Griechen­land, Kleinasien, und anderswo die Wälder ausrotten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Lander leg­ten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordhang des Gebir­ges so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südhang vernutzten, ahnten nicht, daß sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgruben; sie ahnten noch we­niger, daß sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahres das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütendere Flutströme über die Ebene

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ergießen könnten. … Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volks beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht – sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können «

Friedrich Engels 1883

»Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in be­ständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusam­menhängt, hat keinen anderen Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.«

Karl Marx 1844

Mit dem Widerstand gegen das geplante Atomkraft­werk in Wyhl am Kaiserstuhl begann Anfang der 70er Jahre die Anti-AKW-Bewegung in der Bundesrepu­blik und breitete sich von dort in andere Regionen und Länder aus. Im Zentrum vieler politischer Dis­kussionen in dieser Bewegung stand die Frage des

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Verhältnisses von Wissenschaft und Technologie zu den gesellschaftlichen Verhältnissen.

Wir hatten uns nicht nur mit dem Ökologieverständ­nis konservativer und rechter Kräfte auseinanderzu­setzen, die den Menschen außerhalb der Natur sahen und die Natur sogar gegen die Menschen schützen wollten, sondern auch mit einer großen Portion von Technologie- und Fortschrittsgläubigkeit bei sehr vielen Linken.

Die Produktivkräfte, also Technologie und Wis­senschaft, Maschinen, Werkzeuge, der arbeitende Mensch und die Wechselbeziehung zwischen diesen, sind in jeder Hinsicht aufs engste mit den Produkti­onsverhältnissen der gleichen Gesellschaft verbunden. Produktionsverhältnisse bezeichnen die sozialen Ver­hältnisse der Menschen in ihrer Arbeit, einschließlich der Eigentumsverhältnisse, der Arbeitsteilung und der Klassenstruktur. Diese Verhältnisse beeinfl ussen das Bewußtsein der Menschen und somit auch ihre Ideen, beispielsweise in welche Richtung Wissenschaft und Forschung entwickelt werden könnten. Ob ein For­schungsprojekt finanziell gefördert oder unterdrückt wird, ob und wie seine Ergebnisse zu welchem Zweck verwertet werden, ob eine Technologie zum Einsatz kommt und wann, entscheiden diejenigen, die die ökonomische Macht haben. Auch in dieser Hinsicht hängen Wissenschaft und Technologie in vielfältiger, verästelter Weise von den konkreten Bedingungen in einer Gesellschaft ab: ihre Fragestellungen, ihre

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konkrete Ausformung und auch der Umgang mit der Kritik an ihnen.

Technologie und Wissenschaft können also niemals wertfrei sein. Die Vorstellung, mensch könne beide aus den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen herausschneiden und zu sinnvollerem Einsatz einfach in andere gesellschaftliche Verhältnisse überführen, ist eine Illusion. Weil Technologie und Wissenschaft durch die konkrete kapitalistische Produktionsweise für den Zweck der Profitmaximierung entwickelt wurden, der sie geformt und verformt hat, sperren sie sich gegen jegliche humane und ökologische Umformung. Wenn wissenschaftliche und technologische Entwicklungen mit dem indirekten oder direkten Auftrag entwickelt werden, wie sie der Ausbeutung des Menschen und der Natur am effizientesten gerecht werden, dann geht, in unterschiedlicher Ausprägung, dieses Interesse in den Charakter dieser wissenschaftlichen oder technologi­schen Entwicklung mit ein.

Linke, wissenschaftskritische StudentInnen wollten Ende der 60er Jahre wissen, woran WissenschaftlerIn­nen in ihren Universitäten arbeiteten und in wessen Interesse. Sie entlarvten unter anderem Forschung in militärischem Auftrag für den Napalm- und Di­oxinkrieg der USA in Vietnam. In dieser politischen Konfrontation wurde schnell offensichtlich, daß Wis­senschaft und Technik nie wertfrei sein können, daß beide immer, auch in harmloseren Fällen, tief einge­bunden und bestimmt sind von den gesellschaftlichen

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Verhältnissen, den ökonomischen Interessen, den Machtinteressen und den spezifi schen psychologischen Konstellationen. Auch heute übrigens steckt hinter 2/3 der wissenschaftlichen Forschung ein direktes oder indirektes militärisches Interesse. Selbst deutsche Astro- und Atomphysiker bestreiten zum Beispiel, daß mit der bemannten Raumfahrt irgendein wirtschaft­licher oder wissenschaftlicher Nutzen verbunden ist. Die »Haupttriebfeder« bestünde »im politischen und militärischen Wettbewerb der Großmächte«. Die Euro­päische Raumfahrtagentur, deren Mitglied die BRD ist, plant Großprojekte, die 30 Milliarden D-Mark kosten sollen, davon wird die BRD 8 Milliarden plus anteilige Betriebskosten zahlen. Eine gewaltige Kostenexplosion ist absehbar.44

Was den Menschen nutzt, war nie die zentrale ob­jektive Forschungsfrage, sondern womit am besten Karriere und Geschäfte zu machen sind. Erst wurden uns die Risiken der Produktion von Millionen von chemischen Verbindungen aufgezwungen, deren viel­fältige Wirkungen und Wechselwirkungen (Synergis­mus) die Natur geschädigt haben. Zugleich reichern sich auch radioaktive Isotope in unseren Körpern an, denen es gleichgültig ist, ob diese aus Atomwaffenver­suchen oder aus sogenannten zivilen Atomanlangen stammen. Dieselben Kapitalfraktionen, die uns mit Chlorchemie und Atomenergie quälen, bieten nun die Gentechnologie an, das sich selbst explosionsartig vermehrende Risiko. Sie werben für diese Technologie

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als Reparaturverheißung für Schäden, die sie selbst zuvor angerichtet haben. Profit verspricht also die Schädigung und die (unzulängliche) Reparatur.

Daß die rechten Kräfte, CDU, CSU und FDP, in unterschiedlicher Weise fortschrittgläubig sind und jede Technik und Wissenschaft fördern, die Gewinne steigern, gleichgültig gegenüber den Folgen für Mensch und Natur, beweist sich immer wieder. Hier geht es nur um die linken TechnokratInnen, für die theoretisch der Mensch im Mittelpunkt ihrer Politik steht. Für Tech­nokratInnen, sozialdemokratischer und marxistisch­leninistischer Herkunft, ob SPD, KPdSU oder SED, war die hemmungslose Freisetzung der Produktivkräfte Grundlage jedes Fortschreitens der menschlichen Entwicklung. Die schrankenlose Entfaltung dieser Produktivkräfte, also des arbeitenden Menschen und der Wissenschaft und Technik, sollte den Fortschritt bringen, ohne den gesellschaftliche Weiterentwicklung nicht möglich sei. Der Mensch habe den Auftrag, sich die Natur zu unterwerfen, ist der Natur außenstehend, ihr fremd, und er wird ihr, und damit sich selbst, zum Feind. Wer diese Freisetzung bekämpft, bekämpft in ihren Augen den Fortschritt, der die Grundlage jeder sozialen Entwicklung sei.

Natürliche Ressourcen sind für sie nichts weiter als Produktionsmittel wie Maschinen oder Werkzeuge. Je besser der Mensch die Natur ausbeutet, je mehr er ihr entreißt, an Produktivitätssteigerung abzwingt, in sie verfällt oder sie manipuliert, desto vielversprechender

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leuchtet den UmwelttechnokratInnen am Horizont das Niveau der sozialen Entwicklung. Über die unüberseh­baren sozialen und ökologischen Folgeschäden setzen sie sich mit der Hoffnung hinweg, der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie sei immanent, daß sie die passenden Reparaturtechniken zur Beseitigung oder Milderung der Schäden gleich mitentwickeln würden.

Für die Natur war es jahrhundertelang ziemlich gleichgültig, ob sie im Namen eines christlichen Gottes, eines Königs oder Zaren oder im Namen von Stalin ausgeplündert und vergiftet wurde. Erst der Kapitalis­mus hat Ausbeutung und Vernichtung auf eine neue, destruktive Stufe gehoben. Gehen wir einen kurzen Schritt zurück in der Geschichte, in die Zeit Stalins.

Hitze und Dürre in den südlichen mittelasiatischen sowjetischen Republiken dienten in den 40er Jahren als Rechtfertigung für groß dimensionierte Pläne zum technischen Umbau der Natur. Stauseen so groß wie Binnenmeere sollten Städte und Wälder, Dörfer und Täler und sogar Erdöl- und Erdgasfelder unter sich be­graben. Selbst die sibirische Eisenbahn hätte weichen müssen. Flüsse sollten rückwärts fl ießen: Unendliche Wassermassen aus sibirischen Flüssen sollten mit aller Gewalt vom sibirischen und europäischen Norden in den trockenen Süden der mittelasiatischen Republiken umgeleitet werden. Vor ihren Augen sahen die Planer Ozeandampfer von der Karasee im arktischen Ozean quer durch Rußland hinunter zum Kaspischen Meer im

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Süden und über Tausende von Kilometern nach Osten zum Baikalsee fahren. Der Plan hätte nach heutigem Stand einhundert bis zweihundert Milliarden Rubel gekostet. Er wurde nicht verwirklicht. Seine Logik aber spukt in den Köpfen der meisten sowjetischen WissenschaftlerInnen und bestimmt ihr Verhältnis zur Natur bis zum heutigen Tag. Stalin stand ganz in der Tradition des Zaren: Wissenschaftler der zaristischen russischen Gesellschaft fabrizierten 1868 einen Plan zur Umleitung von Flüssen, um den Spiegel des großen Kaspischen Meeres um volle 70 Meter zu heben. Dieser Plan scheiterte daran, daß mensch glaubte, ihn nicht realisieren zu können.

Seit Mitte der 50er Jahre gibt es in der Sowjetuni­on ernsthafte Pläne zur großräumigen Umleitung der nördlichen Flüsse in den Süden des Vielvölkerstaates. Gletscher sollten geschmolzen, neue Flußläufe mit Atombomben (!) aus der Erde gesprengt werden, einige Versuche hierfür wurden bereits durchgeführt. Die Verdunstung des Wassers wollte mensch mit Herbizi­den einschränken.45 Auch die neueren Flußumleitungs­pläne bedeuten, daß Land unter Wasser verschwindet, Ressourcen absaufen, viele Menschen umgesiedelt werden, daß Fauna und Flora sich verändern oder sterben, Stauseen verschlammen, Flußwasserspiegel sinken und mit ihnen das Grundwasser. Entgegen einer verbreiteten Annahme sind diese Projekte der gewaltigen Manipulation eines großen Teiles des europäischen und asiatischen Kontinents nicht etwa

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eingestellt worden. Die sowjetische Regierung und das Politbüro haben die Pläne nur aus fi nanziellen Gründen und weil die Kritik bekannter Umweltwissenschaftle­rInnen zu laut wurde, vorläufig gestoppt. Es herrscht unverändert die alte raubbeuterische Mentalität der vollständigen Unterwerfung der Natur in den Köpfen der herrschenden Elite.

Das Zimmer des kommissarischen Wasserwirt­schaftsministers der Sowjetunion, Polad Poladsade, schmückte noch 1989 eine riesige farbige Karte mit sämtlichen Flußumleitungsplänen. Er gibt zu, daß der Rückzug der Umleitungspläne nur ein taktischer ist. Er und sein Apparat hoffen auf sozialen Druck aus den trockenen Regionen, wo Bodenerosionen fruchtbares Land rauben und sich die Wüste ausbreitet. Dieser Druck soll die UmweltschützerInnen in die Defensive treiben, die heute mit ihren Befürchtungen über die ökologischen Folgen von Flußumleitungen Einfl uß auf die öffentliche Meinung im politischen Zentrum des Landes, in Moskau, haben.

Die Erkenntnis, daß es einen Punkt gibt, an dem die Entwicklung der Produktivkräfte umschlägt und diese zu Destruktivkräften werden, wie beispielsweise im Fall der Atomenergie oder der Gentechnik, bleibt den Abergläubigen des Fortschritts verschlossen. Boris Jelzin war während der Atomkatastrophe von Tscher­nobyl 1986 KPdSU-Stadtparteichef in Moskau. Wenige Tage nach dem Ereignis besuchte er die Bundesre­publik. In einem Interview mit dem Stern46 sagte er:

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»Vielleicht ist ja nur ein Mensch an dem Unfall schuld, dann brauchen wir kein neues System. Wir müssen nur den derartigen Einfluß einer einzigen Person auf das gesamte System ausschließen. Nach der Klärung der Ursachen müssen vielleicht einige Normen überprüft werden, aber die grundsätzlichen Technologien werden beibehalten werden.«

Alle bundesdeutschen Atomanlagen zusammen ge­ben im Jahr im ungestörten Normalbetrieb Dutzende von Billionen Becquerel radioaktive Strahlung an die Umwelt ab. Diese radioaktive Niedrigstrahlung, das heißt der Teil der Alphastrahlung, dringt über die Um­weltmedien Luft, Wasser und Boden in den Körper des Menschen und reichert sich dort an. Die radioaktive Durchschnittsbelastung der Erde durch Atombomben und Atomkraftwerke liegt inzwischen in krebserregen­den Höhen. Und diese Grenzwerte waren schon damals zu hoch. Noch vor allen anderen Argumenten ist das der unaufhaltsamen radioaktiven Verseuchung durch diese Technik allein tragend für eine grundsätzliche Ablehnung der Atomenergie.

Es gibt keine sichere Technik und schon gar keine si­chere Atomtechnik. Daraus schlußfolgern fortschritts­gläubige AntiökologInnen: »Ganz zweifellos werden mit neuen und komplizierten Technologien … nicht nur neue Möglichkeiten der Produktion, sondern auch neue Risiken hervorgebracht. Das gilt nicht nur für Kernkraftwerke, sondern auch für fossile Kraftwerke, alle Arten von Industrieanlagen und die Verkehrsmit­

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tel.«47 Nicht das Atomkapital wird hier zitiert, sondern die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), die Ex-Jugendorganisation der DKP.

Auch Vertreter des bundesdeutschen Atomka­pitals argumentieren gern mit den Gefahren des Autoverkehrs. Dessen unbestrittene Gefahren (Ver­kehrsunfälle, Unwirtlichkeit der Städte, Versiegelung der Landschaft, Lärm, Umweltvergiftung und Kli­maschäden) sollen offensichtlich eine Technologie rechtfertigen, deren radioaktive Substanzen sich im menschlichen Körper anreichern, mit Folgen wie Krebs, Immunschwäche und genetische Schäden. Atomtechnologie ist eine Technologie, deren radio­aktive Abfälle die Erde für Zehntausende von Jahren bedrohen. Plutonium von der Menge einer Apfelsine reicht, die ganze Menschheit umzubringen. Keine Technologie ist sicher, aber es muß unterschieden wer­den zwischen einer Technologie, die die Grundlagen des Lebens auf der ganzen Erde bedroht, einer Technik mit globaler Vernichtungskraft und den relativen Ri­siken mit rückholbaren Schäden anderer Techniken. Radikalökologische Politik bedeutet: alle Atomanla­gen sofort stillegen, unter welchen gesellschaftlichen Verhältnissen sie auch gebaut wurden, und zugleich den Kampf für ein umweltfreundliches und soziales Verkehrssystem führen.48

SPD-Positionen unterschieden sich nicht wesent­lich von DKP-Positionen zu Technik und Fortschritt. Die DKP verkündete 1978: »Die Atomenergie ist, das

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ist … unbestritten, ein wesentlicher Bestandteil des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in unserer Epoche. Der Bonner Parteitag der DKP hat dies prin­zipiell in einer Entschließung festgehalten: ›Die DKP ist für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Sie ist deshalb für die friedliche Nutzung der Kernen­ergien« Dieses Denken findet sich heute in Teilen der PDS wieder.49

Kein linker Umwelttechnokrat kann sich auf Marx oder Engels berufen. Ihre ökologischen Ansätze wur­den vom Sozialdemokratismus wie vom Marxismus-Leninismus und vom Stalinismus gleichermaßen mit Füßen getreten: »… und jeder Fortschritt ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit … zu­gleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit …. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter«.50

Eine wirklich sozialistische Gesellschaft müßte ei­nen Umgang mit der Natur suchen, der den Menschen nicht von der Natur trennt, der nicht ihre vollständige Unterwerfung, sondern ihre schonende Nutzung will und in der Menschen als Teil dieser Natur begriffen werden. Daß die Länder Osteuropas und die Sowjetu­nion ihre Chance zu einer eigenständigen Entwicklung

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von Wissenschaft und Technologie nie genutzt haben, ist aus Sicht der ökologischen Linken eine Tragödie.

Die DKP war mit ihrer antiökologischen Fort­schrittsgläubigkeit nicht allein. Den ökologischen Linken, die die WinzerInnen und BäuerInnen am Kaiserstuhl in ihrem Kampf gegen das Atomkraftwerk Wyhl unterstützten, schlug von technokratischen linken Strömungen ein Schwall von Vorwürfen ins Gesicht. Das Sozialistische Büro, der KBW und die KPDIAO schüttelten den Kopf über soviel »kleinbür­gerliche Technikfeindlichkeit«. Atomstrom sollte doch die ungehemmte Produktivkraftsteigerung bringen, die Voraussetzung für jeden sozialen Fortschritt. Das einzige Problem schien zu sein: Wie kommt mensch an die Verfügungsgewalt über diese machtvolle Technik? Das »revolutionäre Subjekt« hatte der Arbeiter zu sein, was hatten Hausfrauen, BäuerInnen, StudentInnen, LehrerInnen an vorderster Front zu suchen? War der Kampf nicht schon deshalb kleinbürgerlich?

Mehr als 20 Jahre früher konnte, vielleicht abge­sehen von mit der Atomenergie befaßten Fachleuten, kaum ein normal informierter Mensch wissen, welche Gefahren diese Energieform in sich barg. Auch Ernst Bloch hatte 1959 prinzipiell falsche Hoffnungen: »… so schafft die Atomenergie, in anderer Maschinerie als der der Bombe, in der blauen Atmosphäre des Friedens, aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige hun­dert Pfund Uranium und Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu lassen,

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Sibirien und Nordkanada, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu verwandeln. Sie würden ausreichen, um der Menschheit die Energie, die sonst in Millionen von Arbeitsstunden gewonnen werden mußte, in schmalen Büchsen, höchstkonzentriert, zum Gebrauch fertig darzubieten.«51

Allen voran betrieben die USA ihre Atomwaffen­entwicklung und zündeten am 16. Juli 1945 die erste Atombombe in der Wüste von Nevada. Seitdem fanden weltweit 1800 Atombombentests statt, die meisten zündeten die USA. Das US-Energieministerium gibt derzeit – ohne Golfkrieg – 60 Prozent seines Etats für die Entwicklung und Produktion von Atomwaffen aus, das sind 200 Millionen US-Dollar täglich. Die UdSSR zündete ihre Testbomben unter anderem in Nowaja Semlja und Kasachstan. Beide, USA und UdSSR, mißbrauchten Soldaten und Zivilbevölkerung als le­bende Versuchskaninchen. Im Oktober 1989 kamen die gesundheitlichen Folgen für die Menschen, die auf der Tschutschenhalbinsel gegenüber Nowaja Semlja leben, ans Licht der Öffentlichkeit: Speiseröhrenkrebs, Leberkrebs, Binde- und Knochengewebsgeschwulste, ein zerstörtes Immunsystem, so daß 100 Prozent der Menschen an Tuberkulose leiden. In der Barentsee lauern horrende Mengen an Atommüll und ein ganzer versenkter geschmolzener Atomreaktor des Atomeis­brechers Lenin.

Die Opfer der US-Tests waren Soldaten und An­wohnerInnen. Sie wurden als Versuchskaninchen in

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die strahlenden Tests geschickt. In den 70er Jahren machte der Film »Paul Jacobs und die Atombande« sie weltweit bekannt. Die Zahlen der Opfer der so­wjetischen Tests in der zentralasiatischen Republik Kasachstan drangen erst 1989 an die Öffentlichkeit. Die sowjetische Medizinprofessorin Mayra

Dschangelowa berichtete Ende 1990, daß im Test­gebiet von Semipalatinsk durch 300 Atombombenex­plosionen in 40 Jahren 500 000 Menschen zu Schaden gekommen seien. Durch den weltweiten radioaktiven Fallout aus US- und UdSSR-Atombombentests wurden mehr als 1 Million Menschen geschädigt, schätzte An­drej Sacharow. Seit dem 19. Oktober 1989 gibt es auf kasachischem Boden keine Atombombenexplosionen mehr. Eine breite Bewegung hat sich – vorerst – durch­gesetzt und will nun mit einer Verfassungsänderung in der Republik die Herstellung und Erprobung von Mas­senvernichtungsmitteln auf alle Zeiten untersagen. Im November 1990 zündete die UdSSR, nach einjährigem Moratorium, ihre nächste Atombombe auf der Nord­meerinsel Nowaja Semlja, wenige hundert Kilometer von der norwegischen Grenze entfernt. Die Menschen vor Ort, die sich zu organisieren beginnen, haben es nicht verhindern können.52 Die USA, Frankreich und China weigern sich, einen endgültigen Atomteststopp zu unterzeichnen.

Daß die falsche Hoffnung Atomenergie in weiten Teilen der Bevölkerung, bei vielen Linken wie bei Bür­gerlichen, aufgebrochen werden konnte, ist der Sach­

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kenntnis vieler engagierter Menschen zu verdanken und harten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die die Verschleierung über die wirklichen Interessen an der Atomenergie aufhob. Die Anti-AKW-Bewe­gung war erfolgreich, weil subjektive und objektive Bedingungen zeitweilig zusammenfielen. Von mehr als 90 geplanten Atomkraftwerken konnten fast 70 verhindert werden. Auf der subjektiven Seite war die Bereitschaft vieler Menschen über Jahre hinweg groß, sich mit radikalen, militanten, aufklärerischen und phantasievollen Kämpfen gegen diese kriminelle Ener­gieform zu wehren, und auf der anderen, der objektiven Seite, verloren mit der Zeit, bedingt auch durch den Widerstand, falsche Energieprognosen an Boden (der notwendige Energiebedarf war um ein vielfaches zu hoch berechnet worden), die Kosten wurden zu hoch, unter anderem, weil das Öl billiger zu haben war, als nach der sogenannten Ölkrise in den 70er Jahren an­genommen worden war.

Wir dachten, verstärkt durch die Atomkatastrophe von Tschernobyl (die Folgen des Atomunfalls in Har­risburg/ USA blieben weitgehend verheimlicht, genau wie die Bedeutung von Tausenden von sogenannten Störfällen in aller Welt weitgehend verborgen sind und unterschätzt werden), daß wir die Atommafi a schon weit in der Defensive hätten. Jetzt haben wir völlig unerwartet ein neues Problem: Zur hellen Freude des Atomkapitals wurden die Ost-AKWs in der öffentlichen Meinung zur vergleichsweise viel größeren Gefahr

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gemacht. »Unsere« Atomkraftwerke, plötzlich waren es wieder »unsere«, werden von Computern gesteuert und sind High-Tech, viel moderner als der Atom­schrott in der Ex-DDR, oder nicht? Die Verdummung der öffentlichen Meinung ist der Nährboden für eine neue Offensive der lebensfeindlichen Atomindustrie. Fatal, paradox, aber nicht ganz unerwartet ist, daß wir in unserem Widerstand von einer Seite geschwächt werden, von der wir Unterstützung erhalten müßten. Die Umweltgruppen aus der DDR und viele Linke, auch in der PDS und auch die ehemalige SED-Opposition, sind noch tief in der alten Fortschrittsgläubigkeit ge­fangen. Mangelnde inhaltliche Auseinandersetzung mit der stofflichen Seite der Atomenergie läßt diese für einige, die nur die Umweltzerstörung durch den Braunkohleabbau sehen, zur vermeintlichen Alterna­tive werden.

»Schaut euch den Osten an!« sagten viele im We­sten im Jahr der Annexion der DDR nach ihren ersten neugierigen Besuchen, »da ist doch wirklich alles viel schlimmer!« In einigen Regionen: russige, fast schwar­ze Häuser, anthrazitfarbene Flüsse, chronisch husten-de Kinder. Einfache sinnliche Wahrnehmungen, wie Sehen, Riechen, Hören, fegten so manche Erkenntnis über die ökologischen Verhältnisse im Westen hinweg. Was mensch roch, war plötzlich mehr wert als was mensch bislang wußte. Der Ost-Ruß ließ in einigen Köpfen die West-Chlorkohlenwasserstoffe einfach verschwinden, und Ost-Schwermetalle vernebelten all

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die Erkenntnisse über die westliche radioaktive Nied­rigstrahlung. Abgesehen davon, daß sich vergleichbare schwarze und rußig-verdreckte Zustände auch in der Bundesrepublik finden lassen, dort wo Kohle abgebaut oder in großer Menge Metall verarbeitet wird, gibt es Unterschiede im Stand der Technik zwischen West und Ost, aber nicht in der Entwicklungslogik. Gifte, die Menschen und Natur krank machen, sind es hier wie dort. Sie gegeneinander auszuspielen ist kriminell.

Der Unterschied ist wesentlich einer des unter­schiedlichen Standes derselben Entwicklungslogik. Es gab keine eigenständige sozialistische Entwicklung von Produktion, Technik, Wissenschaft und deshalb natürlich auch keinen im Wesen anderen Umgang mit der Natur. Wir finden sowohl in der DDR als auch in der Sowjet-Union in der Produktion die Kopien des ka­pitalistischen Entwicklungsmodells. Jeder wirtschaft-lichen Planung, jedem 5-Jahresplan in der DDR oder der Sowjetunion lag der politische Wille zugrunde, die kapitalistischen Staaten in ihrer eigenen Entwicklungs­logik zu überholen. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik in den nicht-kapitalistischen Ländern stand unter dem Dogma: »Was die sozialistischen Län­der tun, dient dem Weltfrieden und der Menschheit, ist deshalb gut und grundsätzlich nicht kritisch zu hin­terfragen«. Diese vollständig unkritische Einstellung zur Entwicklung der Produktivkräfte Wissenschaft und Technologie finden wir als herrschende Religion in den meisten Ländem der »Dritten Welt« wieder. Denn

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dorthin wurden häufig die »Kopien« der Kopien aus den nicht-kapitalistischen Staaten exportiert.

»Wir können mit Sicherheit sagen, daß dieses Atomkraftwerk sicherer sein wird als irgendeines der Atomkraftwerke in den Vereinigten Staaten … (es wird) mit absolut sicherer Technologie gebaut (sein) … und darüberhinaus wird es mit hochqualifiziertem wissenschaftlichen und technischen Personal ausge­rüstet«, sagte Fidel Castro in einer Rede im Juli 1986 über das erste der 3 geplanten kubanischen Atom­kraftwerke bei Cienfuegos, das sich 1990 noch im Bau befindet. »Sollen wir zurück zu den Affen?« fragt uns Manuel Limonta, der Direktor des Gentechnischen Zentrums 1987 in Havanna als Antwort auf unsere Kritik an der Gentechnik. Ein Jahr später stritten wir mit einer Gruppe von Ärzten des Nationalen Institu­tes für Endokrinologie in Havanna über den Transfer von Embryonen von und in Körper von Frauen. Auf unseren Versuch, an die besondere wissenschaftliche Verantwortung von SozialistInnen zu appellieren, die unter Umständen doch auch bedeuten müsse, eine bestimmte technologische Entwicklungsrichtung ganz und gar abzulehnen, erhielten wir kopfschüttelnd die geradezu klassische Antwort: »Kuba ist ein sozialisti­sches Land. Was wir machen, können wir jederzeit verantworten, und wir machen alles, was technisch und wissenschaftlich möglich ist«.

Kuba ließ viele WissenschaftlerInnen und Technike­rInnen in der DDR und in der Sowjetunion ausbilden.

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Neben dem Erlernen von Fertigkeiten und Faktenwis­sen bedeutet dies auch die Übernahme von traditionel­len technologischen Pfaden, von harten Technologien, die unter den Konkurrenzbedingungen eines kapitali­stischen Weltmarktes entwickelt und gebaut wurden. Kuba hatte die Wahl zwischen zwei Alternativen: Ent­weder die teuren Kredite aus dem Westen, dann hätten sich die Probleme des Landes durch die Rückzahlung flexibler steigender Zinsen dramatisch verschlechtert wie schon in anderen zentral- und südamerikanischen Ländern. Oder mensch nahm die billigeren Kredite aus der Sowjetunion und der DDR und damit eine größere Abhängigkeit von deren technologischer Entwicklung in Kauf. So landen die Kopien der Kopien des kapitali­stischen Entwicklungsmodells überall in der Welt.

Sozialdemokratische Programme tragen Namen wie »Ökologische Modernisierung der Industrie­gesellschaft« oder »Fortschritt 90«. Diese Namen sollen die Hoffnung wecken, daß sich ökologische Politik in schönster Harmonie mit kapitalistischen Produktionsverhältnissen befindet und daß diese nicht grundsätzlich verändert werden müssen. Sozi­aldemokratische Politik setzt in ihrer (Regierungs-) Praxis auf ungehemmtes Wachstum, und zugleich machen sozialdemokratische ParteistrategInnen den Versuch, Parteibasis und WählerInnen zu befrieden, indem sie ein Bio-Etikett auf eine Dioxin-Tonne kle­ben und vorgeben, dadurch habe sich deren Inhalt verändert. Die SPD befindet sich in allen zentralen

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Fragen mit den Interessen des Kapitals im Einklang, was gelegentliche Auseinandersetzungen, die der Pro­filierung gegenüber den WählerInnen dienen, nicht ausschließt. In keiner einzigen zentralen Frage der kapitalistischen Produktion befindet sich die SPD im grundsätzlichen Widerspruch zu Kapitalinteressen, nicht bei der Atomenergie, nicht bei der Gentechnik, nicht bei der chemischen oder Metallproduktion und -Verarbeitung, nicht bei der Frage der Ausbeutung der arbeitenden Menschen. Die SPD ist eine Partei des ungehemmten Wachstums und damit verantwortlich für die Fortführung der Zerstörung der Natur und des Menschen.

Die Sozialdemokraten vertraten bereits historisch die gleiche mechanische Entwicklungslogik. Auch für Kautsky, einer der marxistischen Theoretiker des Zen­trums der SPD, war die ungebrochene Entfaltung der Produktivkräfte das Größte. Aus seiner eindimensio­nalen Interpretation des Marxismus entwickelte sich die sozialdemokratische Traditionslinie einer zunächst unkritischen Herangehensweise an Wissenschaft und Technik. Die kapitalistische Entwicklung von Wissen­schaft und Technologie wurde in ihrer Ausformung als Grundlage, als mitnahmefähig in den Sozialismus, angesehen. Zu dieser letztlich technokratischen Auffas­sung von wissenschaftlicher und technologischer Ent­wicklung gesellte sich später eine ähnliche Betrachtung des bürgerlichen Staates. Nicht mehr Zerschlagung, sondern die Übernahme der Staatsstrukturen sollte ein

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evolutionäres Hineinwachsen des Kapitalismus in den Sozialismus ermöglichen. Damit floh die Sozialdemo­kratie aus der Notwendigkeit, beides zu bekämpfen, den bürgerlichen Staat und die der Profi tgier unter­worfene Wissenschaft und Technologie.

Die neuere Auseinandersetzung über Technikent­wicklung und Naturzerstörung, beginnend etwa An­fang der 70er Jahre, wurde in der Hauptsache von konservativen NaturschützerInnen angestoßen. Linke ökologische Analysen wie etwa in Veröffentlichun­gen von Murray Bookchin in den USA in den 50er Jahren wurden nicht zur Kenntnis genommen.53 Die sogenannten Wertkonservativen beschränkten sich auf die Beschreibung der Erscheinungsformen von Naturvernichtung und einigen ihrer Auswirkungen. Sie analysierten weder die gesellschaftlichen noch die ökonomischen Ursachen von Naturvernichtung. Ihre Lösungsvorstellungen enthielten die Drohung, daß die Natur im Notfall gegen den Menschen geschützt werden müsse. Manchmal wurden die Menschen wie ein Krebsgeschwür beschrieben, das aus der Welt her­ausgeschnitten werden muß.

Da die sozialen Verhältnisse sie nicht interessie­ren, wurden in ihren Augen die Menschen insgesamt, gewissermaßen »wir alle«, in gleicher Weise die für die Umweltzerstörung Verantwortlichen. Der Täter, der heimlich beim Ölwechsel Altöl auf den Boden schüttete, schien genauso schuldig zu sein wie ein leitender Manager, der ganz der Produktionslogik

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seines Konzerns verpflichtet, täglich tonnenweise Chlorkohlenwasserstoffe in einen Fluß kippen ließ. Es schien, als ebnete die Umweltproblematik die sozialen Klassenstrukturen ein. Bis heute existiert auch der Mythos, der einer einfachen sachlichen Überprüfung nicht standhält, daß »wir alle« in gleicher Weise von der Umweltvergiftung betroffen seien. Aber es gibt wesentliche Unterschiede in den Lebens-, Wohn-und Arbeitsverhältnissen der Menschen, die es den einen ermöglichen, der Umweltverseuchung mehr zu entfliehen als andere. Es ist ein Unterschied um viele Lebensjahre, ob eine Arbeiterin bei der Hoechst AG arbeitet, nicht genug Geld für hochwertige, biologisch angebaute Lebensmittel und eine »gesunde« Lebens­führung hat, am Arbeitsplatz Giftstoffen ausgesetzt ist, in der Nähe des Chemiebetriebs wohnt und so deren Giften ein zweites und drittes Mal ausgeliefert ist und einmal im Jahr Urlaub macht oder ob der Manager derselben Firma eine Villa in Kronberg hat, hervorra­gende Möglichkeiten bezahlen kann, sich gesund zu ernähren und seine Gesundheit zu pfl egen, mehrmals im Jahr Urlaub macht und eine viel weniger gefährliche und weniger fremdbestimmte, nicht so verschleißende, monotone Arbeit macht. Auch innerhalb der Grünen gibt es den Versuch, die Verträglichkeit kapitalisti­scher Produktionsverhältnisse mit ökologischer Politik vorzutäuschen. Die Gruppe, die dies besonders heftig betreibt, ist der sogenannte »Aufbruch« um die frühere Bundestagsabgeordnete Antje Vollmer und den ehe­

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maligen Bundesvorstandssprecher Fücks. Aber auch Joschka Fischer hat für die Realoströmung eine Ver­söhnung von Ökologie und Kapitalismus zu begründen versucht. Vollmer und Fücks, wie auch auffallend viele andere aus ihrer Gruppe, gehörten früher denjenigen linken dogmatischen Gruppen an, für die die Ökolo­giebewegung kleinbürgerlich und fortschrittsfeindlich war. Die Gruppe Aufbruch versucht mit der Begriff­lichkeit »Primat der Ökologie« dreierlei. Erstens, zu unterstellen, es gäbe eine Unklarheit über den Vorrang der Ökologie vor der Ökonomie innerhalb der Grünen. Zweitens geht es darum, den Eindruck zu erwecken, daß man, entgegen der tatsächlichen Praxis, selbst für eine radikale ökologische Position stehe. Das Ziel ist es, in dieser Frage Hegemonie zu erringen. Drittens ist das Primatenargument nichts als ein innerpartei­licher Kampfbegriff mit dem Ziel, die linken Grünen zu vertreiben, weil diese es sind, die offen sagen, daß ökologische Politik nur als antikapitalistische Politik möglich ist. Da Mensch und Natur eng zusammenhän­gen, der Mensch auch Teil der Natur ist, müssen auch ökologische und soziale Politik miteinander verbunden sein. Ökologische Politik, die die sozialen Verhältnisse überhaupt nicht oder nur oberfl ächlich berücksichtigt, wird reaktionär.

BiologistInnen legen biologische Abläufe wie Folien auf soziales Leben. Weil aber der Mensch ein soziales Wesen ist, ein »Ensemble gesellschaftlicher Verhält­nisse« (Marx), taugt diese Folie nicht, um die sozialen

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Verhältnisse, in denen Menschen leben, zu verstehen. Für die Überwindung entwürdigender Lebensverhält­nisse hatten BiologistInnen noch nie einen klugen Rat. Für reaktionäre Handlungsanweisungen taugt das von ihnen gelieferte »Übertragungsmaterial« um so besser. Die Natur außer dem Menschen kennt kein Selbstbestimmungsrecht. Beim Streit um das Recht von Frauen, selbst zu entscheiden, wann und ob sie ein Kind bekommen wollen, führt das manchmal zu skurrilen Vergleichen der Gegner dieses Selbstbe­stimmungsrechts. Wer jede Kaulquappe im Tümpel schütze, dürfe doch nicht »ungeborenes Leben er­morden«. Aus einem angenommenen unbedingten Lebensrecht von Kaulquappen wird der scheinbar ökologisch begründete soziale Zwang zum Gebären abgeleitet.

Ein Embryo wächst nicht im Tümpel, sondern als vollständig abhängiges biologisches Wesen im Körper eines lebenden Menschen, einer Frau. Eine Abtreibung ist die Beseitigung der Möglichkeit einer »personalen Existenz«. Sie tötet keinen Menschen, sondern besei­tigt »die Voraussetzung seiner noch in der Zukunft liegenden Existenz«54. Dieses mögliche Leben hat kein Eigenrecht, daß von anderen im Namen des Embryos gegen die Frau durchgesetzt werden kann. Es existiert kein selbständiges Recht einer Lebensmöglichkeit, schon gar keines, welches das soziale Selbstbestim­mungsrecht eines tatsächlich existierenden Lebens bricht.

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Ob und wann Leben vor der Geburt beginnt, wird in jeder Kultur anders gesehen. Die Frage ist »gar nicht so einfach«, meinte Erich Fromm und schlug vor, auf eine genaue Festlegung zu verzichten und das Ganze als Prozeß zu betrachten. Die Frage der Abtreibung, also die Entscheidung auch über biologische Abläufe, ist also auch aus diesem Grund eine soziale Entscheidung, die nur individuell und selbstverantwortlich von der betroffenen Frau selbst gefällt werden kann.

Die Zeitschrift Natur veröffentlichte Ende 1988 ein Interview, das Bernd Lötsch und Hubert Wein­zierl (Vorsitzender des BUND) mit Konrad Lorenz gemacht hatten. In diesem Interview erklärte Lorenz, daß er – wegen der Überbevölkerung – eine »gewisse Sympathie« für Aids habe. Er nannte Menschen in der »Dritten Welt« »Gangster«, die sich »sorglos« weiter reproduzierten, und bezeichnete Kinder, die in der Stadt aufwachsen, als »nachwachsende Stadttrottel«, weil ihnen die Schönheit der Natur verschlossen bliebe. Lorenz war im Faschismus für die Biologie das, was Leni Riefenstahl für den faschistischen Film war: die populistisch-blendende bürgerliche Fassade. Lorenz’ Funktion im Dritten Reich war es, rassistischer Ideo­logie eine wissenschaftliche Verkleidung zu verpassen. Und trotzdem erklärte er kurz vor seinem Tod völlig unbeeindruckt: Ich hatte schon immer Ehrfurcht vor dem Leben. Beinahe das schlimmste an jenem In­terview aber war, daß die beiden Interviewer, aktive Funktionäre der Naturschutzbewegung, an keiner

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Stelle Empörung zeigen, nicht ein einziges Mal wider­sprachen. Es war, als ob sie in Ehrfurcht erschauern, daß der berühmte alte Mann ihnen ein Interview gibt. Dafür lassen sie ihm menschenfeindlichen Rassismus durchgehen, und sie sind selbst verantwortlich für den Eindruck, daß sie seiner biologistischen Ideologie möglicherweise nahestehen.

Hätten viele sozial engagierte Menschen nur etwas weniger Ehrfurcht vor den Kenntnissen von Naturwis­senschaftlerInnen und fände statt dessen eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Naturwissenschaften statt, gelänge es BiologistInnen und den ihnen ver­wandten ÖkofaschistInnen nicht mehr so leicht, einer Gesellschaft die eigene Ideologie als Naturgesetzlich­keit zu verkaufen. Und weil dies gelingt, erscheinen die Naturwissenschaften, aber mehr noch die Ökologie, vielen eindimensionalen Linken wie die ansteckende Ausgeburt des Teufels. Aber faschistische Theorien können sich nicht auf naturwissenschaftliche oder ökologische Erkenntnisse stützen, sondern allenfalls auf politische Interpretationen dieser Erkenntnisse.

Neben dem Typus der UmwelttechnokratInnen und den BiologistInnen gibt es noch den Typus der »individuellen ÖkoimperialistInnen« und die Öko-SpießerInnen. Unter »ÖkoimperialistInnen«, verstehe ich aus den reichen westeuropäischen Ländern oder den USA kommende NaturschützerInnen, die in einem »Dritte-Welt«-Land ein Stück Amazonas oder Man­grovenwald kaufen. Sie enteignen es den Menschen

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des Landes, denen es gehört, für einen angeblich übergeordneten Zweck, den des Schutzes der Natur unter völliger Mißachtung der sozialen Verhältnisse, die diese Menschen zwingen, u. a. Wald zu roden, um zu überleben. Ein Schutz der Natur, der mit Geld oder Gewalt diktatorisch gegen die Menschen durchgesetzt werden muß, bleibt in doppelter Hinsicht wirkungslos: Herrschaft und Produktionsweise, also die Quellen der Zerstörung, bleiben unverändert. Die Menschen werden nicht in die soziale Lage versetzt, überhaupt zwischen ihrem Überleben des jeweils nächsten Tages und den langfristigen Auswirkungen des Brandrodens des Waldes zu unterscheiden.

Der Weltmarkt setzt die Bedingungen, auf deren Basis sich das Kapital, auch das nationale Kapital der »Dritten Welt«, miteinander austauscht, und dieser Weltmarkt ist ein kapitalistischer. Die Ausein­andersetzung mit den Ursachen der Zerstörung der ökologischen Grundlagen sozialen Lebens in Ost und West ist also immer eine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus in seinen unterschiedlichen Erschei­nungsformen.

ÖkospießerInnen organisieren ihren Alltag streng nach Umweltgesichtspunkten. Sie kennen alle Bezugs­quellen für gesunde Nahrungsmittel und die Zusam­mensetzung von Seife und Zahnpasta. Sie sammeln Müll getrennt nach 3 bis 5 Fraktionen. Sie sind vollauf damit beschäftigt, ihr eigenes kleines Leben in der Wohngemeinschaft oder Kleinfamilie in die richtigen

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Bahnen zu lenken. Für die Befriedigung internationa­listischer Verantwortung genügt der Einkauf im Drit­te-Welt-Laden. Sie versuchen Tag für Tag ihre eigene kleine private Öko-Nische zu vergrößern und stoßen andauernd auf die objektiven Rahmenbedingungen, die ihren Alltag bestimmen und gegen die zu kämpfen sie aufgehört oder nie angefangen haben.

Selbstverständlich ist das Private politisch. Natür­lich erweist sich eine radikale Position auch darin, daß sie ihre konsequente Umsetzung im Alltag erfährt, in den sozialen Beziehungen der Menschen untereinan­der wie im umweltbewußten Verhalten. So sehr sich wirkliche Radikalität auch im Alltag beweisen muß, wandelt sie sich in unpolitisches Verhalten, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausgeblendet werden. Menschen werden bei der Herstellung von Gütern am Arbeitsplatz in Chemieanlagen oder in der Computerherstellung vergiftet, für die künstlich geschaffenen Konsumbedürfnisse der reichen Länder wird in Ländern der »Dritten Welt« mit Enteignung, Pestizideinsatz und Monokulturen der Hungertod verursacht. Für andere Konsumgüter wird vielleicht irgendwo gerade eine Tierart ausgerottet, und für die billige Konservierung von Lebensmitteln werden diese radioaktiv bestrahlt. Das alles läßt sich nicht innerhalb des engen vorhandenen Rahmens bekämpfen. Wer den Rahmen nicht sprengt, das heißt die Produktionsweise und die Herrschaftsverhältnisse, hat keine Perspektive für die Überwindung der Zerstörung.

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Auf dem Land leben viele Menschen, die ihren Ar­beitsplatz wegen der Streckenstillegungen der Bundes­bahn nicht anders erreichen können als mit dem Auto. Hat nun ein umweltbewußter Freiberufler, der sich auf die wenigen Busabfahrtszeiten einrichten kann, oder ein Städter, dem Straßenbahn und Fahrrad die Über­windung der Entfernung zum Arbeitsplatz möglich machen, das Recht zu verlangen, daß diese Menschen das Auto abschaffen und den Arbeitsplatz aus ökolo­gischen Gründen aufzugeben, möglicherweise um den Preis sozialen Elends? Es kann nicht die persönliche Verantwortung eines einzelnen sein, durch freiwillige Erwerbslosigkeit Umweltschutz zu praktizieren. Das wiederum kann keine Ausrede für Leute sein, die in der Stadt leben oder an guten Bahnstrecken und ihr Auto längst hätten verkaufen können. Und für alle gilt, daß mensch für ein umweltfreundliches und soziales Verkehrssystem kämpfen sollte.

Das Umweltprognoseinstitut Heidelberg (UPI) hat berechnet, daß sich 1989 die ökologischen und sozialen Kosten der Umweltbelastung auf 474,4 Milliarden D-Mark beliefen, ein Fünftel des Sozialproduktes. Die Summe der Ökoschäden ist damit höher als der Wert aller BRD-Waren der Autoindustrie, der Energiewirt­schaft, der chemischen Industrie, des Baugewerbes und der Landwirtschaft. Die Forscher berechneten »nur die absolute Untergrenze der tatsächlichen Kosten«. Zudem fehlen noch die Folgekosten der weltweiten Atomanlagen und Atombombentests, der Meeresver­

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giftung, des Treibhauseffektes und des Ozonloches, sowie Krankheiten durch Lärm und Abgase aus Müll­verbrennungsanlagen usw.55

Allein um die Entwicklung zu bremsen und neue Schäden zu vermeiden und damit das Leben für Mil­lionen von Menschen nur erträglicher zu machen, müßte die kapitalistische Produktion in ihrer Logik grundsätzlich geändert werden. Wer die Lage der Na­tur sieht, kann sich nicht auf die Logik des Freikaufs der Konzerne einlassen, die Wasser, Boden und Luft vernichten dürfen, wenn sie nur genug Geld in die öffentlichen Töpfe zahlen. Abgabenpolitik oder Öko­steuer ist Ablaß. Wer reich ist, darf sich mehr Natur zur Vergiftung kaufen, ein Stück Atmosphäre, einen Wald, etwas Erdboden, vielleicht einen Fluß.

UmwelttechnokratInnen, »ÖkoimperialistInnen« und ÖkospießerInnen glauben an die Zauberkräfte des »Marktes«. Sie verkünden die sogenannte »Ökologi­sche Marktwirtschaft«. Ökologische Marktwirtschaft meint, daß ökologische Politik die real existierende kapitalistische »Markt«-Wirtschaft – denn eine andere gibt es nicht – als gegeben annimmt und daß Politik diese Systemgrenze nicht überschreiten darf. Die MarktwirtschaftlerInnen erklären umweltpolitische Fehler mit fehlenden Marktmechanismen und mit der fehlenden Bepreisung der Natur. Sie behaupten, der entstehende Kostendruck würde zugunsten der natürlichen Umwelt wirken. Dabei eröffnet das den verwertenden Zugriff auf die letzten unzerstörten Na­

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turregionen für diejenigen, die die Zerstörung bezahlen können.

Durch die Verwendung eines die Wirklichkeit ver­schleiernden Begriffes ändert sich die Wirklichkeit nicht. Das Konzept der »ökologischen Marktwirtschaft« verändert nicht die Klassenstruktur der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, um die es in Wirklichkeit geht. Ein interessenneutraler Markt existiert nicht. Im Kapitalismus wird mit dem Ziel gewirtschaftet, Profit zu maximieren. Andere Interessen, ökologische und soziale, sind immer nachrangig. Die herrschende Wirtschaftsweise interessiert sich nicht für die Zukunft. Der Kapitalismus bedeutet Verschwendungsund Ver­schleiß Wirtschaft, ist rücksichtslos, raubplündernd und mörderisch. Der »Markt« hat keine Effizienz. Er geht von Ungleichheit und Ungerechtigkeit aus und verstärkt sie. Der Kapitalismus habe gesiegt, behaup­ten die, die von ihm profitieren, im Jahr 1990, dem Jahr der ökonomischen Eroberung des Ostens und des neuen Beginns für ökonomische und manchmal auch militärische Feldzüge in alle Welt. Daß es nicht die kleinste Rechtfertigung für ihren Triumph gibt, daß der Kapitalismus vielmehr, messen wir ihn an den Bedürfnissen der Menschen und dem Schutz der Natur, im weltweiten Maßstab gescheitert ist, zeigt schon der Blick auf die ökologischen und sozialen Verhältnisse in den kapitalistischen Zentren selbst.

Die Natur ist in wichtigen Teilen längst zerstört. Die Grundwasserreserven sind, da wo es noch welche

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gibt, meist vergiftet, die Luft um die Erde herum ist verseucht mit chemischen Giften und mit Radioakti­vität in krebsratensteigernder Dosis. Der Wald stirbt, Böden liegen ausgelaugt, erodiert und zu Müllkippen heruntergedüngt und ernähren die Menschen nicht mehr. Natürliche Wüsten gefährden das Klima erst, seit sie sich menschengemacht zu Wüstenbändern über Kontinente zusammenschließen und alle Kreis­läufe reißen lassen. Wer die Natur retten will, muß insbesondere das multinationale Kapital stoppen und die Menschen, die unverschuldet und für das eigene Überleben die Natur plündern, in die soziale Lage versetzen, überhaupt zwischen Alternativen des Über­lebens entscheiden zu können.

Die Bundesrepublik und die USA haben zwei Din­ge gemein. Armut breitet sich aus, und die Mehrheit der Menschen, die in diesen beiden Ländern leben, nimmt dies kaum wahr. Arm sein heißt nicht bloß, zu wenig Geld für Konsum zu haben. Armut umfaßt auch Krankheit, zerstörte soziale Beziehungen, schlechte Ausbildung (einschließlich Analphabetentum) und ungesunde Wohnverhältnisse.

Nur etwa die Hälfte aller ArbeiterInnen – und ein Drittel aller Angestellten – erreicht das Rentenalter gesund. Die anderen sind kaputt, ausgelaugt, fertig für den Rest ihres Lebens, invalide oder tot. Vorher haben sie oft Jahrzehnte in Jobs verbracht, die ihnen ihre Kraft und ihre Kreativität raubten und sie an jedem Tag in Monotonie, Stumpfsinn, Sinnlosigkeit

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und Entfremdung zwangen. Die arbeitenden Men­schen in der Bundesrepublik leiden zum Beispiel unter Leistungs- und Zeitdruck, Lärm, körperlich schwerer Arbeit, Entfremdung und Bevormundung. Rund 50 Prozent aller Krebs»fälle« entfallen auf die 20 Prozent der Weltbevölkerung in den kapitalistischen Zentren. Neben Radioaktivität, chemischen Giften aus Industrie und Auto- und Flugverkehr, psychischen Faktoren und Streß, Rauchen usw. weisen inzwischen zahlreiche Studien auch auf die krebserregende Wirkung von elektromagnetischen Strahlen. Elektrosmog erhöht z. B. das Leukämierisiko für Kinder in der Umgebung von Stromtrassen um das Doppelte, für ArbeiterInnen in der Elektro-Industrie um 40 Prozent.56

Wie lange ein Mensch lebt, hängt von seinen sozi­alen Verhältnissen, vom Grad der Vergiftung seiner Umwelt und von seiner allgemeinen Zufriedenheit mit seinem Leben ab. Die Lebenserwartung in der Bundesrepublik sinkt. Die zu erwartende Lebensdauer eines angelernten Hilfsarbeiters beträgt etwa 54 Jahre, die eines Kapitalisten oder Beamten durchschnittlich 20 Jahre mehr. Etwa jedes dritte Kind, das heute geboren wird, wird im Lauf seines Lebens an Krebs erkranken und sterben. Millionen von Menschen in der Bundesrepublik leben in dreckiger, giftiger Luft, trinken chemisch verseuchtes Wasser oder arbeiten an ge-sundheitsgefährdenden Arbeitsplätzen.

Die offiziellen Arbeitslosenzahlen sind falsch. Es gibt in der heutigen BRD schätzungsweise 8 Millionen

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Arbeitslose, einschließlich der ehemaligen DDR. In den offiziellen Zahlen fehlen zum Beispiel die Jugendlichen, die noch nie eine Arbeit hatten und die Frauen, die die Suche aufgegeben haben und sich in Ehe und Familie zurückzogen. Wer arbeitslos ist, kann aus dem »Lei­stungsbezug« herausfallen, wenn er oder sie nicht die richtige Einstellung zum Arbeitsmarkt unter Beweis stellt: allzeit »mobil« genug, jeden beschissenen Job in jedem Teil des Landes anzunehmen. Ämter zwingen Menschen für Jobs, die nur Monate sicher sind, über Hunderte von Kilometern umzuziehen, fort von dem, was sie gerade jetzt besonders brauchen: die gewohnte Umgebung und tragfähige soziale Beziehungen. Das DIW schätzt, daß 1991 in der ehemaligen DDR 1,42 Millionen Arbeitslose (16,4 Prozent) und 1,1 Millionen KurzarbeiterInnen (12,5 Prozent) dazu kommen, wobei KurzarbeiterInnen nichts anderes sind als verkappte Arbeitslose.

Der DGB veröffentlichte, daß die Unternehmerge­winne von 1982 bis 1990 um 108 Prozent stiegen, die durchschnittliche Nettolohnsteigerung im gleichen Zeitraum hingegen nur 10 Prozent betrug. »Nach Ab­zug der jeweiligen jährlichen Preissteigerungen von der Nettolohnentwicklung stellt sich sogar heraus, daß der durchschnittliche reale Einkommenstandard der abhängig Beschäftigten seit 1980 um knapp 1 Prozent gesunken ist.« Für Arbeitslose sogar um 4,7 Prozent.57 Die Lohnquote zeigt wie groß der Anteil der Bruttolöhne und -gehälter am Sozialprodukt ist,

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wieviel also vom gesamten Volkseinkommen auf die abhängige Arbeit entfällt. Die Quote fiel von 70,8 Pro­zent (Mitte der 70er Jahre) auf 62,7 Prozent in 1990, auf den bisher tiefsten Stand seit Bestehen der BRD, die Gewinnquote stieg auf den bisher höchsten Stand.58

Gewerkschaftliche Forderungen, die sich nicht auch an Sockelbeträgen orientieren, treiben mit prozentualen Forderungen die Schere zwischen den Lohnabhängigen auseinander. 10 Prozent Lohnsteigerung z. B. können monatliche Unterschiede von 220 D-Mark bis 1500 D-Mark ausmachen.

Jugendliche, die verzweifelt und voller Angst um ihre noch nicht begonnene berufliche Zukunft einen Job suchen, lassen sich häufig zu Gratisarbeit auf Probe verpflichten, in der Hoffnung, den möglichen künftigen Arbeitgeber zu erfreuen. In der Bundesrepublik gibt es Kinderarbeit. 30 Prozent aller Arbeitsplätze sind ungeschützt. Ohne korrekten Arbeitsvertrag und ohne volle Sozialversicherung sind es Sonderbeschäftigungs­formen wie Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Arbeit, Leiharbeit oder Scheinselbständig­keit.59 Mehr als 90 Prozent aller Teilzeitarbeitsplätze haben Frauen inne. Da nur 3 Prozent aller Kinder bis zu 3 Jahren in Kinderkrippen untergebracht werden können (in Dänemark 44 Prozent) können viele Frauen nicht arbeiten oder sind gezwungen, miese Teilzeit­arbeitsplätze anzunehmen. Die durchschnittlichen Bruttojahreseinkommen von Frauen und Männern un­terscheiden sich drastisch. Einschließlich aller Extras

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(13. und 14. Monatsgehalt, Prämien usw.) verdienen Industriearbeiterinnen im Jahr 32 113 D-Mark, ihre männlichen Kollegen 46 433 D-Mark, angestellte Frau-en in der Industrie 46 414 D-Mark, angestellte Männer 71 053 D-Mark.60 2/3 aller ehemaligen Arbeiterinnen erhalten weniger als 500 D-Mark Rente monatlich.

In der reichen Bundesrepublik gibt es mehr als 1 Million Obdachlose, darunter immer mehr junge Leute. Eine weitere Million Menschen ist mittelfristig von Obdachlosigkeit bedroht.61 Etwa 10 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik seien arm, sagen der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband und der DGB in ihrem Armutsbericht 1990. Nicht gezählt werden die Millionen Menschen, deren Einkommen knapp über dem Armutsgrenzwert liegt, das sich aber weiter mindert, weil sie für mehrere Familienangehö­rige verantwortlich sind. Franz Steinkühler, Chef der IG Metall, sieht die Gefahr, daß die Bundesrepublik verslumt. Schon vor der »Einheit« am 3. Oktober habe es 4 Millionen SozialhilfeempfängerInnen gegeben, doppelt so viele wie 1980. Etwa 1/6 davon sind Ju­gendliche unter 15 Jahren.

In Köln zum Beispiel sind 40 Prozent der Kinder bis 12 Jahre (mehr als 42 000 Kinder) arm. Sie kommen aus Familien, die Sozialhilfe oder extrem niedrige Einkommen beziehen.62 Weitere 3 Millionen Men­schen könnten einen Antrag auf Sozialhilfe stellen.63

1989 wurden 5 mal soviel an Zinsen und Dividenden ausgezahlt, wie den SozialhilfeempfängerInnen insge­

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samt zur Verfügung stand. 80 Prozent der Zinsen und Dividenden gehen an 30 Prozent der Haushalte.64 Das untere Drittel der privaten Haushalte bezieht nur 16 Prozent des Gesamteinkommens, das mittlere Drittel 27 Prozent, das obere Drittel 57 Prozent des Gesamt­einkommens.65 Teilte mensch die Einkommen in noch differenziertere Stufen, würden noch schärfere soziale Kontraste zwischen arm und reich in der BRD sichtbar. Die Bundesregierung plant, die Unternehmenssteuern um rund 25 Milliarden D-Mark zu senken. Würde der Regelsatz für Sozialhilfe nur der Teuerung angepaßt, was nicht geplant ist, müßte er um 80 D-Mark bzw. 17 Prozent erhöht werden.66 SozialhilfeempfängerInnen, Arbeitslose, Unqualifizierte und schlecht Ausgebildete in miesen Jobs, LeiharbeiterInnen und andere Arme machen zusammen mehr als ein Drittel der Menschen in der Bundesrepublik aus. Die Welt am Sonntag meint dazu am 28. Oktober 1990: »Es ist richtig, daß nicht alle auf der wirtschaftlichen Sonnenseite stehen. Dieser Zustand wird auf Erden ohnehin nie erreicht.«

Hunderttausende von Menschen vegetierten 1988 in psychiatrischen und neurologischen Krankenhäu­sern vor sich hin, oft angebunden und chemisch ge­dämpft. Der Staat spart immer bei den Schwächsten. Zehntausende von jungen Menschen bis 28 Jahre sind drogensüchtig: Alkohol, Heroin, Tabletten. Alle 40 Minuten tötet sich in der BRD ein Mensch selbst, rund 14 000 im Jahr, eine ganze kleine Stadt voller Toter. Die Bundesrepublik gehört auch hier zu den Spitzen­

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reitern. Die Zahl der versuchten Selbsttötungen liegt ein Vielfaches darüber.

Die »Dritte Welt« liegt auch in den USA selbst. Die Sterblichkeit weißer Kinder in den USA liegt bei 8,9 je tausend Kinder, die der schwarzen Kinder bei 17,9. Eine Zahl, höher als in vielen »Dritte-Welt«-Ländern. 1,6 Prozent der Bevölkerung verfügen über 28,5 Prozent des Privatvermögens, das sind 4,3 Billionen US-Dollar, mehr als das gesamte Bruttosozialprodukt in den USA. Die National Urban League, eine US-Bürgerrechtsor­ganisation, hat einen »Marshall-Plan« für die schwarze Bevölkerung in den Städten der USA gefordert, 43,8 Prozent aller schwarzen, 38,2 Prozent aller hispa­nischen und 15,4 Prozent aller weißen Kinder leben unter der Armutsgrenze, das sind 20 Prozent der 60 Millionen US-Kinder. 1979 waren es noch 16 Prozent. Viele hungern oder leiden an Mangelernährung. Fast ein Drittel aller Schwarzen lebt in großer Armut. Jedes Jahr verlassen 2 Millionen Kinder die Schulen als An­alphabetInnen. 40 bis 45 Prozent der Schwarzen und der Hispanics sind Dropouts (SchulabbrecherInnen). Mord ist die häufigste Todesursache junger schwarzer Männer, unter anderem weil rassistisch motivierte Verbrechen in den 80er Jahren um das Achtfache gestiegen sind. Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Dollar-Millionäre.

Mehr als 25 Prozent der jungen schwarzen Männer zwischen 16 und 25 Jahren sitzen oder saßen im Ge­fängnis oder sind unter staatlicher Aufsicht. In den

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USA sind mehr als 1 Million Männer und Frauen, jede/ r 235. Einwohnerin, im Knast eingesperrt. Die USA steht damit weltweit auf Platz 1, vor Südafrika und der UdSSR. Rassismus und die sozialen und ökologischen Konflikte in den USA, die die Regierung am liebsten verschweigt, bleiben nicht ohne Widerstand. Als die US-Bürgerrechtsorganisation Freedom Now! im Früh­jahr 1990 vor der UNO-Menschenrechtskommission in Genf über die Haftbedingungen der über 150 po­litischen Gefangenen in den USA berichtete, verließ der US-Vertreter wütend und mit rot angelaufenem Gesicht die Konferenz: »Alles Lügen!« Die meisten politischen Gefangenen sind Schwarze, IndianerInnen oder PuertoricanerInnen, wenige Weiße. Viele wurden unter den brutalen Bedingungen krank. Unter den Ge­fangenen sind 50 ehemalige führende Mitglieder der Black Panther Party und der Black Liberation Army (Schwarze Befreiungsarmee), einige mehr als 20 Jahre. Numia Abu-Jamal, dem ehemaligen Pressesprecher der Black Panther, droht die Hinrichtung, er wurde am 3.7.1982 zum Tode verurteilt. Der US-Regierung wird außerdem z. B. vorgeworfen, im Verlauf von FBI-Operationen gegen das American Indian Movement (AIM) von 1972 bis 1976 in der Pine Ridge Reservation der Lakota-Sioux 70 Menschen durch paramilitärische Todesschwadronen ermordet zu haben.

63 Millionen US-AmerikanerInnen haben keine Krankenversicherung. Die sozialen Schranken teilen Stadtteile so wirksam, daß die Mehrheit der US-Ame­

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rikaner die sozialen Probleme anscheinend ohne Wi­derspruch hinnimmt. Schwarze Familien verdienen laut Auskunft der League im Durchschnitt nur 19 329 US-Dollar im Jahr, weiße Familien 33 915 US-Dollar. Arme zahlen überproportional höhere Steuern als Reiche, sie sind nicht krankenversichert und können ihre Kinder nicht auf weiterführende Schulen schicken. Beim Vietnamkrieg bestand Wehrpflicht, auch Mittel­standssöhne wurden, manchmal gegen ihren Willen, eingezogen. Heute hat die USA eine Berufsarmee und rekrutiert die Ärmsten, unter ihnen ein hoher Anteil Schwarzer, die keine andere Perspektive für sich se­hen. So schickte die US-Regierung diesmal Angehörige ihrer eigenen »Dritten Welt« in den Krieg am Golf zur Sicherung der Profitinteressen der US-Elite. Die, denen es besser geht, wollen nicht täglich mit sozialer Not konfrontiert werden. Der Oberste Gerichtshof der USA entschied Ende 1990, daß Bettler in der Öffentlichkeit nicht mehr betteln dürfen. Das mindert die Zahl der Armen nicht, aber nun werden sie von Straßen und öffentlichen Plätzen vertrieben.

In den USA insgesamt leben, nach Schätzungen privater Fürsorgeeinrichtungen 12 Millionen home­less people, auf den Straßen, unter Brücken oder in Asylen. Neben mindestens 10 Millionen Arbeitslosen und 50 Millionen Armen leben 7 Millionen, die es trotz eines Vollzeitjobs nicht zu einem menschenwürdigen Einkommen bringen. Viele ArbeitgeberInnen drücken die Löhne bis an das staatlich vorgeschriebene Mini­

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mum von 3,80 US-Dollar die Stunde. Dafür können sich die Besserverdienenden Dienstmädchen, Fahrer und Gärtner kaufen. 85 Prozent der AmerikanerInnen zählen sich zur Mittelklasse. Die 800 bestbezahlten Wirtschaftsbosse der USA verdienten 1989 zusammen mehr als 1 Milliarde US-Dollar an Gehalt und Tantie­men und besaßen Aktien im Wert von 32 Milliarden US-Dollar. Während die Einkünfte der Manager in den letzten 4 Jahren um 100 Prozent stiegen, sank die Kaufkraft des Lohnes der IndustriearbeiterInnen 1990 unter das Niveau von 1970. 1989 verdienten Ma­nager das 93fache eines Industriearbeiters, 1980 war es »nur« das 40fache. In den letzten 10 Jahren stieg das durchschnittliche Jahreseinkommen der oberen 5 Prozent auf der Einkommensskala von 120 253 auf 148 438 US-Dollar, das der ärmsten 20 Prozent sackte von 9990 auf 9431 US-Dollar.

Murray Bookchin, 70jähriger Professor für sozi­ale Ökologie und US-amerikanischer Ökoanarchist, beschreibt den Zustand seines Landes und schildert seine Befürchtungen67: »Es könnte eine Erosion der US-Wirtschaft geben, ein Sinken des Lebensstandards, eine noch größere Polarisierung zwischen den sehr Reichen und den sehr Armen. Aber zu einem großen Teil hängt die Zukunft Amerikas davon ab, wie sich die Kräfteverhältnisse in der Welt entwickeln, insbe­sondere ob Europa, um Deutschland herum, ein neues riesiges Supermachtzentrum wird, das ist noch eine entscheidendere Frage als die US-Binnenwirtschaft.

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Die wirkliche Frage ist, wer wird die Bankenzusam­menbrüche bezahlen – die einen außergewöhnlichen Umfang angenommen haben – und wer die wachsen­den Zinsen, die jetzt alle zum Zittern bringen?

Es gibt einige Hinweise, daß die riesige Mittelklas­se, die aus dem zweiten Weltkrieg entstanden ist, das wirkliche Opfer von Schulden und ökonomischen Balanceakten sein wird. Den Armen kann nichts mehr weggenommen werden. Das System kann nur noch die, denen es bescheiden gutgeht, arm machen. Und das wird dazu führen, daß nicht nur ernste ökonomische Probleme entstehen – nicht ein dramatischer Zusam­menbruch wie 1929 oder 1930 –, die viele sozialen Probleme nach sich ziehen. Abgesehen von einem Haus und oft auch einigen kleinen Geldanlagen ist die Mittelklasse kein Teil der besitzenden Schicht. Sozial gesehen setzt sie die Werte und die Mentalität, die in Amerika existieren: den Mythos, daß es in den USA keine wirkliche Klassengesellschaft gibt, aber reale Hierarchien, die auf ›Verdienst‹ und ›harter Arbeit‹ basieren.

Viele Amerikaner – sogar sehr arme und obdachlose Menschen – bewundern die sehr Reichen. Sie geben ihnen nicht die Schuld für die vielen Probleme, die in diesem Land existieren. Tatsächlich hat eine gerade erst erstellte Studie festgestellt, daß sich das, was wir 50 Jahre früher als hauptsächliche Klassendifferenz betrachtet hätten, sehr geändert hat. Sogar die Armen glauben heutzutage, daß Ungleichheit nötig ist, um zu

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sozialem Fortschritt zu kommen, und zwar als Ansporn für ökonomisches Wachstum und technologischen Fortschritt. Die übliche generelle Kritik an den sehr Reichen ist, daß sie sich mehr – aber auch nicht zu sehr – daran beteiligen sollten, das nationale Budget aus­zugleichen. Die Mittelklasse in Amerika, gar nicht zu reden von der Arbeiterklasse, die sich oft als einen Teil der Mittelklasse betrachtet, funktioniert wie ein Puffer für alle sozialen Unruhen. Sie bewundert die Reichen, sie will selbst reich werden, obwohl sie wissen, daß es in ihrem eigenen Leben unmöglich sein wird. Sie den­ken voll und ganz hierarchisch, nicht klassenbewußt in traditionellem Sinn. Ich meine die Arbeiterklasse im allgemeinen, die ja in Scharen die Gewerkschaften aufgegeben haben, mit dem Management kooperieren und ein japanisches System paternalistischer Verwal­tung akzeptieren ….

Die USA ist weitgehend rassistisch. Rassismus vergiftet jeden Aspekt amerikanischen Lebens …. Die Krisen in denVereinigten Staaten verstärken Obrig­keitsstaatlichkeit, Chauvinismus und Rassismus. Das führt nicht zu Klassenkonflikten. Es macht mich zornig zu sehen, wie Kapitalismus als eine ›natürliche‹ soziale Ordnung angesehen wird und nicht als ein historisch einmaliges und beschränktes System. Sowohl Bakunin wie auch Marx fürchteten diese Entwicklung bereits vor einem Jahrhundert und warnten uns davor. Es ist in einem Maß passiert, das ich nie erwartet hätte, als ich jung war.«

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Eines der Zentren des Kapitalismus, die USA, zerfällt. Die öffentlichen Haushalte sind nicht in der Lage, öffentliche Einrichtungen, von Gebäuden bis Straßen auch nur instandzuhalten: 40 Prozent aller Fluß- und Straßenbrücken sind ein Sicherheitsrisiko. Massenhafte Betriebsstillegungen mit massenhafter Arbeitslosigkeit sind die Folge ungehemmter Anlage­politik des Kapitals, das für schnellen Profit auf jegliche langfristige Infrastrukturmaßnahme verzichtete. Ein großer Teil des gesellschaftlichen Reichtums steckt in der Rüstung. Die USA schlittern derzeit in eine schwere Rezession. Staat und viele Firmen sind überschuldet, der Staat war vor dem Golfkrieg bereits in Höhe von 2000 Milliarden US-Dollar verschuldet. Seit Sommer 1990 gehen wöchentlich 1300 Firmen pleite. Die Krise drückt sich auch drastisch im maroden Bankensystem aus: Es steckt in der größten Krise seit der Depression der 30er Jahre. Bereits in den 80er Jahren brach das Sparkassensystem zusammen. Das wird die US-Bür­gerInnen mindestens 1000 Milliarden US-Dollar ko­sten, die zur Staatsverschuldung hinzukommen. Dem Bankensystem droht in den 90er Jahren eine Krise ähnlichen Ausmaßes, wenn nicht der Zusammenbruch. 1980 existierten noch 14 435 US-Geschäftsbanken, 1990 sind es nur noch 12 706. Augenblicklich sind rund 1300 US-Banken vom Bankrott bedroht.68

Wie kann ökologische Politik anders sein als sozial und antikapitalistisch? Kapitalismus heißt maßlose Verschwendungs- und Verschleißproduktion, heißt

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Profitmaximierung bei grenzenlosem Verbrauch von Menschen und Rohstoffen. Daß dies unterschiedlich aussehen kann, liegt an den unterschiedlichen sozialen und kulturellen Bedingungen und dem Stand der po­litischen Auseinandersetzungen in den verschiedenen Ländern der Erde. Wer wirklich ökologische Politik machen will, wird sich zu einer antikapitalistischen Politik durchringen müssen oder scheitern.

Ökologie ist mit Kapitalismus so verträglich wie Soli­darität mit Profitgier oder die Befreiung der Frauen mit dem Patriarchat. Eine radikale, linke Politik hat ohne eine entwickelte radikalökologische Position keine Zukunft. Die sozialen Beziehungen menschlichen Le­bens verbindet ein enges, unaufl ösliches dialektisches Verhältnis mit den ökologischen Grundlagen des Le­bens. Ökologische Politik ist kein Neben Widerspruch, sondern die Klassenfrage ist in der Gattungsfrage aufgehoben und erfährt durch sie Bestätigung, sowie sie sie verschärft, aber die soziale Frage ist eben nicht durch die ökologische Frage aufgehoben.

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Seit der Osten im Westen liegt, steht der Feind im Süden

Ökoimperialistische Raubzüge in den Trikont69

Nixon, Frei und Pinochet, Bis heute, bis zu diesem Bitter-Monat September Des Jahres 1973

Wie Bordaberry, Garrastazu und BanzerGefräßige Hyänen Unserer Geschichte

NagetiereDie anfressen Fahnen der EinheitVoll Blut und Feuer,Nun besudelt in ihren Krallen,

Höllisches Raubzeug, Satrapen,Tausendfache Ausverkäuferund Ausverkaufte,AngestacheltVon den New Yorker Bestien,Maschinen gierig nach Qualen,Befleckt vom Opferblutihrer gemarterten Völker,

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Hure der Handelsherren,So recht nach Amerikas Dufthauch,Tolle Abfallköder, Halsabschneider,Pack

Von Bordellpolitikern – Bossen:Ihr einziges Recht ist die FolterUnd der Hunger, der ihre Völker peitscht.

Pablo Neruda, Dichter und Nobelpreisträger,

4 Tage nach dem Militärputsch und 8 Tage vor seinem Tod.

Chile den 15.9.1973

1992: 500 Jahre Eroberung Lateinamerikas

Im Jahr 1992 wird der 500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas gefeiert werden. Wie kann die »Entdek­kung« eines Kontinents gefeiert werden, den seine ursprünglichen EinwohnerInnen schon Tausende von Jahren zuvor bewohnten? Hinter dem Mythos der »Entdeckung« steckt die Wirklichkeit des Überfalls, der Ausplünderung und der Vernichtung menschlicher Gesellschaften. Die Ankunft der Flotte des Europäers Kolumbus (eigentlich Christobal Colón) am 12. Okto­ber 1492 war der Startschuß für den Zusammenprall zweier Welten und der Beginn eines bis heute andau­ernden Völkermordes. In den folgenden eineinhalb Jahrhunderten kostete diese »Entdeckung« schät­zungsweise hundert Millionen EinwohnerInnen des

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amerikanischen Kontinents das Leben. Seit 500 Jah­ren werden die überlebenden Nachfahren der vielen amerikanischen Urvölker fälschlicherweise »Indianer« genannt, nur weil der Spanier Kolumbus irrtümlich annahm, auf dem Seeweg Indien erreicht zu haben. Es ist ein fortdauerndes Zeichen von Mißachtung, daß von Alaska bis Argentinien alle ursprünglichen Völker Amerikas »Indianer« heißen, als könnten wir Frau-en und Männer aus Bayern, Portugal, der Bretagne, Schottland, Finnland, Kreta, Katalanien und Kastilien uns nicht mehr als diesen einen Namen merken für die Yanomani (Amazonas), Inka (Andenhochland), Mapu­che (Chile), die Maya (Mexiko, Guatemala, Belize), Miskito (Nicaragua und Honduras), Guaymi (Panama und Costa Rica), Sioux, Comanchen, Cheyenne, Hopi, Navajo, Apachen (USA), Athapasken und Algonkin (Kanada) und viele andere.70

Die Eroberer nahmen den EinwohnerInnen Ameri­kas ihre kulturelle Identität, das Land, ihren Reichtum, ihre Ressourcen und das Leben. Die neuen europä­ischen Herrscher rotteten die fremden amerikanischen Gemeinschaften auf unterschiedliche Weise aus. Sie wurden bis zur Unkenntlichkeit integriert, vertrieben, in Reservate verbannt oder massenhaft ermordet. Im Norden Amerikas erklärten die Eindringlinge das bri­tische Common Law für gültiges Recht. Sie definierten die UreinwohnerInnen als Jäger und Sammler, die nun aufgrund der britischen Gesetzgebung keinerlei Landrechte mehr hatten, mensch erklärte sie zu Nicht­

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Seßhaften. In Wahrheit lebten diese als SiedlerInnen in hoch entwickelten Zivilisationen.71

Im Rahmen der Feiern »500 Jahre Entdeckung Amerikas«72 soll 1992 die Statue Christoph Kolumbus’ für eine symbolische Hochzeitszeremonie mit der Frei­heitsstatue von Barcelona nach New York transportiert werden.73 Es ist kaum eine Zeremonie vorstellbar, die die Situation von Herrschaft und Unterdrückung in der Welt zutreffender symbolisiert. Am 20. Oktober 1990 protestierten UreinwohnerInnen in Santiago de Chile gegen den Besuch des spanischen Königs und der spa­nischen Königin im Rahmen der Vorbereitungen für die 500-Jahrfeiern zur »Entdeckung« Amerikas. Sie sagten: »Wir lehnen den Besuch des spanischen Kö­nigspaares ab, das in Feierstimmung hierher kommt, um ihre alten spanischen Besitzungen zu inspizieren und alte Wunden wieder aufzureißen, die das Mapu­che-Volk nicht vergessen kann.«74 Nach 500 Jahren imperialistischer Herrschaft feiern die atlantischen KolonisatorInnen Europa und USA die von ihnen ausgehende fortdauernde Unterdrückung von großen Teilen der Menschheit. Ihre Feier fällt paßgenau in das Jahr, in dem die künftige Weltmacht Europa eine neue Stufe ihrer imperialen Entwicklung erklimmt:

1992 ist das Jahr der Konstituierung des europä­ischen Binnenmarktes in Vorbereitung der Weltmacht »Vereinigte Staaten von Europa«.

Die Weltmächte Europa, USA und Japan kämpfen um die Vorherrschaft in dieser Welt, und sie werden

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ihren Kampf verschärfen. Wie immer der Verlauf im einzelnen aussehen wird, den Opfern der Schlacht um menschliche und natürliche Ressourcen wurde ihre Rolle schon vor langer Zeit zugeteilt. Es sind die Armen, Unangepaßten, Verelendeten innerhalb der Weltmächte selbst und die Masse der Menschen in den unterentwickelt gehaltenen Staaten mit Ausnahme der dortigen Oligarchien, die sich zum eigenen Vorteil mit den Finanzeliten der Weltmächte verbündet und so ihre Länder von fremden Interessen abhängig gemacht haben. Die Formen der Herrschaft haben sich in 500 Jahren gewandelt, aber die Herrschaft der Eroberer in Lateinamerika, Asien und Afrika wurde nie mehr beendet.

Im größten gewerblichen Menschenraub der Ge­schichte verschleppten weiße Kolonialherren zwischen 50 und 100 Millionen AfrikanerInnen in die »neue Welt«.75 Die Nachfahren der SklavInnen verlangen nun Entschädigungen in Milliardenhöhe für die Folgen von »500 Jahre Sklaverei, Kolonialismus und Imperialis­mus«.76 Die alten Eroberergenerationen, die Händler, Plantagenbesitzer, Kirchenfunktionäre, wurden von multinationalen Konzernen, den Banken des Indu­strie- und Finanzkapitals aus den USA, Europa und Japan und ihren Agenten wie etwa dem IWF und der Weltbank abgelöst.

Die amerikanischen Völker sind immer noch nicht vollständig ausgerottet. Am Amazonas kämpfen sie gegen die Vernichtung ihres Lebensraumes tropischer

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Regenwald, gegen Straßenbauer, Großgrundbesitzer und Autokonzerne. Im guatemaltekischen Hochland wurden sie vor kurzer Zeit zu Zehntausenden von nationalen Streitkräften – vom Westen ausgerüstet, von den USA unterstützt – abgeschlachtet. In den USA, den Vereinigten (!) Staaten von Amerika, ver­sucht die Herrschaft der Weißen den »Indianern« in Reservaten jeden Rest an Selbstbestimmung und kultureller Identität zu nehmen. Das ihnen hochmü­tig überlassene, meist wertlose Restland wird ihnen genommen, sobald die Herrschenden mit ihm Profit machen können. Manchmal gibt es auch Land, auf dem sie bleiben dürfen: etwa in den Wüsten Nevadas auf dem radioaktiv verseuchten Land in der Windrichtung der Atombombenversuche.

Golfschläge gegen die Mohawk, Kanada

Im Herbst des Jahres 1990 sahen wir im deutschen Fernsehen Bilder von Sondereinheiten der kanadi­schen Polizei, bis an die Zähne bewaffnet, und von Soldaten, im Kampf gegen die amerikanischen Urein­wohnerInnen, die Mohawk77. Der Kampf tobte um das Abholzen eines kleinen Fichtenwaldes. Der Ausgangs­punkt des Konfliktes hat koloniale Ursachen und reicht 304 Jahre zurück, in das Jahr 1696. Damals siedelten die Mohawk im heutigen Bundesstaat New York und in der heutigen kanadischen Provinz Quebec. Stück

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für Stück wurden sie von weißen SiedlerInnen mit Gewalt verdrängt. Sie verließen ihr Land nie freiwillig, sie wichen zwar, aber sie unterwarfen sich nicht. Bis heute kann die kanadische Regierung keinen Beweis vorlegen, daß das Land der Mohawk ihr gehört. Anfang des 18. Jahrhunderts wurden sie in eine Gegend in der Nähe ihrer traditionellen Jagdgründe vertrieben. Der König von Frankreich entschied, das Land der Mohawk den Missionaren des Ordens von St. Sulpice zuzu­sprechen, die sich dafür um den rechten Glauben der Mohawk kümmern sollten. Die Mohawk verstanden nicht, wie jemand in Versailles über ihr Land entschei­den konnte. Der Streit dauerte an. 1912 entschied der Kronrat, das Land gehöre den Missionaren, solange diese im Interesse der Indianer handelten. Aber die Ordensleute begannen später, das Land der Mohawk Stück für Stück an die Weißen zu verkaufen, bis den Mohawk nichts mehr blieb, außer dem Grund, auf dem ihre Häuser standen, und ein bißchen Land, das aber nicht mehr für die Eigenversorgung ausreichte. Schon in den 50er Jahren ging der Kampf wieder los: Mensch nahm ihnen Land für einen Golfplatz, und sie hatten nicht das Geld, um sich juristisch zu wehren.

Im Frühjahr 1990 beschloß der Gemeinderat von Oka, den Golfplatz von 9 auf 18 Löcher zu erweitern und dafür den letzten Wald der Mohawk, ein kleines Fichtenwäldchen, das diese angelegt, bewahrt und für ihre Rituale gebraucht hatten, abzuholzen, obwohl mehr als zwei Drittel der EinwohnerInnen der Gemein­

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de Oka die Petition einer Umweltschutzgruppe unter­zeichneten, die den Fichtenwald, inzwischen einer der schönsten und ältesten der Umgebung, retten wollte. Ein Teil des Waldes war erst im letzten Jahrhundert, gemeinsam von Weißen und IndianerInnen, gepflanzt worden, um Erdrutsche auf diesem gefährdeten Teil des Hügels zu verhindern.

Seitdem befinden sich die Mohawk in ihrem bedroh­ten Reservat Kanesatake, nach mehr als 300 Jahren Vertreibung, im Aufstand. Gespräche mit der Gemein­de waren gescheitert. Am 11. März 1990 errichteten die Mohawk eine Straßenbarrikade auf der Zufahrts­straße zu dem umstrittenen Gelände. Bis zum 10. Juli wurde die Barrikade von der Polizei offi ziell nicht zur Kenntnis genommen. Dann rief der Bürgermeister von Oka, Jean Ouellette, leidenschaftlicher Golfspieler und Anteilseigner am Golfclub, die Polizei. Am 11. Juli um 5 Uhr morgens stellte die Sureté de Quebec (die Polizei der Provinz Quebec) den Mohawk ein Ultimatum von 3 Stunden zur Räumung der Barrikade.

Die traditionelle Tabak-Zeremonie der Frauen der Mohawk durften diese nicht mehr beenden. Scharf­schützen beschossen die Mohawk mit Tränengas, Leuchtblendgranaten und mit scharfen automati­schen Waffen. Doch der Wind verteidigte die Mohawk und drehte sich. Die Polizisten wurden vom eigenen Gas verjagt, der Polizeibeamte Lemay von einer Po­lizeikugel getroffen. Die Mohawk waren unbewaff­net. Die Polizei verweigerte jede Auskunft über das

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Ergebnis der ballistischen und waffentechnischen Untersuchung, während einige Zeitungen absichtsvoll Regierungsinformationen über die angebliche Schuld der Mohawk verbreiteten. Die Mohawk versicherten, nicht geschossen zu haben. Sie erklärten sich bereit, den Tod von Lemay gemeinsam mit der Polizei zu untersuchen. Aber die kanadische Regierung ver­schärfte den Konflikt weiter und stellte Haftbefehle aus. Die Polizeikräfte wurden bis auf nahezu 2000 Mann verstärkt, und die Armee kam ihrer Bitte um Ausrüstungshilfe nach.

Die Mohawk der nahegelegenen Reservation Kahn­awake blockierten noch am selben Tag die Pont Mer­cier, die große Brücke über den St. Lorenz-Strom, die Montreal mit der südlichen Seite des Flusses verbindet. Die Surete sperrte daraufhin den Zugang zum Reser­vat. Spirituellen Beratern und Rechtsanwälten wurde der Zutritt verwehrt. Lebensmitteltransporte von po­litischen UnterstützerInnen wurden zurückgewiesen, und auch die Mohawk selbst durften außerhalb des Reservates keine Nahrung mehr einkaufen. Teilweise wurde die Wasser- und die Stromversorgung unter­brochen. Krankenwagen mit Mohawk wurden nur mit stundenlanger Verzögerung durchgelassen. Es war, als ob Kriegsrecht herrschte.

JournalistInnen und FotografInnen wurden hand­greiflich an der Berichterstattung gehindert, sie muß­ten sich Durchsuchungen bieten lassen und Namens­schilder tragen. Den Fotografen wurden schon beim

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ersten Angriff der Sureté die Filme entrissen. Rassi­stische Angriffe von Weißen auf die Mohawk ließ die Polizei zu. Sie hinderte sie nicht einmal an Übergriffen auf Krankenwagen. Der Ku-Klux-Clan und eine neu gegründete Bürgerwehr, deren Chef ein ehemaliger Polizist ist, arbeiteten ungestört, weil sie von der Po­lizei gedeckt wurden und die Armee die Mohawk an Gegenwehr hinderte.

Ein Anlaß für die Härte der Auseinandersetzungen war das sogenannte Meech-Lake-Abkommen. Es war zwischen der kanadischen Regierung und der Provinz Quebec, mit dem Ziel, die französischsprachige Pro­vinz Quebec, in der es starke Autonomiebestrebungen gibt, wieder stärker in den kanadischen Staatenbund zu integrieren, ausgehandelt worden. Zwar erkannte das Abkommen die Kultur und Gesellschaftsform der FrankokanadierInnen an und erlaubte ihnen die eigene Sprache, aber die kulturelle Eigenständigkeit und die Rechte der ursprünglichen amerikanischen Völker wurden in der Vereinbarung vollständig ignoriert. Um gültig zu werden, hätte das Abkommen im Provinzpar­lament von Manitoba einstimmig angenommen wer­den müssen. Im 57köpfigen Parlament von Manitoba sitzt ein einziger indianischer Abgeordneter: Elijah Harper vom Volk der Cree, studierter Anthropologe und Häuptling seines Dorfes. Bei der entscheiden­den Abstimmung am 23. Juni 1990 stand er auf, eine Adlerfeder in seiner Hand, und sagte: »Nein«. Die Abstimmung war geplatzt.

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Elijah Harper hatte sich auf den öffentlichen Wirbel hervorragend vorbereitet. Die Feder immer in der Hand, nutzte er alle Interviewtermine und nannte Namen, Fak­ten und Zahlen über die Vernichtung der indianischen UreinwohnerInnen durch Kanada, das auf der Suche nach Rohstoffen und Energiequellen die letzten Kultu­ren der amerikanischen UreinwohnerInnen zerstört, aber das Apartheidsystem Südafrikas, weit entfernt, anprangert. Von der Ostküste bis zur Westküste begehe Kanada Völkermord. In 30 Meter Höhe über den Köpfen der Innu von Ntesinan (Labrador) jagen deutsche und niederländische Kampfflieger und üben das Unter­fliegen feindlicher Radarsysteme. In Quebec werden Jagdgründe der Cree für Stauseen zur Stromgewinnung geflutet. Indianische Territorien sind Standorte von Mülldeponien der räuberischen Konsumgesellschaft. Nahrungsquellen wie Fische sind vergiftet. Indianische Frauen haben den höchsten Anteil von Quecksilber in der Muttermilch. In Saskatchewan wird die Gesundheit der UreinwohnerInnen und die Umwelt dem Uranabbau geopfert. In Alberta wird seit 55 Jahren UreinwohnerIn­nen ihnen zustehendes Landrecht verweigert, damit der Boden ungehindert auf der Suche nach Öl durchlöchert werden kann. Den Mohawk in Kahnawake wurde in den 50er Jahren ein großer Teil ihres Landes ersatzlos für den Bau des St. Lorenz-Überseekanals genommen, und in der Hauptabgasrichtung der Reynolds-Aluminium­fabrik liegt das Mohawk-Reservat Akesasne. Schon vor dem Konflikt bei Oka schrieb Stephen Hume, Kolumnist

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der Vancouver Sun: »Wir behandeln sie wie Gegner in einem Bürgerkrieg und nicht wie die ersten Bürger dieses Landes.«

Bis Ende Juli wurden in den Reservaten Kanesa­take und Kahnawake die 2000 Polizisten der Sureté von 5000 Soldaten abgelöst. Polizisten und Soldaten kooperierten weiter:

Sie durchsuchten traditionelle Rats- und Zeremo­niengebäude nach Waffen, verprügelten unbewaffnete Frauen. Einmal blieb eine mit Rippenbrüchen, eine andere mit einem Schädelbruch und der Gefahr, ein Auge zu verlieren, liegen. Ohne von Polizei oder Armee behindert zu werden, kam es zu »Steinigungen« von Mohawk. Ein alter Mann starb, vielleicht »nur« aus Angst. Anfang September 1990, die Mohawk hatten ein weiteres erpresserisches Ultimatum verstreichen lassen, rückte die Armee, scharf bewaffnet, zu den Siedlungen in den beiden Reservaten vor, halbau­tomatische und automatische Waffen im Anschlag, begleitet von Schützenpanzern. Die kanadische Re­gierung versucht ihr Verhalten international damit zu rechtfertigen, daß sie verbreitet, sie bezahle mehr Geld pro Kopf jedes »Eingeborenen« als irgendein anderes Land. Dabei nahm sie z. B. den Mohawk ihr Land, so daß sich diese nicht mehr landwirtschaftlich selbst versorgen konnten. Darüber hinaus versucht sie die Mohawk als’Terroristen zu diffamieren.

Trotz massiver Interventionen der kanadischen Re­gierung verabschiedete das Europäische Parlament am

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13. September eine Resolution, in dem es die Rechte der Mohawk anerkennt und eine Beobachterdelega­tion zu entsenden beschloß. Trotzdem wurden die Telefonleitungen in und aus dem Reservat gekappt, die Telefone und der Funkverkehr der Berichterstat­terInnen gestört und SympathisantInnen aus den USA der Grenzübertritt nach Kanada verwehrt. Am 18. Sep­tember 1990 landen Soldaten in mehreren Großhub­schraubern auf einer Insel am Rande des Reservates Kahnawake auf dem Gebiet der Mohawk. Unbewaff­nete Frauen, Männer und Jugendliche laufen dorthin und fordern die Armee auf, ihr Land zu verlassen. Als sie zu verhindern suchen, daß die Soldaten über eine Brücke auf das Festland drängen, wird geschossen. Ein Teil des Tränengases wird in ein Krankenhaus geweht, das evakuiert werden muß. Die Soldaten schießen auch mit scharfer Munition, erst über die Köpfe der unbewaffneten Mohawk, dann vereinzelt direkt, und es ist ein Wunder, daß niemand getroffen wird. Die Mohawk-Männer fordern die Soldaten auf, die Waf­fen niederzulegen und mit ihnen Mann gegen Mann zu kämpfen. Einigen Mohawk gelingt es, Soldaten zu entwaffnen und die Gewehre ins Wasser zu werfen oder auf andere Weise unbrauchbar zu machen.

Nach einigen Stunden zieht sich die Armee zurück, etliche Ausrüstungsgegenstände bleiben am Ort der Auseinandersetzung liegen. Die Armee rechtfertigt ihren Einsatz später damit, daß mensch nach illegalen Waffen gesucht habe und mit 50 Stück fündig geworden

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sei. Die Mohawk nennen das eine Lüge, sie äußern den Verdacht, daß ihnen die Armee die Waffen absichtsvoll unterschoben habe. Aber der Zweck ist erfüllt: Die Meldung von angeblich scharf bewaffneten Mohawk geht um die Welt. Wir erinnern uns: Der Anlaß des Konfliktes, dessen Ursachen koloniale Verbrechen sind, die nie bereinigt wurden, war die Erweiterung eines Golfplatzes von 9 auf 18 Löcher. Am 27.9.1990 ergaben sich die letzten 50 »Krieger«, Frauen und Kinder. Sie wurden von Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten in Busse verladen und in einen Armeestütz­punkt gebracht. »Recht und Ordnung habe gesiegt«, meinte der zuständige Minister Tom Siddon.

Bis heute weigert sich die kanadische Regierung, den Konflikt um das Selbstbestimmungsrecht und das Landrecht der Mohawk und anderer indianischer Bevölkerungsgruppen auch nur zu diskutieren. Ein politischer Konflikt soll mit Waffengewalt und Repres­sion ausgelöscht werden. Im Verlauf dieses Konfliktes wird in Kanada Demokratie zerstört, Rassismus geför­dert, Pressefreiheit eingeschränkt, werden Menschen verletzt und getötet und grundlegender demokrati­scher und sozialer Rechte beraubt. Bundesregierung, Provinzregierung, Polizei und Armee arbeiten gegen die Mohawk zusammen, mit allen Mitteln. Anstatt gestohlenes Land zurückzugeben und alles daran zu setzen, die Lage der 440 000 amerikanischen Urein­wohnerInnen in Kanada zu verbessern, wurden die Hilfsprogramme gekürzt. Die Selbstmordrate unter

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ihnen ist 4mal so hoch wie unter Weißen. Die Inter­essenvertretungen der kanadischen IndianerInnen verlangen Selbstbestimmung über ihre Angelegenhei­ten. Die kanadische Menschenrechtskommission kriti­sierte im November 1990, daß von 275 aktenkundigen Landforderungen erst 3 bearbeitet worden seien. Die Kommission verlangt eine Bestandsaufnahme der Lage der IndianerInnen, die Anerkennung ihrer besonderen Situation und die Lösung ihrer Probleme.78

Was ist Ökoimperialismus?

»Die zweite Welt drängt an die Fleischtöpfe der Er­sten Welt, um sich mit ihr gegen die Dritte Welt zu verbünden«, sagte kürzlich ein Student aus Tansania. Eine brasilianische Tageszeitung kommentierte: »Aus geographischen, kulturellen, politischen und ökonomi­schen Gründen ist der immense Markt in den ehema­ligen sozialistischen Ländern um vieles attraktiver als Lateinamerika.« Otto Wolff von Amerongen stimmte dem zum Jahreswechsel 1989/1990 zu. Ihm stehe Ost­europa »politisch, geographisch und menschlich« nä­her als der Trikont. Und der Direktor des malaysischen Institutes für strategische und internationale Studien warnt vor einem »Eurozentrismus der Supermächte«. Die Vertreter Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ha­ben recht. Die Annexion der DDR und die ökonomische Eroberung des europäischen Ostens hat dramatische

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Folgen für den Trikont. Der Entwicklungsetat, so die Selbstverpflichtung der kapitalistischen Staaten, sollte 0,7 Prozent des Gesamthaushalts betragen. Der Ent­wicklungshilfeetat der Bundesrepublik sank 1989 von 0,48 Prozent (1981/1982) auf 0,37 Prozent. Die BRD übernimmt nur einen geringen Teil der großzügigen Entwicklungshilfe der DDR. Rechnet mensch beide Länder zusammen, sinkt die Entwicklungshilfe des neuen Deutschland im Vergleich noch einmal. Darüber hinaus wird die DDR-Hilfe für politisch unliebsame Länder wie Kuba vollständig gestoppt.79

Das Bewußtsein der Menschen in Deutschland, in den anderen west- und osteuropäischen Ländern, in den USA und Japan verändert sich zuungunsten der Menschen in den unterentwickelt gehaltenen Ländern. Die Probleme im Trikont, in den von den imperialisti­schen Zentren unterdrückten, geplünderten und um ihre eigenständige Entwicklung gebrachten 3 Kon­tinenten Asien, Lateinamerika und Afrika, scheinen weit und immer weiter entfernt. Die Drogen, die beim Verdrängen der Wahrnehmung der eigenen Lage in den kapitalistischen Staaten helfen, helfen auch, die weltweiten Folgen des kapitalistischen Modells zu ignorieren. Konsum und Karriere sind dabei noch wirkungsvoller als Heroin oder Alkohol.

Das westliche Konsummodell basiert auf Ver­schwendung und Verschleiß. Das Kapital produziert unvorstellbare Mengen sinnloser oder schädlicher Güter und stimuliert KonsumentInnen zum Kauf von

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Dingen, die ein Mensch nicht braucht, die schlechter Qualität sind oder schädlich. Dieses Konsummodell unterwirft die Natur dem grenzenlosen Wachstum der Profitwirtschaft als immerwährender Rohstofflie­ferant. Für die Aufrechterhaltung des Konsummodells in den kapitalistischen Zentren werden die unterent­wickelt gehaltenen Länder ausgeraubt, vergiftet und verelendet.

Ökoimperiahsmus meint vor allem anderen die Un­terwerfung der Weltwirtschaft unter die vernichtende Logik der kapitalistischen Produktionsweise. Die inne­re Triebkraft des Kapitalismus ist die Gier nach Profit. Das Kapital drängt stets danach, sich die günstigsten Bedingungen zu verschaffen, um Menschen und Natur maximal auszubeuten. Die Grundlage von Vernichtung, Plünderung und Vergiftung der Natur in aller Welt ist die Realität der real existierenden Weltherrschaft des Kapitalismus. Transnationale Konzerne eignen sich immer größere Teile der Welt an, die sie unter sich – Konflikte nicht ausgeschlossen – aufteilen.

Ökoimperialismus ist zweitens der globale Angriff vom Boden des Nordens, aus Schornsteinen, Auspuff­rohren und Abflußrohren. Die Kampfstoffe gegen die Natur und gegen die in ihr lebenden Menschen drin­gen aus Chemie- und Metallfabriken, aus Kohlekraft­werken und Atomanlagen, aus LKWs und PKWs, aus Müllverbrennungsanlagen, Abwasserrohren und De­ponien. Der Klimakiller ist der reiche Norden, niemand sonst. Auch an der dramatisch gestiegenen weltweiten

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Durchschnittsbelastung mit radioaktiven Giften und dem weltweiten Vegetationssterben sind die Täter aus den Zentren des Kapitalismus (USA, Europa mit der Hegemonialmacht Deutschland, Japan) schuld.

Drittens bedeutet Ökoimperialismus die hemmungs­lose Ausbeutung und Plünderung von Naturressourcen außerhalb der kapitalistischen Zentren, sei es Uran, Öl, Kupfer oder fruchtbare Böden, die enteignet, in Mo­nokulturen leergepumpt, vernichtet hinterlassen oder für gentechnische Manipulationen vorbereitet werden. Ökoimperialismus ist Rohstoffdiebstahl bis zur fast vollständigen Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen im Trikont.

Ein viertes Merkmal von ökoimperialistischen Über­griffen auf die unterentwickelt gehaltenen Länder ist der Export und die Ansiedlung von Giftproduktionen und von nicht angepaßten oder lebensgefährlichen Technologien. Diese Eingriffe haben häufig auch mi­litärische Konsequenzen, besonders wenn es um die schmutzigen Geschäfte der international agierenden Atommafia geht. Ihr Handel verschlimmert die so­zialen und ökologischen Probleme in den Ländern, deren herrschende Eliten sich auf den radioaktiven Deal einlassen, sei es, weil sie an die Atomgewalt des Fortschritts glauben oder weil sie sich für die kom­menden Verteilungskriege mit Bombengewalt rüsten wollen. Beispiele sind etwa der deutsch-brasilianische Atomvertrag oder die deutsch-argentinischen Atomge­schäfte. Zu diesen ökoimperialistischen Ansiedlungen

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und Technologie-Exporten gehören, wie wir sehen werden, vorzugsweise Anlagen, die selbst den mise­rablen Umweltanforderungen in der Bundesrepublik Deutschland nicht Rechnung tragen.

Fünftens meint Ökoimperialismus den Export von Giftprodukten. Dazu gehört zum Beispiel eine Reihe von Pharmazeutika. Es müssen in den kapitalistischen Ländern meist erst viele Menschen gestorben sein, bis in der Bundesrepublik ein gutgehendes Medikament verboten wird. Völlig unbeeindruckt von dem Verbot von Pharmazeutika oder Pestiziden vermarkten die Hersteller anschließend ihre tödlichen Produkte in den unterentwickelt gehaltenen Ländern weiter. Ein Erfolg internationaler Solidarität der »Dritte-Welt«-Initia­tiven war es, daß in einigen Ländern des Trikont der Glaube nachläßt, daß Produkte aus dem Westen un­bedingt von hoher Qualität sind. Heute kommt es vor, daß Menschen in der »Dritten Welt« wissen wollen: Ist ein bestimmtes Produkt bei euch schon verboten? Die Chemiekonzerne haben sich darauf eingestellt. Oft wird ein Medikament, kurz bevor sein Verbot in Eur­opa wirklich nicht mehr verhindert werden kann, nur dort freiwillig vom Markt gezogen und kann so ohne profiteinschränkende Verbotshinweise in der »Dritten Welt« hemmungslos weiter vermarktet werden.

Die sechste Gestalt des ökoimperialen Krieges gegen die unterentwickelt gehaltenen Länder stinkt, ätzt und ist krebserregend. Was nicht als Produktionsverfahren, Agrargift oder technologisches Modell in der »Dritten

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Welt« landet, kommt als Abfall rücksichtsloser Pro­duktion. Vor die Zukunftschancen der Menschen im Trikont häufen multinationale Konzerne, ausländische Schieber und nationale und ausländische Regierungen Berge von Giftmüll.

Die Vergiftung der Welt aus den kapitalistischen In­dustriezentren heraus, die Plünderung der Ressourcen der »Dritten Welt«, der Export und die Ansiedlung von Gifttechnik und von gefährlichen Produkten bis hin zum giftigen Abfall nördlichen Wirtschaftswachs­tums und Konsumwahns verschärften die sozialen Widersprüche, die durch die kolonialen Beziehungen zwischen den Ländern des Trikont und den USA, Eu ropa und Japan entstanden ist. 1,1 Milliarden Menschen hungern, 500 Millionen sind chronisch unterernährt, jedes Jahr sterben 20 Millionen an den Folgen des Hungers.80 Plünderung und Vergiftung steigern Armut, Qual, Krankheit, Hunger, Elend und Perspektivlosigkeit von Milliarden Menschen. Armut und Naturvernichtung gehören untrennbar zusam­men. Ohne Lösung der sozialen Frage gibt es keine Lösung der ökologischen Probleme.

Wo Energie fehlt und Hunger herrscht, wie vieler­orts in Afrika, verbrauchen Menschen neu gepflanzte Sträucher und Bäume für die Zubereitung ihrer Nah­rung, selbst dann, wenn sie wissen, wie sehr sie diese Pflanzen langfristig brauchten. Die Naturschutzparks Serengeti und Ambroseli in Kenia zum Beispiel sind durch Hunger und Not der Menschen unmittelbar

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gefährdet. Armut, Umweltvergiftung, Plünderung von Bodenschätzen und Tourismus bedrohen 91 Naturschutzparks in 54 Ländern.81 Es ist nicht ihre Schuld, sondern die einer Wirtschaftsordnung, die ihre Chancen auf soziale Selbstbestimmung und tra­ditionelle schonende Nutzung von Naturreichtümern zerstört hat. Die Wüste schreitet durch grenzenlosen Rohstoffverbrauch des Kapitals und durch vollständige soziale Verelendung voran. Kilometer um Kilometer. Die Täter töten weiter. Gerät ihre Produktion in ein heftiges öffentliches Gerede – wie bei der Klimade­batte –, befrieden sie den Protest eine gewisse Zeit: Auf teuren internationalen Konferenzen erwecken sie etwa mit der Ankündigung eines eventuellen und um Jahrzehnte verspäteten Verbots einer einzigen Chemi­kaliengruppe (Fluorkohlenwasserstoffe) den Eindruck, als seien sie zu gewaltigen Opfern bereit. Aber immer mehr Menschen leiden und sterben an Hautkrebs und Immunschwäche.

Die Täter

Die ökonomische Niederlage der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder berauscht die herrschende Klasse. PolitikerInnen, Wirtschafts- und Medienleute verkünden in einer Art Sprachdelirium den »Sieg des Kapitalismus«. Die Unterwerfung des europäischen Ostens unter den Westen konstituiert den neuen

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Norden, machtvoller und aggressiver als je zuvor. Seit der Osten im Westen liegt, steht der Feind im Süden. Die ökonomischen Sieger des Kalten Krieges, Indu­strie- und Finanzkapital, kündigen neue triumphale Eroberungsschlachten an: Nur der Kapitalismus, meist verlogen als »Marktwirtschaft« verniedlicht, könne die Probleme der Menschheit lösen. Nur er sei in der Lage, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Ein realistischer Traum?

Der uruguayische Publizist Eduardo Galeano ant­wortet im Frühjahr 1990 für Lateinamerika: »Für uns ist der Kapitalismus kein noch zu verwirklichender Traum, sondern ein Wirklichkeit gewordener Alp­traum … Unsere Staaten und alles andere auch sind zu Schleuderpreisen von Großgrundbesitzern und Banken eingekauft worden. Für uns ist der Markt nichts anderes als ein Piratenschiff: je freier desto übler … Wir leben in einer Region, in der europäische Preise und afrikanische Löhne gelten. Kapitalismus ist in Lateinamerika antidemokratisch, mit oder ohne Wahlen: Die meisten Menschen sind Gefangene der Not, verurteilt zu Einsamkeit und Gewalt …. (Die Herr­schenden) täuschen vor, sie seien Teil einer natürlichen Ordnung. Sobald diese natürliche Ordnung jedoch in Unordnung gerät, treten die Militärs auf den Plan, mit Kapuzen verhüllt oder mit unverhüllten Gesichtern. ›Die Lebenskosten steigen und steigen, der Wert des Lebens sinkt und sinkt‹, sagen die Kolumbianer …. Im Lauf dieses Jahrhunderts ist Lateinamerika über

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hundertmal von den USA überfallen worden. Immer im Namen der Demokratie und immer, um Militärdiktatu­ren einzusetzen oder Marionettenregierungen, die das bedrohte Geld in Sicherheit brachten. Das herrschende imperiale System will keine demokratischen Länder. Es will erniedrigte Länder.«82

Der Krieg gegen die unterentwickelt gehaltenen Län­der hat heute so unterschiedliche Ausdrucksformen, daß mensch ihr gemeinsames Wesen manchmal kaum erkennt. Die Waffen dieses Krieges sind notfalls auch militärische. Beispiel Panama: Im Windschatten der deutschen nationalen Hysterie nach dem Fall der Ber­liner Mauer marschierte die US-amerikanische Armee im Dezember 1989 in Panama ein. Die Politik ihrer früheren Marionette Präsident Noriega gefi el ihnen nicht mehr. »Deutschland« starrte währenddessen auf den Fall der Berliner Mauer, vergoß Tränen der Rührung vor dem Brandenburger Tor oder ersatzweise vor dem Fernsehapparat, bot den aus »stalinistischer Knechtschaft« befreiten Deutschen 100 D-Mark Begrü­ßungsgeld und schwieg zur martialischen Verletzung der Menschenrechte durch die USA in Panama. US-Truppen ermordeten, während nationale Besoffenheit auf Mauern und Plätzen »Deutschlands« triumphierte, schätzungsweise 4000 bis 7000 ZivilistInnen in Pa­nama. Diese Zahl nannte der ehemalige US-Justizmi­nister Ramsey Clark nach einer Reise durch Panama, auf der er Anhaltspunkte über Massengräber von na­menlos verscharrten Opfern der US-amerikanischen

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Invasion erhalten hatte. Besonders die Wohnviertel der Armen waren Zielscheiben der US-Streitkräfte und ihrer Luftangriffe. Viele ehemalige städtische Slums sind heute profi tables Bauland.

Das Wirtschaftsgefüge Panamas wurde durch den Einmarsch völlig zerrüttet. Viele Klein- und Mittel­betriebe machten Bankrott. Die Lage der meisten Menschen in Panama ist schlechter als je zuvor, nur einigen von den USA abhängigen Reichen geht es gut. Die US-Strategen beherrschen die Wirtschaft und die Verwaltung des zentralamerikanischen Landes. Schon zur Zeit Noriegas behielt das reiche Land aus dem Nor­den 385 Millionen US-Dollar ein, die Panama gehören. Außerdem ist Panama mit etwa 500 Millionen US-Dollar bei US-Banken verschuldet. Mögliche Kredite zum Aufbau Panamas werden meistens mit der Auflage verbunden, sie ausschließlich für US-amerikanische Produkte auszugeben. Das eigentliche Ziel der Invasion war, wie Galeano sagt, ein »erniedrigtes Land« und, wie panamesische Politiker sagen, die »Zerschlagung der panamesischen Streitkräfte und die Aufl ösung un­serer damaligen Regierungspartei«. Der von den USA eingesetzte Marionetten-Staatspräsident Guillermo Endara schwor seinen Amtseid in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember 1989 in einer US-Militärbasis auf eine englischsprachige Bibel.83

Die effektivsten Waffen im andauernden Krieg des Nordens gegen den Süden sind ökonomische. Sie sind in der Gemeinschaft der kapitalistischen

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Industriezentren anerkannte Waffen, langfristig wirkungsvoll, und führen leiser zum Ziel als Napalm, Jagdbomber oder Panzer. Der direkte oder vermittelte Export der kapitalistischen Produktionweise, ihrer Produktionsverfahren, ihrer Produkte und ihrem Abfall bewirkt, daß am Abend eines jeden Tages in jedem Jahr in den unterentwickelten Ländern 50 000 Kinderleichen in Blechhütten, Zelten oder im Freien liegen. Sie sterben an Hunger, Mangelernährung und an harmlosen Krankheiten.84 Ihr Sterben macht keinen besonderen Lärm. Zählen wir die kriegstoten Kinder hinzu, sind es über 80 000 Kinder im Trikont jeden Tag. Mehr als 150 Millionen Kinder kämpfen weltweit mit Gesundheitsschäden oder Wachs­tumsstörungen.85 Nach konservativen Schätzungen des US-World Watch Instituts von 1990 leben 675 Millionen Menschen in Asien in »absoluter Armut«. Weltweit dürften es zwischen 1,5 und 2 Milliarden Menschen sei, bei einer Gesamtbevölkerung von 5,3 Milliarden Menschen. Noch machen auch die 15-20 Millionen Menschen auf der täglichen Flucht vor Seuchen, ökologischer Vergiftung, Hungertod, Folter und Krieg keine Geräusche, die störend in den Alltag der reichen Nationen einbrechen würden. Ab und zu begegnen uns einzelne Opfer dieses ökonomischen Krieges als abgewiesene, abgeschobene Flüchtlinge. Mensch denunziert sie als »Wirtschaftsflüchtlinge«, als ob nicht die Hauptschlacht, die gegen die Masse der Menschheit geführt wird, ein Wirtschaftskrieg ist

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und sie, so gesehen, in Wirklichkeit vor den Folgen kapitalistischer Wirtschaft fliehen.

Der Staat, in dem wir leben, kämpft in räuberischen Feldzügen in aller Welt an vorderster Front mit. Die Methoden des Krieges wechseln. Einmal ist es die Fi­nanzierung des Krieges der USA am Golf, ein anderes Mal sind es Rüstungsexporte und ein drittes Mal wird einem verschuldeten Drittweltland der Hals mit fle­xiblen Kreditzinsen zugedreht, bis jeder Ansatz einer eigenständigen Entwicklung zerschlagen ist. Die In­teressenvertreter des deutschen Staates, der wiederum Interessenvertreter des deutschen Kapitals ist, sitzen in den Agenturen des internationalen Finanz- und Industriekapitals, im IWF und der Weltbank und sind bei fast jeder Schweinerei dabei.

Während Deutschland als Teil der künftigen Welt­macht Europa für den »Dritte-Welt«-Krieg mitverant­wortlich ist, verkünden bundesdeutsche PolitikerInnen bei festlichen Anlässen, daß die starke westliche Ge­meinschaft seit dem zweiten Weltkrieg den Frieden bewahrt habe. Sie meinen den Frieden für die Profitra­ten des bundesdeutschen Kapitals. Sie meinen ihren Frieden, denn seit dem Ende des 2. Weltkrieges, von 1945 bis 1986, tobten im Trikont rund 190 Kriege, bei denen mindestens 20 Millionen Menschen getötet wurden.86 Die Aussage »die Dritte Welt liegt mit sich selbst im Krieg, während die Industriegesellschaften der Hort des Friedens seien«87, ist empirisch falsch. Al­lein in der engen Definition der direkten militärischen

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Beteiligung an Kampfhandlungen (unter Ausschluß zum Beispiel von kolonialer Schuld der kapitalitischen Staaten an sozialen Konflikten, die innerhalb des Tri­kont zum Krieg führen und von Rüstungsexporten) waren Staaten der kapitalistischen Zentren und aus dem ehemaligen RGW-Bereich an 25 Prozent dieser Kriege und militärischen Interventionen beteiligt. 75 Prozent aller Kriege waren reine Trikont-Kriege. Die innerstaatlichen Kriege haben den höchsten Anteil an Drittbeteiligungen (72 Prozent). Der »internationali­sierte Bürgerkrieg« ist damit der Haupttyp der Kriege unserer Zeit.88

Der Krieg gegen die unterentwickelt gehaltenen Län­der beinhaltet nicht nur die Zerstörung von kultureller Identität, dieser Krieg wird auch mit bevölkerungspo­litischen Mitteln geführt. Im Mai 1990 veröffentlichte die UNFPA (Bevölkerungsfond der Vereinten Natio­nen) ihren Weltbevölkerungsbericht. Der Anstieg der Bevölkerungsraten in den unterentwickelt gehaltenen Ländern wurde beklagt und, wieder einmal, als ur­sächlich für die ökologischen Probleme unterstellt. Die meisten Medien in den Zentren des Ökoimperialismus reagierten auch wie immer: hysterisch und mit der bereitwilligen Verbreitung von Ankündigungen für verschärfte bevölkerungspolitische Willkürakte.

Nur wenige Familienplanungsprojekte in der Welt gehen rücksichtsvoll und solidarisch mit den Menschen um und beziehen die sozialen und kulturellen Bedin­gungen mit ein. Nur wenige respektieren das Recht auf

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Selbstbestimmung. In Indien wurden Männer heimlich und ohne ihr Wissen sterilisiert, in Bangladesh zwan­gen die Planer hungernde Frauen zum Tausch: Sterili­sation gegen Nahrungsmittel. Familienplanungsmaß­nahmen in unterentwickelt gehaltenen Ländern mit dem Ziel, die Geburtenraten zu senken, und der Einzug der Eugenik in die Familien- und Gesundheitspolitik der kapitalistischen Länder des Nordens sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Medaille hat eine rassistische Einfärbung: »Minderwertiges« Leben in einem Teil der Welt zahlenmäßig zu verringern, im anderen Teil der Welt für bessere »Zuchtauswahl« zu sorgen. Vorgeblich frauenfreundlich setzte der Welt­bevölkerungsbericht von 1989 noch auf den »Vorrang für Frauen«, auf westliche Werte und Vorurteile gegen fremde Kulturen, Lebensgemeinschaften, Ethnien und Religionen.

Die Kleinfamilie mit zwei Kindern und teilzeit­arbeitender Frau wird der übrigen Welt als eman­zipatorisches Ideal vorgehalten. Es interessiert die BevölkerungsstrategInnen nicht, welche Formen der Unterdrückung in diesen Beziehungsstrukturen herrschen. Vorrang hat, daß die Kleinfamilie die ökonomische Disziplinierung der Frauen erleichtert und die Konsumgüternachfrage steigert. Nicht in die Beseitigung des Hungers und in menschenwürdige Lebensumstände im Trikont wird investiert, sondern – ohne Rücksicht auf gesundheitliche Schäden und soziale Folgen – in möglichst langfristig wirkende

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Techniken der Empfängnisverhütung. Dabei ging die Geburtenrate in den unterentwickelt gehaltenen Län­dern sogar von 6 Kindern (Anfang der 60er Jahre) auf 3,9 Kinder zurück. China, Kuba und Mauritius mel­den z. B. einen Rückgang der Geburtenziffern um 25 Prozent. Der Weltbevölkerungsbericht veröffentlicht auch, daß sich die Verwendung von Empfängnisver­hütungsmitteln rasch ausgebreitet hat. In Ostasien stieg ihre Benutzung von 13 auf 74 Prozent, in allen »Dritte-Welt«-Ländern von 9 auf mehr als 50 Pro­zent.89 Bevor christliche Moral und Missionare die Welt überschwemmten und predigten, daß Empfängnisver­hütung und Geburtenregelung ein strafbarer Eingriff in die Gesetze Gottes seien, gab es das Problem zu hoher Geburtenraten in Afrika, Asien und Lateinamerika nicht. Die hohe Geburtenrate im Trikont liegt nicht zuletzt auch daran, daß viele Menschen, angesichts des sozialen Elends, nur in einer großen Kinderzahl eine Überlebenschance sehen. Wären die reichen Staaten z. B. bereit, eine weltweite Rentenversicherung einzu­führen, würde die Geburtenrate innerhalb kürzester Zeit drastisch sinken.

Die wohlhabendere Minderheit der Menschen verbraucht die Mehrheit des Wassers, der Rohstoffe und der erzeugten Energie dieser Erde. 80 Prozent der Energie werden nur in den kapitalistischen Zen­tren verbraucht. Um von den Taten und den Tätern abzulenken, wird die Mär von der Überbevölkerung als Ursache der globalen Umweltprobleme aufrecht­

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erhalten. Während die »Selbstbestimmung« des Öls in Kuwait von den USA und ihren westeuropäischen Söldnern militärisch verteidigt wird, hat die Mehr­heit der Menschen auf der Erde keine Chance, den Reichtum menschlicher Fähigkeiten selbstbestimmt zu entdecken. Im Jahr 1900 lebten 10 Prozent der Menschen in Städten, im Jahr 2000 könnten es 50 Prozent sein. Mexico City wird dann mit 26 Millionen EinwohnerInnen die größte Stadt der Welt sein, vor São Paulo, Tokio, Kalkutta, Bombay und New York. In Kalkutta leben schon 70 Prozent der Menschen in Slums. In Mexico City sank das Einkommen in 10 Jahren um die Hälfte. In Brasilien gehört der ärmeren Hälfte der Landbevölkerung nur 3 Prozent des Bodens. Die zutiefst ungerechte Konzentration des fruchtbaren Bodens in den Händen weniger vertreibt in ganz La­teinamerika viele Millionen Arme in die städtischen Ballungszentren, allein nach São Paulo strömen jähr­lich rund 250 000 Arme und schaffen mehr als 1000 neue Straßen, die mensch auf keinem Stadtplan fin­det. Millionen Kinder und Jugendliche leben auf den Straßen. Verbrechen sind an der Tagesordnung. Die Reichen in den Mega-Städten schützen sich mit schwer bewaffneten Privatarmeen. Über den Ballungszentren verdunkeln Smog und Luftvergiftung den Himmel. Die Städte versinken in giftigen Müllbergen und die städ­tische Infrastruktur, vom Gesundheitswesen bis zum Verkehrssystem, brechen zusammen. In absehbarer Zeit werden viele Menschen in den Riesensiedlungen

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einfach verdursten. Die Ursache dieses Prozesses sind die durch den kapitalistischen Weltmarkt in Gang ge­setzten Zentralisations- und Konzentrationsprozesse mit der weltweiten Folge der Zerstörung kultureller und sozialer ländlicher Strukturen und der Schaffung landwirtschaftlicher Monokulturen für den Export in den Norden. Immer größere Landflächen wer­den damit der Ernährung der Bevölkerung vor Ort entzogen. Korruption und Planlosigkeit nimmt den Städten des Trikont ihr unverwechselbares Gesicht. Es sind, sagt der mexikanische Lyriker Octavio Paz, nur noch »gigantische, unmenschliche und grausame Agglomerationen«. Der Anteil der Menschen in den kapitalistischen Zentren an der Weltbevölkerung sinkt rasch: von 25 Prozent (1985) auf vermutlich 16 Prozent (2025).90

Die Ursache systematischen Massensterbens, von Qual und Flucht, liegt in der innersten Triebkraft der Produktionsweise des Nordens, die die Welt, – mit wenigen weißen Flecken – beherrscht. Daß die Un­terwerfung unter den Kapitalismus sehr verschieden aussehen kann, liegt an den politisch, kulturell und sozial unterschiedlichen Bedingungen des Lebens in den einzelnen Ländern. Manchmal braucht das Kapi­tal eine Militärdiktatur. Gibt die ein schwaches Bild ab und schafft Legitimationsprobleme, genügt auch eine reaktionäre, scheinbar parlamentarisch verfaßte formale Demokratie mit außerordentlichen Ausnah­merechten für das Militär wie in Chile. Ein anderes

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Mal ist es das klügste, eine gewisse Menge formaler Spielregeln einzuhalten und jede Entdemokratisierung und Repression gegen politische Opposition hübsch säuberlich zu legalisieren, etwa durch Notstandsgeset­ze oder sogenannte Anti-Terror-Paragraphen – wie in der Bundesrepublik. Die Spanne ist weit.

So groß die Probleme vieler Menschen in der Bun­desrepublik Deutschland sind, das weitaus größere menschliche Elend und die umfassende plündernde Verseuchung der Natur wird aus den kapitalistischen Zentren in die Länder des Trikont exportiert. Nicht ein­mal die lächerlich unzureichenden Umweltkontrollen, die wir in langen Kämpfen hier durchsetzen konnten, greifen dort. Auch die Einrichtung oder Verteidigung bescheidener sozialer Rechte wird nicht mitexportiert. Während sich die Lage zwischen den Herrschenden in Ost und West zugunsten des Westens entspannt, zei­gen die sozialen Kämpfe in der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten, daß dieses für die Menschen im Osten nicht unbedingt gilt. Zudem verschärft diese »Entspannung« den Nord-Süd-Konfl ikt zwischen den reichen und den armen Nationen.

Exkurs: Weltwirtschaft und Verschuldung

Die ungleichen Handelsbeziehungen garantieren den kapitalistischen Metropolen niedrige Rohstoff­preise und den unterentwickelt gehaltenen Ländern

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den Zwang, Fertigwaren zu überhöhten Preisen abnehmen zu müssen. Über den kapitalistischen Weltmarkt kommt es zu einer ständigen Entwertung menschlicher Arbeitskraft und von Naturressourcen im Trikont. Die Folge ist eine verschärfte soziale und ökologische Ausbeutung.

Die Gesamtauslandsschulden des Trikont, bei öf­fentlichen wie privaten Gläubigern, lagen Anfang 1990 bei 1400 Milliarden US-Dollar. Der Schulden­dienst, Tilgung und Zinsen, stiegen, wegen höherer Zinsen und Wechselkursänderungen, auf rund 180 Milliarden US-Dollar.91 1980 betrugen die Schulden erst 573 Milliarden US-Dollar. Die Staaten der ka­pitalistischen Zentren zahlen in Form von Krediten, Zuschüssen und Entwicklungshilfe jährlich etwa 110 Milliarden US-Dollar. Es fließen demzufolge Jahr für Jahr 50 Milliarden US-Dollar mehr aus der »Dritten Welt« in die kapitalistischen Zentren als umgekehrt, andere Schätzungen gehen sogar von 60 bis 70 Milli­arden »Entwicklungshilfe« für den Norden aus. Nach Berechnungen von Andre Gunder Frank und Marta Fuentes-Frank92 betrug der Kapitalfluß von 1983 bis 1986 mehr als 500 Milliarden US-Dollar. Zu jährlich 50 Milliarden für den Schuldendienst kamen 100 Milliarden durch Kapitalflucht, 100 Milliarden US-Dollar durch eine 40prozentige Verschlechterung der Terms of Trade für den Süden und weitere 100 Milli­arden US-Dollar für »normale« Gewinnentnahmen und Lizenzgebühren. Bis 1989 kamen insgesamt 300

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Milliarden US-Dollar hinzu, macht von 1983 bis 1989 insgesamt einen Kapitaltransfer von Süden nach Nor­den in Höhe von 800 Milliarden US-Dollar, weit über der Hälfte der gesamten Auslandsschuld des Trikont. In Wahrheit fließt der Reichtum vom Trikont in die kapitalistischen Metropolen.

Der erste entscheidende Verschuldungsschub kam durch die sogenannte Ölkrise 1973. Das internatio­nale Bankensystem schwamm durch den Rückfluß der Ölmilliarden aus den ölexportierenden Ländern im Geld. Damit es Profit bringt, mußte es angelegt werden. Aber die kapitalistischen Zentren erlebten eine Rezession, keine berauschenden Investitions­möglichkeiten also. In diese Lücke drang die stimu­lierte Kreditnachfrage der herrschenden Elite aus den Ländern des Trikont und die großzügigen Angebote internationaler Entwicklungsorganisationen. Beide waren scharf auf quantitatives Wirtschaftswachs­tum, Großprojekte, Exportankurbelung und die Entwicklungsorganisationen waren darüber hinaus besonders interessiert an der engeren Fesselung des Trikont in die kapitalistische Weltwirtschaft.

Den zweiten Verschuldungsschub produzierte die US-Wirtschaftspolitik unter der Regierung Reagan. Die Dollars wurden knapp, als die USA aus der gan­zen Welt Kapital abzogen, um es in ihr Rüstungs­programm zu stecken. Der Trikont mußte wegen der verknappten Dollars für Produkte aus den kapitalisti­schen Ländern höhere Preise bezahlen. Die Zinsspirale

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rotierte. Der Teufelskreis zog sich um die Schuldner­länder immer enger zusammen. Ihre Exportgüter, vorwiegend Rohstoffe und Nahrungsmittel, wurden weniger nachgefragt und sanken im Preis. Die Güter hingegen, die sie aus den kapitalistischen Staaten im­portierten, vor allem Fertigwaren aller Art, wurden teurer. Um die Schulden oder wenigstens einen Teil der Zinsen abzuzahlen, exportierten die »Dritte-Welt-Länder« immer mehr. Das trieb die Preise für ihre Produkte noch weiter nach unten. Gleichzeitig brach­ten die mit teuren ausländischen Krediten finanzierten Großprojekte, wenn überhaupt, nur kleinen Gruppen Vorteile. Meistens enttäuschten die Renditen aus den Projekten auch diejenigen, die von ihnen profitierten. Dazu kamen noch kaum kalkulierbare projektbezoge­ne und soziale und ökologische Folgekosten, die die Schuldnerländer noch weiter belasten. Die meisten unterentwickelt gehaltenen Länder konnten weder die Kredite tilgen noch die Zinsen zahlen. Und so nahmen sie neue Kredite auf, »frisches Geld«, um wenigstens einen Teil der Zinsen zu bezahlen. Und die Zinsen stie­gen bis über 20 Prozent. Die Verschuldungsschraube drehte sich schneller und schneller.

Die hohe Verschuldung heizt auch die Geldentwer­tung im Trikont an: Brasilien hat Infl ationsraten von über 500 (Rekordhöhe 1990: 1795 Prozent), Argenti­nien von 337 und Mexiko von über 110 Prozent.93 Um kreditwürdig zu sein, müssen diese Länder weitere Sozialausgaben streichen. Das Schuldenproblem

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konzentrierte sich 1988 zunehmend auf die armen schwarzafrikanischen Staaten und fast alle Länder Lateinamerikas. Inzwischen sind auch mehr osta­siatische Länder mit geringem Bruttosozialprodukt schwer verschuldet. Nach Auffassung von Bettino Craxi, dem UN-Beauftragten für die Schuldenkrise im Trikont, liegt das an der Golfkrise, dem Anstieg der Ölpreise und steigenden Zinsen.94

Die Deutsche Bank geht davon aus, daß 77 Prozent ihrer Drittweltkredite verloren sind. Sie sind bereits als nicht einbringbar gebucht. Die Westdeutsche Lan­desbank hat gut 50 Prozent »bereinigt«, die Dresdner Bank weit mehr als 50 Prozent. Die Commerzbank kann sich diese Abschreibungspolitik wegen fehlen-der Gewinne nicht leisten, sie hat bisher weniger als 50 Prozent wertberichtigt. Wertberichtigungen deutscher Banken, das heißt Verluste, können von der Steuer abgesetzt, das heißt, auf alle SteuerzahlerInnen umgewälzt werden. Auf diese Weise haben die Ban­ken Millionen von Steuerschulden gespart. Mangels steuerlicher Abschreibungsmöglichkeiten haben im Vergleich die USA erst 30 Prozent und Japan 15 Pro­zent Deckungsgrad erreicht. Die europäischen Banken kommen dagegen im Schnitt auf 30 bis 50 Prozent. Wertberichtigungen werden als eine Art Risikovorsor­ge (Schutz vor einer plötzlichen Zahlungsunfähigkeit, einem Zusammenbruch) gesehen.

Die Rückstände bei der Kreditrückzahlung an den IWF betragen etwa 4,5 Milliarden US-Dollar.95 Vom

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»moral hazard«, wie die Banker den Schuldnerstreik nennen, seien große Schuldner wie Argentinien, Ve­nezuela und Peru befallen, die teilweise seit fast zwei Jahren keine Zinsen mehr zahlen, von Tilgung ganz zu schweigen. »Von afrikanischen Ländern, einschließ­lich Ägypten, sehen wir – abgesehen von Ausnahmen wie Zimbabwe – keinen Pfennig mehr, meinte ein schuldgestreßter Geldverleiher.«96

Die Weltbank weiß, was sie tut: von 30 in Wirt­schaftsanpassung befindlichen Ländern habe sich die zusätzliche Belastung bei zweidrittel der Län­der »nachteilig auf die Investitionen ausgewirkt«, schreibt sie in ihrem Jahresbericht 198g. Nur acht Staaten konnten ihr Wirtschaftswachstum steigern und ihre Schuldendienstleistung verbessern. »Auf den Gebieten der Ernährung, der Kindersterblichkeit, der Lebenserwartung und der Schülerzahlen in den Grundschulen hat sich der Fortschritt verlangsamt und gibt zur besonderen Besorgnis Anlaß.« In Afrika stagnieren die Erziehungs- und Gesundheitsausga­ben. Hungerrevolten, wie Anfang Juli 1989 in Sambia nach einer drastischen Verteuerung von Maismehl durch die Regierung, häufen sich. »Die Verschuldung der ›3. Welt‹«, so mahnen Finanzexperten der Welt­bank, »ist längst zur ernsten Gefahr eines totalen Zusammenbruchs des westlichen Währungsystems geworden.«97

Der geschäftsführende Direktor des IWF, Michel Camdessus, führte auf der Jahrestagung der Welt­

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bank und des IWF 198g aus, »unsere gemeinsame Verantwortung« sei die Verringerung der Armut und die Wiederbelebung des Wachstumsprozesses in den »Entwicklungsländern«. Was für ein Heuchler! Weltbankdirektor Barber Conable schloß sich der verlogenen Besorgnis an und meinte, von der eige­nen Praxis ablenkend, alle Staaten müßten die Rü­stungsausgaben verringern. Die Länder des Trikont geben etwa zwanzig Prozent ihrer Haushaltsmittel für die Verteidigung aus, mehr als die Aufwendun­gen für das Gesundheits- und Erziehungswesen. Rüstungsausgaben sind oft die Hauptursache für die Auslandsverschuldung des Trikont. Und von dem Kauf von Waffen und von militärischer In­frastruktur profitieren die Rüstungskonzerne des kapitalistischen Nordens, der seine Interessenver­treter in hervorragenden Positionen in der Weltbank versammelt sieht.

Das Verhältnis zwischen Exporten und Schulden­dienst habe sich trotz gestiegener Zinsen angesichts höherer Ausfuhren des Trikont sogar gebessert, vermerkt der IWF-Jahresbericht von 198g zynisch. Damit dokumentiert er die verschärfte Ausbeutung von menschlicher Arbeit und Natur. Trotz bedauer­licher Zahlungsrückstände etlicher Gläubiger zahlte der IWF im Geschäftsjahr 1988/1989 6 Milliarden US-Dollar neue Kredite aus und kassierte Rückzahlun­gen für laufende Kredite in Höhe von 8,3 Milliarden US-Dollar.

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Mehr als 1 Milliarde Menschen auf der Welt sind laut Weltbank arm: Sie haben nicht mehr als 1 US-Dol­lar am Tag, um zu leben. Bei ihrer Herbsttagung im September 1990 gab sich die Weltbank sozialkritisch: Die Zahl der Armen könne bis zur Jahrtausendwende um 300 Millionen verringert werden. Folgte mensch ihrem Konzept konsequent, hieße dies: Schlüsselfaktor ökonomisches Wachstum, Investition in »Humanka­pital«, Entwicklung arbeitsintensiver Industrien, Sozialpolitik ohne Erhöhung der Staatsausgaben, zehnprozentige Kürzung der Verteidigungsausgaben der NATO. Strukturanpassungspolitik sei mit einer neuen Wachstumspolitik grundsätzlich vereinbar, in deren langfristiger Folge dann Armut abnehmen könne, auch wenn kurzfristig vielleicht erst einmal Ar­mut entstehe. Ein »grüner Fonds« mit einem Volumen von 1,3 Milliarden D-Mark wurde eingerichtet.98 Mal sehen, welches Amazonasprojekt, welches Rinder­zuchtvorhaben, welcher Einsatz von gentechnischen Manipulationsprodukten unter »umweltpolitischen Vorhaben« verbucht wird. Alle diese Weltbankpla­nungen setzen eine gleichbleibende Wachstumsrate in den kapitalistischen Zentren von 3 Prozent, fallende Zinsraten und steigende(!) Rohstoffpreise voraus. Nichts davon trifft ein, und schon gar nicht alle 3. Es sind Pläne für den Papierkorb, nachdem sie ihren Zweck erfüllt haben, und die kritischer gewordene Öffentlichkeit ein bißchen beruhigt wurde.

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IWF, Agentur der Täter

Die Aufgabe des 1945 gegründeten Internationalen Währungsfonds (IWF) ist es, dem Welthandel eine »gesunde Finanzbasis« zu geben. Er soll wirtschaft­liche Zusammenarbeit, ausgeglichenes Wachstum und Stabilität der Währungen fördern, soll mit mul­tilateralen Zahlungssystemen Transaktionen der Mitgliedsländer erleichtern und bei der Behebung von Ungleichgewichten in der Zahlungsbilanz helfen. Das ist die abstrakte Zielsetzung des IWF. Aber in Wirk­lichkeit ist nichts »stabil«, »gesund« oder »ausgegli­chen«, viel eher bankrott, krank und perspektivelos – jedenfalls für die Mehrheit der Menschen. Der IWF ist im Besitz eines Eigenkapitals in Höhe von 118 Milliarden US-Dollar und plant eine Aufstockung, hauptsächlich zugunsten »marktwirtschaftlicher Re­formen« in Osteuropa, um 50 Prozent. Dann müßte die BRD ihre Einlage von 11,9 Milliarden D-Mark um etwa 6 Milliarden D-Mark aufstocken. Bundesfinanz­minister Theo Waigel und Bundesbank-Präsident Karl Otto Pohl halten internationale Befürchtungen, daß die deutsche »Vereinigung« zur Kapitalverknappung und zur Zinssteigerung führen könnte, für »etwas übertrieben« und glauben, die Kapitalerhöhungen im G7-Ausschuß und im IWF-Lenkungsgremium, dem 22 Finanzminister und Notenbankchefs angehören, durchsetzen zu können.99

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Der IWF kann großzügig sein: Weil der – »Golfkri­se« genannte – schleichend begonnene Krieg, nach Ansicht des IWF, 76 Länder wegen des gestiegenen Ölpreises in Schwierigkeiten bringt, ist der Fond zu »Opfern« bereit.100 Den ölimportierenden unterent­wickelt gehaltenen Ländern gestand der G7-Ausschuß (das Gremium der 7 mächtigsten kapitalistischen Länder) finanzielle Unterstützung zu, die gemeinsam mit Saudi-Arabien, den Vereinigten Emiraten, Süd­korea und dem IWF aufgebracht werden soll. Mensch streite sich noch über die Summe, den Europäern sind 9 Milliarden D-Mark genug, die USA wollen 14 Milli­arden Dollar für die Frontstaaten Türkei, Ägypten und Jordanien bis Ende 1991. Die Kooperation für den ge­planten Krieg am Golf war einiges Geld wert. Die USA beabsichtigt Ägypten wegen seines »Engagements« in der Golfkrise die Militärschulden zu erlassen, denn Kairo steht mit 14 000 Soldaten in Saudi-Arabien.101

Gute Freundschaft ist wertvoll. Die Schuldnerländer müssen harte Bedingungen

erfüllen, um neue Kredite vom IWF zu bekommen: Sie müssen ihre Produktion und Landwirtschaft auf die Herstellung von Exportgütern umstellen, harte Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten durchsetzen und die sogenannten Marktkräfte stär­ken. Die Konsequenzen für die Menschen in den Schuldnerländern sind grausam. Die Subventionen für Grundnahrungsmittel fallen weg, Milch, Brot, Fleisch und Gemüse werden teurer oder unbezahlbar. Die

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Preiskontrollen für Konsumgüter werden beseitigt, und die Preise für Kleidung, Schuhe, Möbel, Haushalts­geräte und Schulbücher steigen in schwindelerregende Höhen. Die indirekten Steuern werden erhöht, die Im­porte erleichtert, und Kleinbetriebe und Manufakturen gehen bankrott. Der Staat spart im Gesundheits- und Sozialbereich. Wer arm oder krank ist, kann kaum noch mit Unterstützung rechnen.

Eine direkte Folge der IWF-Politik ist der frühzeitige Tod vieler Menschen. DemonstrantInnen riefen bei der Anti-IWF-Kampagne 1988 in Berlin nicht ohne Anlaß: »IWF-Mördertreff!« Damit der verschuldete Staat Schulden abtragen kann, verschleudert er die natürli­chen Ressourcen. Angebaut werden die Produkte, die die reichen Gläubiger begehren: Monokulturen lösen traditionelle und umweltfreundliche Mischwirtschaf­ten ab. Der Boden wird hart mit Chemie verseucht. Viele Böden erodieren, weil sie brutal und kurzsichtig ausgeplündert und nicht für die Zukunft der Menschen erhalten werden. Wem der Boden genommen wurde und wer auf dem Land zu verhungern droht, zieht in die Städte. Die Slums der Elenden wachsen noch schneller als die Verschuldung.

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Weltbank, Club für Tod, Vernichtung und Rendite

Eigentlich heißt die 1945 von 44 Staaten in Bretton Wood gegründete Weltbank »Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung«. Ihre selbstgestellte Aufgabe ist es, den Wiederaufbau und die Entwick­lung von Mitgliedsländern durch Erleichterung von Kapitalanlagen für produktive Zwecke und private aus­ländische Investitionen sowie die Produktionsquellen eines Landes zu fördern. Und genau das tut sie. Und sie betreibt ihren Job ohne jede Rücksicht auf Mensch und Natur. Mit ihrem Geld werden Flüsse gestaut, Wälder überflutet oder bis auf den nackten Boden abgeschlagen, Urvölker verjagt, der Boden aufgerissen und Biozidschleier über die Welt versprüht.

Die Weltbank ist die mächtigste und einflußreichste Entwicklungsbank der Welt. Sie setzt Großprojekte durch, die vorhandene soziale Konflikte noch verschär­fen und die ökologischen Grundlagen des Lebens im Trikont ruinieren. Dabei zieht jede ihrer Investitionen zwei- bis dreimal so viele Investitionen von privaten Kapitalgebern nach sich. Für einen Weltbankdollar gibt es 2 bis 3 US-Dollar Kredite von privaten oder öffentlichen ausländischen Geldgebern. Jährlich leitet die Bank zum Wohle ihrer reichen Mitgliedsländer mindestens 15 Milliarden US-Dollar in Projekte in unterentwickelt gehaltenen Ländern. Ihre Entschei­

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dungen, die sie in kleinen geschlossenen Zirkeln fällt, betreffen Milliarden von Menschen und die Ökosyste­me der Erde. Die Weltbank hat noch nie Rechenschaft über die Hunderte von Milliarden US-Dollar, die sie steuerte, abgelegt. Innerhalb der Weltbank beeinflus­sen 6000 Ingenieure und Ökonomen die Politik. Die Weltbank ist eine formell autonome internationale Einrichtung, jedoch getragen und finanziert von 150 Mitgliedsländern. Wer mehr zahlt, hat mehr zu sagen. Die Einzahlungen entsprechen ungefähr den Stimmen­rechtsanteilen. Die USA hält knapp 20 Prozent des Stimmanteils. Die Bundesrepublik und Japan stehen mit rund 5,5 Prozent gemeinsam an zweiter Stelle. Die westeuropäischen Staaten zusammen halten etwa soviele Anteile wie die USA, etwa 20 Prozent, das gro­ße Land Brasilien hält dagegen nur 1,63 Prozent der Stimmanteile.

Die deutschen Kapitalinteressen vertritt in der Weltbank die Bundesregierung. Sie zählt zur engeren Führungsgruppe, gegen deren Willen nichts ent­schieden werden kann. Die Bundesregierung wird bei den Jahresversammlungen durch einen Gouverneur vertreten, den amtierenden Minister für wirtschaft­liche Zusammenarbeit. Die laufenden Geschäfte der Weltbank werden von den Exekutivdirektoren beauf­sichtigt. Wegen der hohen Einzahlungen der Bundes­republik gehört sie zu den 7 Mitgliedstaaten, die ihren Direktor im Direktorium selbst benennen. Die übrigen 15 Direktoriumsmitglieder werden von den restlichen

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143 Mitgliedsländern in Stimmpools gewählt. Der bun­desdeutsche Exekutivdirektor ist gegenüber dem Mi­nisterium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) weisungsgebunden. Der deutsche Einfluß macht sich noch auf andere Art geltend: Ein überproportionaler Anteil leitender Beschäftigter innerhalb der Weltbank sind Deutsche.

Das Geld, daß die Weltbank braucht, nimmt sie zum größten Teil an internationalen Kapitalmärkten auf. 1987 wurden 21 Prozent der Mittel in D-Mark aufgenommen. Ebenfalls 1987 verhalf die Bundesre­publik der Militärdiktatur in Chile zu einer knappen Mehrheit für einen Kredit von 250 Millionen US-Dollar. Sogar die USA hatte sich bei der Abstimmung enthalten. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) beteiligt sich immer häufiger als Ko-Finanzier an Finanzierungsprogrammen der Weltbank. Dadurch wird im übrigen der bundesdeut­sche staatliche Spielraum für eine mögliche grundbe­dürfnisorientierte Entwicklungspolitik dieser Behörde kleiner. Während der Internationale Währungsfond (IWF) die verschuldeten Länder in dramatische Struk­turveränderungen zwingt, um die Rückzahlung der Kredite zu garantieren, setzt die Weltbank, vorbei an den grundlegendsten Bedürfnissen der Ärmsten, »pro­duktive Entwicklungsprojekte« durch. Vor allem sind dies Staudämme, bewässerungs- und kapitalintensive Agrarprojekte, der großangelegte Abbau von Natur­ressourcen – manchmal mit dem Ziel des Aufbaus

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von Industriekomplexen –, Häfen, Großstraßen und Projekte der Telekommunikation.

Indem sie für die notwendigen Kredite ganz oder teilweise bürgt, ziehen die Kreditvergaben der Welt­bank andere, öffentliche und private Kredite nach sich. Wo wird das Geld ausgegeben? Rund zwei Drittel des Geldes, ob für Dienstleistungen, Verbrauchsgüter oder Maschinen, werden außerhalb des Schuldnerlandes ausgegeben. Die Gläubigerländer verdienen so nicht nur an den Zinsen. Die Schulden und Zinsen für die Großprojekte, in deren Planung oder Entscheidung die Masse der Menschen nicht einbezogen ist, zahlen dann diese Massen und nicht die nationalen Eliten, die aus den Großprojekten Profit und Prestige für sich ziehen.

Strukturanpassungskredite sind Kredite, die nur vergeben werden, wenn das Schuldnerland sich bereit erklärt, seine Wirtschaft auf Exportproduktion umzu­stellen und Sozial- und Umweltausgaben zu kürzen. Diese Strukturanpassungskredite machen inzwischen den Hauptteil aller Kredite aus und sichern IWF und Weltbank einen noch größeren Einfluß auf die Volks­wirtschaften der »Dritte-Welt«-Länder. Sektorpro­gramme, wie die Energiesektorkredite für Brasilien, sollen ganze Wirtschaftszweige in die gewünschte Weltbankrichtung steuern, beispielsweise hin zu Groß­projekten und Atomenergie. Die Weltbank schaltet außerdem zunehmend politische Konkurrenten aus: Sie konnte das Entwicklungsprogramm der Vereinten

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Nationen (UNDP) und die Entwicklungsadministratio­nen in den betreffenden Ländern zur Kofinanzierung ihrer Weltbankprogramme veranlassen.

Die Größe eines Projektes, das von der Weltbank unterstützt wird, spielt im allgemeinen keine besonde­re Rolle, denn die Verwaltung eines großen Projektes kostet die Bank etwa dasselbe wie die eines kleinen. Der Gewinn, den die Geldgeber aus den Großprojekten herausholen können, ist höher. Die Idee für ein Projekt kommt von der Weltbank oder von Regierungsstellen des Schuldnerlandes, wobei letztere manchmal auf den richtigen Weg gebracht werden müssen. Die Welt­bank gewinnt, wenn sie einen Kredit zuteilen soll, das Recht, wesentliche Bereiche des Schuldnerlandes zu untersuchen. Die umfassende Kenntnis von zentralen Daten eines Schuldnerlandes erhöht den Einfl uß der Weltbank, obwohl zur Entscheidungsfindung oft diese Daten letztlich weniger ausschlaggebend sind als die politischen Interessen der Geldgeber. Wird das Pro­jekt gutgeheißen, schätzt das Kreditnehmerland den Aufwand und wird dabei von der Weltbank beraten. In diesen etwa ein- bis zweijährigen Vorarbeiten für den Vorbereitungsbericht könnten soziale und ökologische Warnungen ein Projekt noch stoppen oder verändern – wenn der Weltbank vorwiegendes Interesse nicht Profi t wäre.

Auch die Projektabwicklung läuft unter der Fuchtel der Weltbank. Trotz gegenteiliger Behauptungen gehen weder soziale noch ökologische Belange substantiell in

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die Umsetzung der Pläne mit ein. Nicht erneuerbare Energieträger wie Kohle, Öl und Uran werden zum Beispiel in den Kalkulationen erneuerbaren Energie­trägern wie Sonne, Wind und Wasser gleichwertig an die Seite gestellt. Auch die Folgewirkungen und die langfristigen gesamtgesellschaftlichen Kosten der Vernichtung der Natur, des Einsatzes von Pestiziden, der Abholzungen, Überschwemmungen und so weiter gehen in die Projektkalkulationen nicht ein. Die Durch­führung des Projektes verläuft nach immer demselben Muster: Die Weltbank hat alles in der Hand, und das Kreditnehmerland darf ein bißchen dabei sein.

Ausgerechnet die Weltbank wirft den Opfern eine Teilverantwortung für die Umweltvernichtung vor: Die Länder des Trikont würden die tropischen Regen­wälder selbst abholzen. In Wahrheit aber sind es die Projekte der Weltbank, für die der tropische Regenwald gerodet, verbrannt oder überschwemmt wird. Daß Menschen aus dem Schuldnerland die Motorsägen führen, ändert daran nichts. Daß die Schuldnerlän­der ihre Urwälder abschlagen, um ihre Schulden für Großprojekte abzutragen, spricht die nationalen Eli­ten in den verschuldeten Ländern nicht von eigener Verantwortung frei, die sie für die Zerstörung der Zukunft ihres Landes tragen. Bei der Suche nach den eigentlichen Tätern aber müssen die Repräsentanten der Weltbank in den Spiegel schauen.

Durch den Widerstand im Trikont und in den kapi­talistischen Zentren, in besonderer Weise im Rahmen

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der Anti-IWF-Kampagne im Jahr 1988, geriet die Bank unter einen gewissen Druck. Und bevor der sich zu einem regelrechten Konflikt auswachsen kann, soll ein Ventil gefunden werden. Weltbank-Präsident Conab­le verkündet nur noch zarteste Absichten gegenüber der Natur, jedenfalls bei ausgewählten Projekten und ganz im allgemeinen. Und weil der Druck zur Rettung der tropischen Regenwälder größer ist als der für die Rettung der ausgebeuteten Menschen oder zur Vertei­digung der Menschenrechte der UreinwohnerInnen, schweigen die Weltbankchefs über diese.

Die »wesentliche Aufgabe« der Weltbank sei im kommenden Jahrzehnt der weltweite Umweltschutz und der sparsamere Energieverbrauch. »In 5 im Ge­schäftsjahr 1989 genehmigten Anpassungsoperationen würden umweltpolitische Ziele oder Probleme direkt angesprochen«, sagte Präsident Conable im Jahre 1990 wolkig.102 Ein Drittel der Bankprojekte richte sich angeblich auf Umweltschutzziele, und 1,3 Milliarden US-Dollar beabsichtigen die Banker angeblich in den kommenden Jahren für Umweltschutzprojekte auszu­geben. Die Kredite zur Förderung der Forstwirtschaft würden verdreifacht. Ich stelle mir die Rechnung so vor wie in der pharmazeutischen Industrie, in der es bis vor nicht allzu langer Zeit teilweise gang und gäbe war, auch Werbe- und Produktentwicklungskosten einschließlich der Verpackungsgestaltung für Medi­kamente unter »Forschung« abzubuchen, weil hohe Forschungsausgaben auf dem Papier unverfänglicher

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klingen und das Renommee erhöhen. Die Pharmain­dustrie hat kein Monopol auf diese Methode.

1987 verkündete Weltbank-Chef Conable die Ein­richtung einer Umweltabteilung mit 100 Planstellen. Seit Mitte 1988 arbeiten 50 MitarbeiterInnen – von 6500 MitarbeiterInnen insgesamt – in mehreren Arbeitsgruppen unter der Leitung von Kenneth Pid­dington aus Neuseeland. Ihre Haupttätigkeit: unver­bindliches Denken. Sie arbeiten an Projektkriterien und Umweltstudien für Schuldnerländer, allerdings nur, wenn ein Schuldnerland von sich aus daran interessiert ist. Umweltverträglichkeitsprüfungen sollen den Grad der Umweltbedrohung feststellen und Umweltschutzmaßnahmen vorsehen, alles im engen Rahmen grundsätzlich bewilligter Projekte. Um grundlegende Alternativen zu Projekten der Weltbank geht es nie. Der Verzicht auf Projekte, die langfristige, kaum berechenbare zerstörerische Auswirkungen auf die ökologischen und sozialen Bedingungen haben, ist nicht vorgesehen.

Die Umweltabteilung hat keinen Einfluß auf die Kreditvergabe. Selbst wenn, wäre zu untersuchen, ob sie mehr entwickelt als umwelttechnische Reparatu­rempfehlungen. Zeitintensive Untersuchungen über die ökologischen Folgen der Kreditpolitik könnten den zügigen Finanzmittelfluß bremsen. Also werden die MitarbeiterInnen dafür belohnt, die Kreditlinien zu erhöhen, anstatt sie, etwa aus Umweltschutzgründen, zu verlangsamen. 1989 genehmigte die Weltbank neue

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Kredite in Höhe von 21 Milliarden US-Dollar. Umwelt­politische oder gar soziale Irritationen will man sich nicht leisten. Die Einrichtung einer Umweltabteilung soll der durch öffentliche Kritik angeschlagenen Welt­bank eine bessere Legitimation verschaffen, nachdem das Wissen um die sozialen und ökologischen Folgen ihrer Projekte Kreise zieht. Die Weltbank wurde außer­dem zentralisiert, viele Außenstellen geschlossen. Viele MitarbeiterInnen wurden soeben aus den Kreditneh­merländern abgezogen. Selbst die geringe Kenntnis der lokalen Bedingungen geht auf diese Weise verloren.

Die Weltbank ist eine zentrale Umweltzerstörungs-Einrichtung. Sie macht ihre Geschäfte mit der Vernich­tung der Natur. Sie ist schuld am Elend und am Tod vieler Menschen, denen sie direkt und indirekt durch radioaktive und chemische Verseuchung, Enteignung von Land und Sparmaßnahmen im sozialen Bereich und in der Gesundheitsversorgung die Grundlagen des Lebens entzieht.

Die Verschuldung und die Auflagen der Weltbank, der regionalen Entwicklungsbanken und anderer Entwicklungsinstitutionen zwingen die Länder des Trikont, ihre kostbaren Ressourcen in kurzer Zeit raub­zuplündern. Wälder werden ohne Wiederaufforstung geschlagen, fruchtbare Mischkulturen werden zu che­miegetränkten Monokulturen, aus den »Mitteln zum Leben« wird »cash crop«, Lebensmittel, die nur für den Export angebaut werden. All das dient der Beschaffung von Devisen um nahezu jeden Preis. Auch großmütig

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gewährte Kredite für Umweltschutzmaßnahmen zwin­gen die Kreditnehmerländer zu Ressourcenplünderung für Zins und Tilgung. Jeder Kredit, gleichgültig, wofür er gewährt wurde, zerstört das Ökosystem und die sozialen Verhältnisse ein Stück mehr.

Reformillusionen

Bundesdeutsche Naturschutzverbände wie der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND), der Deutsche Naturschutzring (DNR), Robin Wood und die Arbeitsgemeinschaft Regenwald und Artenschutz (ÄRA) kritisieren die Weltbank und verlangen eine Änderung ihrer Politik. Sie wollen die Information, Aufklärung und Teilnahme der einheimischen Bevöl­kerung und der Nichtregierungsorganisationen (NGO – Non Governmental Organisations) am Entwicklungs­prozeß und an allen Stufen der Projektabwicklung. Dies setzt die Transparenz der Planung und der möglichen sozialen und ökologischen Folgen voraus. Betroffene und NGOs sollen vor der Projektgenehmigung gehört werden und Stellungnahmen abgeben können. Die Weltbank soll, so die Umweltverbände, umfassende Umweltverträglichkeits- und Sozialverträglichkeits­prüfungen für alle laufenden und geplanten Projekte vornehmen. Die Umweltabteilung der Weltbank soll personell und in den Kompetenzen erweitert und ihr soll ein Vetorecht eingeräumt werden. Projekte sollen

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an den Grundbedürfnissen der Bevölkerung und am Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen orientiert sein. Traditionelle ressourcenschonende Wirtschafts­weisen und an Umwelt- und Naturschutz orientierte Ausbildung und Forschung soll gefördert werden. Die RepräsentantInnen der Weltbank sollen den exekutiven und legislativen Organen und der Öffent­lichkeit ihrer jeweiligen Länder über ihre Arbeit und ihr Abstimmungsverhalten Bericht erstatten. Über die Verwendung der Gelder soll öffentlich Rechenschaft abgelegt werden. Als Voraussetzung für eine neue Entwicklungspolitik sehen die Verbände die Lösung der Schuldenkrise – sagen allerdings nicht, wie dies geschehen soll.

Weitergehende Forderungen einiger Verbände: Damit Entwicklungspolitik nicht in gleicher Logik fortgesetzt wird, muß die Weltwirtschaftsordnung reformiert werden, um das Verhältnis von Export-und Importpreisen (terms of trade) zu verbessern. Erforderlich sind weiter die Begrenzung für Rüstungs­ausgaben in den Ländern des Trikont und die tatsäch­liche Einschränkung von Rüstungsexporten aus den kapitalistischen Metropolen; des weiteren gesetzliche Maßnahmen innerhalb der unterentwickelt gehaltenen Länder, die von den kapitalistischen Zentren zu unter­stützen wären, gegen die Kapitalflucht; eine Reform des EG-Agrarmarktes hin zu einer ökologisch-orientierten Landwirtschaft: Die Futtermittelimporte im Trikont würden abgebaut, mehr Nahrungsmittelproduktion

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wäre möglich, und es würden keine Agrarüberschüsse mehr produziert, die mit hohen Subventionen auf dem Weltmarkt abgesetzt werden.

Weltbank und IWF sind nicht reformierbar. Solange die kapitalistische Weltwirtschaft nicht abgeschafft ist, werden immer neue Zerstörungsmechanismen und Probleme produziert. Gibt es hier oder da einmal eine Teiländerung, wird sie durch die allgemeine Entwick­lung rasch wieder eingeholt oder gilt von vorneherein nur für sehr wenige Menschen, oft um den Preis, die Lage für die anderen zu verschlimmern. Die kapita­listischen Metropolen leben vom Trikont, neben der Ausbeutung von Lohnabhängigen und der Natur in den kapitalistischen Metropolen. Profit läßt sich nur aus der Ausplünderung von Mensch und Natur schaffen, den beiden einzigen Quellen des Reichtums. Ohne die Beseitigung des kapitalistischen Zwangsverhältnisses läßt sich daran nichts Grundsätzliches verändern.

GATT oder die grenzenlose Freiheit des Kapitals

Das GATT ist das Allgemeine Zoll- und Handelsab­kommen (General Agreement on Tariffs and Trade) von 1947, das die USA, nachdem sie zur Weltmacht Nummer 1 aufgestiegen war, initiierte. GATT stärkte die ökonomische Macht der USA und ihrer Bündnis­partner im Kalten Krieg. Zollsenkungen in Westeuropa,

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aus politischen Gründen, verhalfen der USA zu starken Absatzmärkten und immer größerem ökonomischen Einfluß. GATT formuliert die Spielregeln des Welt­handels, und die sind in der Substanz recht einfach: Die kapitalistischen Industrienationen des Nordens wollen möglichst konkurrenzfreie Absatzmärkte, und die unterentwickelt gehaltenen Länder müssen daran gehindert werden, sich zu dieser Konkurrenz zu ent­wickeln. Daß GATT-Verhandlungen üblicherweise langwierig und kompliziert sind, hat weniger mit der Rücksichtnahme auf den Trikont als vielmehr mit den unterschiedlichen Interessen zwischen den kapitalisti­schen Zentren zu tun.

Das GATT hat inzwischen 100 Mitgliedstaaten, rund zwei Dutzend Staaten haben Beobachterstatus, und zwei Dutzend weitere wenden GATT praktisch an. Das GATT hat die Liberalisierung des Welthandels zum erklärten Ziel, zum Beispiel den Abbau von Zöllen und anderen Handelsrestriktionen. In seiner Praxis aber sorgen die Mächtigen im GATT, allen voran die USA und Europa, dafür, daß GATT, an den offi ziellen GATT-Normen vorbei, gerade neue Restriktionen schafft. Das sogenannte »Multifaserabkommen« von 1974 beinhaltet beispielsweise Handelsbeschränkungen für Textilprodukte zugunsten der reichen kapitalistischen Zentren, um sich die ostasiatische Konkurrenz vom Leib zu halten.

Von seinen Anhängern wird das Freihandelskonzept als ein Allheilmittel gegen Umweltverschmutzung und

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steigende Schuldenlasten der »Dritten Welt« verkauft. Nichts interessiert GATT weniger als die sozialen und ökologischen Folgen seiner Beschlüsse. Es geht um eine Internationalisierung von Handelsregeln im In­teresse kurzfristiger, zukunftsblinder ökonomischer Vorteile für die großen Kapitalfraktionen in den USA, Europa und Japan.

Zu den »nicht tariffähigen« Handelsbeschränkun­gen gehören »freiwillige« Exportbeschränkungen und die Verhängung von Ausgleichszöllen wegen Dumping oder Subventionen. Der Anteil der verarbeiteten Pro­dukte, der von nicht tariffähigen Handelsbeschrän­kungen betroffen ist, stieg zwischen 1966 und 1986 von 5 auf 51 Prozent. An der Spitze derer, die sich vor unliebsamen Konkurrenten schützen, stehen die USA und die EG, die beiden mächtigen Blöcke im GATT. Notfalls wird ein Land wie Südkorea, wie mehrfach in den 80er Jahren, gezwungen, Agrar- und High Tech-Produkte aus den USA zu kaufen, während China, Japan und Argentinien aus dem Rennen gedrückt wurden. Die propagierte »Freiheit« der Märkte exi­stiert gar nicht, genausowenig wie die beschworene Liberalisierung des Welthandels. Es geht einzig und allein darum, daß die Mächtigen im GATT jeweils die Maßnahmen durchsetzen, die sie zur Verwirklichung ihrer ökonomischen Interessen brauchen: Liberalisie­rung oder Restriktion.

Eine Zeitlang wurde der Versuch gemacht, mit der UNCTAD (UN-Sonderorganisation United Nations

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Conference on Trade and Development) Konzepte für eine »Neue Weltwirtschaftsordnung« zu schmieden. Aber ihr Versuch, gerechtere Handelsbeziehungen und eine Trikont-freundlichere Aufteilung der Ressourcen zu entwickeln, scheiterte an gezielter Behinderung durch die Länder, die den GATT beherrschen und die an mehr Gerechtigkeit kein Interesse haben.

Im GATT kämpfen die verschiedenen Kapitalfraktio­nen des Nordens untereinander und die des Nordens gegen den Süden. Seit 1986 wird in der sogenannten Uruguay-Runde über die Bedingungen des Welthandels für das nächste Jahrtausend verhandelt. Die »Dritte-Welt«-Länder drängen auf Erleichterungen der Han­delsrestriktionen zu ihren Gunsten im Dienstleistungs­sektor und im Agrarbereich, der zum Beispiel auch tropische Produkte einschließen soll. Eine der Bedin­gungen der unterentwickelt gehaltenen Länder für die Beteiligung an der Uruguay-Runde war das Versprechen des Nordens, über eine Erleichterung der Restriktionen im Multifaserabkommen zu verhandeln. 2 Jahre nach Beginn der Verhandlungsrunde, 1988, mußte die Kon­ferenz ihr vorläufiges Scheitern eingestehen. Die USA und die EG konnten sich nicht über landwirtschaftliche Subventionen einigen. Die in der OECD organisierten kapitalistischen Metropolen weigern sich, den Sektor Textil und Bekleidung ins GATT zu integrieren und damit Märkte für Trikont-Produkte zu öffnen.

Am umstrittensten – auch innerhalb der EG – ist die geforderte Aufhebung der Exportsubventionen für

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landwirtschaftliche Produkte und die Beschränkungen für Agrarimporte in die EG. Diese Subventionen und Restriktionen schützen die EG-BäuerInnen vor Kon­kurrenzprodukten aus dem Ausland und verhelfen der Nahrungsmittelindustrie zu künstlich hochgehaltenen Preisen. Die bisherige EG-Landwirtschaftspolitik regt die Bäuerinnen und Bauern zur Verwendung von Che­mie an und zur Produktion von Überschüssen, deren Lagerung und Subvention die EG belasten. Trotzdem machen 250 000 bis 300 000 BäuerInnen jährlich bankrott. Die USA wollen die Senkung der Subven­tionen um 90 Prozent in den nächsten 10 Jahren und die Umrechnung und Senkung der nichttariffähigen Handelshemmnisse um 75 Prozent. Die EG will nicht mehr als 30 Prozent zugestehen und hat sich Ende 1990 auch untereinander auf diese Quote geeinigt. Der jährliche Agrarprotektionismus hat einen Wert von 385 Milliarden D-Mark. Der Vorschlag der USA würde ihr allein einerseits eine Wachstumsspritze innerhalb der nächsten 9 Jahre von 300 Milliarden US-Dollar verpassen, andererseits aber die meisten Bäuerinnen und Bauern in den USA ruinieren, weil sie die Hälfte ihres Einkommens protektionistischen Maßnahmen zu verdanken haben.

Am meisten aber werden die Bauern und BäuerIn­nen im Trikont leiden. Die EG hat mit Milliardenbe­trägen ihre Weizenüberproduktion subventioniert und zu Dumpingpreisen exportiert. Die Preise fi elen von 150 US-Dollar die Tonne auf die Hälfte. Und zugleich

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steigen im Trikont, zum Beispiel in Argentinien, die Kosten in der landwirtschaftlichen Produktion für Saatgut, Düngemittel, Maschinen, Löhne und durch gewaltige Inflationsraten.103 Viele gehen bankrott und verlassen ihr Land in Richtung der Slumgürtel um die Städte. Uruguays Agrarminister Alvaro Ramos nennt ein Beispiel: »Im November (1990) kaufte Brasilien auf dem Weltagrarmarkt Weizen ein. Frankreich unterbot alle Anbieter und bekommt nun 82 Dollar pro Tonne. Für dieselbe Tonne werden den französischen Bauern 380 Dollar gezahlt. Unsere Länder können da nicht mithalten. Denn hier konkurrieren nicht die uruguay­ischen Bauern mit den französischen Bauern, sondern die uruguayischen Bauern mit dem Schatzamt von Paris. Deshalb fordern wir das Ende der Subventionen und der Einfuhrbeschränkungen, damit ein wirklich freier Wettbewerb stattfi nden kann.«104

Ein weiterer Konflikt rankt sich um den Versuch, Dienstleistungen in das GATT aufzunehmen. Das Geschäft mit Tourismus, Versicherungsleistungen, Filmen und Rockkonzerten blüht. Der Anteil von Dienstleistungen am Welthandel beträgt 15 Prozent mit steigender Tendenz und ist damit für den, der das Geschäft im Griff hat, eine Goldgrube.

Während die Textilindustrie Portugals, Italiens, Irlands und Belgiens darum kämpft, daß die Textilim­porte aus »Dritte-Welt«-Ländern weiter restriktiv ge­handelt werden, setzt sich das GATT mit einem weite­ren Interesse der kapitalistischen Länder auseinander,

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die eine weltweite Patentschutzregelung für geistiges Eigentum und Investitionen als »neues Gebiet« im GATT etablieren wollen. Die Länder des Trikont wollen keine Regelung über GATT, weil sie befürchten, daß sie dann Milliardenbeträge für Patentrechte an die reichen Länder bezahlen müßten. Und dabei geht es nicht nur um die Rechte an Konsumgütern wie Videokassetten, Computerprogrammen, Rolexuhren oder Lacostehem­den. Der größte Streit entbrennt, auch innerhalb der EG, um den Vorschlag, auch Patente für das Leben ein­zuführen: für genmanipulierte Pflanzen und Tiere. Für profitable Rechte am (manipulierten) Leben kämpft das US-amerikanische und mitteleuropäische, u. a. auch das bundesdeutsche Gentech-Kapital. Der größte Teil der biologischen Vielfalt kommt aus dem Trikont. Gegenwärtig ist der Zugang zu genetischen Ressourcen frei. Die Ressourcen werden von der bio- und gentech­nologischen Industrie gebraucht, sind die Basis für z. B. gentechnische Manipulationen und sollen mit Hilfe von TRIPs (Trade-Related aspects of Intellectual Property Rights: Verhandlungen über handelsbezogene Aspekte der Schutzrechte für geistiges Eigentum) privatisiert werden. Damit werden sie in ihrer veränderten Form der Verfügung der Ursprungsländer entzogen, die al­lenfalls bestimmte gentechnische Produkte zu hohen Preisen zurückkaufen dürfen.

Die transnationalen Chemie- und Lebensmittel­konzerne, die führend in der Gentechnologie sind, entwickeln zum Beispiel genmanipuliertes Saatgut, das

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von den in Abhängigkeit gehaltenen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gekauft werden muß, aber nur wächst, wenn von den gleichen Firmen auch teure Düngemittel und Pestizide eingekauft werden. Es sind die gleichen Konzerne, die so neue profi table Geschäf­te mit dem Hunger vorbereiten, die zuvor regionale landwirtschaftliche Strukturen zerschlagen, Bäuer-Innen und LandarbeiterInnen vertrieben und mit ihren chemiegetränkten Monokulturen für den Export fruchtbares Land unfruchtbar gemacht haben, woge­gen sie morgen ihre teuren gentechnischen Produkte und Eingriffe empfehlen werden. Schon heute geht der genetische Reichtum des Trikont durch die impe­riale Ausbreitung des Agrobusiness Schritt für Schritt verloren. Von früher 3000 einheimischen Reissorten werden auf den Philippinen nur noch 120 angebaut, ganze 5 hochgezüchtete, wasser- und pestizidintensive Reissorten wachsen auf 90 Prozent der Kulturfläche. Konzerne wie Ciba-Geigy, Shell und Sandoz sind mit eigenen Saatgutunternehmen in das Geschäft mit der Grundnahrung der Menschheit eingestiegen: Nur 10 Unternehmen kontrollieren schon fast ein Drittel aller Getreidevarianten. WissenschaftlerInnen des Trikont nennen dies »genetischen Imperialismus«.105

Die Patentierbarkeit von Lebensformen würde wenige transnationale Konzerne zu Eigentümern von Genen und Arten machen, die allen Menschen gehören, sie würden zu Herrschern des Welternährungssystems.

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Japanisches Kapital und japanischer Staat: Ökoterroristen …

… plündern das Meer

Die japanische Fischfangflotte fährt wie ein hochgerü­steter Räuber über die Meere. Wenn sie in den Krieg gegen die Natur fährt, zieht sie mit Schleppnetzen auf 20 hochgerüsteten Schiffen gegen alles zu Felde, was im Meer lebt: Fische, Meeressäugetiere, Delphine und Seevögel. Die Netze sind bis zu 70 Kilometer lang und reichen 15 Meter tief. Sie bestehen aus Nylon und sind so stark wie Eisendraht. Sie greifen mehr, als selbst die gierigsten Meeresräuber brauchen. Etwa die Hälfte der Beute wird tot ins Meer zurück gekippt. Der Auszug der Walfangflotte in Japan ist jedesmal ein Propagan­daspektakel der Regierungspartei LDP. Nach der allzu laut gewordenen internationalen Kritik hat mensch den Namen des mörderischen Fischzuges geändert. Heute sterben Wale zu »Forschungszwecken«. Wahr­scheinlich meint mensch damit die Erforschung des Geschmacks ihres Fleisches, denn gleich nach dem Fang wird dieses Fleisch an Feinschmecker verkauft. Viele Walarten des Pazifiks, Blauwale, Finn- und Buckelwale, sind derartig reduziert, daß japanische Fischfänger nun jährlich Zehntausende von Delphinen abschlachten. Von 250 000 Blauwalen blieben inner­halb von 50 Jahren nur einige hundert Exemplare von

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japanischen Harpunen verschont. 1988 gingen Japans Flotte nach Angaben von Greenpeace rund 39 000 Delphine ins Netz, seit 1960 mehr als 7 Millionen. Ja-panische VerbraucherInnen schätzen diese Tiere auf ihrem Teller und als Tierfutter.

Die Flotte zieht in alle Welt, auch nach Afrika und Lateinamerika. Sie fischt zum Beispiel die Meere vor Chile leer. Die Lizenz dafür erhielt sie von der Regie­rung Pinochet.

Für Millionen ChilenInnen wurde der Fisch zum Luxusartikel, und der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch von 6,3 Kilogramm zur Zeit Salvador Allendes sank auf 4,4 Kilogramm Fisch pro Kopf.

Während die hochgerüsteten Räuber die Meere leerfressen, benutzen japanische Konzerne das Meer als Giftmüllkippe. Im Jahre 1949 stellte der japanische Chemiekonzern Chisso seine Produktion von Dünge­mitteln auf Kunststoff (Acetaldehyd) um. Von da an floß Quecksilber in die Bucht von Minamata auf der japanischen Insel Kyushu. Dieses Quecksilber verwan­delte sich im Meeresschlamm zu Methylquecksilber, wurde von Kleinstlebewesen gefressen, die wiederum von Fischen, und so kam das Gift in die Körper von Menschen. Tausende von Menschen litten und leiden seitdem an Nervenschäden, Lähmungen, Sprach­störungen, Verwirrung, Verlust des Schmerz- und Tastempfindens, Angstzuständen und Persönlichkeits­veränderungen.

Zwischen 1955 und 1959 wurde jedes dritte Kind in

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Minamata mit schweren körperlichen und geistigen Schäden geboren. Das Quecksilber hatte ihr Nervensy­stem fast völlig zerstört. Die Minamata-Kinder konnten nicht sprechen, nicht sehen und ihre Bewegungen nicht koordinieren. Konzern und Behörden verschleppten die Aufdeckung der Ursachen und die Bestrafung der Schuldigen über Jahrzehnte. Zeitweise leitete der Kon­zern seine Quecksilberabwässer in eine andere Bucht, wo die Menschen bald von den gleichen Symptomen gequält wurden. Nach 17 Jahren änderte Chisso das Produktionsverfahren, weil es technisch überholt war. Über 10 000 Minamata-Kranke haben bis heute ver­sucht, als Opfer anerkannt zu werden. Nur 2925 haben es bis 1990 geschafft. 1211 der offi ziell anerkannten Opfer sind inzwischen tot. 41 Jahre nach Aufnahme der Produktion, 1990, empfahlen die zuständigen Gerichte den Schuldigen, dem Chemiekonzern, dem zuständi­gen Gouverneur und der Regierung in Tokio, sich mit den überlebenden, anerkannten Opfern zu vergleichen. Der Konzern stimmte dem jetzt endlich zu, der Gou­verneur auch, nur die japanische Regierung weigert sich, den Opfern nach all den Jahren wenigstens eine materielle Entschädigung anzubieten.

… fällen Wälder

Japanische Konzerne zerstören vor allem in Südosta­sien seit mehr als 20 Jahren unwiederbringlich Regen­

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wälder. Rund 40 Prozent aller Tropenhölzer auf dem Weltmarkt werden von Japan verbraucht. Allein aus Papua-Neuguinea wird jeden Monat Tropenholz für 45 Millionen Eßstäbchen nach Japan verschifft, um nach einmaligem Gebrauch weggeworfen zu werden. Die insgesamt 87 Mitgliedsfirmen der »Vereinigung japanischer Holzimporteure« reagierten auf interna­tionale Kritik an ihrem Raubbau mit der Gründung eines gemeinsamen Fonds zur Förderung der Umwelt­forschung. Das Kapital liegt bei 70 000 US-Dollar, pro Firma im Durchschnitt 800 US-Dollar.

Etwa ein Drittel aller japanischen Tropenholzim­porte wird zu Preß- oder Spanplatten verarbeitet, die beim Hausbau verwendet werden. Für einen Quadrat­meter Betonfußboden werden in Tokio 4 Quadratmeter Schalholz verbraucht. 96 Prozent des Baumaterials kommt aus Malaysia und Papua-Neuguinea. Der Transport von Baustelle zu Baustelle ist teurer als das Material, also wird das edle Holz nach dem Guß der Beton wände weggeworfen. Japans Bauboom ver­schlingt Dreiviertel der japanischen Holzimporte, 22 Prozent des gesamten Welthandels mit Tropenholz. Wertvolle Regenwaldbäume werden in Japan auch zer-mahlen und enden als Pappkartons. Jeder dritte gerodete Regenwaldbaum der Erde landet in Japan. Die Philippinen und Indonesien haben japanische Konzerne schon weitgehend kahlgeschlagen, bis aufs blanke Erdreich schlagen sich die Holzfäller jetzt in den Wäldern der malayischen Staaten von Sabah und

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Sarawak durch. Auch in Borneo, in Papua-Neuguinea und am Amazonas werden japanische Konzerne immer aktiver.

Filz und Korruption machen die japanische Bau­industrie (noch) unangreifbar. Die Regierungspartei ist vollständig von ihr abhängig. Die Aufträge der Branche haben ein Jahresvolumen von 15 Prozent des Bruttosozialproduktes. 5 Millionen Arbeiter, meistens Tagelöhner, hängen von ihr ab. Die Yakusa, Japans Mafia, sorgt für die millionenfache tägliche Zufuhr billiger, ungeschützter Arbeitskräfte.

Für Japans Holz- und Papierindustrie fallen auch die letzten intakten Regenwälder in den USA, in Was­hington, Oregon und Alaska. Der Nordwesten der USA verkommt zur Holzkolonie Japans. Auf die Frage, warum dieser Raubbau zugelassen würde, antwortete ein US-Forstbeamter: »Womit sollen wir Recorder von Sony und die Autos von Toyota bezahlen, wenn wir den Japanern nicht verkaufen, was sie wollen?«

Japan brüstet sich mit 20 Milliarden D-Mark, die es, mehr als die USA, an »Entwicklungs«geldern zahlt. Aber nur ein Siebtel fließt in Bildungs- und Gesundheitsprogramme. Mehr als die Hälfte wird für Großprojekte ausgegeben. Damit werden zum Beispiel Studien über Staudammbau am Amazonas betrieben, deren Verwirklichung 23 Indianervölker und 450 000 Quadratkilometer Regenwald beseitigen. Japans Re­gierung und Japans größte Metallunternehmen sind auch mit Milliardenbeträgen am Carajas-Projekt im

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Amazonasgebiet beteiligt. Japanische »Entwicklungs­politik« schlägt für Straßen in Malaysias Regenwald Schneisen frei, über die später Tropenholz abtrans­portiert werden kann.

Japanisches Kapital sorgt auch für das Sterben der Mangrovenwälder Indonesiens, Malaysias, Thailands, Taiwans und der Philippinen. Für künstlich angelegte Krabbenfarmen wurden an den Küsten Südostasiens eine Million Hektar Mangrovenwald, meist von ja­panischen Kapitalisten, gerodet. Mangrovensümpfe sind Brutgebiete vieler Vögel. Dafür werden die Gäste japanischer Feinschmeckerrestaurants jetzt mit teuren Riesenkrabben gefüttert.

So wie Japan vor fast allen Küsten plündert, räubert der Ökoterrorist auch in vielen Urwäldern der Erde, im­mer mehr auch in Lateinamerika. In Chile zum Beispiel wachsen noch etwa 10 Millionen Hektar Urwald. Er wird schneller gerodet als mancher Regenwald. Allein im Süden des Landes wollen Konzerne, angeführt von den japanischen Unternehmen Marubeni Corporation und dem Mitsubishi-Konzern, 2,5 Millionen Hektar schlagen, um Holzspäne und Zellulose herzustellen. 30 000 Tonnen Späne werden jeden Monat per Schiff aus Chile Richtung Japan transportiert. Japans eigener Regenwald bedeckt nur noch 3,9 Prozent der Landes­fläche. Die letzten Naturreservate fallen für Golfplätze, Straßen, Hotels und künstliche Strände.

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… zerstören Arten

Japan ist der größte Handelsplatz für vom Aussterben bedrohte Tiere. Wenn japanisches Kapital, der japani­sche Staat und japanische VerbraucherInnen wollen, werden Elefanten, Schildkröten, Wale, Delphine, asia­tische Bären, Moschustiere und viele andere Arten zum Tode verurteilt sein. Seit 1972 ist Japan für den Tod von 500 000 Elefanten verantwortlich.

»Bekko« heißt die traditionelle japanische Hand­werkskunst, bei der Schildkrötenpanzer zu Haar­kämmen, Schiffsmodellen oder Broschen verarbeitet werden. Allein in Nagasaki sorgen 10o selbständige Bekko-Unternehmen für den Import der aussterben-den Tiere. Japan ist der größte Schildkrötenimporteur. Dahinter steckt auch ein soziales Problem: 5 Millionen Menschen vom Volk der Burakim sind für das Herstel­len der Bekkos und für anderes Lederkunsthandwerk verantwortlich. Die Regierung will diesen sozialen Konflikt nicht und hat keine Alternative für diese gro­ße soziale Gruppe. Lieber läßt mensch Schildkröten, Krokodile, Eidechsen, Strauße und Schlangen sterben, und manche für immer.

Um die Antarktis, ein besonders empfindliches Ökosystem, zu retten, müßte sie vor dem Abbau ihrer Bodenschätze geschützt werden. Japan wehrt sich besonders heftig gegen einen Naturpark Antarktis. An seinem Widerstand scheiterte auf der internationalen Antarktis-Konferenz ein Kompromiß, der den sechsten

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Kontinent immerhin erst einmal 50 Jahre vor Ausbeu­tung bewahrt hätte.106

Das Ansehen von Japans Umweltpolitik in West­europa ist unverständlich positiv. Daß Japan früh die Abgaswerte von Autos verringerte, die Wirbel­schichttechnik für Kraftwerke entwickelte und ein Gesetz erließ, um die Opfer von Umweltkatastrophen zu entschädigen, hat sein Außenbild stark geprägt. Als Ende der 60er Jahre Umweltkranke und -tote die Öffentlichkeit aufschreckten und Asthma zur verbreitetsten Kinderkrankheit wurde, beschlossen die Verantwortlichen, sich ein besseres Renommee zu verschaffen. Sie verabschiedeten Entschädigungs­gesetze, ließen den Katalysator einführen und legten neue Grenzwerte für Luftgifte fest. Aber die Gesetze fanden kaum Anwendung und wurden auf Druck der großen Konzerne wieder rückgängig gemacht, als die Zahl der Umweltgiftopfer zu groß wurde. Die Stickoxidgrenzwerte wurden wieder gelockert, und die Verdreifachung der PKWs in Tokio machte jede Giftverminderung wett, von den Nebenwirkungen der Katalysatoren ganz zu schweigen.

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Taten, Methoden und Opfer

Die Vergiftung der Erde stammt aus den kapitalistischen Zentren

Aus dem kapitalistischen Norden kommt die kapitali­stische Produktionsweise mit ihrer Profi tscheffelei und Ignoranz gegenüber Mensch und Natur, es kommen die Giftprodukte, die Giftanlagen, die Genmanipulation, die Motorsägen, der Giftmüll und die Zinsen. Der kapi­talistische Norden sorgt durch seine Produktionsweise dafür, daß die Atmosphäre und die Meere verseucht werden. Die Klimakatastrophe stammt aus den kapi­talistischen Zentren, nirgendwoher sonst.

Neben den Atombombentests und 414 Atomkraft­werken weltweit (kapitalistische Zentren USA, Japan, Europa: 316 AKWs; ehemaliger RGW-Bereich: 74 AKWs; Trikont: 24 AKWs)107, die die Atmosphäre verseuchen, wurden, zwischen 1946 und 1982, einem Bericht der internationalen Atomenergie-Organisation zufolge, die Weltmeere mit Atommüll mit einem Strah­lenwert von 1000 Millionen Millionen (kein Schreib­fehler!) Becquerel verseucht. Der strahlende Müll wurde an 50 Stellen in die Ozeane gekippt, vor allem vor der europäischen Westküste. Großverseu-cher ist Großbritannien, gefolgt von den USA, der Schweiz und Belgien. Die Täter haben sich bisher erfolgreich gegen eine Einstellung ihrer »End«lagerung gewehrt.108 Die

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Atomkatastrophe von Tschernobyl, Atombombentests und die Abwässer aus den atomaren Wiederaufberei­tungsanlagen La Hague (Frankreich) und Sellafield (Großbritannien) haben den Meeresboden der Nord­see mit bis zu 8000 Becquerel Cäsium 137 pro Qua­dratmeter radioaktiv verseucht. Die untersuchenden WissenschaftlerInnen schätzen, daß das Meereswasser noch wesentlich höher belastet ist.109

Wissenschaftler erwarten die Verdoppelung des Kohlendioxid-Anstieges in den nächsten 20 Jahren. Der weltweite Primärenergieverbrauch steigt jährlich um 2 Prozent. 1985 wurden 20 Milliarden Tonnen CO2 ausgestoßen, im Jahr 2000 werden es 27,5 Milliarden Tonnen CO2 sein. Sowohl in den kapitalistischen Me­tropolen als auch im Trikont steigt der Primärener­gieverbrauch.110 Die Menschen in den kapitalistischen Zentren machen etwa 25 Prozent der Weltbevölkerung aus, sind aber für 80 Prozent der CO2-Emission ver­antwortlich. Im Trikont leben 75 Prozent der Men­schen. Dort werden 20 Prozent des CO2 in die Umwelt emittiert.111

Während Kohlendioxid, Methan, Fluorkohlenwas­serstoffe (FCKW) und andere Spurengase sich wie eine Käseglocke um den Globus legen und die von der Erde abgestrahlte Wärme zurückhalten, so daß die Temperatur steigt (Treibhauseffekt) und die Pol­kappen schmelzen, verdünnt sich durch einen ganz anderen Prozeß – aber auch durch Fluorkohlenwas­serstoffe – die Ozonschicht (Ozonloch). Da hindurch

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dringt UV-Strahlung stärker auf die Erde, lösen beim Menschen Hautkrebs aus und in der gesamten Natur Wachstumsstörungen. Augenleiden nehmen zu und die Photosyntheseleistung von Meeresalgen und Pflanzen ab, das bedeutet weniger Fische und Ernte Verluste. Von 1987 bis 1989 verdoppelte sich das Ozonloch auf die zweifache Größe der antarktischen Landmasse. In Höhen zwischen 15 und 20 Kilometer betrug der Ver­lust mancherorts bis zu 90 Prozent. Bei polaren Wir­beln lösen sich Bruchstücke mit geringem Ozongehalt und treiben über bewohnte Gebiete. Auf ihrem Weg lassen sie bis zu 20 Prozent mehr UV-Licht hindurch, in Südaustralien waren es im Dezember 1989 14 Pro­zent mehr gefährliche Strahlung. Über der nördlichen Hemisphäre ist der Ozonschwund, wegen der schwä­cheren polaren Wirbel, auf eine größere Fläche verteilt. Auch wenn sofort Maßnahmen ergriffen würden, wie der vollständige Einsatzstopp von Fluorkohlenwas­serstoffen, bestünde das Ozonloch noch Jahrzehnte. Die Regierungen in den kapitalistischen Metropolen einigten sich nur auf eine FCKW-Halbierung bis zum Jahr 1999. In der BRD soll die FCKW-Verwendung ab 1995 verboten werden, die Produktion – auch die im Ausland durch deutsche Firmen – nicht. Die Hoechst AG und die Firma Kali sind die einzigen Produzen­ten von FCKW in der BRD. Sie produzieren mehr als 100 000 Tonnen FCKW pro Jahr, mehr als 10 Prozent der Weltproduktion und etwa 25 Prozent der EG-Pro­duktion. Kein Täter kann sich auf Unkenntnis berufen:

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WissenschaftlerInnen warnen seit mehr als 20 Jahren vor der Zerstörung der Ozonschicht durch FCKW, das aus den kapitalistischen Zentren kommt.112

Das durch die Klimaveränderung zu erwartende Steigen der Meere von bis zu einem Meter im näch­sten Jahrhundert wird tiefliegende, arme Länder wie Bangladesh vermutlich vernichten. Die Kosten für die Küstensicherung wurden allein für die USA von der dortigen Umweltbehörde auf 73 bis 111 Milliarden US-Dollar geschätzt. Neben Überschwemmungen bedroht die Klimaveränderung den Trikont mit Trockenheit und Hunger. Während der Süden erodiert, könnte der käl­tere nassere Norden profitieren. Durch die USA ziehen sich die Grenzen zwischen Dürrezonen im Süden und größerer Fruchtbarkeit durch Erwärmung im Norden. Sowjetische Klimatologen erwarten durchaus Vorteile wie bessere Ernten in Zentralrußland und im subark­tischen Bereich bei gleichzeitiger Wüstenbildung in sowjetisch Mittelasien. Klaus Meyer-Abich zieht das ernüchternde Fazit: »Der internationale Frieden wird durch die Klimaveränderung ebensowenig ›erzwun­gen‹ wie durch die Atombombe. Im Gegenteil, er wird zusätzlich gefährdet, weil es Gewinner und Verlierer geben wird.«113 Nicht die »zivile Technik« wie Meyer-Abich meint, sondern die Produktionsweise, die diese Technik erzwingt, gefährdet den Frieden.

Neben der weltweiten radioaktiven Verseuchung, dem Treibhauseffekt und dem Ozonloch, Luft-, Was­ser- und Bodenvergiftung und der Ausrottung von

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Tier- und Pflanzenarten und der Vernichtung des natürlichen Genpools, erwartet die Menschen – gibt es keine radikale Kursänderung – nun auch noch das sich selbst vermehrende Risiko Gentechnologie. Die eventuellen, minimalen Vorteile in gentechnologischen Teilbereichen stehen in keinem Verhältnis zu ihrem, die Menschheit grundsätzlich bedrohenden und ten­denziell technorassistischen Charakter. Von positiven Ergebnissen der Gentechnologie zu sprechen wäre, als ob Atomanlagen gerühmt würden, nur weil mit ihnen, neben Atomwaffen, der radioaktiven Verseuchung der Erde und steigenden Krebsraten auch noch Strom erzeugt werden kann.

Die Zuckerkaiser von Brasilien und der Stoff, aus dem die Profi te sind

1975 beschloß die brasilianische Regierung das Pro­gramm »Pro-Alkohol«: Die Äthanol-Alkohol-Produk­tion sollte rasch vorangetrieben werden. Die Automo­bilindustrie wurde aufgefordert, das Programm zu unterstützen und ständig mehr Autos mit auf Äthanol eingestellten Motoren zu produzieren. Der Regierung war das Programm großzügige Kredite wert. Mit gewal­tigen Subventionen sollte neues Land für Zuckerrohr erschlossen und Destillerien gebaut werden. Allein 1980 bewilligte die Weltbank einen 300 Millionen-US-Dollar-Kredit. Mensch plante, die Steuer für die neuen

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Autos zu senken und den Preis für Äthanol deutlich un­ter dem Benzinpreis anzusetzen. Die Regierung schloß 1979 mit der Autoindustrie eine Vereinbarung, daß sie den nötigen Alkohol zur Verfügung stellen werde.

Das Ergebnis dieses Programmes übertraf alle Planzahlen: Bis 1989 wurden 9 Milliarden Dollar, davon rund 6 Milliarden staatlicher Gelder, in das Programm investiert. Hohe Subventionen führten zur Erweiterung und Modernisierung des Zuckersek­tors. Heute existieren 444 Destillerien, die insgesamt 12 Milliarden Liter Äthanolalkohol pro Jahr produzie­ren. Von 1970 bis 1985 haben sich die Zuckerrohran­bauflächen mehr als verdoppelt (von 1,73 Millionen Hektar auf 3,83 Millionen Hektar). »Jeder Liter Me­thanol aus Zuckerrohr führt zu 14 Litern chemischer Abfallprodukte, die für Fische und Wasserpflanzen hoch toxisch sind«, erklärt ein Beamter des Gesund­heitsministeriums in Bahia.114 Von 1979 bis 1983 er­höhte sich die Zuckerrohrmenge um 40 Prozent. Die multinationalen Konzerne, besonders VW, profitierten von den staatlichen Subventionen. Der Bestand an Al­koholautos wurde auf 4 Millionen aufgestockt, knapp ein Drittel des gesamten Autobestandes in Brasilien (12,9 Millionen). Heute sind 70 Prozent der jährlichen Autoproduktion Alkoholautos.

Auch an den sogenannten Sekundäreffekten ver­dienen multinationale und nationale Konzerne: ver­stärkte Nachfrage nach Maschinen, Traktoren, Aus­rüstungsgütern, Kunstdünger und Pestiziden. Diese

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Subventionen erhöhen das Haushaltsdefizit und heizen die Inflation an. Solange die Erdölpreise nicht über 40 US-Dollar pro Barrel steigen, ist das Programm nicht rentabel. Ein Liter Benzin, auf dem Weltmarkt für 15 Centavos eingekauft, wurde 1989 für 55 Centavos an den Tankstellen verkauft, um den Liter Alkohol mit 42 Centavos günstig anbieten zu können, obwohl der Einkaufspreis doppelt so hoch liegt wie der von Benzin, nämlich bei 32 Centavos.

Die »Pro-Alkohol-Industrie« hat inzwischen eine so starke parlamentarische Lobby, daß sie im Parla­ment die drittstärkste Fraktion bilden könnte. Selbst gegen kleine Korrekturen an ihrem Programm reagiert sie mit heftigem Widerstand. Eine Reduzierung der Produktion der Alkoholautos zur Verminderung der staatlichen Ausgaben ist gegenwärtig nicht durchsetz­bar. Wolfgang Sauer, Präsident der Autolatina, einer Holding zwischen VW und Ford in Brasilien, reagierte auf solcherlei Ansinnen aggressiv: »Unser Geschäft ist doch keine Bäckerei, wo man von heute auf morgen die Produktion umstellen kann.«

Die Zuckerindustrie nutzt ihre Monopolstellung für immer neue Preiserhöhungen. Die Regierung ist erpreßbar. Die soziale Kehrseite des Programmes sind der Hunger und das Elend der Landbevölkerung. Hun­gerlöhne halten das Alkoholprogramm am Leben. Viele LandbäuerInnen und KleinpächterInnen wurden ge­waltsam vertrieben. Der Protest der noch verbliebenen wird mit aller Brutalität in Schach gehalten. Zwischen

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1980 und 1985 allein wurden 721 LandarbeiterInnen ermordet. Ermordet werden auch populäre, kämpfe­rische LandarbeiterInnen, KleinbäuerInnen, Gewerk­schaftsführerInnen, RechtsanwältInnen, Priester, kirchliche MitarbeiterInnen und linke PolitikerInnen. Todeslisten sollen Angst verbreiten.

Die KleinbäuerInnen nutzten das Land zur Pro­duktion von Nahrungsmitteln. Die Modernisierung vernichtete Zehntausende von Arbeitsplätzen und Nahrungsquellen. Von Zuckerrohr oder Auto-Alko­hol kann ein Mensch nicht leben. LandarbeiterInnen werden in die Elendsviertel der Kleinstädte vertrieben, oder sie gehen in den Amazonaswald. Auch andere Quellen der Ernährung sind vergiftet. Die Alkoholher­steller lassen Tausende von Litern Schlempe einfach in die Flüsse abfließen. Die Fische sterben, und wer sie ißt, wird krank.

Nach der brasilianischen Zuckerrohrernte von März bis August bleiben Zehntausende TagelöhnerInnen und LohnarbeiterInnen ihrem Schicksal überlassen. Diese Phase heißt im Volksmund »tote Zeit«. Die Menschen haben keine Ersparnisse, es gibt keine So­zialpläne, keine unterstützende Sozialbehörde. In der toten Zeit breitet sich in den überfüllten Elendsvierteln der Kleinstädte nackter Hunger wie eine Epidemie aus. Der Tod ist jeden Tag überall. Kinder sterben an Un­terernährung wie die Fliegen. Eine harmlose Grippe, ein leichter Durchfall werden zur tödlichen Bedrohung. Kinder kranker Eltern betteln in den kleineren und

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größeren Städten, aber die kümmerlichen Almosen reichen nicht aus, um ihren Hunger zu betäuben. Sie hocken am Straßenrand, zu hungrig und apathisch, um zu weinen.

Wer erfährt davon? Erst wenn Hunderte von Hun­gernden in die Stadtzentren einfallen und drohen, die Supermärkte und Lebensmitteldepots auszuplündern, kommt u. U. hektische Betriebsamkeit auf. Polizei wird gerufen und vielleicht werden Lebensmittel verteilt. Die Verhinderung von spontanen Massenaufständen ist alles, der Kampf gegen die Ursachen nichts. Heute, hundert Jahre nach der formalen Abschaffung der Sklaverei in Brasilien, gibt es keine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zuckerarbeite­rInnen. Ihr Arbeitslohn sind 2 bis 3 D-Mark am Tag, zuviel um zu sterben. Die Kaufkraft des Mindestlohns beträgt heute nur noch 25 Prozent des Mindestlohns von 1940. Kinder schinden sich vom siebten Lebens­jahr an im Zuckerrohr. Sie erwartet ein Leben von durchschnittlich weniger als 50 Jahren.115

Die Schuldenkrise verschärft diese Prozesse: Brasi­lien liefert billige Produkte für die »Lebensqualität« einer konsumbesoffenen Yuppiegeneration in die USA, nach Europa und Japan, während die ProduzentInnen dieser Waren mit einer Handvoll Bohnen und Maniok­mehl abgespeist werden oder mit nichts. Die Export­erlöse dienen nicht dem Aufbau des Landes, sondern wandern sofort auf die Konten der internationalen Banken.

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Es geschieht ein zweifacher Transfer in die reichen Metropolen. Wie einst die SklavInnen aus Afrika schuften heute die brasilianischen ArbeiterInnen für die kapitalistischen Industriemetropolen. Parallel konzentrieren kapitalstarke nationale und multinatio­nale Unternehmen das meiste Land in ihren Händen, während die Masse der Kleinbauern und Kleinbäue­rinnen von ihrem Land vertrieben wird. 12 Millionen landlose Familien und 4,5 Millionen KleinbäuerIn­nen verfügen nur noch über 20 Prozent des Landes, während 50 000 Großgrundbesitzer fast 50 Prozent des Landes besitzen. Aber nur die KleinbäuerInnen sorgten für die Ernährung der Menschen. Sie bauen 85 Prozent der Grundnahrungsmittel an. Die Hälfte des Großgrundbesitzes wird wirtschaftlich überhaupt nicht genutzt.116

Inzwischen, 1990, kontrollieren ein paar Planta­gen- und Fabrikbesitzer den Treibstoffmarkt. Über 90 Prozent aller verkauften PKW waren 1988 mit Al­koholmotoren ausgerüstet, die Mehrheit der brasilia­nischen Autobesitzer tankt(e) Zuckerrohralkohol. Die Umrüstung brachte eine dramatische Abhängigkeit. Die Zuckerkaiser von Brasilien verloren das Interesse am Stoff. Seit der Weltmarktpreis für Zucker wieder gestiegen ist, exportieren sie lieber nach Europa und in die USA. Das Ergebnis sind lange Schlangen vor den Tankstellen und in manchen Regionen Brasiliens müssen AutofahrerInnen tagelang warten, bis Treib­stoff kommt. Die jährlichen Zuschüsse für die Zucker­

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industrie betrugen im Durchschnitt 1,78 Milliarden

US-Dollar, mehr als die Militärs ihren Streitkräften in

der Zeit der Diktatur zugestanden hatten.

Selbst die Weltbank übt Selbstkritik – ohne allerdings

an anderer Stelle daraus Konsequenzen zu ziehen –:

Das Programm habe Brasiliens Rekordverschuldung

zusätzlich in die Höhe getrieben, Konzentration furcht­

baren Landes gefördert, den Anbau von Lebensmitteln

ersetzt und viele Pfl anzer vertrieben.117

Riesenstaudämme gegen selbstbestimmte Entwicklungsmöglichkeiten

1986 beschloß die Weltbank den ersten Energiesek­

torkredit für Brasilien.118 Bis zum Jahr 2010 sind 136

Staudämme geplant. Allein für zwei davon, den Baba­

quar-Damm und den Kararao-Damm am Fluß Xingu,

sollen 7365 Quadratkilometer überfl utet werden. Für

den Balbina-Damm wurden schon 2346 Quadratki­

lometer Regenwald (etwa die Größe des Saarlandes)

überschwemmt und das Volk der Waimiri-Atroari aus

ihrem Lebensraum verjagt. Der Damm kostete bis jetzt

1 Milliarde US-Dollar. Der deutsche Exekutiv-Direktor

im Weltbank-Direktorium, Gerhard Boehmer. hatte

keine Bedenken, dem Kredit zuzustimmen. Kein Ver­

antwortlicher hat bisher die Frage beantwortet, wofür

diese enormen Mengen Strom eigentlich gebraucht

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werden. Der wirkliche Bedarf hätte auch mit rationel­len, umweltfreundlichen Energiequellen befriedigt werden können, was natürlich auch kleine, gut ange­paßte Staudämme mit einschließen könnte. Inzwischen ist die freie Produktionszone Manaus, die vom Strom profitieren sollte, von Sparmaßnahmen bedroht. Stromgroßabnehmer wie Philips, BASF, Telefunken, Sony, Honda und so weiter gehen der Subventionen aus öffentlichen brasilianischen Geldern verloren und planen seit Herbst 1990 ihren Rückzug. Das Großpro­jekt, mit dem Menschen vertrieben und Natur zerstört wurde, droht ein Riesensarg zu werden.119 Fast alle noch geplanten Dämme betreffen Indianerland. Über die legalisierten Verbrechen an Menschen und Natur hinaus steht die korrupte Indianerbehörde FUNAI in Verdacht, selbst geringste ökologische und soziale Auf­lagen zu mißachten und außerdem illegal Indianerland abzuholzen und das Holz zu stehlen. Die Weltbank weiß das nicht nur, profitiert und schweigt120, die Welt­bank arbeitet auch eng mit FUNAI zusammen.121

Nach einer ähnlichen Logik funktionieren die Däm­me am indischen Fluß Narmada. Er fließt über 1300 Kilometer von der mittleren Westküste Indiens nach Osten. Mit dem Narmada-Fluß-Entwicklungs-Pro­gramm ist der Bau von 35 Hauptstaudämmen, 135 mittelgroßen Dämmen und 3000 kleinen Staudämmen gemeint, die während der nächsten 40 bis 50 Jahre gebaut werden sollen. Allein für den ersten Haupt­staudamm hat die Weltbank 450 Millionen US-Dollar

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Kredit bereitgestellt, für einen zweiten 350 Millionen

US-Dollar. Schon der erste Damm vertreibt 70 000

Menschen, das ganze Projekt 1,5 Millionen InderInnen.

Die meisten Zwangsumgesiedelten wurden betrogen.

Für wertvolles, mit altem Wald bewachsenes Land

erhielten die Zwangsumgesiedelten Land mit Neuan­

pflanzungen von niederer Qualität oder unfruchtbare

Parzellen, von denen etliche, für je eine Familie zerteilt,

in ganz unterschiedlichen Gebieten lagen. Schon der

erste Staudamm schafft große soziale Probleme. Auch

die Gesundheit der Menschen in den Staudammgebie­

ten ist durch die Folgen der Überfl utungen gefährdet.

Die Kosten für das Programm – und die Verschuldung

Indiens – steigen täglich um etwa 2,5 Millionen US-

Dollar.122

Die ökologische Schatzkammer Madagaskar verbrennt

Alle reden vom tropischen Regenwald in Brasilien,

wenige von den tropischen Regenwäldern in anderen

Teilen der Erde und noch weniger über andere Formen

der Naturzerstörung. Zum tropischen Regenwald gibt

es inzwischen Berge von Literatur und Artikel.123 Sie

beantworten, was ein tropischer Regenwald ist und

welche Bedeutung er für die Menschen auf der Erde

hat, sie schildern seinen Artenreichtum, seinen Wert

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für das Klima, seine Empfindlichkeit, seine Schönheit, seinen Nahrungsreichtum – für die Menschen, die mit ihm zu leben wissen. Er ist so voller Geheimnisse, voller unbekannter Tier- und Pflanzenarten, daß seine Zerstörung der Verbrennung einer riesigen Bibliothek gleichkommt, in der ein Mensch erst ein einziges Buch gelesen hat.

In wenigen Jahren werden tropische Regenwälder in einigen Teilen der Erde vollständig ausgerottet sein124: im philippinischen Tiefland, in Malaysia, Indonesien, Sumatra, Sulawesi, im australischen Tiefland, in Süd­vietnam, im Hochlandwald Indiens, in Sri Lanka, in Ecuador, im östlichen und südlichen Amazonasgebiet, in den meisten Feuchtwaldgebieten an der Atlantik­küste Brasiliens, in Westafrika und Madagaskar.125 In Bangladesh und Haiti sind die tropischen Regenwälder bereits vernichtet.

Madagaskar, 400 Kilometer östlich Afrikas gelegen, wurde im Februar 1506 von einer portugiesischen Flotte »entdeckt«. Das hatte tragische Folgen für die große Insel. Niederländer, Engländer, vor allem aber Franzosen siedelten in den darauffolgenden Jahrzehn­ten, gründeten Handelsgesellschaften. Im Streit der Kolonialmächte setzte sich Frankreich durch. So wie sich die Mafia heute mit Schutzzöllen reichpreßt, so zwang Frankreich immer größere Teile Madagaskars unter seine »Schutzherrschaft«. Weigerten sich die MadagassInnen, ihr Land freiwillig unter französi­sches Protektorat zu stellen, gab es blutige Schlachten,

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und Frankreich schickte noch mehr Truppen, um die widerborstigen UreinwohnerInnen niederzuwerfen. 1896, nach langen Auseinandersetzungen, kapitulierte Königin Ranavalona, und mensch schloß im Februar einen sogenannten Friedensvertrag. Von da an war ganz Madagaskar französische Kolonie. Die Königin blieb nur so lange im Amt, bis wenige Monate nach Vertragsschluß Aufstände gegen die Fremdherrschaft ausbrachen. Sie wurden brutal niedergeschlagen, Familienmitglieder der Königin hingerichtet und sie selbst 1897 ins algerische Exil gejagt.

Madagaskars Natur beeindruckte Neuankömmlinge über Jahrhunderte. Es gab Tiere und Pflanzen auf der Insel, die kein Mensch je an anderer Stelle gesehen hatte. Die Insel hat im wahrsten Sinn des Wortes außergewöhnliche Eigenarten. Die erdgeschichtliche Trennung der Insel vom afrikanischen Kontinent schuf ein Naturparadies mit unvergleichlichem Tier- und Pflanzenreichtum: Tropische Regenwälder, fleisch­fressende Pflanzen, Hunderte von Orchideenarten und Farnen, eine ganze Palette von Lemurenarten, metergroße Schildkröten, eigenartige Vögel, fremde Insekten, Raubkatzen und Reptilien.

Auf der Insel lebten um die Jahrhundertwende mehr als 2 Millionen Menschen, heute sind es 11 Millionen. Der natürliche Reichtum des kleinen Kontinents könnte noch viel mehr Menschen gut ernähren. Wer über die Insel fliegt, sieht sie an vielen Stellen jeden Tag brennen. 20 Prozent der Insel war noch vor eini­

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gen Jahrzehnten mit Wald bedeckt. Jedes Jahr gehen 200 000 Hektar in Flammen auf. Die koloniale Plün­derung hat eine neue Qualität erreicht. Die steilen Bergkuppen sind nicht mehr waldbedeckt, der Regen schwemmt den Lateritboden in die Täler, 10 000 Hekt­ar fruchtbaren Bodens werden jährlich unter Sand und Geröll begraben, jedes Jahr fast 1 Prozent der Reisan­baufläche. Die Menschen sind arm, und das fruchtbare Land wird knapp. Also wandern die Menschen in die Wälder, brennen sie nieder, erobern sich für eine kur­ze Zeit Ackerland, das sie mit der Asche des Waldes düngen. Im Durchschnitt ist der Boden nach 4 Jahren ausgelaugt, und sie ziehen weiter. Um schnelles fri­sches Grün für die vielen Zeburinder zu bekommen, brennen die Hirten die Savanne in den Hochebenen ab. Madagaskar hält, so sagt der Umweltbericht der Weltbank, weltweit den Erosionsrekord. Vier Fünftel des Landes sind bereits Einöde.

Die Bevölkerung Madagaskars hält den Weltrekord im Reiskonsum: 153 Kilogramm pro Person im Jahr (China 83 Kilogramm). Reis braucht viel Wasser. Wo der Wald stirbt, verschwindet das Wasser. Selbst in Naturschutzgebieten verschwinden von Jahr zu Jahr mehr Flüsse. Wie die Viehherden in den Bergen gehalten werden, dienen die fruchtbaren Täler dem Reisanbau. Ein Teil des Grundnahrungsmittels muß inzwischen importiert werden, unter anderem aus den USA. Das erhöht den Hunger und die Verschul­dung.

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Traditionen, Mißwirtschaft und ein Anpassungs­strukturprogramm, das sich die Regierung Anfang der 80er Jahre wie ein braver Musterschüler von der Weltbank verordnen ließ, trieben die Armut an. Klei­dung fehlt, Schuhe, Medizin, die einfachsten Dinge. Als Folge des Weltbankeingriffs sank das jährliche Pro-Kopf-Einkommen auf 200 US-Dollar. Subven­tionen für Grundnahrungsmittel wurden gestrichen, die Erwerbslosigkeit stieg an, Mangelernährung und Epidemien senkten die Lebenserwartung.

Das Budget des Gesundheitsministeriums wurde um 50 Prozent gekürzt. Laut einem Bericht von Unicef sterben in den Krankenhäusern der Hauptstadt inzwi­schen 85 Prozent der Kinder an Unterernährung. Rund 30 Prozent der Kinder Madagaskars unter zwei Jahren haben Untergewicht. Mangelernährung und Hunger bei so kleinen Kindern haben schwere gesundheitliche Folgen und beeinflussen zum Beispiel das Wachstum des Gehirns. Die Regierung hat kein Geld für Gesund­heitsprophylaxe. In den letzten Jahren fi elen Zehn­tausende von Menschen regelrechten Malariaseuchen zum Opfer, unter ihnen viele Kinder. Die Malaria ist auch eine Folge von Unterernährung. Inzwischen soll in Madagaskar auch die Pest ausgebrochen sein.126

Die Weltbank tritt nun wieder auf den Plan, ihr lädiertes Ansehen mit einem Umweltaktionsplan für Madagaskar wiederherzustellen. Auf die Ursachen der Verelendung der einstmals reichen Insel nimmt der Plan keinen Bezug: Madagaskar ist mit 3,6 Milliarden

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US-Dollar verschuldet, die Schulden pro Kopf der Bevölkerung lagen 1989 mit 292 US-Dollar über dem Bruttosozialprodukt pro Kopf von 230 US-Dollar.127

Die Weltbank will »die Bevölkerung mit ihrer Umwelt aussöhnen«. Neben einem Zwangsprogramm zur so­genannten »Strukturanpassung« wurde ein Programm namens PASAGE verkündet, das die sozialen Folgen dieses Programms abmildern soll, und ein Umweltak­tionsplan, der die ökologischen Folgen bekämpfen soll. Die wirkungsvollste Rettung Madagaskars wäre Schuldenstreichung und die Unterstützung bei einer eigenständigen Entwicklung, aber dann könnte der Miniaturkontinent nicht den versklavenden Bedingun­gen der kapitalistischen Weltwirtschaft unterworfen werden.

Drei Viertel der Forstfinanzen Madagaskars ver­schlang bislang ein altes Weltbankprojekt zur in­dustriellen Wiederaufforstung von 10o 000 Hektar – während jährlich 200 000 Hektar alter, wertvoller Wald zu Asche wird. Mensch plante, mit dem Export von Holz die für die Schuldentilgung notwendigen Devisen einzunehmen. Der Plan scheiterte, weil die Weltbank mit ihren anderen Projekten längst zum Verfall des Weltmarktpreises für Holz beigetragen hatte. Nun sollen in den nächsten 15 Jahren 300 bis 500 Millionen Dollar Madagaskars Natur retten. Al­lein 168 Millionen Dollar wird die kartographische Erfassung der Insel kosten. Erfassen heißt nicht retten. Immerhin werden die MadagassInnen später einmal

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wissen, wieviel Regenwald heute zu Asche verbrannt wird. Den Restwald und einige Naturschutzgebiete will die Weltbank für den Tourismus bewahren. Über die zerstörerischen Folgen dieses Entwicklungsmotors findet sich im Report der Weltbank kein Wort.

1985 hat Präsident Ratsiraka verfügt, daß denjeni­gen Bauern das Land gehören soll, denen es gelingt, den ausgelaugten, in Trockenzeiten steinharten, in Regenzeiten morastigen Lateritboden wiederaufzu­forsten. Das Projekt scheint am Mißtrauen der Bau­ern, die aufgrund schlechter Erfahrungen mit ihren Autoritäten langfristigen Plänen nicht trauen, und an Widerständen innerhalb der Bürokratie zu scheitern. Selbst wenn der Anreiz in beiden Gruppen auf große Begeisterung stieße: Wiederaufforstung in kleinen Selbsthilfeprojekten ist in Madagaskar ein Sisyphus­rennen gegen die großflächige Vernichtung der mada­gassischen Wälder.

Die Weltbank setzt auf die ökonomischen Interessen der Konzerne, deren Vertretung sie ist. Die japani­sche Holzfirma Matsugi-Kogei hat die Einladung der Weltbank nach Madagaskar angenommen und will Holzplantagen für den Export anlegen. Wir wissen, daß Wald, der einem so kurzsichtigen, eingeschränkten Zweck unterworfen ist, niemals den ökologischen Wert und damit niemals den sozialen Nutzen für die Men­schen haben wird wie alter, natürlich gewachsener, gemischter Wald. Aus Dank für die bereitwillige wirt­schaftliche Anpassung der madagassischen Regierung

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an die Anforderungen der kapitalistischen Metropolen

hat die Deutsche Bank 1,6 Millionen D-Mark Tilgungs­

zahlungen in eine Spende an den World Wildlife Fund

verwandelt, der damit auf Madagaskar Aufklärung be­

treiben will. Nichts gegen Umweltaufklärung, die Frage

bleibt offen, mit welchem Ziel und in wessen Interesse

aufgeklärt wird. Und an den harten wirtschaftlichen

Interessen der Täterin Weltbank scheitert deren »Auf­

klärung« ja sowieso. Auch ein großes GTZ-Programm

soll Madagaskar helfen, und die Bundesregierung ließ

1989 17,5 Millionen D-Mark für Forstprojekte auf die

Insel fließen. »Madagaskar ist«, wie Christa Wichterich

in der taz schreibt, »auf dem besten Wege, zum Expe­

rimentierfeld für Umweltschützer jeglicher Couleur zu

werden.«128 Keines der Projekte beseitigt die Ursachen

der Verwandlung eines fruchtbaren, nahrungsreichen,

grünen Paradieses in eine Insel, rot, aufgerissen, ero­

diert und unfruchtbar wie ein Ziegelstein, auf der im

Jahre 2000 möglicherweise 20 Millionen Menschen

leben werden, deren Zukunft heute zerstört wird.

Aralsee – das blaue Meer wird Wüste, UdSSR

Früher schlugen die Wellen des »blauen Meeres« an

ihre Häuser, heute sehen die Menschen von Aralsk,

der Fischerstadt, den Aralsee nicht einmal mehr mit

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dem Fernrohr. Die Musiklehrerin erinnert sich: »Als ich 1971 mein Kind bekam, hörten wir auf der Entbin­dungsstation das Tuten der Schiffe.« Die Hauptstraße von Aralsk wird nicht mehr überschwemmt. Zwischen den 30 000 EinwohnerInnen und dem Meer hat sich hier in der mittelasiatischen Sowjetrepublik Kasach­stan in 20 Jahren eine 55 Kilometer breite Wüste ausgedehnt. Die Weltkarte der Tagesschau zeigt heute noch die alten Konturen des Sees und ist so falsch wie alle Atlanten. In der meteorologischen Station von Aralsk und im Rathaus wird der Umriß des Sees Jahr für Jahr auf einer alten Karte mit Bleistift kleiner gezeichnet. 200 Kilometer südlich von Aralsk liegen schon 95 Kilometer Wüste zwischen dem neuen und dem alten Ostufer.

Für eine Reportage ruckeln wir im Jeep Anfang Dezember 1989 eine Viertelstunde über Sandboden aus der Stadt mit ihren niedrigen Häusern zum Flug­platz, vorbei an etlichen der 29 Salztümpel, die der Aralsee zurückließ. Sie sind die Quelle zahlreicher Infektionskrankheiten. Wir sind auf der Suche nach dem schrumpfenden Binnenmeer. Mit einer kleinen Propellermaschine vom Typ AN-2 steigen wir in die Luft und fliegen über eine endlose weite Sandsalzwü­ste. Erst von dort oben erkennen wir die Bodenzeich­nung des früheren Meeresgrundes. Wo einmal Fische schwammen, starren nun Kamele, irritiert durch den Lärm des Flugzeugs, zu uns hinauf. Um menschenlee­re Fischerkolchosen, früher am Meeresufer gelegen,

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dehnt sich die silberbraune Dürre bis zum Horizont. Entlang der alten Hausmauern häuft der Wind den Sand zu Dünen. Mit Ornamenten bemalte Wände zerbröseln konturlos in den Salzstaub.

Wir fliegen etwa eine halbe Stunde, bevor wir Wasser sehen. Das Meer schrumpft, als wäre es auf der Flucht vor den 3 Wüsten, die im Osten (Kysylkum), Süden (Karakum) und Westen (Ustjurd) auf ihre gewaltige Vereinigung lauern. Und die winterkalte Steppe im Norden des Sees ist eine Halbwüste. Vielleicht hundert Kilometer südlich von Aralsk, in einem breiten Delta, entdecken wir unter uns ein Rinnsal. Es ist der Syrdar­ja, einer der beiden Flüsse, die den abfl ußlosen Aralsee speisten. Das Restwasser, das er fast 3000 Kilometer aus Kirgisien nördlich der chinesischen Grenze hierher schleppt, versickert nahezu vollständig, noch bevor es das Binnenmeer erreicht.

Es gibt keinen Aralsee mehr, es gibt nur noch zwei. Wir waren nicht sicher, aber nun sehen wir es aus der Luft. Ehemals fast ein Drittel so groß wie die Bundes­republik (Aralsee 1960: 68 000 Quadratkilometer)129

ist er um mehr als 40 Prozent auf etwa die Fläche der Schweiz verdunstet (Aralsee 1989: etwa 39 000 Quadratkilometer)130 und hat sich in zwei Seen geteilt. Ihre Ufer liegen schon 30 Kilometer auseinander, so weit, daß wir sie aus dem Flugzeug nicht gleichzeitig sehen können, sondern von einem zum anderen Ufer fl iegen müssen.

Der Aralsee lag einmal 53,41 Meter (1960) über dem

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Meeresspiegel. 1989 waren es nur noch 39,20 Meter. Seine 1090 Kubikkilometer Wasser schrumpften um zwei Drittel auf 400 Kubikkilometer. Der See wird fla­cher, die durchschnittliche Tiefe verringerte sich von 25 Meter auf 9 Meter bei einer maximalen Tiefe von 68 Metern.131 So bietet sich der Aralsee zur schnelleren Verdunstung an: 34-40 Kubikkilometer im Jahr.

Pilot Walentin Grischajew läßt meinen Journalisten­kollegen, den Fotografen Ludwig Rauch, auf den Platz des Copiloten und fliegt die gewünschten Schleifen fürs richtige Licht. Unter dem weitgespannten blaßblauen Himmel wirft das Flugzeug seinen kleinen Schatten auf 12 Schiffe, die verrostet aus dem Sand ragen. Fast 40 liegen in solchen Schiffsfriedhöfen um den Aral­see herum, schätzt Grischajew, denn »es wurde den Menschen versprochen, daß das Meer auf jeden Fall zurückkommt«. Außer denen, die die Katastrophe vermessen, braucht heute keiner mehr Schiffe. Von nirgendwo nach nirgendwo benötigt niemand eine Schiffsroute, wie sie früher zum Beispiel von Aralsk nach Muynak, der Fischerstadt im usbekischen Süden des Aralsees, führte. Das Meer hat sich inzwischen auch von Muynak 70 Kilometer entfernt.

Europäische Expeditionsberichte im 19. Jahrhundert schwärmen vom Fischreichtum des windgepeitschten Meeres. Mit seinem Austrocken hat sich der schwa­che Salzgehalt von 9 g heute schon auf 28 g pro Liter verdichtet, das ist nahezu der Salzgehalt des offenen Weltmeeres. Das ertrug kein Aralfisch. Nach und nach

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starben alle 24 Fischarten aus. Ihre letzten Vertreter liegen im kleinen Museum von Aralsk leichenbleich in Spiritus: Stör, Karpfen, Rotauge, Brasse, Wels. 60 000 Fischer fingen früher 48 000 Tonnen Fisch im Jahr, heute nicht einen einzigen. Die Fischer wanderten aus oder schulten um. Wie um die Erinnerung an die fischreiche Vergangenheit wachzuhalten, werden heute Fische »aus 3 Weltmeeren importiert«, erzählt uns der Leiter der örtlichen Fischfabrik, in der mensch sie räu­chert und weiterverarbeitet. Wir stapfen durch Pfützen auf dem Fabrikgelände und erfahren, daß außerdem viele ehemalige Fischer mit der Eisenbahn oder dem Flugzeug 700 Kilometer zum Kaspischen Meer, 900 Kilometer zum Balchasch-See oder 3000 Kilometer zum Baikalsee reisen, um dort Fisch zu kaufen.

Der zweite Wasserarm des Aralsees, der Fluß Amu­darja, trägt sein Wasser von der Quelle nahe der in­disch-afghanischen Grenze über 2 500 Kilometer zum südlichen Ufer des Aralsees. Sein breites Delta war einmal voller Leben, reich an Tieren und Pfl anzen. Mit dem Wasser schrumpften oder verschwanden 20 von 25 kleinen Seen, 800 000 Hektar Schilf vertrockneten, und 140 von 178 Tierarten starben aus: Amu-Tiger, Bären, Füchse, Schakale und viele Vogelarten. Der Rest lebt heute mit den Menschen um die stinkenden, faulenden Pfützen herum. Amudarja und Syrdarja, die mächtigsten Flüsse Mittelasiens, tragen zusammen etwa 120 Kubikkilometer Wasser im Jahr. Rund die Hälfte verlor sich schon immer auf dem weiten Weg

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durch Wüsten und Steppen, verdunstete, versickerte, befruchtete Oasen. Für das Leben im und am Aralsee genügte die Hälfte, zu der im günstigsten Fall 10 Ku­bikkilometer Niederschlag kam. 1986 aber erreichte kein Tropfen Flußwasser mehr den See.

Der Aralsee stirbt nicht versehentlich. Er wurde Ende der 60er Jahre zum Tod verurteilt, und seine Richter wußten, was sie taten. Sie konnten sich auf den Stalin­schen Plan zur Umwandlung der Natur berufen und der könnte auf zaristische Bewässerungspläne im letzten Jahrhundert zurückgeführt werden. Heute deutet Mos­kau auf die Verantwortlichen in den Unionsrepubliken, und denen dient Moskau als Schuldiger. Das Urteil lau­tete: intensivste Baumwoll-Monokultur in den mittela­siatischen Sowjetrepubliken Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Kirgisien und in Kasachstan. Denn wer brauchte diesen Aralsee schon? Versprach doch der ökonomische Nutzen aus dem Verkauf der Baumwolle höher zu sein als der »Wert« des Meeres. Und hatten nicht Wissenschaftler eilfertig zugesichert, daß sich Kalk und Gips wie eine Kruste schützend über den nackten Meeresboden legen würden und daß deshalb Salzver­wehungen nicht möglich seien? Eine viertel Million Bewässerungskanäle und Dutzende Stauseen bremsen die Flüsse und pumpen sie leer. Mit 95 Prozent des Was­sers werden 7,5 Millionen Hektar künstlich bewässert. Mindestens ein Drittel wird dabei verschwendet. Mehr als 90 Prozent der gesamten sowjetischen Baumwol­lernte, nämlich 5,2 Millionen Tonnen, kommen aus

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Usbekistan. Die Devisen aus dem Export aber finden ihren Weg selten zurück in die Aralrepubliken. Trotz Hungerlöhnen und Kinderarbeit wirft der Baumwol­lanbau jedes Jahr weniger ab. Die Preise sinken, und die Böden sind ausgelaugt.

Die Menschen in Aralsk sind arm und überwältigend gastfreundlich. Morgens, mittags und abends ist un­ser Tisch in dem Restaurant, das früher am Meer lag, überfüllt mit Essen. Morgens, mittags und abends mit den gleichen Speisen wie in vielen anderen Ländern, in denen es wenig zu essen gibt: Pferde- und Schweine­fleisch, Kohlsuppe, Salate, Gemüse, Äpfel, Kekse, Tee, Wasser und Alkohol. Die kasachischen Lieder, die an einem Abend uns zu Ehren gesungen und auf frem­den Instrumenten gespielt werden, handeln von der verlorenen Schönheit des blauen Meeres. Sie sind so melancholisch und hoffnungslos wie viele Menschen, denen wir begegnen.

Die Menschen in Aralsk leiden an Mangelernährung, sie haben zu wenig Gemüse und Obst, nur ein Drittel des sowjetischen Fleischminimums, rund 8-10 kg im Jahr, zu wenig Milch. Inzwischen wird wenigstens das Trinkwasser aus 80 Kilometer Entfernung zu den Brunnenstationen gepumpt, wo Kinder und Frauen es in Eimern holen. Nur wenige Häuser in Aralsk haben Kanalisation.

Die weit entfernten Baumwollfelder werden vor der maschinellen Ernte mit den Pestiziden B-58, Me­taphos, Kotoran, Butylchlorophos, Lindan und DDT

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besprüht.132 Kinder und Erwachsene stehen bei der Ernte monatelang in krebserregenden Giftschwaden. Das verseuchte Abwasser findet seinen Weg in beide Flüsse, in die Grundwasserreservoirs und schließlich in die Körper der Menschen, wo es sich zum Teil an­reichert.

»Ich werde Ihnen etwas bisher Unveröffentlichtes sagen. Im Gebiet der Stadt Muynak mit ihren 18 000 Einwohnern liegen 3 Tuberkulose-Krankenhäuser«, hatte uns in Moskau Professor Ratkowitsch vom In­stitut für Wasserprobleme der Akademie der Wissen­schaften in Moskau informiert. Die Kinder von Aralsk sterben an Tuberkulose, Infektionskrankheiten, He­patitis, Blutarmut, Mangelernährung, Typhus, Krebs. Die Säuglingssterblichkeit liegt in westlichen Indu­strienationen bei 8 bis 11 pro 1000 Geburten, in der Sowjetunion erreicht sie 24, in den mittelasiatischen Sowjetrepubliken bis zu 51,4 und um den Aralsee stel­lenweise bis zu 118 pro 1000. Einfacher ausgedrückt: Jedes neunte bis zehnte Kind stirbt in Aralsk und in Karalpakien, bevor es das erste Lebensjahr erreicht.

Ungenügende gesundheitliche Aufklärung der Bevöl­kerung sei schuld, meint Tage später in seinem Mos­kauer Büro der damalige sowjetische Gesundheitsmini­ster Jewgenij Tschasow, mangelnde Hygiene, schlechte medizinische Versorgung, aber vor allen Dingen eines: »Die islamische Religion erlaubt den Frauen dort we­der Abtreibungen noch Verhütungsmittel, sie gebären im Durchschnitt zehn-bis zwölf mal. Die Frauen stillen

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ein Kind und erwarten schon das nächste. Und wir sind der Ansicht, daß das sechste Kind schon so gewisse Schwächen hat.« Das ist medizinischer Unsinn. Und der Ex-Gesundheitsminister verdrängt, daß in der Sowjetunion Verhütungsmittel kaum zu bekommen sind, gute noch seltener, Abtreibung unter miserablen hygienischen Bedingungen als Verhütungsmethode praktiziert wird, oft zwei- bis dreimal im Jahr, und daß viele Frauen daran krank werden oder sterben. Der Gesundheitsminister wurde 1990 gefeuert. Warum, weiß ich nicht. Ich fürchte, die sowjetische Gesund­heitspolitik hat sich nicht geändert.

»Brigaden von 1500 Ärzten« sollen sich künftig bei Reihenuntersuchungen »die ganze Bevölkerung tüchtig vornehmen«, denn »ungefähr die Hälfte der gesamten Bevölkerung hat diese oder jene Krankheit«. Ein leitender Arzt im Krankenhaus von Aralsk hatte uns bei der Besichtigung der erbärmlichen Krankensta­tionen als Haupttodesursache der Erwachsenen Krebs genannt. Tschasow will das damit erklären, daß die Bevölkerung überaltert sei, zu viele Jugendliche zögen in die Städte. Kaum zu glauben bei einer hohen Ge­burtenrate von 3,5 bis 3,8 Prozent. »Es gibt eine sehr gute Initiative von Funktionsträgern der bundesdeut­schen Pharmaindustrie, die wollen in die betroffenen Gebiete gratis pharmazeutische Produkte schicken«, lenkte der Gesundheitsminister unseren Blick auf Positives. Wäre es nicht besser, gegen die Blutarmut mehr Gemüse anzubauen? Erst mal sei das doch eine

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»angenehme Geste«, sagt er. Und eine Anzahlung für lukrative Geschäfte, sage ich. Natürlich gibt es weitere Anstrengungen: Örtliche Parteifunktionäre berichten von der Steigerung des Milchertrages pro Kuh, von Grünanlagen, einem neuen Krankenhaus, der Förderung privater Nebenerwerbswirtschaft, Hilfe bei der Rinderzucht – alles nur Kieselsteine, um einen brodelnden Vulkan zu füllen.

Als wir leise in das freundliche Kinderheim von Aralsk treten, vermuten wir noch, daß uns hier ein positives Projekt vorgeführt werden soll. Die Kinder schlafen, in 3 Altersgruppen getrennt: Säuglinge, Klein- und Schulkinder. Alle 97 Kinder leben hier 3 bis 6 Monate in Quarantäne, weil ein Elternteil oder beide Tuberkulose haben. Um den See leiden 30 000 Menschen an dieser Krankheit. »Das Wetter hat sich geändert«, sagt die Leiterin des Kindergartens von Aralsk. »Das Klima ist trockener geworden. Im Som­mer wehen oft heiße böige Winde, im Winter wird es immer kälter.« Die Wissenschaftler geben ihr recht. »Im Sommer können wir oft die Augen nicht richtig aufmachen, die ganze Luft ist voller Salz und Sand«, ergänzt später die Musiklehrerin.

Wenn der Aralsee im Jahr 2020 vielleicht ganz ver­schwunden sein wird, schließt sich ein Wüstenband von Mauretanien im Nordwesten Afrikas über Ägypten, Irak und Iran, südlich vorbei am Kaspischen Meer über die mittelasiatischen Sowjetrepubliken bis hin zur mongolisch-chinesischen Wüste Gobi. Die neue men­

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schengemachte Wüste Aralkum (Aralwüste), salzdürre Erbin des »blauen Meeres«, würde zum Scharnier ei­ner breitgürtligen Staublunge der Erde. Was nach der Vergiftung in den kapitalistischen Zentren und durch das Abholzen der tropischen Regenwälder im Trikont an Atemluft bleibt, würde mit Salz, Sand und Staub ungenießbar aufgefüllt.

Die Menschen in den Straßen von Aralsk keuchen. Der Grund dafür ist bis ins Weltall zu sehen. Juri Israel, Vorsitzender der Regierungskommission zur Rettung des Aralsees, schenkt uns Luftaufnahmen aus dem Sputnik vom Juni 1989. Sie zeigen aus großer Höhe, wie Sandorkane 400 Kilometer lange und 40 Kilome­ter breite Salzstaubteppiche von den neuen Ufern des Aralsees in die Luft heben. Jahr für Jahr erheben sich bis zu 75 Millionen Tonnen salziger, giftiger Sand in die Atmosphäre und mit ihm weitere 65 Millionen Tonnen feinstfasriger, kaum sichtbarer Salzstäube. Diese gewaltige Giftfahne weht nicht nur den Aralsee weiter zu. Sie läßt landwirtschaftliche Böden versal­zen und vertrocknen und erreicht über Hunderte und Tausende von Kilometern Südsibirien, die russische Eismeerküste, das schwarze Meer und das Baltikum. Wissenschaftler vermuten den Leichenstaub des »blauen Meeres« bereits in Mitteleuropa, Asien und Afrika.

Polad Polad-Sade ist einer der am meisten angefein­deten Politiker der Sowjetunion. Er ist kommissari­scher Minister für Wasserwirtschaft und verantwort­

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lich für die Pläne zur Umleitung der sibirischen Flüsse in den Süden der Sowjetunion, die 1986 nach harten politischen Auseinandersetzungen vorläufi g gekippt wurden. Seine Gegner halten ihn für einen mächtigen Mann. Er war zwar als Minister im Obersten Sowjet nicht durchsetzbar, aber er leitet dessen Amt mit vol­lem Etat und Entscheidungsbefugnis, ohne daß ein richtiger Minister als Konkurrent in Sicht wäre. Der angesehene Schriftsteller und Ökologe Sergej Salygin urteilt hart: »Das Ministerium für Wasserwirtschaft begeht Staatsverbrechen.« Polad-Sade kontert: »Wir sind nicht das Zentrum des Bösen, man müßte ein vollkommener Idiot sein, würde man gegen das eigene Volk handeln. Das Motiv mancher Schriftsteller ist wohl auch persönlicher Ehrgeiz.«

Als Teil der Flußumleitungsprojekte sollte der 2300 Kilometer lange Sib-Aral-Kanal Wasser aus den sibi­rischen Flüssen Ob und Irtysch in den Syrdarja und den Amudarja leiten, um den Aralsee zu füllen. Und gewiß auch, um weiteres Wasser für die Landwirtschaft heranzuholen. Niemand interessiert sich für die Tem­peraturerhöhung des arktischen Meeres, wenn dort kühlendes Süßwasser aus sibirischen Flüssen fehlt. Polad-Sade hofft auf den Krisendruck aus der Region, um das Umleitungsprojekt doch noch durchzusetzen, er sieht aber »keine Perspektive, daß wir dort in diesem Jahrhundert etwas in dieser Art unternehmen«. Zwei Parteifunktionäre in der kasachischen Gebietshaupt­stadt Ksyl Orda beten fast: »Gott gebe es, daß der Kanal

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noch kommt«. Fürsprecher ist auch der Präsident der usbekischen Akademie der Wissenschaften, und selbst Gorbatschow soll im April 1988 in Taschkent mit der Ankündigung einer weiteren Machbarkeitsstudie neue falsche Hoffnung verbreitet haben.

Die Konflikte in den Aralrepubliken nehmen zu. Die BaumwollarbeiterInnen, die unter ihrer harten und gefährlichen Arbeit leiden, wollen sich nicht vorstellen, wie es den Menschen geht, denen die Baumwolle das Wasser wegsäuft. Die Usbeken am südlichen Ufer des Sees errangen traurigen Ruhm, als einige von ihnen Pogrome gegen die kleine ethnische Gruppe der Me­scheten begingen. Ihre autonome karalpakische Region am Amu-Delta zählt zu den ärmsten der Sowjetunion. Den Turkmenen, die mit dem 110o Kilometer langen Karakum-Kanal dem Amudarja und damit dem Aral­see jährlich zwölf Kubikkilometer Wasser entziehen, machen die Usbeken heftige Vorwürfe. Und je nach Nationalität und Verantwortlichkeit ändern sich wis­senschaftliche Zahlen über Schaden oder Nutzen der Bewässerung. Aber in allen mittelasiatischen Republi­ken wird Moskau vorgeworfen, es sei schiere russische Habgier, daß mensch ihnen das Wasser der sibirischen Flüsse vorenthalte. So steigern ökologische Probleme die Konflikte zwischen den Nationalitäten. Was manch einem Eurozentristen als irrationaler Religionskrieg erscheint, hat oft handfeste materielle Ursachen. Der Kampf ums Wasser kann hier und anderswo bei weite­rer Wüstenbildung in Umweltkriege umschlagen, und

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längst produzieren ökologische Katastrophen Umwelt­flüchtlinge. Ökologische Probleme werden auch hier zu sozialen. Eine Welt ist vorstellbar, in der die Mehrheit der Menschen sich auf der Flucht vor Kriegen, Dürre, Gift und Hunger befindet.

Juri Israel sieht es heute als Fehler an, daß die Öf­fentlichkeit nicht beteiligt worden ist an der Arbeit der Kommission zur Rettung des Aralsees. Die Pläne seiner Kommission lassen guten Willen erkennen, aber kaum realistische Hoffnung. Eine Trockenlegung der bewäs­serten Flächen ging nicht, mensch hätte 3 Millionen Menschen vertreiben müssen. Die Flußumleitung ist zur Zeit nicht durchsetzbar. »Aber wir haben rund 21 Kubikkilometer Wasser gefunden«, sagt Israel. Moder­ne Bewässerungstechniken sollen 10 Kubikkilometer Wasser einsparen. Ihr Bau ist kompliziert und wäre 100 Millionen Rubel teuer. Sogenannte Kollektoren sollen rechts und links des Amudarja über Hunderte von Kilometern Ab- und Sickerwässer sammeln und auf diese Weise 6 bis 7 Kubikkilometer Wasser in den See führen – weitere hundert Millionen Rubel, schätzt Israel. Für die restlichen 5 bis 7 Kubikkilometer Wasser sind Restwasser, Regen und Wunder verantwortlich. Manche schlagen vor, dem Regen durch Manipulation von Regenwolken in den Bergen mit Hilfe von Flugzeu­gen nachzuhelfen. Diese Idee fi ndet eigenartigerweise auch die Unterstützung von einigen Umweltschütze­rInnen. Daß dieses Wasser dann an anderer Stelle fehlt, kommt ihnen nicht in den Sinn.

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Die 15 bis 21 Kubikkilometer Rettungswasser der Kommission würden den See erst im Jahr 2000 er­reichen, wenn er nur noch ein Drittel seiner früheren Fläche haben wird. Israels Hoffnung, »zu verhindern, daß die 3 Wüsten aneinandertreten«, wird wohl ent­täuscht werden. Andere Pläne sehen vor, Wasser aus dem Syrdarja in die kleine trockene Bucht vor Aralsk zu leiten. Ein Damm soll den Abfluß in den Aralsee fest verschließen, damit die Menschen in Aralsk glauben können, wieder am Meer zu leben. Manche in Aralsk freuen sich auf die optische Täuschung.

Der südsibirische Baikalsee ist wunderschön mit seiner fischreichen Tiefe inmitten von Wäldern und Bergen. Er ist gewissermaßen die kulleräugige, wohl­gefällige Robbe der sowjetischen Ökologie. Für seinen Schutz wurde inzwischen international so viel Geld gesammelt, daß er wohl gerettet werden kann. Der Aralsee aber und sein Umland sind dürr, trocken, staubig. Mal zu heiß, mal minus 50 Grad Celsius kalt, ein aussterbendes Tier der häßlichen Art, sähe mensch es mit dem Blick manch eines selbsternannten Naturschützers. Aber mit ihm sterben die Menschen an seinen alten Ufern, und er ist für unser Klima vermutlich von größerer Bedeutung als die »Perle« Baikal. Das »blaue Meer« wäre zu retten, wenig­stens auf dem heutigen Stand zu erhalten: würde der Baumwollanbau drastisch zugunsten einer schonen­den landwirtschaftlichen Mischnutzung reduziert, würden verdunstungsarme Bewässerungstechniken

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eingesetzt und die Republiken ihre Probleme endlich gemeinsam angehen. Die Aralregion braucht Geld, das Moskau allein nicht liefern kann. Eine internationale Öffentlichkeit, die frei wäre von Überheblichkeit und neokolonialen Interessen und Geld, Technik und In­formationen zur Verfügung stellte, könnte helfen, die Wüste aufzuhalten.

Wenige Monate nach unserem Besuch brach in Aralsk die Pest aus. Eine Krankheit, von der mensch international glaubt, daß sie ausgerottet ist. Das von Menschen und ökonomischen Interessen beeinflußte schlechte Klima, die erbärmliche Armut und Unterver­sorgung hat der Pest ihre Opfer vorbereitet.

Moskau, September 1989. Wir sprechen mit Alexan­der Jakowlew, Mitglied im Politbüro, enger Vertrauter und Beräter von Gorbatschow. Eine unserer Fragen wehrt er heftig ab:

Frage: »Sie wollen eine Variante des Marktes schaffen, der die sozialen Interessen der Menschen schützt, aber die Schritte, die die UdSSR weltweit gehen will, vielleicht aus gewissen Zwängen, heißen Beteiligung am kapitalistischen Weltmarkt, Eintritt und Mitgliedschaft in der Weltbank und dem Inter­nationalen Währungsfond. Das mag der Ökonomie der UdSSR helfen. Nur bleibt Tatsache, daß diese Institutionen für die Völker der »Dritten Welt« Aus­beuterinstitutionen sind und zur Zerstörung der glo­balen Ökologie führen. Insofern ist dann die Frage der Effizienz eine relative, gerade gemessen an den Zielen,

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die ein »sozialistischer Staat«, im Unterschied zu ei­nem kapitalistischen, hat oder haben müßte. Das sind Widersprüche, die ja nicht nur in der UdSSR, sondern auch weltweit in diesem System angelegt sind. Wie wird in der UdSSR diskutiert, daß einerseits von den Staaten der »Dritten Welt« und andererseits auch von linken Kräften innerhalb der kapitalistischen Staaten eine Abschaffung dieser Institutionen gefordert wird und diese neue Politik der UdSSR diesen fortschrittli­chen Kräften objektiv in den Rücken fällt? Wie lösen Sie den Widerspruch?«

Jakowlew: »Zur Zeit tun wir überhaupt nichts zur Lösung dieses Widerspruchs. … In Usbekistan sind wir jetzt gezwungenermaßen dabei, diese Fragen zu lösen. Wir brauchen dort verarbeitende Betriebe, Betriebe der Leichtindustrie. Dabei werden nicht nur die ökonomischen, sondern natürlich auch die sozi­alen Aufgaben gelöst. Und der Staat bewegt sich nicht entgegen der Marktwirtschaft als solcher, sondern der Staat muß diese sozialen Aufgaben lösen. Wir können nicht einfach mir nichts, dir nichts die Marktwirtschaft einführen, was würde mit den Menschen geschehen? Wir können sie nicht zwingen.«

Frage: »Aber was ist nun mit der Mitgliedschaft in IWF und Weltbank, die gegen die sozialen Interessen der Menschen in der ›Dritten Welt‹ stehen würde?«

Jakowlew: »Niemand will uns in die Weltbank reinlassen. Für uns ist diese Frage nicht aktuell. Bis jetzt will uns ja keiner reinlassen, besonders was den

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Westen betrifft. Die Amerikaner gewähren uns nicht

einmal die Meistbegünstigungsklausel im Handel.«

Frage: »Wollen Sie oder wollen Sie nicht in die

Weltbank? Daß Ihr Antrag erst mal abgelehnt wird,

heißt nicht, daß er nicht existiert.«

Jakowlew: »Also, wir diskutieren diese Frage

überhaupt nicht. Einfach aus dem Grunde, weil wir

überhaupt keine Zeichen sehen, daß wir den Zutritt

bekommen. Wir haben es mit dem GATT versucht,

dem allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen, aber

man hat uns nicht reingelassen!«133

Aber schon ab Mitte 1986, wenige Monate nach

der Atomkatastrophe von Tschernobyl, signalisierte

die Sowjetunion Interesse an einer Mitgliedschaft im

IWF. Mitte September 1989 hat die Sowjetunion durch

ihren stellvertretenden Außenminister Petrowsky den

Beitritt zum IWF und zu allen anderen internationalen

Finanzorganisationen angekündigt.134

Färben, gerben, sterben – Lederindustrie in Indien

Die Herstellung von Leder ist einer der gewässerbe­

lastendsten Produktionsprozesse, die es gibt. Für den

Prozeß des Gerbens und Färbens werden 35 Liter Was­

ser je Kilogramm Leder verbraucht. Das Abwasser wird

mit organischen Verbindungen, mit Salzen und mit

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Schwermetallen wie Chrom, Zink, Cadmium und Arsen vergiftet. Die indische Lederindustrie konzentriert sich in Kalkutta, Kanpur, Rajasthan und Tamil Nadu.

In dem Gebiet um Ambur, Tamil Nadu, liegen 350 Gerbereien, die jeden Tag etwa 80 Millionen Liter Abwasser in den Fluß Palar kippen oder durch den Bo­den in das Grundwasser sickern lassen. Ungefähr 600 Brunnen sind so vergiftet, daß sie nicht mehr benutzt werden können. Mit bloßen Händen füllen Gerberei­arbeiterInnen Chromsulfat in Säcke um. Von 1980 bis 1985 stieg die Zahl der Bronchitisfälle um 300 Prozent und die der Fälle von Tuberkulose um 500 Prozent135. Ebenso drastisch stieg die Zahl der Magen-, Darm- und Hautkrankheiten. Fast alle 25 000 GerbereiarbeiterIn­nen hatten mindestens einmal in ihrem Berufsleben ernsthafte Hautkrankheiten von Allergien bis Krebs. Die Lederindustrie zerstört andere, traditionelle Ein­nahmequellen. Die Produktion von Leder und deren Abfälle verseuchten bereits 3900 Hektar landwirt­schaftlicher Fläche. Die agrarischen Erträge gingen innerhalb von 12 bis 15 Jahren auf ein Viertel zurück. Das zwingt die Bauern zum Verkauf ihres Landes an die expandierende Lederindustrie. Die landlosen Bauern werden oft Arbeiter in denselben Gerbereien, die zuvor ihre Lebensgrundlagen zerstört haben.

Um trinkbares Wasser zu bekommen, laufen die Frauen täglich bis zu acht Kilometer. Die besondere Belastung der Frauen zwingt ihre Töchter, mehr Haus­und Familienarbeit zu übernehmen. Immer weniger

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Mädchen können schreiben und lesen. Der ökoim­perialistische Export von Gifttechnologie zerschlägt Chancen solider Entwicklung, häufi g besonders die von Frauen und Mädchen.

Überall fanden die WissenschaftlerInnen der Meß­stelle für Arbeits- und Umweltschutz aus Bremen (M.A.U.S. e.V.)136 hohe Mengen an Chrom: im Wasser, dem Boden, in Sedimenten und Pflanzen. Das Trink­wasser in Tamil Nadu ist um ein Vielfaches höher mit Chrom belastet als etwa in bundesdeutschen oder US-amerikanischen Großstädten. Die M.A.U.S.-Spe­zialistInnen aus Bremen sahen, wie ArbeiterInnen mit bloßen Händen Chromsulfat verteilten, das bei uns als wichtiger Auslöser von Hautallergien gilt. Barfüßig lau­fen sie auf dem Gift herum und verteilen mit nackten Händen den Klärschlamm, der einen hohen Anteil von dreiwertigem Chrom enthält. Niemand sagt ihnen, daß sie davon Krebs und Erbschäden bekommen können. Der gleiche Klärschlamm wird auch verbrannt. Arbei­terInnen füllen den Klärschlamm mit nackten Händen, wie Teig, in halboffene Öfen, die aussehen, als seien sie zum Brotbacken gebaut. Beim Verbrennen entsteht sechswertiges Chrom, das bei den Menschen, die neben den Verbrennungsöfen arbeiten, Lungenkrebs und andere Krebsarten und Erbschäden auslöst.

Die indische Lederindustrie ist ein typisches Beispiel für die vielgepriesene »wirtschaftliche Zusammen­arbeit« der Bundesrepublik Deutschland mit einem »Dritte-Welt«-Land. Der deutsche Handel ist der

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größte Abnehmer von indischem Leder und liefert im Gegenzug kapitalintensive Maschinen und die teuren Chemikalien zur Lederherstellung. In der Bundesrepu­blik selbst ging die Lederproduktion in den 70er Jahren wegen schärferer Umweltschutzbestimmungen zu­rück.137 Das Billiglohnland Indien erlebte einen Boom der Lederindustrie. Zur Erhöhung der Produktivität wurde die traditionelle pfl anzliche Gerbung durch teure und umweltbelastende Chromgerbung ersetzt. Die Lederindustrie wurde zu einem der wichtigsten Ex­portzweige Indiens. Für ihren Wirtschaftskurs braucht die indische Regierung unter Rajiv Ghandi Devisen. Die Auslandsverschuldung steigt. Die Schuldendienst­quote stieg in den letzten Jahren von 17 auf 24 Prozent der Exporterlöse.138 Indien wird immer abhängiger von einer möglichst »effi zienten« Lederindustrie.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam­menarbeit (BMZ) hilft bei der Ankurbelung des Expor­tes von indischem Leder. Es verweigert jede Hilfe bei der Beseitigung der ökologischen, gesundheitlichen und sozialen Folgen der Lederproduktion. Das BMZ erleichtert den indischen Verkäufern den Marktzugang in der Bundesrepublik. Wenn die Löhne niedrig sind, die Menschen an entfernten Arbeitsplätzen vergiftet werden und die Natur ungeschützt bleibt, laufen die Geschäfte hervorragend. Ein Drittel aller Lederproduk­te, welche Chemiker des Bremer Umweltinstitutes un­tersuchten, enthielten das dioxinhaltige Anti-Pilzmittel Pentachlorphenol (PCP). Das superbillige krebserre­

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gende Gift ist in Turnschuhen, Ledersofas, Jacken,

Taschen, Uhrarmbändern. Entweder wird Leder gleich

im Ausland oder vorgegerbtes Leder z. B. aus Indien in

der BRD mit PCP behandelt. Die PCP-Verordnung vom

Dezember 1989 verbietet zwar inzwischen den Verkauf

von PCP und PCP-haltigen Produkten weitgehend, ent­

hält aber großzügige Ausnahmeregelungen und wird

kaum überwacht. Indien wurde über die lang geplante

PCP-Verordnung nicht einmal rechtzeitig informiert

und sitzt nun auf mit deutscher Entwicklungshilfe

gefördertem PCP-haltigen Leder.139

Eine Ökologiebewegung in den kapitalistischen

Zentren, die sich auf ökologische Probleme bezieht,

als existierten sie in nationalstaatlichen Grenzen, und

die sich nicht internationalistisch versteht, wird der

Tatsache nicht gerecht, daß schärfere Umweltauflagen

in der Bundesrepublik Deutschland zum Export von

ökologischen und sozialen Katastrophen im Trikont

führen. Das Elend wird exportiert, und die Produkte

kommen preiswert und möglicherweise giftig zurück.

So schließt sich der Kreis.

Baumwolle für die »Erste« Welt, Pestizide für die »Dritte«, Sudan

Auf Gezira, der mit 850 000 Hektar größten Staats­

farm der Erde, finden hunderttausend Pächter und

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eine halbe Million Wanderarbeiter Arbeit. Sie bau­en Baumwolle an. Die Manager der Farm verteilen Saatgut, Düngemittel und sogenannte Schädlingsbe­kämpfungsmittel und verkaufen die Baumwolle. Der Sudan ist mit 11 Milliarden US-Dollar im Ausland verschuldet. 80 Prozent der Exporterlöse landen auf den Konten der Gläubigerbanken. Der Sudan ist mit 4 Milliarden im Zahlungsrückstand, gefangen in der Schuldenfalle. 4 Milliarden sind siebenmal soviel wie seine Exporterlöse. Der Sudan trägt noch eine größere Last. Seit 30 Jahren wird der Sudan mit Chemikalien durchtränkt. Weil viele sogenannte Schädlinge längst resistent sind, versprühen jetzt, 6mal pro Saison, aus­ländische Flugzeuge Pestizide über Menschen, Bewäs­serungskanälen und Baumwollfeldern. Viele Menschen sind krank. Und hartnäckig fressen sich Insekten durch die riesigen Monokulturen. Die Produktionskosten steigen, und Beobachter warnen vor dem Kollaps des sudanesischen Baumwollgeschäftes. Die Kredite für die Giftbombe kommen von der Weltbank, und sie nützen den Chemiekonzernen des Nordens. Von der Hoechst AG kommen zum Beispiel Baumwollpestizide wie Brassicol, Hostathion und Morocide. Der Sudan gilt als der größte Pestizidkunde im Süden.

Verschiedene Hilfsorganisationen befürchten Mil­lionen von Hungertoten im Sudan. Es kam einiges zusammen: Der Regen blieb Monate aus, es herrscht Krieg im Süden, Lebensmittel fehlen, der Boden ist unfruchtbar oder wird für den Export genutzt.140

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Der Sudan gehört zu den vielen afrikanischen Län­dern, deren Grenzen von den Kolonialherren künstlich gezogen wurden. Im Süden des Sudan wehren sich seit mehr als 30 Jahren die Völker gegen die Herrschaft der arabisch sprechenden EinwohnerInnen im Nor­den. Wie überall in Afrika explodieren Auseinander­setzungen erst dann, wenn ökonomische Interessen aus dem Ausland sich in die Belange des jeweiligen Staates einmischen oder wenn, wie in Südafrika, eine herrschende weiße Elite die schwarzen Völker im In­teresse des eigenen Machterhaltes gegeneinanderhetzt. Die Schärfe der Stammesauseinandersetzungen ist eine direkte Folge kolonialer Eingriffe. Der britische Politiker Lord Salisbury beschrieb die Zerteilung Afri­kas 1890 in der londoner Times: »Wir zogen Linien auf Landkarten von Gebieten, in die ein weißer Mann noch nie seinen Fuß gesetzt hatte. Wir schoben uns gegenseitig Gebirge, Flüsse und Seen zu. Ein bißchen unbehaglich war uns manchmal nur deshalb zumu­te, weil wir keine Ahnung hatten, wo diese Gebirge, Flüsse und Seen lagen.« In Afrika leben zwischen 800 und 6000 Völker. Menschen können zwar zum Mond fliegen, aber niemand weiß ihre Zahl verlaßlieh. Heute hungern in Afrika mehr Menschen als am Ende der Kolonialzeit.141

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Tausende von Tonnen DDT von der Weltbank

Die Weltbank gibt Millionen US-Dollar-Kredite für den Einsatz von Gift. Sie finanziert den Kauf chemischer Substanzen und gesundheits- und umweltgefährden-der Technologien, die oft selbst im reichen Norden entweder veraltet oder verboten sind. Den Einsatz manch gefährlicher Chemikalie verursacht die Welt­bank selbst. 90 Prozent aller Malariaerkrankungen in Brasilien werden heute im Amazonasgebiet registriert. Dort gab es sie früher nicht. Die Ausbreitung der Malaria ist die direkte Folge von Weltbankprojekten. Riesige Staudämme und Erschließungsstraßen durch den Regenwald zogen Hunderttausende von armen SiedlerInnen an, in Lebensverhältnisse, die sie an­fällig für die Malaria machen. Die Weltbank selbst errechnete, daß im Amazonas-Bundesstaat Rondonia die Malariafälle in nur 5 Jahren um fast 300 Prozent stiegen: von 80 752 Fällen im Jahr 1983 auf 228 866 Fälle im Jahr 1987. Was war zu tun? Brasilien ist hoch­verschuldet, die Weltbank empfahl billiges Gift. Das billigste ist DDT. Die Anwendung von DDT ist in der Bundesrepublik seit 1972 verboten, seine Herstellung seit 1978. Auch in Brasilien ist der Einsatz des Giftes, das sich im menschlichen Fettgewebe anreichert, die Nerven schädigt und Krebs erzeugen kann, in der Landwirtschaft seit 1984 verboten, der Einsatz im

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Gesundheitswesen aber erlaubt. Das war die passende

Lücke für die Bank. Brasilien bekam von der Weltbank

einen 99 Millionen US-Dollar-Kredit zur Bekämpfung

der Malaria mit DDT. Zweimal jährlich werden nun im

malariabefallenen Amazonasgebiet die Häuser innen

und außen mit DDT besprüht, jährlich mit bis zu 3000

Tonnen.

Der DDT-Beschluß der Weltbank wurde im Mai

1989 mit ausdrücklicher Zustimmung des bundesdeut­

schen Exekutivdirektors gefaßt. Die Bundesregierung

hält die Risiken des DDT-Einsatzes in dieser Größen­

ordnung für »nicht signifikant«. Auch der Einfl uß auf

die Umwelt könne vernachlässigt werden, heißt es in

einer Antwort auf eine Anfrage der Grünen. Pro Hektar

werde der Boden lediglich mit 10 Gramm DDT belastet.

Die Weltbank räumt ein, daß wesentlich wirksamere

Mittel als DDT zur Bekämpfung der Malaria-Mücke auf

dem Markt seien. Die aber sind bis zu 15 mal teurer,

zu teuer für Menschen in Brasilien.142

Die Hoechst AG: Pharmaschrott in unterentwickelt gehaltene Länder

30 bis 40 Prozent aller öffentlichen Gesundheitsaus­

gaben werden im Trikont für Medikamente ausgege­

ben, ein unvorstellbar gutes Geschäft in den ärmsten

Ländern der Erde. Vor allem europäische Pharma­

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konzerne beherrschen die Medikamentenmärkte des Trikont. 1984 kamen 96 Prozent der Medikamente Afrikas, 58,4 Prozent der Medikamente Asiens (ein­schließlich Japans) und 49,3 Prozent der Medikamente Lateinamerikas aus Europa.143 Die Armen kaufen den »Fortschritt« aus dem Norden, dessen ökonomische Macht ihre Armut bedingt, und sie kaufen sich damit viele Ursachen ihrer Krankheiten. Die WHO bezeichnet lediglich 250 Medikamente in ihrer »Essential Drug List« von 1988144 als »unentbehrlich«: Sie entsprechen wirklichen medizinischen Bedürfnissen, haben einen unbestreitbaren therapeutischen Wert, ihre Sicherheit ist akzeptabel und sie bieten einen zufriedenstellenden Gegenwert für den Kaufpreis.145

In den meisten Ländern des Trikont gibt es Tau­sende von Medikamenten aber weder eine Qualitäts­kontrolle für die importierten Pharmaprodukte noch unabhängige wissenschaftliche Einrichtungen, die Medikamente genehmigen könnten. Dafür wuchert das Geschäft der Großhändler und Pharmavertreter, die ÄrztInnen und MedizinstudentInnen bestechen. Wer sich keinen Arzt leisten kann, kann sich die Drogen auch in irgendwelchen Läden oder bei Stra­ßenhändlern besorgen. Oft verschulden sich Men­schen, die noch nicht einmal genug zu essen haben, für Medikamente. Unter- und Mangelernährung, kombiniert mit vielen tausend wirkungslosen oder gefährlichen Medikamenten, legen eine Zeitbombe gegen die Entwicklung des Trikont.

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Die BUKO-Pharmakampagne hält die Pharmapo­litik des Chemiekonzerns Hoechst AG für »ethisch, moralisch und politisch untragbar« und stellt in ihrer Untersuchung146 -bezogen auf die Wirkstoffe – fest: Zwei Drittel der von der BUKO 1985 untersuchten 165 Medikamente der Hoechst AG, die diese im Tri­kont verkauft, werden in der BRD nicht angeboten.147

Von 145 Hoechst-Medikamenten in den Arzneimit­telverzeichnissen (Stand 1988) von Afrika, Indien, Philippinen, Mexiko, Zentralamerika, Kolumbien und Brasilien sind nur 31 Medikamente gleich 21 Prozent nach WHO-Standard unentbehrlich.148

Die Hoechst AG machte 1989 mit Pharmazeutika einen weltweiten Umsatz in Höhe von 7897 Millionen D-Mark (1988: 6951 Millionen D-Mark), 17 Prozent des Gesamtumsatzes (1988: 17 Prozent) von 45 898 Millionen D-Mark (1988: 40 964 Millionen D-Mark)149, 1984 weltweit allein mit den zehn meistverkauften Medikamenten einen Umsatz von 2481,5 Millionen D-Mark. 67 Prozent des Umsatzes unter diesen ersten 10 machte sie mit eingeschränkt positiven beziehungswei­se überflüssigen oder gefährlichen Medikamenten.150

Zu den Rennern gehören Novalgin und Baralgin. Beide enthalten als Wirkstoff Metamizol, von Hoechst 1922 auf den Markt gebracht. Die Hoechst AG ist mit 25 Ton­nen pro Tag der weltgrößte Metamizol-Produzent. Das Arzneimittel ist mit schweren Risiken verbunden und zugleich durch weniger gefährliche, wirksame Medi­kamente ersetzbar. Die Nebenwirkung von Metamizol

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kann tödlich sein. Das Risiko für jede/n VerwenderIn, an der lebensgefährlichen Agranulozytose (Abnahme der weißen Blutkörperchen) zu erkranken, beträgt 1:30000. Die überwiegende Mehrheit des Metamizol wird im Trikont verkauft. Aufgrund des diagnostischen und therapeutischen Niveaus dort sterben etwa 50 Pro­zent der Agranulozytose-PatientInnen, etwa zwei- bis fünfmal soviele wie in den kapitalistischen Zentren.151

Nach vorsichtigen Schätzungen des Berliner »arznei­telegramms« sterben weltweit jährlich mindestens 2000 bis 5000 Menschen an Agranulozytose, nur einer Nebenwirkung von Metamizol, von anderen tödlichen oder gesundheitsschädlichen »Nebenwirkungen ein­mal abgesehen152: eine weitere ist ein lebensbedrohli­cher Schock (der anaphylaktische Schock).153

In vielen Ländern der kapitalistischen Zentren sind Novalgin und Baralgin aus den genannten Gründen seit langem verboten. Erst 1982 und 1986 wurde der Anwendungsbereich von metamizolhaltigen Monoprä­paraten in der BRD eingeschränkt, Metamizolprodukte ab 1.1.1987 endlich rezeptpflichtig und durch Bescheid des Bundesgesundheitsamtes vom 13. Februar 1990 wurde (nur) den Kombinationspräparaten die Zulas­sung entzogen.154 Viele Länder stoppten den Verkauf oder die Anwendung von Metamizol völlig: Schweden 1974, Norwegen 1976, die USA 1977, Irland und Singa­pur 1978 und Dänemark 1979. Das Schmerzmittel mit der möglichen »Nebenwirkung Tod« ist inzwischen überwiegend ein Produkt für den Trikont. Allein in

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Indien gehören Novalgin und Baralgan zu den meist­verkauften Schmerzmitteln.155 Während Boehringer Ingelheim endlich sein metamizolhaltiges Kombi­nationspräparat Buscopan Compositum vom Markt nehmen mußte156, wirbt die Hoechst AG im Trikont hemmungslos für die Killermedikamente Novalgin(a) und Baralgan (auch: Baralgin):

In Brasilien soll Metamizol, auch Kindern, gegen Erkältungskrankheiten, bei alltäglichen Schmerzen und bei Krämpfen helfen, in Indien wie in Südafrika bei Menstruationsbeschwerden, in Zentralamerika auch bei Menstruationsbeschwerden und kindlichem Erbrechen, in Mexiko bei Halsentzündungen, Bron­chitis und Bauchspeicheldrüsenentzündung und als Mittel gegen Rheumatismus in Indien, den Philippinen und Brasilien. In Mexiko werden metamizolhaltige Zäpfchen für Säuglinge bei Koliken empfohlen. In Peru dürfen Kinder Baralgan als Saft trinken.157 In Thailand werden Baralgan-Muster gegen Menstrua­tionsbeschwerden zur frühen Eingewöhnung auch an Mädchen verteilt.158 Die Frauen im Trikont sind ein riesenhafter, profitabler Massenmarkt. Neben der unkontrollierten, massenhaften Verbreitung werden zusätzlich die Anwendungsgebiete unverantwortlich inflationiert. 1987 machte die Hoechst AG allein mit Novalgin und Baralgin 190 Millionen US-Dollar Umsatz.159 3 Monate vor dem drohenden Verbot zog Hoechst am 1. Januar 1987 sein Baralgin »freiwillig« vom bundesdeutschen Markt. Im Ausland geht der

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Verkauf weiter.160 Novalgin ist in Lateinamerika das meistverkaufte Markenmedikament überhaupt.161

Gerät einmal ein Wirkstoff wie Nomifensin in den Hoechst-Medikamenten Alival und Psyton in der Bundesrepublik so sehr unter tödlichen Verdacht, daß Ärzte durch Hoechst auf Druck des Bundesge­sundheitsamtes gewarnt werden müssen, weil viele Todesfälle öffentlich geworden sind162, erfahren die Ärzte im Trikont noch lange nichts davon. Oft warnen »Dritte-Welt«-Gruppen Krankenhäuser, Apotheken und PatientInnen lange bevor der verantwortliche Konzern dies tut. Nach Angaben des ehemaligen Chefs des Bundesgesundheitsamtes und heutigen Senatsdirektor in Bremen, Prof. Schönhofer, starben mindestens 100 Menschen an Nomifensin und 10 000 erlitten schwerste Gesundheitsschäden.163 Aufgrund öffentlichen Drucks mußte die Hoechst AG Nomifensin auch im Trikont vom Markt nehmen. Ein Erfolg gegen einen Berg von hochgiftigem, lebensgefährlichem Pharmaschrott, teurem Giftmüll, profi tabel endge­lagert in den Körpern der Menschen im Trikont. Ein bißchen Widerstand regt sich: Zimbabwe stellt Devisen nur noch für Medikamente zur Verfügung, die auf der WHO-Liste stehen.164

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Das Gift der Weißen – Giftmüllexporte in den Trikont

Jeden Tag werden in der Bundesrepublik Deutschland (West) ungefähr 88 Millionen Kilo Hausmüll produ­ziert, pro Kopf und Tag eineinhalb Kilo. Und der Müll­berg wächst. Mindestens acht Millionen Tonnen »Son­dermüll« (wie der Giftmüll verharmlosend genannt wird) produziert die Bundesrepublik jährlich – offiziell. Oft wird der Giftmüll in Zwischenlager gebracht. Damit sind die Verursacher nicht mehr kenntlich, und der Giftmüll wird gemischt, gepanscht und verschoben. Die chemische Industrie will künftig noch einmal 30 bis 40 Prozent mehr Sondermüll »herstellen«.

Die Müllexperten von Greenpeace-Washington, Dave Rapaport und Jim Vallette, fanden heraus, daß zwischen 1986 und 1989 mehr als 6 Millionen Ton­nen Abfälle offiziell und inoffiziell in unterentwickelt gehaltene Länder oder in osteuropäische Länder ge­schafft wurden. Genaue Daten darüber gibt es nicht, Statistiken werden sicherheitshalber nicht geführt. Die Täter wollen so wenig Spuren hinterlassen wie möglich. In den Ländern des Trikont sind die Menschen fast überall schlecht, falsch oder gar nicht über die Gefah­ren informiert, die von der Ladung unheilbringender Frachter drohen.

Tonnenweise landen Medikamente und Ölrückstän­de, Flugasche und polychlorierte Biphenyle (PCBs), Di­

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oxine, Arsen, Klärschlämme, Asbest und Schwermetalle in den Ländern, die Kolonien waren und es auf eine andere Weise wieder sind. Die Armut in den wuchern-den Metropolen des Trikont und auf dem Land ebnet, ebenso wie der Verlust einer identitätsstiftenden Kultur, Korruption und krummen Geschäften den Weg. »Die USA halten offenbar die Wahl zwischen Gift und Armut für ein faires Angebot an die Entwicklungsländer!« ent­rüstet sich Greenpeacer Vallette.165 Das bundesdeutsche Umweltministerium nennt die Länder, die Müll kaufen, »entsorgungsbereite Nationen«. Wessen Sorgen werden beseitigt und wessen Sorgen beginnen? Die internatio­nalen Müllmakler, die Abfallgifthändler werden »waste broker« genannt. Ihr Geschäft ist so gewinnbringend, daß der US-Gigant Chemical Waste Aktien an der Züricher Börse handelt. Manche Giftmüllsorten, zum Beispiel PCB, erzielen weltweit Rekordpreise von 5000 D-Mark pro Tonne. Als Abfalleimer der rücksichtslosen Konsum-Nationen könnte etwa Guinea-Bissau 4 mal soviel einnehmen, wie das gesamte Bruttosozialprodukt des Landes ausmacht. »Freie Marktwirtschaft« ist die Freiheit der kapitalistischen Metropolen, hemmungs­los zu verseuchen, zu plündern und zu betrügen. Ein Schriftsteller aus Tansania griff an: »Ihr wollt im Salon dinieren, und wir sollen bei den Mülltonnen im Hinter­hof leben. Löst lieber euer Dreckproblem, und zwar bei euch zu Hause!«166

Viele Menschen machten sich Hoffnung, daß die UNEP (UN-Umwelt- und Entwicklungsprogramm)

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auf ihrer Konferenz im März 1989 in Basel eine scharfe internationale Konvention für die Kontrolle grenzüber­schreitender Mülltransporte und ein striktes Ausfuhr­verbot für Giftmüll beschließen würde. Wir wissen nicht, auf welche Weise die Giftexportnationen USA und Bundesrepublik Deutschland Druck ausübten, aber wir wissen, daß sie sich weitgehend durchsetzen konnten. Statt eines Ausfuhrverbotes mit strikten Ausnahmeregelungen kam eine weltweite Exportge­nehmigung mit einigen Einschränkungen heraus.167

Beschlossen wurde die Einrichtung eines Sekretariats, das Beschwerden entgegennimmt und Informationen austauscht, ein Verbot der Genehmigung von Müllex­porten in jene 43 Länder, die sich ausdrücklich gegen ausländische Giftabfälle erklärt haben, und eine Mel­depflicht für alle internationalen Mülltransporte, von der niemand weiß, ob und wie sie eingehalten werden wird. Ungeklärt bleibt die Haftung für durch Müll an­gerichtete Schäden, offen auch die Verantwortlichkeit für Rücktransporte und die Meldepflicht für Schiffe.

Das größte Schlupfloch für den Müllverschub von Norden nach Süden ist der Artikel II der UNEP-Kon­vention: Separate Müllhandelsverträge mit einzelnen Staaten, die dem Abkommen nicht beitreten, bleiben erlaubt. Für derartige Verträge sind nicht einmal die unbefriedigenden technischen Standards der Konven­tion bindend. Charles Destephan, Diplomat aus Guinea in Westafrika, kommentierte: »Ein Selbstmordabkom­men für Afrika!« Die Länder der OAU (Organisation

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für afrikanische Einheit) haben die Konvention noch nicht unterzeichnet, sie beraten noch, wie sie dem Gift aus den kapitalistischen Metropolen einen Riegel vor­schieben können. Afrika versucht endlich, sich gegen den imperialistischen Norden zu organisieren.

Leidenschaftlich kämpfen immer mehr Menschen gegen den »Kolonistendreck«. Der politische Druck auf Politiker in den Ländern des Trikont, sich für ihr Handeln zu rechtfertigen, wird größer. Die Sprache der Beherrschten ändert sich. »Giftterrorismus« und einen »Angriff auf Afrikas Würde« nennen sie den stofflichen Ausdruck der modernen Kolonialisten.168

Viele Chemikalien sind Produkte von Kriegsfor­schung und Waffenproduktion. Im Libanon litten Menschen, darunter viele Kinder, an Hautverätzungen und Geschwüren. Ahnungslose Familien bewahrten in leeren Fässern, die sie irgendwo gefunden hatten, Getreide und Olivenöl auf. Mafi ahändler aus Italien, berichtete ein Regierungsberater auf der Basler UNEP-Konferenz, hatten 16 000 Fässer mit Giftmüll in den Häfen des Libanon angelandet, ausgeladen und im Gebirge deponiert. Als die Ursache der verätzten Kin­derrücken an die Öffentlichkeit kam, konnte die italie­nische Regierung veranlaßt werden, die Fässer in das Land der Verursacher des Giftmülls zurückzuholen. Aber mensch fand nur noch 9000 Fässer. Die restli­chen 7000 Behälter italienischen Drecks verloren sich in der Natur und werden ihren Weg in die natürlichen Kreisläufe finden – bis in die Menschen in dem vom

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Bürgerkrieg heimgesuchten Land. Die libanesische Zeitung »As Safir« behauptet, daß die italienischen Händler als Gegenleistung für die »Entsorgung« Waf­fen für rechtsgerichtete Streitkräfte mitbrachten. Spä­ter tauchten auch im Hafen von Beirut Giftfässer auf.

Die norwegische Reederei Klaveness und die US-Firma Bulkhandling deponierten auf Kassa Island, vor der guineanischen Hauptstadt Conakry, »Material«. Die US-Umweltbehörde EPA (Environmental Protec­tion Agency) fand heraus, daß der geheimnisvolle Stoff außer Blei, Zyanid und Chromverbindungen höhere Dioxin-Werte enthielt, als mensch je etwa in Times Beach ermittelt hatte. Times Beach, jene kleine Stadt im US-Staat Missouri, ist heute eine verseuchte Gei­sterstadt. Alle EinwohnerInnen wurden evakuiert. Wie dort starben auch auf Kassa Island innerhalb weniger Wochen die Pflanzen zu schwarzen Krüppeln ab.169

Auch das Bundesumweltministerium will nicht aus­schließen, daß an ihm vorbei bundesdeutsche Firmen flüssigen Giftmüll ins Ausland schaffen. Durch löchrige Gesetze und Verordnungen ist es möglich, daß mitunter giftige Abfälle als »Wirtschaftsgut« deklariert ihren Weg auf ausländische Verbrennungsschiffe fi nden, seitdem die See Verbrennung auf dem deutschen Schiff Vesta gestoppt wurde. Nach Auffassung von Axel Szelinski, Referent im Bundesumweltministerium, haben die zuständigen Landesregierungen nicht genug Mitar­beiter für die Kontrolle der giftigen Exporte. Szelinski berichtet, 1988 seien 135 Tonnen Kunststoffabfälle nach

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Hongkong verfrachtet worden. Die Firma Rohstoffhan­

del Kiel habe den Abfall im Auftrag der Stadt Kiel zwecks

Wiederverwertung in Fernost eingesammelt und, wegen

der Zusage, der Plastikmüll würde in Hongkong wie­

derverwertet, eine Ausfuhrgenehmigung erhalten. In

Hongkong angenommen, habe der Empfänger die Lie­

ferung wegen Gestanks verweigert, sie wurde daraufhin

in einer Giftmüllverbrennungsanlage verbrannt.

Nachrichten aus dem ökoimperialistischen Alltag

»Der Sturz der Berliner Mauer wird nur

ein unbedeutendes Geräusch, verglichen

mit dem Krachen, was zu hören sein wird,

wenn die stinkende Barriere fällt, die

Harlem und Manhattan trennt, oder erst

recht die siegreichen von den besiegten

Ländern, jener Mauer, die aus Bergen

von Totenköpfen, Geldscheinen und aus

Eitelkeit erbaut wurde, dem Blut und dem

Schweiß unserer verarmten Parzellen der

Dritten Welt.«

Tomas Borge, Nicaragua

• In Laos wird seit Jahren ein Staudamm mit Namen

Nam Theun geplant, der bislang 500 Millionen US­

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Dollar kostenwird. Sogar die Weltbank kam 1987 zum Schluß, daß derDamm »Wälder mit großem Arten­reichtum unwiderbringlich beeinträchtigen würde«. Aber die Bank verschwiegihre Erkenntnisse. Selbst nach Bekanntwerden drängte sieauf eine rasche Rea­lisierung des Projekts, das sie gemeinsam mit der BRD und der Asiatischen Entwicklungsbankfi nanziert. Der Damm wird 250 Quadratkilometer Naturschutzgbebie­te überfluten. Seitdem sich Laos freundlichgegenüber Auslandskapital zeigt, fließen die Hilfsmittel,und der Ausverkauf der Ressourcen steigt.170

• Einige Länder Ostafrikas bauen exotische Bohnen fürdeutsche und andere Feinschmecker an. Dafür muß der Anbau der Hauptnahrungsmittel Mais und Tapioka zurückstehen. Während die Luxusgemüse exportiert werden,hungern die Menschen.

• Das Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) wirft den bundesdeutschen Chemiekonzernen Hoechst, BASF, Bayer und Schering vor, Pestizide in den Trikont zu exportieren, die extrem gefährlich und oft in der BRD gar nicht mehr zugelassen sind. 71 verschiedene BAYER-Pestizide seien im Trikont registriert, 23 laut WHO als höchst gefährlicheingestuft. Für BASF seien in Lateinamerika Parathion und Paraquat registriert, für Hoechst auf den Philippinen Lindan und Parathion­methyl (wie auch in Kolumbien) undfür Schering in Kolumbien Chlordimeform, letzteres seit 1988 in der BRD verboten. Das Insektizid Carbaryl, in der BRD seit 1986 verboten, sei noch 1988 in Brasilien und

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Peru für die BASF registriert worden. Zur grundsätz­lichen Umwelt- und Gesundheitsgefährdung durch Pestizide kommt, daß die Menschen im Trikont oft ohne jede Schutzvorrichtung mit Pestiziden arbeiten. PAN schätzt – unter Berufung auf Zahlen der WHO –, daß Pestizide im Trikont jährlich für 1,5 Millionen Vergiftungsfälle und für 28 000 Tote verantwortlich sind. Die Pestizide gehören zu Chemikaliengruppen, die im menschlichen Körper, Chemiewaffen ähnlich, auf unterschiedliche Weise als Nervengifte wirken.171

• Jahrhundertelang prägten bodenschonende Me­thoden der Landwirtschaft das Bild Südbrasiliens. In den letzten zwanzig Jahren wurde diese vollständig verändert. Aus Vielförmigkeit machten Regierung und Großgrundbesitzer industrialisierte Monokulturen. Auf riesigen Flächen wachsen jetzt Sojabohnen und Zuckerrohr. Sojabohnen werden, getränkt mit hoch­giftigen Agrochemikalien, hochgezogen. Sie sind nicht für die Menschen im eigenen Land bestimmt, sondern für die Schweine im reichen Norden. Der Preis für die Volksnahrung Soja steigt unaufhörlich. Während den Menschen Brasiliens hocheiweißreiche Nahrung vor­enthalten wird, weiß mensch in den kapitalistischen Metropolen kaum noch, wohin mit dem vielen Fleisch. Die Schweine im reichen Norden werden satt, Millio­nen von Menschen in Brasilien hungern.172

• Die staatlichen Saarbergwerke AG, die dem Bund (74 Prozent) und dem Saarland gehören (26 Prozent), haben ihre rund 30 Jahre alten Kohlekraftwerks­

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blöcke St. Barbara I und II für 1,5 Millionen D-Mark, das Mehrfache des Schrottpreises, an ein indisches Privatkonsortium verkauft.Die beiden Dreckschleu­dern hatten das saarländische Bexbach jahrelang zum ökologischen Notstandsgebiet gemacht. Umwelt­schützerInnen drängten schon lange auf Stillegung. Eine Nachrüstung mit moderner Umwelttechnologie hätte sich wirtschaftlich nicht mehr rentiert. Was in der Bundesrepublik der Bevölkerung aufgrund ge­setzlicher Regelungen nicht mehr zugemutet werden darf, soll nun ein »Dritte-Welt-Land« an Gift schluk­ken. Und das ganze ohne wirklichen Widerstand des saarländischen Umweltministers Jo Leinen (SPD). Umweltminister Töpfer (CDU) hielt eine umwelttech­nische Nachrüstung der beiden Kraftwerksblöcke für Indien nicht für nötig, obwohl er bezweifelte, daß die indische Regierung bereit sei, einen Teil der von der Bundesrepublik Deutschland gewährten Kapitalhilfe »für zusätzliche Umweltschutzvorkehrungen an einem privaten Kraftwerk zu verwenden, das alle indischen Umweltauflagen bereits erfüllt.« Warnke, Bundesmini­ster für wirtschaftliche Entwicklungshilfe (CSU), hielt »eine generelle Übernahme deutscher Umweltnormen durch Länder des Trikont ohne Berücksichtigung der spezifischen Standortbedingungen« für »nicht sach­gerecht«. Im übrigen, meinte Warnke, hätten Indiens Umweltschutzvorschriften bereits ein »beachtliches Niveau«. Tatsächlich jagen Kohlekraftwerke in Indien siebenmal soviel Staub in die Luft wie die Kraftwerke

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in der Bundesrepublik. In Indien gibt es weder Grenz­werte für Schwefeldioxid noch für Stickoxide, und die Luft darf auch ganz grenzwertlos mit Fluor und Chlor belastet werden.173

• Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt die Zahl der jährlichen Neuerkrankungen an Tuberkulose bei acht Millionen, fast 3 Millionen sterben ander Krankheit. Tuberkulose verbreitet sich unter Armen am ehesten. Während in allen kapitali­stischen Zentren zusammen jährlich 42 000 Menschen an Tuberkulose sterben,sind es allein in Asien 1,8 Millionen.174

• 1989 wurden in der Bundesrepublik 871000 Ton­nen Bananen gegessen, 14 Kilogramm pro Kopf. Mit 131 000 Tonnen liegt Kolumbien insgesamt an vierter Stelle der exportierenden Länder. Bisher werden die meisten Bananen über Bremen eingeführt. Der Bananenkonsum steigt. Während 50 000 exportierte Kartons mit »Chiquita« oder »Onkel Tucas Bananas« aus Kolumbiens Nordwesten 250 Millionen US-Dollar in kolumbianische Kassen fließen lassen, ist auf den Bananenplantagen im Nordwesten Kolumbiens bei Uraba die Hölle los, seitdem zwei Gewerkschaftsführer ermordet wurden. Das hat Tradition. Oliverio Moli­nas, Vizepräsident der Bananenarbeitergewerkschaft, erzählt: »Als sie mich 1984 nach Uraba schickten, gab es keine Gewerkschaften. Die waren hier de facto ille­gal. In den vergangenen Jahren haben wir dann viele Forderungen durchsetzen können. Aber das haben

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wir nicht gratis bekommen. Diese Verbesserungen in Uraba haben uns an die 700 Tote gekostet: Bana­nenarbeiter, Gewerkschaftsführer und Politiker der Linken.«175 Ohne die Unterstützung der Guerilla wären die Gewerkschaften möglicherweise schon zerschla­gen. Die Guerilleros verteilen schon mal Flugblätter und werben für die Mitarbeit in der Gewerkschaft. Sie mischen sich mit Sabotageaktionen in Arbeitskämpfe ein. Die Konflikte werden noch schärfer, seitdem sich die Mafia unter dem Deckmantel gewöhnlicher Firmen ins Bananenland einkauft. Sie kontrolliert bereits einen Teil des Handels. Seitdem das Geschäft mit den Bana­nen boomt, häufen sich die Morde an Plantagenarbei­tern und Gewerkschaftern. Die Mafia will die Kontrolle über das gesamte Bananengeschäft.

• Der brasilianische Bundesstaat Pará ist, neben den Amazonasstaaten Goias und Maranhâo, Zentrum der industriellen Entwicklung im Norden Brasiliens. 1988 wurde vorausgesagt, daß, bei unverändertem Tempo, 1991 dort kein Regenwald mehr existieren wird. Pará, Goias und Maranhâo sind Zentrum des Großprojektes Carajás mit einem Volumen von mehr als 62 Milliarden US-Dollar. Das Projekt umfaßt die mehr als 3,5 fache Fläche der alten Bundesrepublik: 900 000 Quadratki­lometer. Objekt der Begierde: Mitten in Carajás liegen schätzungsweise 18 Milliarden Tonnen hochwertiges Eisenerz, das größte Lager der Welt. Neben dem Ei­senerz wurden riesige Bauxitvorkommen entdeckt und daneben noch andere Bodenschätze: Kupfer, Nickel,

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Mangan, Zinnstein, Gold, Silber, Molybdän, Wismut und Zink. Die Verarbeitung von Bauxit zu Aluminium und der Abbau von Eisenerz verbrauchen viel Strom. Der Tucurui-Staudamm soll 8000 Megawatt Strom bringen. Mehrere indianische Völker wurden verjagt. Mit dem Verschließen der Schleusen des Stausees Tucurui wurden Urwälder von ungeheurem Wert er­tränkt. Mitten im See ruht eine Zeitbombe: 16 Tonnen Fässer dioxinhaltiges Entlaubungsmittel, mit dem der Wald gerodet werden sollte. Nun sterben Fische im mit dem Stausee verbundenen Fluß Rio Tocantins, und SammlerInnen sterben an dioxinverseuchten Para­nüssen. Das Projekt kostete 4,7 Milliarden US-Dollar. 75 Prozent kamen von internationalen Kreditmärkten, darunter auch Mittel aus dem Energiesektorkredit der Weltbank. Alleinige Nutznießer sind die japanisch­brasilianischen Aluminiumhütten von São Luis und Belem. Sie erhalten den Strom weit unter dem Her­stellungspreis. Und die Herstellungskosten werden billig gehalten: Der giftige Schlamm wird ins Meer gekippt, die Gase steigen ungehindert in die Luft und fallen zu Teilen als saurer Regen über dem restlichen Tropenwald wieder herunter. Abraumberge vergiften mit Schwermetallen und Schwefelverbindungen die Umwelt. In den Eisenerzhütten werden jährlich 15 000 Quadratkilometer Wald verbrannt. Der Abbau des Eisenerzes ist internationalen Finanzmärkten 1,5 Mil­liarden US-Dollar wert. Die Weltbank zahlt davon 500 Millionen US-Dollar, die EG 400 Millionen US-Dollar,

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die bundesdeutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau 130 Millionen US-Dollar.176 Die Bundesrepublik steht mit einer 2 Milliarden D-Mark-Bürgschaft für das Pro­jekt ein. Der interne Vermerk der zuständigen Fachab­teilung verurteilt das deutsche Engagement in Carajás: »Die Bundesregierung habe sich bi- und multilateral an der Finanzierung eines Großvorhabens beteiligt, das eine wirtschaftliche Entwicklung in der gesamten Region in Gang gesetzt habe, deren ökologische und soziale Folgen schließlich nicht mehr kontrollierbar waren. Sie trägt insofern eine gewisse Mitverantwor­tung für die Situation in Ostamazonien.«177 Aus dieser Erkenntnis wurde keine Konsequenz gezogen.

• In Zaire sind Berggorillas und Waldelefanten be­droht. Das Land nennt 125 Millionen Hektar Regenwald sein eigen, rund 47 des afrikanischen und 6 Prozent des weltweiten Volumens. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) plant in Zaire eine Straße, die den Nationalpark Kahuzi Biega zerschneiden soll, in dem die bedrohten Berggorillas und Waldelefanten Zuflucht gefunden haben. Mit 2000 Affen handelt es sich um die größte zusammenhän­gende Berggorilla-Population der Welt. Sogar die GTZ mahnte in einer vertraulichen Stellungnahme, daß der Verlauf der Straße »unter ökologischen Gesichtspunk­ten eine erhebliche Gefahr für den Park« darstelle. Die Maschinen eines bundesdeutschen Unternehmens für den Kahlschlag stehen bereits in Zaire. Die geplante Straße durch den Nationalpark wäre die Fortführung

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einer Straße aus belgischen Kolonialzeiten. Wie alle Schneisen würde sie den Regenwald außerdem ganz­jährig dem Zugriff der Holzwirtschaft öffnen. Nach ei­nem Streit zwischen den planenden bundesdeutschen Behörden über Alternativpläne ist die Entscheidung erst einmal kurzfristig hinausgeschoben.178

•Nach Informationen von Greenpeace will Frankreich in Argentiniens südwestlicher Provinz Chubut eine Atommülldeponie bauen. Der argentinische Staatsprä­sident Carlos Menem empfing bereits einen Direktor des französischen Großunternehmens Pechiney, Ugine Kuhlmann, das als Mittler zwischen Paris und Buenos Aires dient. Das Geschäft würde dem verschuldeten Argentinien rund 20 Milliarden US-Dollar einbrin­gen.179

• Auch die deutsche Firma Mannesmann verhüttet Eisen mit Hilfe von Holzkohle aus Tropenholz im Ama­zonas. Firmenpräsident Axel Wippermann verbittet sich Kritik: Seine Firma forste die abgeholzten Flächen wieder auf, dünge den Boden und baue rasch wach­senden Eukalyptus für Holzkohleerzeugung an. Für einen Experten der GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) ist diese Art der Holzproduktion »postkolonial«. »Selbst ein selektiver Einschlag, bei dem nur ein bis zwei Bäume je Hektargefällt werden, schade dem Wald, auch durch den Wegebau zum Holztransport.«180

•Die Niere eines lebenden Spenders kostet in Bombay, Indien, etwa 3000 bis 5000 D-Mark. Ein Stück Haut

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ist für etwa 900 D-Mark zu haben. Junge Menschen werden als Organressourcen geplündert und verkau­fen ihre Gesundheit, um zu überleben. In Madras gibt es einen Slum, der Nierenkolonie genannt wird. Wer von den RikschafahrerInnen und TagelöhnerInnen, die dort unterernährt in schäbigen Hütten leben, sich plötzlich eine Hütte mit Ziegelwänden bauen kann, ein Fahrrad oder einen Fernsehapparat besitzt, hat ein Teil von sich verkauft. Häufig opfern sich auch nur Frauen, weil der Mann seine Schwerstarbeit nicht aufgeben soll. Immer öfter stehen arbeitslose Jugend­liche vor den Krankenhäusern. Der Preis für ihre Niere ist mehr, als sie in 3 Leben verdienen könnten. Schon gibt es eine Organmafia, die mit Hilfe bestochenen Krankenhauspersonals gute Geschäfte macht. Poten­tielle Organkäufer suchen vor den Krankenhäusern in etlichen indischen Städten die gesündesten Org­anlieferantInnen aus, wie auf einem Viehmarkt. Oft sind die Methoden noch brutaler: Menschen, die sich aus anderen Gründen in ein Krankenhaus begeben, werden ohne ihr Wissen Organe entnommen. Ver­kehrsopfer werden, noch vor ihrem Tod, Opfer von Organentnahmen, Männer, Frauen und Kinder mit dem Versprechen, Arbeit zubekommen, entführt und zum »Spenden« von Organen gezwungen. Auf dem freien Markt ist, ganz ohne Zwang außer durch die real existierenden allgemeinen Gewaltverhältnisse, gegen gutes Geld auch ein Auge oder eine Hand zu verkaufen.181

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• Die gesamte Infrastruktur des Landes Niger ist auf den Abbau von Uran ausgerichtet. Mit dem Export von Uran und Uranerz brachte das Land Anfang der 80er Jahre 90 Prozent seiner Exporteinnahmen ein. Inzwischen ist die Zahl leicht gesunken. Der franzö­sische Atomkonzern Cogema beherrscht Abbau und Verarbeitung, und die deutsche Urangesellschaft in Frankfurt ist mit 6,5 Prozent beteiligt. Pro Sekunde werden 650 Kubikmeter radioaktiv verseuchte Luft aus den strahlenden Stollen gepumpt, und stündlich fließen 250 Kubikmeter verseuchtes Wasser durch die Mine. Der radioaktive und chemische verseuchte Abraum wird ungeschützt in der Wüste abgelagert. An ihnen ziehen die Nomadengruppen der Peuil und Tuareg entlang, sie lassen ihre Ziegen auf radioaktiver Erde weiden, atmen verseuchte Luft und trinken das Wasser. In den Minen selbst arbeiten 3600 Menschen. Eine kleine Gruppe von Franzosen hat die leitenden Funktionen, gewerkschaftliche Organisierung ist verboten. Minenarbeiter und NomadInnen sind mit hohen Raten vom Lungenkrebstod bedroht. Die Ver­hältnisse im Niger sind Produkt der kapitalistischen Weltwirtschaft. Das Land selbst braucht kein Uran. Alles wird exportiert. Die Kredite für den Uranabbau bei IWF und Weltbank verursachen im Jahr 1,7 Milli­arden US-Dollar Zinsen, etwa der Wert des gesamten jährlichen Bruttosozialproduktes. Noch 1970 betrug die gesamte öffentliche Verschuldung (nicht deren Zinsen) 5 Prozent des Bruttosozialproduktes. 50 Pro­

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zent des Exportes von Waren und Dienstleistungen gehen heute in den Schuldendienst. Die Strukturan­passungsprogramme des IWF und die Veränderungen in der Landwirtschaft auf Weisungen der Weltbank (die Sahelzone zerstörende intensive statt extensive Bodennutzung) gaben dem Land den Rest. Während die Grundnahrungspreise steigen, Ausgaben für So­ziales, Gesundheit und Bildung drastisch abgebaut werden, finanziert die EG in den letzten 6 Jahren mit 300 Millionen D-Mark die zerstörerischen Land­wirtschaftsprogramme zum Nutzen des Exportes, zu Lasten von Mensch und Natur im Niger.182

• 1985 gewährte die Weltbank Botswana, einem Staat im südlichen Afrika, einen Kredit von 10,5 Millionen US-Dollar für ein Viehzuchtprojekt, 130 kommerziel­le Viehzuchtbetriebe sollten entstehen. Zwar waren vergleichbare frühere Projekte fehlgeschlagen, aber das interessierte niemanden. Botswana genießt durch das Lome-Abkommen zwischen EG und AKP-Staaten (52 Länder Afrikas, Karibik, Pazifik) einige Vergün­stigungen. Die EG garantiert eine jährliche Abnahme von etwa 19 000 Tonnen, etwa zwei Drittel des Rind­fleisches, zu Preisen über Weltmarktniveau. Außerdem darf Botswana nicht ausgeschöpfte Exportquoten an­derer »Dritte-Welt«-Staaten aus diesem Abkommen übernehmen. Heute verfügt Botswana über einen der höchsten Viehbestände der Welt, und die Überwei­dung des Landes verursacht ernsthafte ökologische Probleme. Der Boden erodiert, die Wüste breitet

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sich aus, neues Land wird erschlossen, und das wird knapp. Für den ehrgeizigen Export von Rindfl eisch in die Überschußgemeinschaft EG soll jetzt ein Natur­schutzgebiet zum Verweiden freigegeben werden. Das Okavango-Delta ist ein außergewöhnlich artenreiches, unberührtes Schwemmland, der Lebensraum vieler Fisch- und Vogelarten, Elefanten, Flußpferde, Giraffen, Zebras, Antilopen und vielen anderen Tiere. Tödlich sind schon jetzt die Zäune zum Schutz der Rinder vor den Wildtieren. Von ihren angestammten Weidegebie­ten ausgeschlossen, finden sie auf durchschnittenen Hauptzugsrichtungen ihre Wasserstellen nicht wieder und sterben zu Tausenden. Die Kalahari-Buschleute leben vom Jagen und Sammeln. Wovon sollen sie in Zukunft leben? Das ganze Projekt bringt Botswana auch keinen wirtschaftlichen Vorteil. Die Bevölke­rung kann sich nicht mehr ernähren und lebt heute überwiegend von ausländischer Lebensmittelhilfe. 7 Prozent der Viehzuchtbetriebe kassieren 67 Prozent der Exporteinkünfte. Die Weltbank steuert eine ex­trem ungerechte Einkommensverteilung innerhalb des von ihr geförderten Projektes. Aber nicht einmal diese privilegierten Betriebe werden ihre Schulden zurückzahlen können.183

• In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1984 strömten aus der Pestizidfabrik des multinationalen Konzerns Union Carbide in Bophal (Indien) Dutzende von Tonnen Methylisocyanat (MIC), 40 Tonnen allein auf 125 000 Menschen im Radius von 3 Kilometern.

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Zwischen 1400 und 10 000 Menschen starben noch in der ersten Nacht. Sie wurden in Massengräbern verscharrt oder auf Scheiterhaufen verbrannt. 639 793 Menschen haben seitdem Schadensersatzansprü­che gestellt. 400 000 wurden – meist oberflächlich – medizinisch untersucht. Bei rund 12 000 gaben die Behörden »Behinderungen« zu, nur 2574 bekamen die Teil-, 48 die Totalinvalidität zuerkannt. In den vergangenen sechs Jahren starben – nach offiziellen Angaben – mindestens weitere 6500 Menschen an den Folgen des Union Carbide-Giftes. Die meisten sind nach Behördenmeinung sogenannte »leichte Fäl­le«, die an Lungenschmerzen, ständigem Erbrechen, Erblindung, Schwindelanfällen, Fehlgeburten und Atemstörungen leiden und langsam krepieren. Es gibt bis heute kein einziges Rehabilitationszentrum in der Stadt. Die Regierung von Rajiv Ghandi verglich sich – ohne die Opfer auch nur anzuhören – im Februar 1989 mit Union Carbide. Statt der ursprünglichen 3,3 Milliarden US-Dollar waren die Opfer nur noch 470 Millionen US-Dollar wert – weniger als 2000 US-Dollar pro Mensch. Ich vergaß: fast alle Opfer sind BewohnerInnen der Slums und Armensiedlungen um das Chemiewerk.184

• 100 Millionen Kinder haben keinen Zugang zur Grundschule und lernen weder lesen noch schreiben. 963 Millionen Erwachsene sind AnalphabetInnen. 920 Millionen leben im Trikont.185

• Der Amazonasstaat Rodonia hat etwa die Größe der

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Bundesrepublik. Die Weltbank fördert dort das Projekt Polonoroeste mit beinahe 500 Millionen US-Dollar. Die Hälfte des Geldes wurde für die Asphaltierung einer einzigen Straße, der 4704 Kilometer langen BR 364, durch den Amazonaswald ausgegeben. Die Straße ist die Ader für einriesenhaftes Erschließungsprojekt, und das Versprechen auf freies Land zog schon mehr als 200 000 SiedlerInnen an, eine Million landloser KleinbäuerInnen folgten. 30 Prozent des Regenwaldes sind verschwunden. Regenwaldbödensind für Acker­bau und Viehzucht nicht geeignet. Die Erträge sinken nach wenigen Jahren, und viele Siedler, die die Brük­ken hinter sich abgebrochen haben, ziehen weiter, um neuen Wald zu roden. Resultat auch dieses Kredites ist Zerstörung, Armut und ein höherer Schuldenberg.186

• Die VerbraucherInnen in den USA wollen Gemüse. Was das eigene Land nicht mehr hergibt, sei es, weil der Boden ausgelaugt, unfruchtbar geworden und erodiert ist, wie in vielen Regionen der Vereinigten Staaten, oder sei es, weil Mexiko zu billigem Verkauf gezwungen ist: Im Norden des zentralamerikanischen Landes wird das Grundwasser für die Bewässerung ausgedehnter Gemüsefelder verschwendet, deren Er­trag ausschließlich für den Export in die USA bestimmt ist. Die Farmen werden sich in einigen Jahren nicht mehr rentieren. Der Wasserspiegel sinkt, und die Be­wässerungspumpen, die das Wasser immer tiefer aus dem Boden holen müssen, um das Land zu bewässern, werden teurer. Was sollen die Menschen eines Tages

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mit dem ausgelaugten, dürren Land anfangen, wenn der Anbau von Gemüse unbezahlbar geworden ist?

•Ende 1990 wurde öffentlich, daß Brasilien, entgegen allen bundesdeutschen und brasilianischen Beteuerun­gen, ein geheimes Atomforschungsprogramm besitzt, einschließlich militärischer Atomforschungseinrich­tungen. Vermutlich wird Brasilien 1992 atombomben­fähig sein. Bundesdeutsche Regierungen haben, sogar noch an die brasilianische Militärdiktatur (1964 bis 1985), Atomanlagen für angeblich friedliche Zwecke geliefert, darunter auch die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt, obgleich sich Brasilien 1968 geweigert hatte, dem (löchrigen) Atomwaffensperr­vertrag beizutreten. Der 1975 von Hans-Dietrich Gen­scher unterzeichnete »Jahrhundertvertrag« sah die Lieferung aller für die Herstellung von Atombomben wichtigen Technologien vor. Schon die allgemeine Bereitschaft, vielleicht doch über internationale Kon­trollen ihres Atomprogramms zu verhandeln, ist für Forschungsminister Riesenhuber, einem der besten Vertreter der Interessen des Atomkapitals, Anlaß genug, zwei weitere Atomkraftwerke an Brasilien zu liefern. Offiziell war der Deal eine Enttäuschung: Von 8 geplanten AKWs wurde nicht eines fertig. Inoffiziell aber wurde in Brasilien die Technik und das Know­how in ein militärisches Atomwaffenprogramm ver­schoben.187

• Als das heute unabhängige Namibia noch die deut­sche Kolonie Südwestafrika war, ermordeten deutsche

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Truppen und Siedler in den Jahren 1904 bis 1907 65 000 von insgesamt 85 000 Menschen vom Volk der Hereros. Ein Herero-Aufstand war ausgebrochen, nachdem deutsche Siedler ihnen so viele Weidegebie­te genommen hatten, daß deren Leben bedroht war. Während der Herero-Häuptling Maharero den Befehl gab, nur gegen Männer zu kämpfen, waren die Deut­schen, wie ein zeitgenössischer Missionarberichtete, »von Blutdurst erfüllt« und töteten alle, auch Frauen und Kinder. Die überlebenden Hereros wurden zur Vernichtung in die Wüste getrieben. Rund 80 Jahre danach, im November 1989, wandte sich Herero-Häuptling Kuaima Riruako an Helmut Kohl mit der Bitte um Wiedergutmachung. Das Auswärtige Amt will die Forderung erst prüfen, wenn sie von der namibi­schen Regierung vorgetragen wird. Wissenschaftler räumen den Hereros gute Chancen für ihre Forderung von 1,8 Milliarden D-Mark ein, weil die Bundesre­publik 1968 einer UN-Konvention und 1974 einer Europäischen Konvention beitrat, die die Verjährung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit und Völkermord ausschließen. Falls Bonn die Wiedergutmachung verweigert, wollen die Hereros über die namibische Regierung den Internationalen Gerichtshof in DenHaag einschalten.188

• Das Brockhaus Konversationslexikon von 1902 nennt Nauru eine »deutsche Insel in der Südsee«, die 5 Quadratkilometer groß, um die Jahrhundertwende 1378 Einheimische und 9 Weiße gezählt habe. Um­

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geben von Korallenriffen war sie dicht bewaldet, die Menschen lebten unter anderem vom Fischfang. Ihr Phosphatreichtum machte sie zum Objekt kolonialer Begierden. Kolonialherren aller Länder, auch Deut­sche, plünderten den Inselstaat, das kleinste Land der Welt, so lange, bis das Phosphat erschöpft war. Die Insel blieb kahl und unfruchtbar zurück. Nauru klagt vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag mit einer zehnbändigen Dokumentation auf Entschä­digung.189

• Indien wird noch ärmer. Mehr als die Hälfte der in­dischen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. »Die Unruhen, die seit Monaten in Gestalt von blutigen Kasten- und Religionskriegen das Land erschüttern, sind in Wahrheit soziale Eruptionen.« Während das Bruttosozialprodukt im Jahr 1989/90 von 267 Mil­liarden US-Dollar auf 262 Milliarden fi el, stieg die Auslandsverschuldung von 57,2 auf 62,5 Milliarden US-Dollar. Der Schuldendienst liegtbei mörderischen 30 Prozent des Bruttosozialproduktes.Die Exporter­löse fressen die Tilgungsraten. Es bleibt nichts mehr für Importe, die Produktion sinkt, noch weniger Geld für die Tilgung steht zur Verfügung, die Schuldenfalle schnappt zu. Wird die Regierung, wie zu befürchten ist, nicht im Rüstungshaushalt einsparen, sondern im sozialen Bereich und durch weitere Preissteigerungen bei den Grundnahrungsmitteln, verschärft sie die Not und damit die explosive Situation auf dem indischen Subkontinent.190

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• Entgegen anderslautenden Behauptungen vermi­schen multinationale Lebensmittelkonzerne in den USA Rindfleisch von Farmen, auf denen zuvor Tro­penwald abgeschlagen und abgebrannt wurde, mit einheimischem Fleisch. Sie versuchen vorzutäuschen, daß sie am Sterben des Regenwaldes schuldlos sind. Zwischen 1966 und 1978 wurden im brasilianischen Amazonasgebiet für 336 Farmkonzessionen 80 000 Quadratkilometer Primärwald unwiederbringlich vernichtet. Eine Ranch hieß »Fazenda Rio Cristalino«. Sie gehörte VW do Brasil und war so groß wie West­berlin, Bremen und Hamburg zusammen: 140 000 Hektar. Kirchliche Organisationen in Brasilien er­hoben daneben den Vorwurf der Sklavenarbeit: Die Arbeiter auf der VW-Ranch arbeiteten unter härtesten Bedingungen, bewacht von bezahlten Pistoleros. Die meisten Rinderfarmen in Brasilien gehören, wie ein großer Teil der modernen Industrie, ausländischen Konzernen. Während große Teile des Tropenwaldes für eine steigende Zahl von Rinderherden zugrunde gehen, sinkt der durchschnittliche Fleischverbrauch der einheimischen Bevölkerung191. Durch das schließ­lich wieder eingestellte VW-Projekt und ähnliche an­dere Projekte blieben inzwischen 4 Millionen Hektar Karstland zurück. Jedes Jahr werden, besonders in Lateinamerika, für Rinderfarmen 20 000 Quadratki­lometer Regenwald zerstört.192

• Bis zum Jahr 2000 wird es etwa 10 Millionen HIV-positive Kinder auf der Welt geben. 1990 sind

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es bereits 700 000. 90 Prozent kommen in Afrika zur Welt, Vierfünftel sind bereits im Alter von 5 Jahren aidskrank. Wenn die Kinder selbst nicht infi ziert sind, ist ihr Leben trotzdem intödlicher Gefahr: Viele Frauen werden an Aids sterben. Mensch erwartet 10 Millionen Aids-Waisen. Die WHO vermutet, daß in einigen Län­dern Aids so auf doppeltem Weg die Hauptursache der Kindersterblichkeit werdenwird. Ein/e Aidskranke/r lebt im Trikont durchschnittlich nur noch 5 Monate. Es fehlt an Geld für teure Medikamente und gute Er­nährung. Die Lebenserwartung von Aidskranken im reichen Norden ist wesentlich höher, weil ein höherer Lebensstandard die Immunabwehr stärkt.193

•Ghana ist für die Bundesrepublik der wichtigste Lie­ferant von Tropenholz. 1987 betrug der Exportwert 43 Millionen D-Mark für 134 Kubikmeter Regenwaldholz. Ghananimmt mit diesem Holzexport nur 5 Prozent seiner Devisenein. 58 Prozent des Holzes werden unverarbeitet an denbundesdeutschen Holzhandel geliefert. Nicht einmal 40 Prozent Holz werden zu Bauholz oder Furnieren verarbeitet, ehe es Ghana verläßt. Ein schlechtes Geschäft, denn bearbeitetes Holz bringt das zwei- bis fünffache des Preises für unbehandelte tropische Hölzer.194 Bundesdeutsche Firmen haben in Afrika Einschlagkonzessionen in der Größe deutscher Bundesländer. An der Elfenbeinküste sind inzwischen 85 Prozent der Wälder Asche oder Sägemehl. Allein Ghana hat in 25 Jahren 50 Prozent Regenwald verloren. Von derzeit 800 000 Quadrat­

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kilometern Tropenwald stehen in Ghana nur 16 000 gleich 2 Prozent unter ausreichendem Schutz. Um die Jahrtausendwende wird Ghana gezwungen sein, Holz einzuführen. Dem Wald wird keine Zeit gelassen, die Ruhezeiten nach einem Holzeinschlag sind zu kurz, nur 15 Jahre. »Dabei brauchen die Wälder mindestens 40, unter ökologischen Gesichtspunkten gar 70 bis 100 Jahre, um sich von einem holzwirtschaftlichen Eingriff zu erholen«, sagte Harald Martens vom WWF.

• Suhartos Transmigrasi-Plan aus den 70er Jahren folgend, sollen in Indonesien bis zum Jahr 2000 65 Millionen Menschen aus dicht besiedelten Regionen der Inseln Java, Bali, Madura und Lombok in die dünn besiedelten Regenwaldgebiete der Inseln Sumatra, Kalimantan (Borneo), Sulawesi (Celebes) und West Irian (West-Neu Guinea) umgesiedelt werden. Den Menschen wurden 2 bis 3 Hektar Urwaldboden ver­sprochen, aber nur wenigen der bereits umgesiedelten 4 Millionen Menschen gelang es, den nährstoffarmen Urwaldboden fruchtbar zu machen. Neben dem Pariser Club fi nanzieren die Weltbank195, die zusätzlich im Pa­riser Club eine führende Rolle spielt, und die Asiatische Entwicklungsbank dieses Projekt. Der tiefe Fall des Ölpreises stürzte die indonesische Wirtschaft in eine Rezession. Das Land wurde immer abhängiger von Auslandshilfe bei der Durchführung und Finanzierung des Transmigrasi-Projektes. Die Regionalplanung in der Öl- und Holzprovinz Ost-Kalimantan, der reichsten Provinz Indonesiens, liegt bei der Bundesrepublik, die

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durch die GTZ vertreten wird. Es geht um die Durch­setzung des Projektes, nicht um die Beteiligung der Betroffenen an der Verplanung ihres Lebens. »Beraten von der bundeseigenen GTZ und gefördert mit einem deutschen Millionenkredit (schlug die indonesische Regierung) eine 190 Kilometer lange Schneise in den Urwald von Ost-Kalimantan, ›Straße des Fortschritts‹ genannt.«196 Die Experten kennen das Land und die Menschen nicht, über deren Zukunft sie entscheiden. Die GTZ rät z. B., wegen der kargen Urwaldböden, zum Anbau von Palmöl und Kautschuk für den Export. Das ist, wegen des dauernden Preisverfalls für diese Produkte auf dem Weltmarkt, kein guter Rat. Nahezu alle Projekte in Ost-Kalimantan sind gescheitert. Die Menschen können sich nicht ernähren. Viele Männer ziehen in die Städte, die Frauen bleiben mit großer Ar­beitslast zurück. Immer wieder müssen Hilfsprogram­me von außen Hungersnöte in den Siedlungsgebieten abwehren. Noch schlechter ist die Urbevölkerung in den Siedlungsregionen dran. Sie wird oft entschä­digungslos zugunsten der javanischen SiedlerInnen von ihren Ländereien und Jagdgebieten verjagt. In West-Irian z. B. wehren sich die Papuas heftig gegen die drohende Auslöschung ihrer Kultur. Mehr als 3 Mil­lionen Hektar Regenwald wurden bis 1988 vernichtet, ein Gebiet so groß wie Nordrhein-Westfalen. Geht es wie geplant weiter, werden in 10 Jahren 40 Millionen Hektar unwiederbringlich vernichtet sein. Der Wald fällt auch, damit die Schulden für das irrsinnige Trans­

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migrasi-Projekt des Präsidenten Suharto wenigstens teilweise zurückgezahlt werden können.197

• 1987 begann der Run von Glücksrittern auf das Gebiet der Yanomani im Amazonasstaat Roraima. Arbeitslose, Ex-Soldaten, Rausschmeißer aus Nacht­clubs in Rio de Janeiro, alle kamen. Mensch hatte Gold gefunden. Was die Glücksritter brauchten, wur­de Tag und Nacht über den Flughafen von Boa Vista eingeflogen. 400 Männer kamen bei Schießereien ums Leben. Der illegale Handel mit Waffen blüht. Das Land gehört einem der letzten großen Indianerstämme der Erde, den Yanomani, von denen noch 50 000 leben. An ihrem Leben und Riten hat sich seit 3000 Jahren nicht viel geändert, bis die Goldgräber kamen und trotz eines anderslautenden Gerichtsurteils, das von Bürgerrechtsgruppen erwirkt wurde, von der brasilia­nischen Regierung geduldet werden. Mensch raubt den Yanomanis immer größere Parzellen ihres Reservates. Gegen das Verbot der Regierung hatten Mitglieder ei­ner Bürgerinitiative Siedlungen der Yanomani besucht. Die UreinwohnerInnen sterben an vergifteten Fischen, die das Quecksilber aufnehmen, das die Goldgräber zur Trennung von Sand und Gold benutzen. Sie sterben an eingeschleppten Zivilisationskrankheiten, denen ihre Körper hilflos ausgeliefert sind. Ihre Krankenstationen werden zu Lagerhallen umfunktioniert. Die Goldsucher fressen sich immer tiefer in den Urwald. Nachdem das Gericht 1989 die Ausweisung der Goldsucher aus Yanomani-Gebiet verfügt hatte, ganz auf Basis der

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wohlklingenden brasilianischen Verfassung, die den Indianern »das Land, das sie traditionell besitzen«, garantiert und ihr »Recht auf Überleben« sowie si­chere Grenzen verspricht, verkleinerte die Regierung das Gebiet der Yanomani und gab es den Goldsuchern frei. So wird Völkermord Gesetz.198

•Die Gesamtauslandsschulden für die 43 Subsahara-Länder betrugen 99 Milliarden US-Dollar (1988), die gesamten Auslandsschulden Afrikas etwa 440 Milli­arden US-Dollar. Sie haben sich in den 80er Jahren verfünffacht.199 Adebayo Adedeji, Exekutivdirektor der UN-Wirtschaftskommission für Afrika, nannte auf einem Gipfeltreffen der Organisation Afrikanischer Staaten (OAU) in Addis Abeba die 80er Jahre ein »ver­lorenes Jahrzehnt« für den schwarzen Kontinent. Die deutsche Wissenschaftlerin Claudia von Braunmühl widerspricht ihm: Es waren Jahre unermeßlicher Zer­störung.200 1988 hätten 28 afrikanische Staaten zu den am wenigstens entwickelten Ländern der Erde gezählt. 1978 waren es nur 17. Allein in den letzten 4 Jahren kürzten sie ihre Gesundheitsausgaben um 25 Prozent. Immer mehr AfrikanerInnen schienen bestimmt, in die Reihen der »Elenden der Erde« zu geraten, mein­te Adedeji resigniert. Er lehnt Wirtschaftsreformen mit Kürzungen der Staatsausgaben von jener Art ab, wie sie üblicherweise von IWF und Weltbank als Vor­aussetzung für weitere Hilfe verlangt werden.201 Er weiß, was blüht. 85 Prozent der Menschen in Afrika leben unter der Armutsgrenze. Mindestens 20 Mil­

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lionen Menschen hungern. Die Grundversorgung an Nahrung, Gesundheitsversorgung und Bildung bleibt ihnen verschlossen. In Tansania z. B. brachen im ver­gangenen Jahr Pest und Cholera aus. Der Anteil Afri­kas am Welthandel sank in knapp 20 Jahren um die Hälfte.202 Die afrikanischen Länder werden von ihren ehemaligen Kolonialherren weiter ausgeplündert. Das Internationale Entwicklungsinstitut der Weltbank hat in einer Studie selbst nachgewiesen, daß die früheren Kolonien für viele Importprodukte aus ihren früheren »Mutterländern« Frankreich und England zwischen 20 und 24 Prozent mehr bezahlen als entwickelte Länder. »Allein den ehemals französischen Kolonien entstand so ein Verlust von annähernd zwei Milliar­den Dollar; dieser Betrag übersteigt die langfristigen Auslandsschulden von zwölf afrikanischen Ländern im Jahr 1987.« Die ehemaligen Kolonien zahlen mehr für Importe und erhalten weniger für ihren Export als andere Länder.203

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Sackgassen und Wege zur Befreiung von Mensch und Natur im Trikont

Der Brady-Plan – keine echte Chance

Soziale Unruhen schaden dem Investitionsklima, das die Reichen in den Ländern der Armen zur Vermeh­rung ihres Reichtums brauchen. Der Anlaß für den Brady-Plan waren blutige Unruhen in Venezuela und der unbedingte Willen der USA, im angrenzenden Mexiko keine politischen Aufstände zu riskieren. Der Plan wurde nach dem Finanzminister der USA, Ni­cholas Brady, benannt. Im Gegensatz zum Baker-Plan, der 1985 durch die Mobilisierung privater Kredite die Schuldenkrise bewältigen sollte und scheiterte, liegt der Schwerpunkt auf der Minderung der Schuldenlast durch Zinssenkung, teilweisem Erlaß und Umschul­dung. Vorausgesetzt, das verschuldete Land unterwirft sich einem wirtschaftlichen Anpassungsprogramm, leisten IWF und Weltbank finanzielle Hilfe, zum Bei­spiel in Form neuer Kredite, auch wenn ein Land mit seinem Schuldendienst gegenüber privaten Banken im Rückstand ist.

Mexiko (81,2 Millionen EinwohnerInnen204) z. B. ist mit 107,4 Milliarden US-Dollar verschuldet. Präsident Salinas hält sich an die IWF-Vorgaben. Er läßt ausländisches Kapital ins Land, privatisiert Staatsbetriebe und streicht Sozialausgaben. Allein

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1989 stieg die Zahl der Armen um 20 Prozent. 20 Millionen völlig Mittellose leben unter 40 Millionen Armen, die Hälfte der mexikanischen Bevölkerung. Die eilige Öffnung des Landes für das GATT hat ganze Wirtschaftszweige wie Elektronik-, Spielzeug-und Textilindustrie ruiniert. Seit 1988 wurden 200 Textilbetriebe stillgelegt. Mexikos »Händchenhalten mit den USA« (ein westdeutscher Diplomat) und eine »solide Wirtschafts- und Finanzpolitik« (Tyl Necker, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Indu­strie) ruinieren das Land und vor allem die Mehrheit der Menschen in ihm. Sie hungern, trinken dreckiges Wasser, ihre Kinder krepieren an Mangelernährung und einfachen, heilbaren Krankheiten. Die Opposi­tionspartei PRD wird von der Regierungspartei Prä­sident Salinas’ mit härtester Repression bekämpft: hie und da Wahlbetrug, bei Protesten Einsatz der Polizeikräfte und der Armee.205

Zur Belohnung wurde Mexiko das Modell-Land für den Brady-Plan. Mit 500 internationalen Banken ver­einbart, bietet er den Gläubigern folgendes zur Wahl: a.) die Institute verzichten auf 35 Prozent ihrer Forde­rungen und wandeln die Schuldscheine entsprechend um. Mit den Neukrediten sollten alte Schuldscheine auf dem »freien« Markt mit teils gewaltigen Preisab­schlägen zurückgekauft werden: 1 Dollar Neuschuld für 3 Dollar Altschuld;206 b.) bei Beibehaltung der vol­len Forderungen werden die Zinsen auf 6,25 Prozent verringert, und c.) die Banken vergeben neue Kredite

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in Höhe von 25 Prozent ihrer Außenstände, als vierte Variante ist eine Mischung aus allen dreien möglich.

Als Anreiz für die privaten Banken verständigten sich die 7 Regierungschefs der Weltbank-Führungs­gruppe, Mitterand, Kohl, Bush, Thatcher, Uno, Delors, Mulroney und de Mita, 1989 in Paris darauf, den Pri­vatbanken für ihre Verluste Steuerabschreibungen einzuräumen. In der Bundesrepublik Deutschland ist dies bereits Praxis.207 Von der Gesamtauslandsver­schuldung des Trikont (1400 Milliarden US-Dollar) trug der Brady-Plan allerdings bis 1990 nur 70 Milli­arden US-Dollar in 39 Schuldnerländern ab. Eines ist der Brady-Plan auf jeden Fall: die Bestätigung, daß der Trikont bankrott ist.

Selbst eine Schuldenstudie der Deutschen Bank bestätigt dies. Die 50 Länder mit der höchsten Aus­landsverschuldung, also mehr als 2 Jex208 wurden untersucht. Sie sind zahlungsunfähig oder kurz davor. 21 Staaten sind praktisch bankrott. Wollte mensch al­lein diese Schuldnerländer auf die »kritische Marke« zurückentschulden, kostete das 215 Milliarden US-Dol­lar, das Dreifache des Brady-Plans. »Eine nachhaltige Entspannung der finanziellen Lage dürfte aber wohl erst dann zu erwarten sein, wenn die Schuldenquote auf deutlich unter zwei Jahresexporte zurückgeführt wird.«209 Die bundesdeutschen Banken waren über den Brady-Plan verschiedener Meinung, mehrheitlich wohl der Meinung des Commerzbank-Chefs Walter Seipp: »Ich denke, wir sollten den Brady-Plan beiseite legen

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und mit etwas Neuem beginnen.« Seine Befürchtung ist, daß der Schuldenabbau die Schuldnerländer auf die falsche Idee bringen könnte, noch mehr Schuldenerlaß zu verlangen, statt sich brav den »Reformen« der Ban­ken zu unterwerfen.210 Stanley Fisher, Chef-Ökonom der Weltbank, meinte in Washington: Ziel sei, daß die Banken ihr Engagement in der »Dritten Welt« abbau­ten und die Fehler der Vergangenheit korrigierten. »Mit dem Brady-Plan werde der Anfang gemacht, die Struktur der Kapitalzuflüsse in die Entwicklungsländer neu zu ordnen. Nicht Zahlungsbilanzkredite, sondern Direktinvestitionen, Projektkredite, Anleihen auf Roh­stoffbasis müßten in den 90er Jahren den Großteil der Kapitalbedürfnisse befriedigen.«211

Seit Beginn der Brady-Initiative 1987 schlossen die Banken Abkommen mit Mexiko, Costa Rica, den Philippinen und Venezuela. Die beiden letzten Länder, für die ein Abkommen geschlossen werden soll, sind Argentinien und Brasilien. Von den philippinischen Auslandsschulden in Höhe von 30,2 Milliarden US-Dollar sollen durch den Brady-Plan gerade eben 1,3 Milliarden US-Dollar, gleich 4,3 Prozent, mit ei­nem Abschlag von 50 Prozent des Nennwertes an die Philippinen verkauft werden.

Venezuela, Anlaß des Brady-Plans, ist mit 35 Milli­arden US-Dollar verschuldet, davon bei privaten aus­ländischen Banken mit 21,8 Milliarden US-Dollar.212 Im Februar 1989 zog Venezuela nach den Vorgaben des IWF ein »Stabilisierungsprogramm« durch. Die regu­

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lierten Preise für Grundnahrungsmittel wurden »frei­gegeben und stiegen heftig an. Dienstleistungen und Benzin wurden teurer, und die Wirtschaft wurde für ausländische Importkonkurrenz geöffnet. Die abseh­baren Folgen waren Massenentlassungen in Industrie und Landwirtschaft. Schon vorher lebten etwa 40 Pro­zent der Menschen unter der Armutsschwelle, und schon zuvor war der Reallohn um weitere 38 Prozent gesunken. Massenproteste der IWF-Opfer gegen den dramatischen Inflationsschub hatten in einem Blutbad geendet, bei dem mehrere hundert Menschen ums Le­ben kamen. Die Brady-Maßnahmen verschlimmerten die Lage. Der venezolanische Staatspräsident Carlos Andres Perez erklärte, daß sich die Schuldnerländer »im Krieg mit den Gläubigerbanken« befänden, in dem beide Seiten »alle Raketen« einsetzten, die ihnen zur Verfügung stünden. Die Banken hätten »elektronische Gehirne, aber kein Herz und keine Seele«, und sie kümmerten sich nicht um die sozialen Realitäten«.213

Venezuela schlug den Gläubigerbanken folgende Regelung vor: eine Reduzierung des Kapitals und der Zinsen um je 50 Prozent, die Rückkaufmöglichkeit der Schulden zu 40 Prozent des Nominalwertes und die Kapitalisierung der Zinsen für 1989 bis zu einer Höhe von 550 Millionen Dollar. Das Bankenkomitee unter Leitung der Chase Manhattan Bank lehnte ab.214 Die Commerzbank weigerte sich im Namen der bundes­deutschen Banken auf 50 Prozent ihrer 4 Milliarden D-Mark schweren Forderungen zu verzichten. Com­

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merzbank-Chef Seipp empfahl dem venezolanischen Planungsminister Miguel Rodriguez, doch erst einmal die überfälligen Zinsen von 950 Millionen D-Mark zu zahlen. Nach der Überweisung könnte mensch dann ernsthaft verhandeln. Daraufhin begann Venezuela im September 1989 mit monatlichen Auktionen, auf de­nen es seinen Reichtum verschachert. Auf diesen Auk­tionen werden Kredite in Unternehmensbeteiligungen »umgewandelt«. Bei der ersten Auktion ging es um 398 Millionen US-Dollar. Bisher sind 67 Anträge für die Umwandlung von Krediten im Wert von 3,6 Milliarden US-Dollar eingegangen. In den kommenden 3 Jahren will die Regierung den Ausverkauf auf 600 Millionen Dollar jährlich begrenzen.215 Zum Verkauf stehen z. B. Industrieanlagen, Grund und Boden, Hotels und sogar staatliche Banken.

Der Charakter des Brady-Plans kam am Beispiel Polen unverbrämt ans Licht: Polen steht mit 45 Mil­liarden US-Dollar, davon 80 Prozent bei öffentlichen Geldgebern, in der Kreide. Hilmar Kopper, Chef der Deutschen Bank, regte im September 1990 in Was­hington einen teilweisen Schuldenerlaß für Polen an. Polen sei ein guter Kandidat für den Brady-Mix aus Schuldenerlaß, Zinserleichterungen, Verlängerung der Kreditlaufzeiten und neuen Krediten.216 Er, Kopper, sehe die Sache ganz realistisch, die geneigte Leserin möge seine Argumente einmal auf ein beliebiges Land des Trikont übertragen: Müßte die polnische Regie­rung Zinsen und Tilgung in vollem Umfang zahlen,

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wäre »wohl eine strangulierende Restriktionspolitik erforderlich. Hier sei eine Lösung nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten erforderlich, sondern auch um den Aufbau der noch jungen Demokratie nicht zu gefährden«.217

Wie geht es nun Mexiko mit dem Brady-Vertrag? 12 Prozent der Gläubiger Mexikos entschieden sich für die Variante A (neue Darlehen), 43 Prozent für Variante B (35prozentigen Schuldennachlaß) und 45 Prozent für Variante C (einen festen Zinssatz von 6,25 Prozent). Das Abkommen wurde Anfang Februar 1990 von Vertretern der Gläubigerbanken unterzeichnet. Mexikos Schulden bei Privatbanken, die knapp 50 Milliarden betragen, verringern sich um 6,5 Milli­arden US-Dollar, dazu kommen aber 1,4 Milliarden US-Dollar neue Kredite. Das macht eine tatsächliche Erleichterung von 5,1 Milliarden US-Dollar oder 11 Prozent aus. Das selbst gesetzte Ziel des Brady-Plans von 20 Prozent Schuldenerleichterung ist damit weit unterschritten. Gleichzeitig steigen Mexikos Schulden bei der Weltbank, IWF und Japan, die das Verfahren mit neuen Krediten absichern. Mexiko steckt insge­samt genauso sehr in der Kreide wie zuvor, nur der laufende Schuldendienst sinkt, vorläufig um etwa 2-3 Milliarden US-Dollar im Jahr: »Nur etwa soviel wie Mexiko 1988 durch den Preisverfall auf dem Roh­öl-Markt einbüßte oder soviel, wie der Anstieg der internationalen Zinsen seit dem Tiefpunkt 1986 jedes Jahr zusätzlich kostet.«218 Ohne einen drastischen

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Schuldenerlaß hat Mexiko keine echte Chance. Für die

Banken ist das Ganze wegen der Rückzahlungsgarantie

ein gutes Geschäft. Mexikos Schulden wären auf dem

Sekundärkapitalmarkt nur noch 40 Cents pro Dollar

wert. Die Umschuldung gefiel auch der Deutschen

Bank, dem Verhandlungsführer für die bundesdeut­

schen Mexiko-Gläubiger. Die Bank hat 77 Prozent ihrer

Kredite bereits abgeschrieben – auf Kosten der bun­

desdeutschen SteuerzahlerInnen – und konnte immer

nur gewinnen. Mexikos Sozialausgaben werden weiter

drastisch gekürzt, und das Land hat sich für ausländi­

sches Kapital weit geöffnet. Nach Unterzeichnung des

Vertrages in Mexiko City verkündete Nicholas Brady:

Durch die Entlastung seien die Voraussetzungen für

Wachstum geschaffen worden.219

Tropenwaldaktionsplan der Weltbank – Kolonisierung mit anderen Mitteln

Die Weltbank hat, gemeinsam mit dem World Re­

sources Institute und dem Entwicklungsprogramm

der Vereinten Nationen (UNDP), einen Tropenwald-

Aktionsplan entwickelt, der inzwischen auch von der

FAO (Welternährungsorganisation) unterstützt wird.

Der Plan sieht vor, innerhalb von 5 Jahren 8 Milliar­

den US-Dollar »zur Rehabilitation und nachhaltigen

Bewirtschaftung von Feucht- und Trockenwäldern zur

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Verfügung zu stellen«.220 Das Geld soll denjenigen 56 Ländern als Kredit zur Verfügung gestellt werden, de­ren Wald am meisten bedroht ist. In den Fonds zahlen Entwicklungsinstitutionen und die Länder des Trikont gemeinsam. Die Weltbank kündigte als gutes Beispiel an, ihr Kreditvolumen für Forstprojekte mehr als zu verdoppeln: von 125 Millionen US-Dollar in 1987 auf 350 Millionen US-Dollar. Aber was bedeutet die ver­sprochene »Rehabilitation« und was die »nachhaltige Bewirtschaftung der Feucht- und Trockenwälder«? Einige kleine Naturschutzparks, und den Rest unter die Sägen der Kulturlandschaft?

Die Inderin Dr. Vandana Shiva wirft den Initiatoren des Plans vor, mit diesem Aktionsprogramm noch mehr ökologische und soziale Schäden anzurichten als bisher. Das Programm ist an den Menschen in den betroffenen Regionen vorbeigeplant und berücksich­tigt ihre Interessen nicht: Rund 1,6 Milliarden US-Dollar sollen für Agrarforstprojekte verwandt werden, die den Wald in kommerzielle Landwirtschafts- und Holzplantagen verwandeln. Die Kontrolle über den Wald und seinen Nahrungsreichtum wird der einhei­mischen Bevölkerung entzogen und den nationalen Führungseliten und internationalen Nahrungsmittel-und Holzkonzernen überstellt. Die kapitalintensiven Agrarforstprojekte schaffen kaum Arbeitsplätze für die Menschen vor Ort. Vandana Shiva sieht die Gefahr, daß sich die Nichtregierungsorganisationen (NGO) spalten lassen, weil einige bereit sind oder sein könnten, mit

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der Weltbank zusammenzuarbeiten. Sie benennt den Versuch der Weltbank, ihr Image aufzupolieren, und fordert alle Organisationen, Gruppen und Einzel­personen auf, sich dem Tropenwaldaktionsplan der Weltbank und ihrer Partnerorganisationen öffentlich zu widersetzen. Bei den derzeitigen Macht- und Besitz­verhältnissen im Trikont sind die Menschen, die bisher im und vom Wald gelebt haben, die Opfer. In Wahrheit diene der Tropenwaldaktionsplan nur der intensiven Holzausbeute, sagen seine KritikerInnen221, er ist Kolo­nialisierung mit anderen Mitteln. Die BRD ist mit 300 Millionen D-Mark jährlich Mitfinanzier des Plans, in dessen Namen zum Beispiel in Afrika Straßen gebaut werden, die dem Abtransport von Bäumen dienen.

Nichtsdestotrotz soll, nach Ansicht der Enquete-Kommission »Erdatmosphäre« des Deutschen Bun­destages, der Tropenwaldaktionsplan Grundlage einer internationalen Konvention werden. Tropenwaldlän­der sollen nur noch Kredite und Entwicklungshilfe erhalten, wenn sie sich diesem Plan anschließen. Erst in 20 Jahren soll, nach Auffassung der Kommission, die Tropenwaldvernichtung aufhören, dann sollen 20 Jahre Wiederaufforstung folgen. Abgesehen davon, daß der tropische Regenwald in 20 Jahren kaum noch existieren wird und auch durch Wiederaufforstung nicht wiederhergestellt werden kann, nähren solche Projekte Illusionen.222

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… und sonst?

Auf keiner internationalen Konferenz der reichen Län­der aus dem Norden, sofern sie sich nicht sowieso mit dem Klima befaßt, fehlt der eine oder andere Vorschlag gegen globale ökologische Katastrophen. Was bedeutet das in der Praxis? Eine EG-Kommission hat beispiels­weise ein elf Punkte umfassendes Grundsatzpapier zum Schutz der tropischen Regenwälder ausgearbeitet. Kernelement ist ein verstärkter finanzieller Einsatz der nördlichen Länder zur Bewahrung der äquatornahen Regionen vor Brandrodung und Abholzung und zur Unterstützung von Aufforstungsmaßnahmen, damit die Erwärmung der Erdatmosphäre nicht weiter voranschreitet. Die EG solle, proklamierte EG-Um­weltkommissar Carlo Ripa di Meana mit Verweis auf die Industrie- und Autoabgase des Nordens, künftig gemeinsam mit dem IWF und der Weltbank darüber wachen, daß keine umweltfeindlichen Vorhaben mehr durchgeführt würden und dafür verstärkt Projekte zum Schutz der Tropenwälder.223 Hört sich das nicht viel­versprechend an? Die EG unterstützt heute bereits in den AKP-Staaten224 Programme gegen die Wüstenbil­dung und zur Verringerung des Brennholzbedarfes.225

Während die Mitgliedsländer der EG im Rahmen ihrer Weltbankaktivitäten auf der einen Seite – wie bereits erwähnt haben sie mit über zwanzig Prozent der Antei­le erheblichen Einfluß – weltweit die Natur zerstören und UreinwohnerInnen und LandarbeiterInnen die

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Existenzgrundlage entziehen, wird auf der anderen Seite im engeren Rahmen von Modellprojekten an hilflosen Reparaturen herumgebastelt.

Die parlamentarische Versammlung des Europa­rates fordert zum Schutz der Ozonschicht einen welt­weiten Klimafonds. Mit dem Geld sollen vorrangig im Trikont Aufforstungsprogramme zur Verhinde­rung einer langfristigen Klimaerwärmung finanziert werden. Heldenhaft beschloß mensch sogleich, die Produktion von Fluorchlorkohlenwasserstoffen noch vor dem Jahr 2000 zu verbieten. So können mit dem seit Anfang der 70er Jahre als Ozonschichtzerstörer bekannten Klimagift noch zehn weitere Jahre gute Geschäfte gemacht werden.226 Vermehrt kriechen, ganz auf der Logik der bisherigen Argumentationslinien, ökodiktatorische Vorschläge zur Rettung der Natur heran. Der österreichische Außenminister Alois Mock schlug zum Beispiel auf der UN-Vollversammlung im September 1989 vor, internationale Institutionen daraufhin zu prüfen, ob sie für den Umweltschutz tätig werden könnten. Es sei zu hoffen, sagte Mock, daß in absehbarer Zeit »Grünhelme« der UN am Schutz der Umwelt beteiligt werden könnten.227

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Schuldenerlaß gegen Naturschutz oder wem gehört die Natur?

Als immer deutlicher wurde, daß viele verschulde­te Länder im Trikont ihre Schulden nicht würden zurückzahlen können, begannen Gläubigerbanken, Teile der Schulden weit unter ihrem Nominalwert zum Verkauf anzubieten, um wenigstens eine Teil­schuld zu kassieren und, bei starker »Abhängigkeit« von der Verschuldung eines Trikont-Landes, das Risiko auf mehrere Geldgeber zu verteilen. Auf diese Weise entstand ein Sekundärkapitalmarkt, eine Art »Gebrauchtkreditmarkt«, auf dem die Schuldtitel der abhängig gemachten Länder mit Abschlägen bis zu mehr als 90 Prozent zu haben sind. Ausländische Kapitalbesitzer oder Konzerne kaufen Schuldtitel zu Dumpingpreisen in Devisen.

Im Besitz dieser Schuldtitel wenden sie sich an die Regierungen der Schuldnerländer und lassen sich die Schuld in voller Höhe in der Landeswährung auszah­len, um das Geld zu investieren, oder sie erwerben im Tausch direkt Industriebeteiligungen, Grundbesitz oder Immobilien: Häfen, Industrieanlagen, Telefon-und Kommunikationsnetze, Ölförderung, Eisenbah­nen. Öffentliches Kapital, Produktion und Grundbesitz werden auf diese Weise privatisiert, und transnatio­nale Konzerne übernehmen die Kontrolle über die rentabelsten Bereiche der Wirtschaft von Staaten im

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Trikont. Bis heute wurden nur ein paar Promille der Verschuldung auf diese Art abgetragen, hingegen ein großer Teil der Werte von Trikontstaaten privatisiert und ausländischen Geldgebern übereignet, eine beson­ders effiziente Ausplünderung des Trikont.

Die »Debt-to-equity swaps«228 sind auch eine be­sonders raffinierte Finanzierungsstrategie. Die Volks­wagenwerk AG plante zum Beispiel für den Ausbau ihrer Motorenproduktion in Puebla/Mexiko eine neue Gießerei, an der sich der Konzern selbst mit 141 Mil­lionen US-Dollar, einem Drittel des Kapitalbedarfs, beteiligen will. 107 Millionen US-Dollar fi nanziert der Konzern mit einem Swap-Geschäft. Für den Betrag von 75 Millionen US-Dollar kaufte VW einer deutschen Bank eine mexikanische »Schuld« im Wert von 107 Millionen US-Dollar ab. Der Bank schadet das nicht, weil sie die Schuld schon längst steuervergünstigt ab­geschrieben hat. Und VW macht gegenüber Mexiko die billig gekaufte Schuld zum Nominalwert geltend. Ersparnis: 32 Millionen US-Dollar.229 Swaps heizen die Inflation an, denn es ist ein Anreiz für die Regierungen der verschuldeten Länder, mehr Geld zu drucken, um die Schulden loszuwerden. Die hochverschuldeten Länder können mit diesen »Debt-to-equity swaps« die Schuldlast aber nur dann spürbar mindern, wenn sie einen großen Teil ihres Reichtums zu Schleuderpreisen an ausländische Kapitalgeber verkaufen.

Alle reden vom Regenwald und alle wollen ihn retten: Bundesbahn und Heimwerkermärkte demon­

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strieren ein Umweltgewissen: keine tropischen Höl­zer mehr. Schöner Wohnen empfi ehlt Robinie oder Douglasie statt Bongossi, Birke, Linde, Kiefer statt Ramin und Pappel statt Limba. Nach einer gelunge­nen Robin-Wood-Aktion gegen die Tropenholzfenster in seinem neuen Redaktionsgebäude am Hamburger Hafen schämte sich sogar der Stern. Viele Kommu­nen lassen weder Tropenholz in die Gemeinde, noch Asylsuchende. Kinder spenden ihr Taschengeld für den Regenwald, und in fast jeder politischen Rede wird gegen das Ozonloch und für das Klima und den Regenwald gebetet.

1984 wurde vom WWF (World Wildlife Fund)230 in den USA das dem »Debt-to-equity swap« sehr ähnli­che Verfahren »Debt-to-nature swap« erstmalig vor­gestellt. Der »Schulden-gegen-Naturschutz Tausch« funktioniert so: Reiche Umweltschutzorganisationen aus dem kapitalistischen Norden kaufen für harte De­visen zu stark herabgesetzten Preisen Schuldtitel bei Banken auf. Sie treten dann gegenüber dem verschul­deten Land (und wirklich billig sind nur die Schuld­titel der völlig verschuldeten Trikontstaaten) mit der vollen Schuldforderung auf, zu zahlen allerdings nicht mehr in harten US-Dollar oder D-Mark, sondern in der Landeswährung. Die Umweltschutzorganisatio­nen bieten dann einen vollständigen Verzicht auf ihre Forderungen an, wenn das Land sich bereit erklärt, im Gegenzug ein Naturschutzprojekt durchzuführen: die Ausweitung oder Schaffung eines Naturschutzgebietes,

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eine Wiederaufforstung oder etwas Ähnliches. Diese Variante ist die häufigste. Das entsprechende Natur­schutzprojekt wird dann entweder unter der Regie des ausländischen Naturschutzverbandes durchgeführt oder in der Verantwortung der nationalen Regierung. Gelegentlich verschenken ausländische Gläubigerban­ken Teilschulden an Naturschutzverbände. Manchmal verkaufen Umweltverbände die auf dem Gebraucht­kreditmarkt billig gekauften Schuldtitel (mensch kann von Sonderpreisen für den guten Zweck ausgehen) und verkaufen die Schuldtitel an multinationale Firmen mit Naturschutzauflagen. Zum Beispiel kaufte der WWF (Nigeria) Auslandsschulden Nigerias auf und verkaufte sie mit Preisnachlaß an ein Unternehmen, das in Palmölanlagen investiert.

Eine andere Variante ist: Irgendein multinationaler Konzern kauft eine Teilschuld eines Trikontlandes auf (zum Beispiel peruanische Schulden für 15 Prozent des Buchwertes), schenkt diese großmütig an eine aus­gesuchte peruanische Umweltorganisation oder den Staat im Gegenzug zu Steuererleichterungen und einer gewissen Beteiligung an den Einkünften aus der touri­stischen Nutzung des geschützten Gebietes. Vielleicht haben wir in gar nicht ferner Zeit Naturschutzorgani­sationen, die von Konzernen für eben diesen Zweck gegründet werden: Public-Relations-Abteilungen mit Finanzierungseffekten der besonderen Art. Eine fünfte Möglichkeit ist nach Ansicht des WWF231 ein Swap, der nur noch Subvention ist: Ein Konzern wird

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zur umweltfreundlichen Investition in ein Trikont­land gelockt, darf nach 2 Jahren die Rendite in harter Währung ausführen und nach 10 Jahren das Kapital wieder in Devisen umwandeln und ausführen. Womit noch nichts über die Qualität der »umweltfreundlichen Investition« gesagt ist.

Eine Erpressung mit Methoden also, deren sich Conservation International (CI) oder der WWF und andere nur bedienen können, weil sie die Legitimation der Verschuldung nicht in Frage stellen und sie sich zudem vollständig innerhalb der Logik der Verschul­dung bewegen. Dienen diese Deals dem Naturschutz? Welches sind die sozialen und ökologischen Folgen der Einmischung in die nationale Souveränität eines unterentwickelt gehaltenen Landes unter den real existierenden Verhältnissen?

Der erste Debt-to-nature swap wurde im Juni 1987 in Bolivien vereinbart. Die US-amerikanische Um­weltschutzorganisation Conservation International (CI), erst ein halbes Jahr zuvor gegründet, kaufte mit Hilfe der Citycorp Investment Bank (USA) und von Stiftungsgeldern von einer Schweizer Privatbank ei­nen nicht rückzahlbaren Kredit Boliviens im Wert von 650 000 US-Dollar für 100 000 US-Dollar, ein Dollar kostete sie nur 15 Cent. Nach 5 Monaten Verhand­lungen mit bolivianischen Behörden setzte CI durch, daß das Beni-Naturschutzgebiet erweitert und somit insgesamt 1,6 Millionen Hektar unter Naturschutz gestellt wurden, mit dem Anspruch, auch die darin le­

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benden ethnischen Minderheiten zu schützen. Für die Verwaltung und die Erforschung des Gebietes stellte die bolivianische Regierung 100 000 US-Dollar zur Verfügung, 150 000 US-Dollar erhielt sie von der US Agency for International Development für denselben Zweck. Die Schulden wurden erlassen. Das Gebiet steht unter bolivianischer Oberhoheit. CI wurde Berater der bolivianischen Regierung. Bolivien hatte auch gar keine andere Wahl. Es ist mir unbekannt, welche Art von »Verwaltung«, »Erforschung« und »angepaßter Nutzung« im Naturschutzgebiet betrieben wird und wie sich der Schutz der Natur mit dem Schutz der so­zialen und demokratischen Menschenrechte der dort siedelnden Menschen verträgt. Außerdem gibt es keine langfristige Garantie für die Einhaltung des Abkom­mens. Bolivien ist des weiteren mit insgesamt mehr als 4 Milliarden US-Dollar verschuldet, die »geswapten« 650 000 US-Dollar machen weniger als 0,02 Prozent davon aus. Teile der bolivianischen Natur kommen unter ausländische Aufsicht, während die Schuldenlast die sozialen und die ökologischen Probleme Boliviens verschärft.

Am 4. November 1987 einigten sich der WWF (USA) und die Fundacion Natura in Ecuador auf den zweiten Swap. Der WWF sicherte zu, im ersten Schritt Schuld­titel Ecuadors im Nominalwert von 1 Million US-Dollar zum Marktwert von 350 000 US-Dollar zu kaufen, und die Fundacion versprach, den Gegenwert der Schuld in Landeswährung für den Ausbau und den Erhalt der

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Nationalparks und für Projekte zur Umwelterziehung zu verwenden. Das gesamte Tauschprogramm hat eine Obergrenze von 10 Millionen US-Dollar.

Das dritte Mal wurde in Costa Rica geswapt. Anfang 1988 unterzeichnete der WWF (USA) die Bereitschaft, innerhalb von 3 Jahren costaricanische Schuldtitel im Nominalwert von 3 Millionen US-Dollar aufzukaufen. Das Gesamtvolumen der Swaps beträgt 5,4 Millio­nen US-Dollar. An dem Abkommen sind neben dem WWF (USA) und der Nationalbank Costa Ricas noch die US-amerikanischen Umweltschutzorganisationen Nature Conservancy und Conservation International beteiligt. Die Schulden werden in hochverzinsliche Bonds in Landeswährung umgewandelt, die durch die einheimische Fundacion de Parques Nationales kon­trolliert und zum Ankauf von Land verwendet werden sollen. Aus diesem Land sollen Nationalparks werden, die der Wissenschaft und dem Tourismus (!) dienen sollen. Der WWF (USA) unterzeichnete im Juni 1988 ein weiteres Debt-to-nature swap-Abkommen mit den Philippinen, das von ihm selbst, der Haribou Foun­dation und der philippinischen Regierung entwickelt worden ist. In diesem Abkommen wird der Kauf von 2 Millionen US-Dollar Schulden vereinbart.

Das bisherige Volumen der Debt-to-nature-swaps hat einen Umfang von weniger als 10 Millionen US-Dollar. Der Trikont hat mehr als 1400 Milliarden US-Dollar Schulden, die Swaps machen anteilig rund 130 Tausendstel oder 0,000 008 Promille der Gesamt­

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schuld aus. Die Swaps haben ökonomisch eine margi­nale Bedeutung. Ihrer Ausweitung sind enge finanzielle Grenzen gesetzt, weil die Umweltorganisationen der kapitalistischen Zentren nur über begrenzte Mittel verfügen. Hätten sie mehr Kapital und könnten we­sentlich höhere Schuldtitel aufkaufen, hätte das einen anderen Effekt: Die Kurse für die Gebrauchtkredite würden steigen, je mehr Debt-to-nature swaps, desto teurer wird die Entschuldung oder besser Umschul­dung. Bundesdeutsche Banken haben ein geringeres Interesse an diesen debt-to-nature swaps, weil sie das Privileg haben, ihre Verluste aus nicht rückzahlbaren Krediten an Länder des Trikont zu Lasten der Steuer­zahlerInnen von ihrer Steuer absetzen zu können. Sie haben inzwischen rund 80 Prozent ihrer Forderungen abgeschrieben und trotzdem ihre Geschäftsjahre stets mit hervorragenden Bilanzen abgeschlossen.

Die vor Ort und basisnah arbeitenden Umweltin­itiativen im Trikont sind meistens zu schwach und verfügen nicht über die Infrastruktur, um Deals in Millionen-Dollarhöhe mit Banken und internationa­len Organisationen zu managen. Die Regierungen von Trikontländern haben kaum Interesse an der Stärkung solcher basisnaher, auch sozial arbeitender Umwelt­gruppen und damit auch kein Interesse, sie in die Lage zu versetzen, das Geschäft mit den Swaps autonom von der jeweiligen Regierung und eigenverantwortlich zu betreiben. Swap-PartnerInnen werden üblicherweise regierungsfreundliche Stiftungen oder etablierte Na­

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turschutzorganisationen, die die politischen Verhält­nisse, in denen sie arbeiten, kaum in Frage stellen. Ich kann mir vorstellen, daß Regierungen notfalls auch auf den Gedanken kommen können, wollen sie nicht regierungskritische Umweltorganisationen unterstüt­zen, regierungsfreundliche Umwelttarnorganisationen zum Zwecke der Swaps zu gründen. Die Spaltung der nationalen Umweltbewegungen im Trikont wird durch die Swaps objektiv gefördert. Und es werden jene Umweltorganisationen bevorzugt, die ein enges Na­turschutzverständnis haben und weder die Auseinan­dersetzung mit den Ursachen der Verschuldung führen noch die sozialen Probleme allzu eng mit ökologischer Politik verknüpfen. Unterstützt wird, wer die jeweils herrschenden Verhältnisse nicht in Frage stellt.

Im Resultat ist der durch teilweisen Schuldenerlaß erkaufte Naturschutz nur die umweltfreundlich mas­kierte Variante der Debt-to-equity swaps. Bei letzteren verkauft ein verschuldetes, vom kapitalistischen Nor­den unterentwickelt gehaltenes Land seinen Reichtum an Boden, Ressourcen, Industriebetrieben und Immo­bilien an diesen Norden. Beim ersteren die Verfügung über seine Natur an kapitalkräftige Umweltschutzor­ganisationen, die in den Strukturen von Herrschaft und Unterdrückung im Gefolge des Kapitals auftreten. Der einzige Unterschied ist: Letztere behaupten, es gut mit den betroffenen Ländern, wenigstens mit deren Natur zu meinen. Für welchen Zweck und in welchem Interesse wird die Natur geschützt?

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Die »swapper« aus den USA und anderen kapita­listischen Zentren wollen vor allem den Regenwald retten. Sie sagen, wir brauchen ihn für unser Klima, für den Erhalt der Genvielfalt und weil er schön ist. Von den in ihm lebenden amerikanischen Urvölkern und den UmsiedlerInnen, die von kapitalistischer Entwick­lungspolitik aus anderen Regionen in den Regenwald vertrieben wurden, ist in ihren Projektbeschreibungen nicht oder nur am Rande die Rede. Oft werden urame­rikanische Ethnien in reaktionärer Weise, wie exoti­sche Tierarten, mystifiziert und die verarmten, in den Regenwald zwangsumgesiedelten oder geflüchteten SiedlerInnen und LandarbeiterInnen wie eine Krank­heit beschrieben, gegen die es, im vorgeblichen Inter­esse der Natur, harte Abwehrkämpfe zu führen gilt. Ein derartig entmenschlichtes Naturschutzverständnis, ein so zwanghafter Naturschutz, der »von oben« und »von außen« kommt, entfremdet die Menschen der Natur, weil es real existierende Herrschaftsverhältnisse und Ausbeutungsbedingungen zwischen den Klassen inner­halb der Trikontstaaten stabilisiert und fortschreibt. Der Anspruch von NaturschützerInnen, die glauben mit Schuldentausch Umweltbewußtsein in Ländern des Trikont zu fördern, müssen sich sagen lassen, daß es mit ihrem eigenen Umweltverständnis hapert. »Expor­tiert … wird … eine Naturschutzstrategie, die auch in westlichen Industrieländern als gescheitert betrachtet werden kann. Bioreservate und Naturschutzparks sind ›billige‹ Kompensationen für die Umweltzerstörung in

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der Dritten Welt, die nicht zuletzt in der verheerenden Verschuldung der Dritten Welt ihre Ursachen hat.«232

»Öko-Paternalismus« nennt es Barbara Unmüßig, wenn »beispielsweise einheimische Biologen in US-Nationalparks den pfleglichen Umgang mit der Natur und die Bewirtschaftung dieses Parks lernen sollen. ›Westliche Experten bestimmen, wie mit der Natur umzugehen ist, ob und wie der Wald genutzt werden darf.«233 In kein einziges der Debt-to-nature swaps wurde bis heute die einheimische Bevölkerung mit einbezogen.

Aber Naturschutzgebiete selbst sind ein Problem. Geschützte Gebiete bedeuten die Konzentration auf eine Teilregion und haben oft zur Folge, daß das üb­rige Land um so intensiver ausgebeutet werden darf. Naturschutzgebiete, die ja stets kleiner sind, als es das natürliche, unzerstörte Land insgesamt vorher war, ziehen vertriebene fliehende Wildtiere in solchen Mengen an, daß diese das ökologische Gleichgewicht durcheinanderbringen. Und nicht zuletzt: Naturschutz bedeutet oft die Vertreibung der Menschen, die im Ein­klang mit der Natur in einer Region lebten und von den Herrschenden in eine Gegend vertrieben wurden, mit deren Natur sie keinerlei Erfahrung hatten. Von der Savanne in den Regenwald geworfen, verhalten sie sich aus Unwissenheit oder aus Not »falsch«, schädigen die Natur und werden von den eigentlichen Tätern zu UmweltverbrecherInnen gestempelt. Und die Vertrei­bung der BewohnerInnen des Regenwaldes vernichtet

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immer die Möglichkeit der Subsistenzwirtschaft, der Selbstversorgung der einheimischen Bevölkerung. Die­se wird abhängig vom Kauf von Gütern und damit von Marktstrategien, Exportraten, Verschuldung und den (Saatgut-)Monopolen und viele landen in den Slums der Trikont-Metropolen. Nach der Vertreibung der RegenwaldbewohnerInnen können dann die Regen­waldtouristInnen kommen, die vielleicht auch noch unkritisch annehmen, daß sie auf diese Weise etwas Gutes tun oder zum Schuldenabbau beitragen.234

Die Schuldentauscher ignorieren, daß erst der Import des nördlichen »Entwicklungs«modells den Hunger und das Gift in den Süden brachten. Früher lebten zum Beispiel 10mal so viele Menschen in der Sahelzone und konnten sich, wie die Menschen in tropischen Regenwäldern, im Einklang mit der Natur gut ernähren. Nach Angaben des Entwicklungshilfe­ministeriums befinden sich heute allein in Süditalien 2 Millionen Flüchtlinge aus der Sahelzone. 90 Prozent des Energiebedarfs werden beispielsweise im Sahel­land Burkina Faso, Westafrika, durch Holz gedeckt. Brandrodung und Holzeinschlag vernichten jährlich etwa 7 Millionen Kubikmeter Holz. Auch Büsche, Sträucher und Reisig in der Trockensavanne bleiben nicht verschont. Die Armen zahlen mehr als ein Drittel des Familieneinkommens für Brennstoff. Und so drin­gen die Sandmassen der Sahara jedes Jahr 4 Kilometer weiter ins Land. 10 Millionen Bäume wären nötig, die Wüste zu stoppen. Das Land ist zu arm, um sie zu

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kaufen. Teilnehmer berichten von kleineren Projekten von internationalen Jugendgruppen aus aller Welt, die während der Sommer 60 Zentimeter tiefe Löcher in die harte, vollkommen ausgedörrte Erde schlagen, um Bäume zu pflanzen.235 Verschiedene Memoranden und Aufsätze von und aus der Weltbank236 zeigen außer­dem, daß es ein starkes ökonomisches Interesse an ei­ner spezifischen Form von Umweltschutz gibt. Einmal brauchen die Banken den PR-Effekt ihrer angeblichen Umweltfreundlichkeit, wenn sie für ein kleines Stück Regenwald spenden oder angeblich zu seinem Wohl Schulden erlassen oder billig verkaufen. Das verschafft Renommee und hilft vielleicht gegen bürokratische Hemmnisse bei anderen Umschuldungsprojekten, die gar nichts mit Naturschutz zu tun haben. Noch ein weiteres Interesse spielt eine zunehmende Rolle: das Geschäft mit dem Tourismus, einem Entwicklungsmo­tor, der für Umweltzerstörung, Zerschlagung von Sozi­alstrukturen und die Vernichtung kultureller Identität an vielen Orten der Welt verantwortlich ist.

Tropica Verde mit Sitz in Frankfurt ist ein Projekt, das eine gewisse Bekanntheit erlangt hat und wohlmei­nend gefördert wird. Seine BetreiberInnen behaupten, es sei ganz-heitlich. Sie planen ein Naturschutzgebiet Nosara in Costa Rica, weil da die plötzliche Situation stabil sei und seit 40 Jahren Demokratie herrsche. Das Naturschutzgebiet soll eine Mindestgröße von 5000-10 000 Hektar haben. Tropica Verde bietet für 50 D-Mark Spende die Patenschaft für 100 Quadrat­

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meter Urwald. Das geplante Naturschutzgebiet soll Ort von biologischer Forschung vielfältigster Art werden. Ökologisch interessierte UrlauberInnen sollen auf ausgezeichneten Dschungelpfaden die Schönheit des Dschungels erkennen. Wohlmeinende Zeitungen von Pierrot bis Natur veröffentlichen die Selbstdarstellun­gen der Gruppe. Natur schreibt: »Naturschutzgebiete leiden fast überall auf der Welt unter dem Raubbau der Einheimischen.«237 Nie fehlt die Kontonummer. Nur ein kurzer Absatz in den Selbstdarstellungen des Pro­jektes, das sich Interessierte zuschicken lassen können, dient der Versicherung, daß mensch die einheimische Bevölkerung nicht vertreiben wolle. Ansonsten wirbt mensch für sich mit dem Gestus, »alle reden nur, wir tun was, spendet«, und handelt nach dem Motto: Der Regenwald gehört der ganzen Menschheit, also (auch) uns.238

Stark auf die Regenwald-Emotionen zielt auch ein anderes Projekt ab: der Kinderregenwald. Ein bunter Prospekt mit Berichten eifriger Kinder klärt darüber auf, wie es dazu kam, daß sich der Verein »Deutscher Kinderregenwald e.V.« gründete, einmal abgesehen davon, daß der Name irritiert, weil es in Deutsch­land keinen Regenwald gibt. Die Idee der Kinderre­genwälder entstand in Schweden, als SchülerInnen beschlossen, mit ihrem Taschengeld Regenwald in Costa Rica zu kaufen. Mit den Spenden von Kindern, Eltern und LehrerInnen aus aller Welt wurden bis jetzt 25 000 Hektar Regenwald in Costa Rica gekauft.

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Die Kinder erhalten Urkunden für ihre Waldanteile. Neben der Schutzfunktion soll das Gebiet auch eine Kinder-Urwald-Urlaub-Station werden. Der »Sinn für das Wunderbare« soll angeregt werden. Mensch will, sagt der Prospekt, »immer das Ziel vor Augen (haben), auch für die menschlichen Bedürfnisse und Einstellungen der Einwohner der näheren Umgebung ein offenes Ohr zu haben und sie in unsere (!; d.A.) Arbeit mit einzubeziehen«. Neben im engsten Sinn naturschützerischen Zielen formuliert die Satzung des Vereins auch das Ziel, »das Bewußtsein für die Bedeutung und den wissenschaftlichen und gesell­schaftlichen Wert des Landes, das sie bewohnen, und insbesondere des Waldes, zu schärfen« und dafür »Umwelt-Erziehungsprogramme zu entwickeln … sowohl für die Einwohner der genannten Regionen als auch landesweit«. So lernen Kinder aus Schwe­den, den USA und der Bundesrepublik mit ihrem Taschengeld, das oft ein vielfaches des Einkommens Erwachsener im Trikont ausmacht, Natur zu kaufen, um sie, voller Unkenntnis gegenüber den politischen und ökonomischen Strukturen, die Ursache des Pro­blems sind, »zu schützen«. Und sie lernen, daß sie es sind, die die UreinwohnerInnen und SiedlerInnen zu belehren haben. Die Kinder lernen nicht – und richten ihre Aufmerksamkeit deshalb bisher auch nicht darauf –, wer in ihren eigenen Ländern die Mörder am Re­genwald in den Ländern anderer Menschen sind. Ihr Augenmerk wird vom eigenen Land auf einen anderen

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Teil der Erde gerichtet. So anrührend und mitreißend das Engagement, die Phantasie und der Lerneifer der Kinder sind, die sich hier engagieren: Was wäre wohl, wenn sie begriffen, daß es mehr Sinn macht, all ihre Kraft gegen die Verursacher der Naturzerstörung, die Regierungen, Banken und multinationalen Konzerne im eigenen Land zu richten? Der Verdacht liegt nicht weit, daß die meisten LehrerInnen und Eltern daran kein Interesse haben. Was ist eigentlich mit den eu­ropäischen Wäldern? In wenigen Jahrzehnten wird es in Mitteleuropa keine großen zusammenhängenden Wälder mehr geben. Und warum gibt es keine Kin­derurwälder in den USA? Entlang der kalifornischen Küste werden in großem Maßstab Jahrhunderte alte Redwood-Wälder abgeholzt. »Der amerikanische Forstdienst ist das größte Straßenbauunternehmen der Erde, das Netz der Forststraßen achtmal länger als Amerikas Superhighway-System.«239

Die Voraussetzung aller Swaps ist die Anerkennung der Legitimität der Schulden. Die Debt-to-nature swaps fallen den Organisationen und Initiativen in den Rücken, die seit Jahren für die Streichung der Schulden des Trikont bei den kapitalistischen Zentren kämpfen. Beispielsweise sprachen sich schon im Mai 1987 auf der Konferenz von Campinas 56 Gewerkschaftsdach­verbände und Gewerkschaften aus 25 Ländern Latein­amerikas und der Karibik für die Schuldenstreichung aus. Die Schulden beruhen auf jahrhundertealter Ko­lonialisierung, auf den Terms of trade (internationale

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Austauschbeziehungen), auf Zinssteigerungen über 20 Prozent, auf dem hohen Dollarkurs Anfang der 80er Jahre, riesigen Fehlinvestitionen in von den kapitali­stischen Zentren geförderte großtechnische Projekte, auf Rüstungseinkäufen, auf Kapitalfl ucht der Eliten. Neben Bolivien, Ecuador, Costa Rica, Philippinen, Sambia und Madagaskar sind auch Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei und Paraguay angeblich an derar­tigen Deals interessiert.240 Im Juni 1990 kündigte der brasilianische Präsident Fernando Collor de Mello erstmals seine Bereitschaft an, für Schuldenerlaß Um­weltprojekte zu fördern und Naturschutzparks einzu­richten. Bis dahin hatte Brasilien derartige Vorschläge grundsätzlich abgelehnt.241

Etliche Naturschutzorganisationen halten sich in ihren Projektbeschreibungen und grundsätzlichen Stellungnahmen weitgehend an den Wunsch der Welt­bank, gemeinsame Besorgnis über den Zustand der Tropen zu demonstrieren, aber über die verantwortli­chen Entwicklungsstrukturen und die Schuld der Täter aus den kapitalistischen Zentren zu schweigen. Indem die Swaps von immer mehr Umweltorganisationen gutgeheißen werden, wird gegen eine der zentralen politischen Forderungen der Internationalismusbe­wegung, die Forderung nach vollständiger Streichung der Schulden, gearbeitet. Da es die Befreiung der Natur von Raubbau und Verseuchung nur gibt, wenn auch die Menschen aus Abhängigkeit und Unterdrückung befreit werden, arbeitet gegen die Befreiung der Men­

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schen, wer ihre äußere Natur den Herrschenden, ob national oder international, übereignet.

Würden die Weltmarktbedingungen zum Zeitpunkt der Erstaufnahme der Kredite zugrunde gelegt, wären die Schulden längst bezahlt. Angesichts des millionenfa­chen Mordes seit der »Entdeckung« Amerikas, der Ko­lonialisierung Afrikas und Asiens, der Ver- und Behinde­rung einer eigenständigen Entwicklung, angesichts von Versklavung, Hungertod und ökonomischen Feldzügen sind die Schulden erst recht mehr als »bezahlt«, wenn mensch so etwas überhaupt in Geld ausdrücken kann. Die Regierungen der kapitalistischen Metropolen, die Banken und Konzerne müßten mit umfangreichen Re­parationszahlungen ab sofort und in den kommenden Generationen wenigstens einen Teil des Grauens, das sie angerichtet haben, wieder gutmachen.

Vor der Jahrestagung des IWF 1988 in West-Berlin lud der Deutsche Naturschutzring (DNR), auf Wunsch der Weltbank, den Leiter der Umweltabteilung dersel­ben, Herrn Piddington, zu einem Tagesseminar ein. Die Weltbank wünschte, irritiert durch öffentliche Kritik an den ökologischen Folgen ihrer Projekte mit einigen Umweltschutzorganisationen zu sprechen. Die Herren Piddington und Engelhardt, der Vorsitzende des DNR, betonten gleich zu Beginn des Seminars, im Interesse der weltweiten Gefährdung der Ökosysteme solle mensch nicht in die Vergangenheit sehen und nach Schuldigen suchen, sondern in die Zukunft und gemeinsam die globalen Probleme anpacken.

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Thomas Siepelmeyer von der Bundeskonferenz entwicklungspolitischer Aktionsgruppen (BUKO) kri­tisiert zutreffend242, daß als erstes die Erkenntnis, daß »die Entwicklung der kapitalistischen Weltordnung und das Wirken von IWF und Weltbank eben diesen Zustand verursacht haben«, verschüttet werden sollte. Es soll nur noch »ein bißchen ökologisch reformiert«, aber vergessen werden, daß die Weltbank mit ihrer »grünen Revolution« die Agrarstrukturen in Latein­amerika, Asien und Afrika so auf die Bedürfnisse des kapitalistischen Weltmarktes zugerichtet habe, daß Millionen Menschen enteignet, vom Land in die Slums vertrieben wurden und an Hunger starben. Nach seiner Meinung zeigten sich die anwesenden Naturschüt­zerInnen von den »Piddingtonschen Nebelbomben« leicht beeindruckbar: Die »globale Krise des Ökosy­stems« sei auch »eine Krise der Industrialisierung und Entwicklung«, notwendig seien »umweltbezogene Interventionen … im System des freien Marktes … bei gemeinsamer Verantwortung für die gegenwärtige Situation«, bei der »kein Staat frei von Schuld« sei, und so weiter und so fort.

Es ist Mode, ob in Washington, Moskau oder Bonn, von den »Menschheitsproblemen« und den »globalen Ökokrisen« zu schwafeln. Natürlich sind die Aus­wirkungen kapitalistischer Produktionsverhältnisse weltweit zu spüren. Aber die Täter haben konkrete Adressen, und die Ursachen sind regional dingfest zu machen. Der kapitalistische Norden zerstört mit FCKW

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die Ozonschicht. Energieverschwendung und Treib­hausklima sind ein Produkt des Nordens. Tier- und Pflanzenarten rotten die kapitalistischen Metropolen aus, so wie sie die tropischen Regenwälder vernichten und 3,5 Millionen Tonnen höchstgefährlichen Giftmüll in den Trikont verfrachten. Sie vernichten Urvöl-ker, zerstören Ethnien und Kulturen, die sie nie verstanden haben. Sie vernichten den Gen-Schatz der Mensch­heit mit dem einzigen Zweck: Profitmaximierung und patriarchale Herrschaft, die diesen Profi t weiter vermehren hilft. Viele Umweltorganisationen wollen sich mit den Tätern nicht anlegen, ob aus Ahnungslo­sigkeit oder Korruption, die Wirkung ist gleichermaßen verheerend: Antiaufklärung und Fehlorientierung des Widerstandes.

Die »globalen Probleme« der Täter-Agenturen wie der Weltbank sind nicht die unseren. Im Gegenteil: Deren Interesse, die Ausbeutung menschlicher und natürlicher Ressourcen zeitlich ein bißchen zu strek­ken, müssen wir bekämpfen, weil damit Herrschaft, Ausbeutung und Vernichtung als Wesensmerkmal des Ökoimperialismus nicht abgeschafft, sondern nur in eine andere Hülle verpackt werden. Die Weltbank ist ein mit allen politischen Mitteln zu bekämpfender Gegner, weil sie Feind von Mensch und Natur ist. Mit ihr gibt es genausowenig einen Pakt zu schließen wie mit dem IWF.

Unser neues, größer werdendes Problem ist die au­ßerordentliche Anpassungsbereitschaft von Teilen der

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Naturschutzbewegung an die Interessen beispielsweise der Weltbank. Statt die kapitalistische Weltwirtschaft und internationale Arbeitsteilung anzugreifen und im Interesse von Mensch und Natur grundsätzlich die Grundlagen imperialistischer Herrschaft in Frage zu stellen, lassen sie sich für Umweltstudien und zu Bera­tungszwecken einkaufen. Sie vergessen ihre Analysen, soweit sie welche hatten, übernehmen Fragestellungen, deren Beantwortung ihnen Beschäftigung verschafft, aber die Ursachen der Probleme bei den Armen sucht. Ihre Arbeit verschafft der Weltbank erhöhte Akzep­tanz und mindert die Widerstandskraft internatio­nalistischer Bewegungen. An der Versklavung von Milliarden von Menschen im ökonomischen Interesse der kapitalistischen Metropolen, im Verbund mit den herrschenden Eliten in den meisten Trikont-Ländern, ändern sie nichts.

Am Rande des Ökologie-Kongresses während der Anti-IWF-Kampagne wäre es beinahe zu einer gemeinsamen Resolution zwischen Weltbank und NaturschützerInnen gekommen. Irgendwem muß die Peinlichkeit noch aufgefallen sein. Aber die Ab­schlußerklärung des Ökokongresses war so rechts, daß die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) den Kongreß als einzige der IWF-Gegenveranstaltungen gegenüber dem »überkommenen Vulgärmarxismus« der anderen Veranstaltungen hochlobte. Biologistische Naturschutzansätze treffen sich mit der FAZ auch im Drang, »Menschenfluten« einzudämmen: In der Bra­

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silien-Resolution des zitierten Ökokongresses wird das Problem der »entwurzelten Umsiedler, (die) nun Amazonien überfl uten« formuliert.243 Das liegt auf der gleichen ideologischen Linie wie der rassistische Sprachgebrauch von der »Asylantenfl ut«. Menschen sind keine Wassermassen, die mit Dämmen bekämpft werden müssen. Wer von Menschen auf diese Weise spricht, macht mörderische Lösungen möglich.

Die Verschuldung des Trikont ist nicht das einzige weltwirtschaftliche Problem, aber das aktuellste und dramatischste. Ohne Lösung der Schuldenkrise gibt es keine Lösung der Probleme der Länder des Trikont. Der erste notwendige Schritt kann nur die vollständige Streichung der Auslandsschulden des Trikont sein. Und dennoch beseitigt die Streichung der Schulden nicht die Strukturen, die die einseitige Abhängigkeit verursacht haben. Die Lage des Trikont beweist das Scheitern des kapitalistischen »Entwicklungs«modells. Das wird auch die Länder in künftige wirtschaftliche Krisen reißen, die sich realsozialistische nannten und den Kapitalismus neu entdecken. Andere Länder, wie Mozambique und Tansania sind inzwischen gezwun­gen, mit dem IWF Verhandlungen aufzunehmen, und Nicaragua trimmte – schon vor den Wahlen von 1990 – seine Wirtschaft auf marktwirtschaftliche Mecha­nismen um.

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Widerstand im Trikont und Perspektiven

Hin und wieder gibt es Regierungen im Trikont, die so unter Druck geraten, daß sie handeln. Die Regierung von Thailand hat nach verheerenden Überschwem­mungen im Herbst 1988, die durch das brachiale Abholzen der Wälder verursacht worden waren, ein vollständiges Abholzverbot erlassen und zusätzlich301

bereits erteilte Holzkonzessionen für ungültig erklärt. Noch Mitte der 50er Jahre bedeckte Wald 66 Prozent der Landoberfläche Thailands. Heute sind es weniger als 14 Prozent.244 Die Menschen sind es gewohnt, am Wald zu leben. Die BewohnerInnen vieler Dörfer im Norden Thailands hatten sich zu wehren begonnen, nachdem sie Jahrzehnte hilflos in- und ausländischen Firmen beim Abholzen wertvoller Bäume zugesehen hatten. Sie bestanden – und bestehen – unbeirrt darauf, auch als ihre Gegner sich mit Mord wehrten, daß sie es sind, die Verantwortung für den Wald tragen. Ihnen gibt der Wald alles, was sie brauchen: Holz für Häuser und Bewässerungskanäle, Nahrung, Klimaschutz, Heilkräuter usw. Als der Protest sich in Thailand ausbreitete, gab die Regierung nach und erkannte die Rechte der Dorfgemeinschaften am Wald an. Die Menschen begannen, sich auch mit der Elektri­zitätspolitik der Regierung auseinanderzusetzen. Der Widerstand gegen die großen Wasserkraftstauseen ist inzwischen in Thailand zu einer nationalen Bewegung

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geworden. »Die stärksten und kreativsten Bewegungen wachsen organisch und demokratisch. Sie basieren auf ihren eigenen Erfahrungen«, schreibt der Thailänder Witoon Permpong-sacharoen, Jurist und Direktor von Project for Ecological Recovery.245

Einer von Tausend wurde nach seinem Tod be­rühmt: Am 22.12.1988 wurde Chico Mendes, 43 Jahre, im Hof seines Hauses in Yaputi im brasilianischen Bundesstaat Acre von bezahlten Killern ermordet. Mendes war Vorsitzender der Landarbeitergewerk­schaft von Yapurim, Mitglied des nationalen Rates der Kautschukzapfer und des Gewerkschaftsdachver­bandes CUT. Noch wenige Tage vor dem Mord hatte er öffentlich auf eine Verschwörung gegen sich hin­gewiesen, hinter der mächtige Drahtzieher vermutet werden: der Großgrundbesitzerverband (UDR), die Drogenmafia und einzelne Mitglieder der Polizei246. Der Klassenkampf von oben kennt keine Grenzen. Nur aufgrund der immensen öffentlichen Aufmerksamkeit wurden die Täter, Vater und Sohn Großgrundbesitzer, inzwischen zu 19 Jahren Gefängnis verurteilt. All die anderen Morde davor und danach bleiben unaufgeklärt und ungestraft.

800 bolivianische IndianerInnen unternahmen im September 1990 einen »Marsch für Boden und Würde«. Sie zogen vom tropischen Tiefland über 600 Kilometer in die 3600 Meter hochgelegene Hauptstadt La Paz und wurden wie Helden empfangen. Hoch­land-Indios versorgten sie mit Kleidern, Nahrung und

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Sauerstoff. Die Marschierenden verlangten die Vertrei­bung von 2 Holzkonzernen aus dem Lebensraum von 10 Indianerstämmen. Ihr Wortführer hatte sich zuerst mit einem allgemeinen Versprechen der Regierung abspeisen lassen. Die Vollversammlung der Indiane­rInnen hingegen drohte mit Hungerstreik, und dem Regierungsbündnis aus Konservativen und Sozialde­mokraten blieb keine andere Wahl, als zuzustimmen, daß am 31.10.1990 der letzte Baum gefällt würde und die Firmen das 1700 Quadratkilometer große Gebiet bis zum 31.12.1990 zu verlassen haben.

Ob die Frauen und Männer vom Volk der Penan im Hochland von Sawarak auf der malaysischen Insel Borneo247 oder die Mapuche in Chile, die Menschen, die sich gegen Ausbeutung und Naturvernichtung im Trikont wehren, tun dies unter extrem unterschiedli­chen Voraussetzungen.

Sie seien »bereit, das Kriegsbeil auszugraben und die Angestellten der großen internationalen Erdöl­gesellschaften zu töten, die ihren tropischen Urwald auf der Suche nach Bodenschätzen zerstören«, drohte Luis Vargas, der Präsident des Bündnisses der Ur­einwohnerInnen des Ecuadorianischen Amazonas (CONFENIAE), 1989 in Kopenhagen.248 Menschen, die Jahrtausende in ihren spezifi schen Lebensgemein­schaften lebten, mußten unter der Bedrohung von außen lernen, sich zu organisieren, ob die Aborigines in Australien oder die Allianz der Amazonas-Völker in Brasilien. Die Allianz z. B. vertritt rund 2 Millionen

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Menschen und hat im Bundesstaat Acre Kandidaten für die Wahlen aufgestellt. Die meisten der »india­nischen« Organisationen Amazoniens haben sich inzwischen von weißer Bevormundung befreit und lassen keine unlegitimierten »Vorzeigeindianer« mehr auf internationalen Konferenzen für sich reden. Sie sprechen für sich selbst. Bei den Amazonientagen in Berlin im Juli 1989 erklärte ein Vertreter der selbst­organisierten TieflandindianerInnen Amazoniens, Evaristo Nugkuag aus Kolumbien, wie die Völker Amazoniens das Regenwaldproblem lösen wollen. Sie forderten erstens »das Landrecht«, sagte er. »Zwei­tens die Kontrolle über alle Projekte der Weltbank, der EG und aller anderen Geber. Vor jedem Projekt wollen sie konsultiert werden. Autonome regionale, nationale und internationale Organisationsstrukturen stehen (sind organisiert; d. A.), die Voraussetzungen zu Kontrollmaßnahmen sind gegeben.«249 Überall auf der Welt kämpfen lohnabhängige Menschen gegen Ar­beitsbedingungen, unter denen sie leiden. Ihre Gegner sind oft Konzerne, die ihre Filialen in Billiglohnländer ausgesiedelt haben. Billiger Lohn geht meist Hand in Hand mit extrem gesundheits- und umweltschädlichen Produktionsbedingungen. In Australien, dem Land der Aborigines und des kriminellen Uranabbaus, streikten die ArbeiterInnen des Hoechst-Werkes in Altona bei Melbourne 13 Wochen lang. 244 Streikende von 524 Beschäftigten wehrten sich gegen die Verwendung der Chemikalie Dichlorbenzidin (DCB), die im Verdacht

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steht, Blasenkrebs zu erzeugen. Der deutsche Konzern behandle Australien »wie ein Land der Dritten Welt«, so der Vorwurf. 75 Arbeiter wurden entlassen, darunter einer, der die Öffentlichkeit über Blasenkrebs, Krebs­zellen im Urin, Hautkrankheiten und offene Blutungen bei der Arbeit informiert habe.250

Die größte Giftgasverbrennungsanlage der Welt liegt auf dem Johnston Atoll, 1300 Kilometer südwestlich von Hawaii. Neben der Flugpiste der verlassenen In­sel lagern 6000 Liter tödliches Nervengas, und in 54 Bunkern 300 000 Giftgasgeschosse. Mehr als genug, um die gesamte Menschheit umzubringen. Zusätz­lich trafen im November 100 000 Granaten aus der Bundesrepublik ein. Entmilitarisierung hier bedeutet Umweltkrieg im Pazifik. Das Atoll liegt teilweise im rechtsfreien Raum. Das ermöglichte den USA schon immer einen besonderen Umgang mit diesem Stück Erde. Wasserstoffbombenexplosion (versehentlich), Explosion einer Atomrakete (versehentlich), bei der sich ein halbes Pfund Plutonium entlud und große Mengen des dioxinhaltigen Agent Orange, das die US-Army in Vietnam gegen Urwald und Mensch ein­gesetzt hatte, in die Umwelt drangen. Der Weltrat der eingeborenen Völker sieht eine »schreckliche Gefahr für die pazifischen Völker«. Seine Vertreter erklären: »Die USA behandeln uns wie Abfall«. Die Regierun­gen von 15 pazifischen Staaten verabschiedeten im August 1990, als die Giftgasgranaten in der Pfalz zum Transport verpackt wurden, eine einstimmige Pro­

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testresolution, der sich nur Australien verschloß. Der australische Premier Hawke (Labour) hielt das Opfer für den Weltfrieden für nicht zu hoch.251

Die Menschen vom Volk der Penan (Borneo) blok­kieren die Straßen gegen die Maschinen der Holzfäller. Sie werden mit nackter Gewalt und Gefängnisstrafen überzogen, dabei leben sie im Freien und wissen meist nicht einmal, was ein Innenraum ist. Die Wut der sanften Menschen wächst. Der eine oder andere über­legt, ob es nicht sinnvoll sein könne, die Waldarbeiter mit dem Blasrohr zu vertreiben.252 Manche von ihnen machen sich auf große Reisen. Häuptling Unga Paran wurde von seinem Volk nach Bangkok, Sydney, Van­couver, Seattle, Genf, Paris und Amsterdam geschickt. Köln in »German« war seine 21. Station. Aus diesem »German« kommen die Motorsägen, die 24 Stunden am Tag den Wald zerstören, von dem die nomadisie­renden Penan leben. In den letzten 20 Jahren fielen 60 Prozent des Regenwaldes den üblichen Todesarten zum Opfer. In 6 Jahren, 1996, wird nach Ansicht von WissenschaftlerInnen der letzte Fleck intakter Natur zerstört sein. Häuptling Paran hoffte, einflußreiche Leute dafür zu gewinnen, der Regierung Malaysias ins Gewissen zu reden. Wenigstens die Empfehlung der Unesco, einen Restwald von 18 000 Quadratkilometer Größe zu erhalten, soll sie befolgen. Die Reise verläuft mit schwachem Echo. Umweltminister Töpfer hält einen Vortrag über seine glorreichen Versuche, den Regenwald zu retten. Sein Gastgeber, ein Verleger,

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läßt Paran in Buchhandlungen Regenwaldbücher per Daumenabdruck signieren. Paran, der zuhause we­gen Blockaden gegen die Holzfäller verurteilt wurde, findet nur vor Kindern offene, uneigennützige Ohren. Betreten schauen die Lehrer der Schule in Betsdorf auf ihren Parkettfußboden, er ist aus Tropenholz wie das Treppengeländer im WDR. Bei seinem Studiotermin begrüßt Unga Paran, entsprechend der Gebräuche der Penan, erst die Zuhörer und hat noch keinen Satz zum Regenwald gesagt, als die Sendung schon vorbei ist. Bei Versammlungen der Penan hat jeder das Wort, so lange, bis er es weitergibt. Paran sagt: »Ich fühle mich wie ein abgenagter Knochen, der in der leeren Hütte zurückgelassen wurde.«253

Auch Kinder kämpfen. Mit Parolen wie »Gebt uns unsere Kindheit zurück!« und »Wir wollen zur Schule gehen und spielen« machten sich Ende September 1990 400 indische Kinder, organisiert in der Koalition für Kinder in Knechtschaft, auf den Weg zum indischen Premierminister, um auf ihre elende Lage aufmerksam zu machen. 55 Millionen indische Kinder unter 14 Jahren müssen arbeiten, dabei gibt es 80 Millionen ar­beitslose Erwachsene. Seit der Iran in den 70er Jahren Kinderarbeit verbot, bringen von Kindern geknüpfte und gewebte Teppiche jährliche Exporteinnahmen in Höhe von 500 Milliarden Dollar. Kinder arbeiten auch in Steinbrüchen, Straßenrestaurants, Ziegeleien, Glas­industrie, Bergwerken, für wenig oder gar kein Geld, oft nur um die Schulden ihrer verarmten Familien ab­

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zutragen und diese vor dem Hungertod zu retten. Eine Millionenschar von Kindern ist krank, unterernährt, ohne jede Perspektive. Die Regierung ist untätig. Sie profitiert von der Kindersklaverei.

Die Arroganz manch eines nördlichen Naturschüt­zers bringt ein ironisch-ernster Vorschlag der brasi­lianischen Zeitung Veja hervor. Die Zeitung ruft ihre LeserInnen auf, eine Bewußtseinskampagne zum Schutz der Natur in der Ersten Welt zu starten. Luftver­giftung durch Verkehr, die Verseuchung der Nordsee, Industrie- und radioaktiver Müll, Öl aus Tankern und Bohrinseln, Chemikalien einschließlich der Pestizide und vieles andere machten zum Schutz der Nordsee, die sonst in 5 Jahren sterben würde, die Gründung einer »Bank für den Schutz der Nordsee notwendig«. Da das Meer für 90 Prozent des Sauerstoffes und Wälder und Urwälder für die restlichen 10 Prozent ver­antwortlich seien, dürfe der Tod der Nordsee nicht so einfach hingenommen werden: »Unsere Pflicht ist es, alle diejenigen, die an der Nordsee leben, darauf auf­merksam zu machen, daß sie unverzüglich den Kampf für die Verbesserung der ökologischen Bedingungen in Europa aufnehmen. Natürlich wird Brasilien bei der Aufgabe, das Bewußtsein der Europäer zu wecken, auf Widerstand stoßen.«254 Ich stelle mir vor, reiche ameri­kanische Urvölker kaufen mit Hilfe ihrer Stiftungen zur Rettung der Natur vor westeuropäischen Eingeborenen die Strände von Sylt, Amrum und St. Peter Ording auf, legen die Industrieproduktion an der Unterelbe vor

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Hamburg, in Wilhelms- und Cuxhaven still, zwingen Kredite auf für umweltfreundliche Produktion, deren Gewinn exportiert wird, während die ausgesperrten TouristInnen, verarmt aufgrund von Steuererhöhun­gen und Sozialhaushaltskürzungen, dem bayrischen Wald den Rest geben. Das alles unter den scharfen Augen von lateinamerikanischen Fernsehanstalten, die ihren geneigten ZuschauerInnen am liebsten melden, wie unglaublich primitiv und uneinsichtig die Urein­wohnerInnen an der norddeutschen Westküste im Umgang mit der Natur sind. Oder mensch stelle sich vor, große Gruppen von lateinamerikanischen Kindern fallen im Sauerland ein, kaufen sich Landtitel für den Wald und starten ein Umwelterziehungsprogramm für die BäuerInnen und WaldarbeiterInnen.

Offizielle Entwicklungshilfe bedeutet üblicherweise die Unterstützung von Herrschaftsverhältnissen, die ein Land für die Interessen des nördlichen Kapitals verfügbar machen. Im Gegenzug für Kredite wird denjenigen Menschen Boden und Wald genommen, die auf und von beiden leben. Wo früher fruchtbarer Boden oder tropischer Regenwald die Menschen er­nährte, wurden diese zerstört, gerodet, abgebrannt, monokultiviert, giftdurchtränkt oder bebaut, um für eine rigorose Exportproduktion genutzt zu werden. Fast alle in diesem Buch geschilderten Beispiele von Naturvernichtung, Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen sind Folgen einer Entwicklung, die stolz »Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse«

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genannt wird. So lobenswert es ist, daß der BUND sich bis heute – im Gegensatz zu WWF und Deutschem Na­turschutzring – ökoimperialen Debt-to-nature swaps verschließt, so bedenklich ist seine Unterschrift unter der »Erklärung von Berlin«, der Abschlußerklärung des Ökoiogiekongresses anläßlich der Anti-IWF-Kam­pagne im Herbst 1988 in Berlin. Kern der Kritik an die­ser Abschlußerklärung ist, daß in ihr die herrschenden Grundlagen für Vernichtung und Elend nicht in Frage gestellt, sondern allenfalls reformiert werden sollen. In Ignoranz der Tatsache, daß die Kreditgeber Profit sehen wollen und daß dies nichts anderes heißt, als daß die Plünderung von Menschen und Natur maximal zu sein hat, wünschen sie sich von der Weltbank, daß sie besser wird: »Gewinn- und Tilgungsraten dürfen nicht die wesentlichsten entscheidenden Faktoren bei Weltbankdarlehen sein.«255 Aber so funktioniert Kapitalismus nun einmal, auch wenn der eine oder die andere das gern verdrängen möchte. Die Weltbank soll mit den Menschen zusammenarbeiten, sagen diese Naturschützer, sie soll die ökologischen Folgen ihrer Projekte erforschen. Sind nicht die in den Ländern des Trikont Betroffenen die besseren ForscherInnen? Die Strukturanpassungsprogramme des IWF sollen für ökologisch und sozial Nützliches eingesetzt werden, sagen bundesdeutsche UmweltschützerInnen. Wie soll das funktionieren? Es sind im Kern Anpassungs­programme an die Struktur kapitalistischer Weltwirt­schaft. Solange die Illusion besteht, der Kapitalismus

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ließe sich zu einer menschen- und naturfreundlichen Produktionsweise zähmen, werden Naturschutzstra­tegien scheitern. Sie haben erst dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie den Kapitalismus in seiner zentralen Logik angreifen.

Bei den Debt-to-nature swaps haben wir gesehen, daß Strategien, die die Rahmenbedingungen nicht sprengen, die die Strukturen der kapitalistischen Weltwirtschaft nicht grundsätzlich in Frage stellen, zu neuen Problemen führen. Würde es den amerika­nischen Urvölkern am Amazonas nützen, wenn die Weltbank nun, scheinbare Reue zeigend, noch enger mit FUNAI kooperiert? Was geschähe denn, wenn die Agenturen des nördlichen Kapitals sich ihre eigenen Umweltverbände finanzieren, die ihnen neue Legitima­tion verschaffen, ohne daß sich am Raubbau etwas Ent­scheidendes ändert? Die konservativen Naturschutz­verbände zeigen sich anfällig für Argumentationslinien der Konzerne. In der zitierten Abschlußerklärung steht auch: »Anwendung der Methoden des Integrierten Pflanzenschutzes und Minderung des Einsatzes von Mineraldüngern.«256 »Integrierter Pflanzenschutz«, in der Erklärung ist »integriert« mit großem »I« ge­schrieben, ist eine feste Begriffl ichkeit der Chemiekon­zerne, die dazu dienen soll, den Einsatz von Bioziden (Pestizide, Fungizide, Insektizide usw.) auf Dauer zu rechtfertigen. »Integriert« ist daran nichts, außer daß die Giftdosen hier und da etwas gesenkt werden sollen, währenddessen steigt die absolute Menge des weltweit

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eingesetzten Giftes. Die Struktur der chemisierten industriellen Agrarwirtschaft wird damit stabilisiert, nicht angezweifelt. Statt an das »Herz« des Kapitals zu appellieren, sollte mensch dessen Logik analysie­ren und angreifen. Und statt sich als Wegbereiter, aus Naivität oder Absicht, der geschickten Public Relations des Chemiekapitals herzugeben, sollte ein Weg zum politischen und strategischen Bündnis mit den ausge­beuteten Menschen im Trikont gesucht werden.

Ökologische Politik ist von sozialer Politik und internationalistischer Verantwortung nicht zu tren­nen. Zwei Beispiele: In Guinea sollen zwei Drittel des Regenwaldes einem sogenannten Forstprojekt zum Opfer fallen, an dem die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) mit 10 Millionen D-Mark betei­ligt ist. Die Weltbank gab zu, daß die ohnehin geplante Abholzung nicht verhindert werden könne, aber einem Forstmanagement unterstellt werden solle. Das Projekt schließt 75 Straßenkilometer und Abfuhrschneisen ein. Während das meiste Geld in die »Bewirtschaftung« des Feuchtwaldes fließt, sind 640 000 US-Dollar zum Schutz der Savannen- und Trockenwaldgebiete vor­gesehen. Dort aber leben Menschen, die um nicht zu verhungern, zum Raubbau am Wald gezwungen sind. Wird ihnen nicht geholfen, wächst der Druck auf den Primärwald noch mehr.257

Das andere Beispiel: Die Bundesrepublik ist beteiligt an einem Fernstraßenprojekt durch den Urwald von Guatemala. Die Zerstörung des Waldes ist die eine

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Seite. Die Indianerin Manuela Martin Saquic, eine Vertreterin der Quiche-Indianer Guatemalas hat die andere Seite öffentlich gemacht: »Das fundamental­ste Recht auf das nackte Leben wurde in Guatemala schon immer, aber in den letzten Jahren in einem Maße verletzt, daß es dafür in der westlichen Hemi­sphäre keinen Vergleich gibt. Die endlose Liste von Massakern durch die guatemaltekische Armee seit 1979 im mittelwestlichen Hochland ist ein Beweis für rassistischen Massenmord. Allein 1981 bis 1985 hat die genannte Institution 175 Massaker verübt, wobei nur solche gezählt sind, denen mindestens zehn, aber auch weit mehr als 500 Menschen zum Opfer gefal­len sind … Um in Guatemala das Recht auf Leben durchzusetzen, muß zuerst die bestialische Praxis, politische Gegner nur deshalb umzubringen, weil sie oppositonell sind, gestoppt werden.« Sie erzählt von verschwundenen Menschen, von Folter, geheimen Gefängnissen, von gewaltsamer Sterilisierung, von Hunderttausenden Ermordeten und Gefolterten, von Flüchtlingen und fährt fort: »In den letzten Jahren waren wir, die Indianervölker, fast immer die Opfer dieser politischen Verbrechen.«258 Trotz intensiver Anstrengung staatlicher und privater Mordkomman­dos – unterstützt von US-Ausrüstung – konnten sich viele UreinwohnerInnen in den Urwald fl üchten und leben dort unter harten Bedingungen. Das Militär will die Urwaldfernstraße zur vollständigen Ausrottung der indianischen Bevölkerung Guatemalas.259 Wer diese

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Straße mitfinanziert, beteiligt sich unter dem Vorwand von Entwicklungshilfe am Völkermord.

Im »Herzen der Bestie«, im neuen alten Deutsch­land zu leben heißt, politische Verantwortung für die Unterstützung des Widerstandes gegen die ökoim­perialen Feldzüge des Kapitalismus zu übernehmen. Wir leben und leiden unter demselben Imperialismus wie die Menschen im Trikont. Sie kämpfen, sofern sie kämpfen, nicht für unsere Interessen, sondern für ihre. Für unsere müssen wir schon selbst einstehen. Unser Ansatzpunkt ist hier. Wir können die Prozesse der Zer­störung in den kapitalistischen Zentren durch Kämpfe um radikale Reformpolitik nur bremsen, solange wir nicht die Macht haben, den Kapitalismus abzuschaf­fen. Was wir brauchen sind soziale Revolutionen, um die Menschen und die Natur zu retten. Was wir nicht brauchen ist Vergeudung politischer Energie in reformistischen Sackgassen. Die Zeit dafür haben wir wirklich nicht mehr. »In seinem Jahresbericht für 1990 warnt das Worldwatch Institute, daß die Menschheit angesichts der beginnenden Öko-Katastrophe und dem Zusammenbruch des sozialen Gefüges in den armen Ländern noch ungefähr 40 Jahre Zeit hat, um egalitäre und für die Welt als Ganze akzeptable Entwicklungs­modelle in die Praxis umzusetzen. Apokalyptisch? Hoffentlich muß diese Frage nie beantwortet werden« schreibt Konrad Ege.260

Zu den Fehlern eines Teils der Internationalismusbe­wegung gehört die naive Glorifizierung von nationalen

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Befreiungsbewegungen und die bittere Enttäuschung, wenn diese Fehler machen. Oft wurde vergessen, daß die Kraft einer solchen Befreiungsbewegung nicht von einem abstrakten Maß an Radikalität abhängt, sondern von der Qualität ihrer Ziele, von ihren politischen Methoden und, unter Umständen, auch von dem Grad an politischer Legitimation bei den Menschen, die die Subjekte von Befreiung sind. Weder die Mystifizierung anderer Ethnien noch das alleinige Setzen auf irgend­welche großen Siege in Befreiungskriegen nützt einer radikalökologischen internationalistischen Politik. Oft sind InternationalistInnen dann auf die nächste Befreiungsbewegung aufgesprungen, bis diese ihre westlichen Erwartungen dann enttäuschte. Der Unter­schied zwischen solch falsch verstandenem und unre­flektiertem Internationalismus und der Situation der meisten politischen Aktiven im Trikont ist, daß letztere sich nicht aussuchen können, ob sie sich wehren.

Widerstand im Trikont hat vielfältige Ausdrucks­formen: Verweigerung, Sabotage oder bewaffneter Kampf, Spontanaufstand, Parteibildung, Revolution, Selbstorganisation von Projekten usw. Der gemeinsa­me Inhalt ist der Widerstand gegen Ausbeutung, Un­terdrückung und Naturvernichtung und für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Internationalistische Politik heißt, die Bedingungen dieser sozialen Kämpfe zu stärken. Einerseits bedeutet das, die Gegner der Masse der Menschen und der Natur im Trikont hier, im eignen Land, zu schwächen. Wenn wir hier Unter­

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drückungstechniken entlarven und Projekte stören, die geeignet sind, Mensch und Natur im Trikont zu gefährden, dann unterstützen wir langfristig auch die Kämpfe der Menschen dort. Die Palette dieser Pro­jekte ist breit: von gen- und bevölkerungstechnischen Vorhaben über den Pharmaexport bis zu den Kreditbe­dingungen der Weltbank. Andererseits heißt interna­tionalistischer Widerstand, daß wir uns mit Menschen und Initiativen im Trikont als bündnisfähig erweisen müssen. Das heißt einerseits, die unterschiedlichen sozialen Verhältnisse und kulturellen Bedingungen kennenzulernen und zu respektieren, und das schließt, nehmen wir diese Aufgabe ernst, politische Auseinan­dersetzungen nicht aus, sondern ein, zum Beispiel über die Rolle von Frauen in Befreiungsbewegungen, über Rassismus oder politische Moral.

Ökoimperialismus, Klasse, Rasse und Geschlecht

»Überlebenssicherung hat nichts mit Eman­zipation zu tun oder mit Mitbestimmen oder gar Mitgestalten. Daß Frauen das Über leben sichern und nicht ihr Wohlbehagen, ihre Entfaltung, ihr Glück, ihr eigenes und das der ihnen lieben Menschen, das ist eine gänzlich aufgezwungene Angelegenheit. Überlebenssicherung ist zunächst einmal

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eine Last, eine schwere Bürde und Zumu­tung, die sich bleischwer über die Hoffnun­gen, Träume und Wünsche an das Leben legt.«

Claudia von Braunmühl261

Der Kapitalismus zerstört nicht nur »die Erde und den Arbeiter« (Marx) sondern in besonderem Maß die Frauen im Trikont: durch Zwangsprostitution, Sex-Tourismus, Frauenhandel und – seltener – pharma­zeutische Experimente, Leihgebärmutterschaft oder die Produktion von Babys für Adoption oder Organ­banken. Es erschwert ihre Lage und ihre Solidarität, daß sie untereinander noch mehrfach gespalten sind: in die Frauen der kapitalistischen Zentren und des Tri­kont einerseits, innerhalb beider Teile der Welt in die Angehörigen der herrschenden und besitzenden Klasse und die der lohnabhängigen oder marginalisierten. Und unter den lohnabhängigen und marginalisierten unterscheiden auch Frauen nach Hautfarbe, Rasse und ethnischer Zugehörigkeit.

Die kapitalistische Weltwirtschaft hat die Bedin­gungen des Lebens der Frauen im Trikont dramatisch verschlechtert. Die Umstellung der Landwirtschaft in Afrika und Asien von der Eigenversorgung (Subsistenz) auf Exportkulturen mit dem Anbau von Baumwolle, Kakao, Kaffee, Tee, Palmöl und Kautschuk ließ selb­ständig arbeitende Frauen und sich autark versor­gende Familien zu lohnabhängigen ArbeiterInnen

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oder Flüchtlingen in den Slums der Städte werden. Dort bilden besonders die Frauen ein außerordentlich zahlreiches und billiges Arbeitskräftepotential: als Lohn- und GelegenheitsarbeiterInnen, Dienstmäd­chen, Küchenhilfen oder Prostituierte.

Ob in Äthiopien oder in Indien: Mit dem brandge­rodeten und abgeholzten Wald verschwanden Früch­te und Pflanzen, Trockenfutter und Brennholz. Das veränderte den Alltag der Frauen vollständig. Um das Notwendigste für die Versorgung ihrer Familien zusammenzutragen, müssen sie immer weitere Wege mit immer schwereren Lasten gehen. Fehlt der nah­rungsreiche Wald und mit ihm das Brennholz, leiden die Menschen unter Mangelernährung. Die Folgen der Verschuldung versuchen die Frauen des Trikont durch lebenslange, gesundheitsschädigende, extreme Mehrarbeit auszugleichen.

Frauen bilden die Mehrheit in der Dutzende von Millionen zählenden weltweiten Reservearmee. Vie-le Frauen arbeiten unbezahlt in der Landwirtschaft, um in der Erntezeit Lohn zu beziehen. Ihr Überleben hängt ab vom Steigen und Fallen der Weltmarktprei­se für die Produkte des Trikont. Bei Auftragsflauten ausländischer Konzerne werden sie zuerst nach Hause geschickt. Die hohe Arbeitslosigkeit setzt die Frauen unter den Druck, sich sexistische Angriffe am Arbeits­platz gefallen zu lassen. Unterernährung, miserable Gesundheits- und Schwangerenbetreuung, die Glori­fizierung der Mutterschaft durch katholische Kirche

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und Regierungen läßt viele Frauen bei Abtreibungen oder bei der Geburt ihrer Kinder sterben.

Manche Regierungen lassen sich Besonderes einfal­len, um die wachsenden Auslandsschulden zu decken. Das Regime Marcos begann mit einem Geschäft, das auch unter Cory Aquino blüht: Tourismus mit der Begleiterscheinung Sextourismus, der Handel mit Frauen und die devisenträchtige Prostitution von Kindern. Frauenorganisationen, die über die Lage von Frauen aufklären und sozialen Widerstand organisie­ren, werden brutal bekämpft, wie das philippinische Frauenbündnis GABRIELA durch die CIA-begleitete, sogenannte Aufstandsbekämpfung der Regierung Aquino. Bürgerwehren und Militär vergewaltigen, foltern und morden engagierte Frauen.

Der Vietnamkrieg hinterließ in Thailand nicht nur Berge von Leichen und ein dioxinverseuchtes Land, sondern auch eine »Vergnügungsindustrie« für 700 000 GIs: Bordelle, Bars, »Massagesalons« usw. Diese Infrastruktur brach nach dem Krieg nicht zu­sammen. Das Angebot, im Urlaub einen Frauenkörper zu kaufen, wurde von der Mafi a der internationalen Sextouristen angenommen. Reiseveranstalter, Me­dien, Werbeagenturen, Fluggesellschaften und die nationalen Oligarchien profitieren vom Geschäft mit Frauenkörpern.

Das Geschäft mit Frauen reicht bis in die Bun­desrepublik. Deutsche Männer füllen nicht nur die »Bumsbomber« – nicht umsonst ein kriegerischer

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Begriff. Auch der Handel mit »Katalogbräuten« ist ein gutes Geschäft. Mit Versprechungen werden Frauen aus den Philippinen, Malaysia und anderswoher aus armen Verhältnissen in die Bundesrepublik verkauft, in eine Ehe gelockt oder zur Prostitution gezwungen. Weil geschlechtsspezifische Verfolgung in der reichen Bundesrepublik kein Asylgrund ist, da steht das real existierende Patriarchat in Politik, Gesetzgebung, Ausländerbehörde und Polizei gegen, können die Frauen erst nach vielen Jahren den Antrag auf ein eigenständiges, vom Mann unabhängiges Aufenthalts­recht stellen.

In Peru versteigern verarmte Bauernfamilien auf »Kindermärkten« ihre Kinder meistbietend. Der Preis von 15 bis 30 D-Mark richtet sich nach dem Alter und der körperlichen Verfassung der Kinder. Das Geld soll das Überleben der Familien sichern.262 Weltweit, so schätzt UNICEF vorsichtig, werden 80 Millionen Kin­der bei Arbeiten aller Art ausgebeutet.263 In Lateiname­rika leben 40 Millionen Kinder auf der Straße. Über die Hälfte der 60 Millionen Kinder und Jugendlichen Brasiliens leben unter der Armutsgrenze.264 Im Norden Brasilien arbeiten 2 Millionen Mädchen zwischen 10 und 15 Jahren: Sie werden zur Prostitution gezwungen und in die Garimpos, die Arbeitsstätten der Männer, verkauft.

25 Prozent der 12 Millionen Mädchen, die jedes Jahr in Indien geboren werden, erleben ihren 15. Ge­burtstag nicht, jedes Jahr sterben 300 000 Mädchen

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mehr als Jungen. Viele werden ermordet, weil sie als minderwertig gegenüber Jungen angesehen werden. Zusätzlich führt die große Zahl der geschlechtsbe­gründeten Abtreibung weiblicher Embryonen zu einer deutlichen demographischen Verschiebung zugunsten der Männer.265

Kolonialismus und Imperialismus nahmen und nehmen den Frauen politische und ökonomische Eigenständigkeit wie in Ghana, dort verloren sie z. B. das Nutzungsrecht über den Boden. Sie zerstören gewachsene soziale Strukturen und Einrichtungen. Frauen sind auf den Arbeitsmärkten der Welt extrem benachteiligt: Ihre Arbeitszeit ist länger, sie werden sexuell erpreßt, am schnellsten gefeuert, haben kaum Zugang zur Qualifizierung – gefangen zwischen Tradi­tion und Verschuldung ohne einen noch so begrenzten Zugang zu ökonomischer Entwicklung. Die traditionel­len patriarchalischen Strukturen der unterschiedlichen Kulturen haben sich längst unaufl öslich mit denen der kapitalistischen Weltwirtschaft verschmolzen. Die Befreiung der Frau kann nur mit der Befreiung von diesen patriarchal-kapitalistischen Herrschaftsstruk­turen gelingen.266

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Epilog: Khalil Sid Mohamed, Westsahara, über Mensch und Natur

Statt von der Kolonialmacht Spanien wie versprochen 1976 in die Unabhängigkeit entlassen zu werden, wur­de die Westsahara, das Land im Nordwesten Afrikas, östlich von den Kanarischen Inseln, das den Sahrauis gehört, 1976 in einem Geheimabkommen von Spanien an Marokko und Mauretanien verschachert. Die ma­rokkanische Armee vertrieb die Menschen, unter Dul­dung der westlichen Welt, mit Bomben und Napalm aus ihrem Land. Marokkanische Soldaten ermordeten ihre Kinder, erschlugen die Flüchtlinge, stachen die Kamele ab, den wertvollsten Besitz des nomadischen Volkes, und vergifteten die wenigen Brunnen in der Wüste. Auch heute dauert der Terror noch an: Im November 1990 veröffentlichte Amnesty International den Verdacht, daß in den letzten 15 Jahren bis zu 800 Sahrauis in Marokko267 verschleppt worden sind, in Geheimgefängnissen gefoltert werden oder ermordet worden sein sollen. Offensichtlich genügt der Verdacht der Mitgliedschaft in der Befreiungsbewegung Frente Polisario gegen ein Familienmitglied, um ganze sahr­auische Familien verschwinden zu lassen.

Heute leben mehr als zweihunderttausend Sahrauis im algerischen Wüstenexil. Sie leben in 4 Zeltstädten, die die Namen der sahrauischen Provinzen tragen: El Ayoune, Dakhla, Smara und Aoussert. Sie bauen mit

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Disziplin und selbstbewußter Würde ihr Projekt eines demokratischen islamischen Staates auf. Der Koran gibt ihnen den Auftrag, sagen sie, eine Gesellschaft zu formen, in der alle die gleichen Rechte haben. Vom Koran leiten sie einen Gleichberechtigungsauftrag für die Frauen ab, der für das private wie für das öffentli­che und politische Leben gilt. Schon organisieren und leiten die Frauen das zivile Leben der Sahrauis und sind in den obersten Führungsspitzen von Staat und der Befreiungsbewegung Frente Polisario vertreten. Schritt für Schritt streben die Frauen die Hälfte der politischen Macht an.

Dieser Teil der Wüste, der die Sahrauis unter 50 Grad Hitze oder unter Eiskälte leiden läßt, hieß früher die Wüste zum Sterben. Alte Menschen kamen hierher, wenn ihr Leben endete. Heute bauen die Sahrauis hier Obst- und Gemüsegärten in Sand, Schotter und Staub. Sie organisieren eine effiziente, gerechte Verteilung der Spenden internationaler Hilfsorganisationen, von denen sie hauptsächlich leben. Sie bilden Jungen und Mädchen in Zeltschulen aus und kämpfen seit 14 Jah­ren einen zähen Kampf gegen Marokko. Die Außenpo­litik des Volkes, das kein fremdes Gesellschaftsmodell übernimmt, sondern gründlich prüft, was taugt, ist so klug, daß sich die Sahrauis sowohl die Unterstützung der UNO als auch die der Vereinigung der afrikanischen Staaten (OAU) sichern konnten. Kaum ein westeuro­päisches Land hilft ihnen im ungleichen Krieg gegen Marokko. Im Gegenteil: Weil die Westsahara reich ist

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an Bodenschätzen wie Phosphat, unterstützen Länder der kapitalistischen Zentren Marokko, um sich ihre Beute an den Ressourcen des besetzten Landes unter den Nagel zu reißen. Wer die Westsahara plündern kann, steht auf der Liste der phosphatbesitzenden Länder ganz oben. Ob Spanien oder Frankreich, ob die USA oder die Bundesrepublik Deutschland: Alle liefern Mordinstrumente für einige Millionen Dollar täglich. Selbstbestimmung ist eben höchstens dann ein Wert, wenn die Profitinteressen der kapitalistischen Zentren nicht berührt sind. Oder gerade dann, wenn sie berührt sind, wie etwa in Kuwait, wo das Öl militärisch vertei­digt wurde und der freie Zugriff des reichen Nordens auf den Süden, nicht etwa die Selbstbestimmung der Menschen in der Region.268

In einer Nacht im Mai 1990 begegnen wir in der Zeltprovinz El Ayoune im Zelt unserer sahrauischen Gastgeberin dem Gouverneur der Provinz Khalil Sid Mohamed. Er war und ist Nomade, Mitglied des Po­litbüros der Befreiungsbewegung Frente Polisario und des Nationalrates der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS), wie die Sahrauis ihren Staat im Exil nennen. Westliche Kultur amüsiert ihn. Er sitzt da im weißen weiten Gewand, ein Tuch um den Kopf gewickelt, das dunkle, spöttische Gesicht im Schatten und sagt:

»Die Entwicklung der Menschheit hat einen solchen Grad erreicht, daß es sogar Gesetze gibt, die Tiere und Wälder schützen. Wir sind Menschen. Wenn es solche

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Rechte für Tiere und Pflanzen gibt, wollen wir auch Rechte für uns haben. Wir töten die Bäume und die Wälder nicht. Die nördlichen Industriestaaten töten sie. Niemand kann ohne Natur leben. Wir als Men­schen sind Teil dieser Umwelt. Und wenn wir also ein Teil dieser Natur sind und wenn die Rechte der Natur verteidigt werden müssen, so müssen auch wir verteidigt werden.«269

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Die Grünen – ohne Zukunft?

Wären die Grünen noch die Partei gewesen, die sie einmal waren, dann hätte der aufbrechende deutsche Nationalismus den Grünen Stimmen, aber nicht den Einzug in den Bundestag gekostet. Die Niederlage der Grünen bei den Bundestagswahlen 1990 ist auch Ausdruck eines selbst verschuldeten Zerfallsprozesses, der etwa 1987 in voller Schärfe begann.

Damals begannen die Realos um Joschka Fischer und Udo Knapp, allen voran der sogenannte Auf­bruch 88 um Antje Vollmer, die politischen Diskussio­nen und Auseinandersetzungen um Programmatik und Perspektiven in einen Kampf um ihre strömungspoli­tische Alleinherrschaft zu verwandeln. Die politischen Themen der Grünen, bei vielen hatten die Grünen bis dahin eine gesellschaftliche Meinungsführerschaft, wurden von Aufbruch und Realos entleert und für den innerparteilichen Machtkampf instrumentalisiert. Dadurch verloren wir an gesellschaftlichem Einfluß. Aber der Aufbruch und die Realos, deren Führungs­figuren größtenteils aus gescheiterten dogmatischen Kaderparteien zu den Grünen kamen, unterschätzten die Verankerung basisdemokratischer Kultur und die bei vielen Mitgliedern in langjähriger Bewegungspraxis gewonnenen Erfahrungen und Positionen. Weder die Position für die sofortige Stillegung aller Atomanlagen (in Ost und West) war erst einmal zu schleifen, noch

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die prinzipielle Gegnerschaft zur Nato und die anti­militaristische Position, auch nicht der praktizierte Internationalismus, auch nicht die Selbstbestimmung der Frauen, die Nichtakzeptanz des staatlichen Ge­waltmonopols, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit durch radikale Arbeitszeitverkürzung, die völlige Ab­lehnung der Müllverbrennung und schon gar nicht die antifaschistische und antikapitalistische soziale und ökologische Grundauffassung der großen Mehrheit der Grünen.

Die mehrheitlich linken Bundesvorstände von 1983 bis 1988270 waren keine einsamen Inseln, die allein und zufällig erfolgreich gegen die Rechten bei den Grünen kämpften, sondern sie waren personeller Ausdruck der politischen Kultur und politischen Programmatik der Grünen. Das offensive Vertreten von Grundsatz­positionen durch diese Bundesvorstände trug zur Identitätsstiftung bei, und sie wurden, stellvertretend für die geschilderten Positionen, für die GegnerInnen alternativen politischen Selbstverständnisses inner­halb und außerhalb der grünen Partei zum zentralen Angriffspunkt. Da allein die inhaltliche Auseinander­setzung den rechten grünen Strömungen keinen Erfolg brachte, die von ihnen geforderte Aufgabe grüner Inhalte – um koalitionsfähig zu werden – auf Bundes­ebene scheiterte, mußten Realos und Aufbruch nun zu anderen Mitteln greifen. Der Angriff gegen den auch in der bürgerlichen Medienöffentlichkeit wirksamen linken Teil der Partei, den Bundesvorstand, als Ver­

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schärfung der Auseinandersetzung mußte her. Antje Vollmer rief in Veröffentlichungen wie in der taz mit: »Boykottiert das Hauptquartier!«, – als Abwandlung des maoistischen: »Bombardiert das Hauptquartier!« –, zur Demontage des Bundesvorstandes auf. Aber der Erfolg winkte erst in Gestalt einer Finanzintrige.

Etwa ab Ende März 1988 wurde von führenden Mitgliedern von Aufbruch und Realos verbreitet, linke Mitglieder des Bundesvorstandes hätten Parteigelder veruntreut, Steuern hinterzogen und sich bereichert. Gemeinsam mit einem großen Teil der halblinken und bürgerlichen Medien, denen der koalitionskritische Bundesvorstand schon lange ein Balken im Auge war, wurde ein mediales Trommelfeuer entfacht. Die de­nunziatorischen Vorwürfe sollten direkt und indirekt – via Medien – in die grünen Partei wirken. Anonyme Briefe erreichten die Medien und anonyme Anzeigen verschiedene Staatsanwaltschaften. Der Bundesvor­stand mußte sich einen großen Teil seiner Zeit damit beschäftigen, über Jahre zurück, Beweise für die eigene Unschuld zu sammeln, Gegendarstellungen durch­zufechten und sich politisch zur Wehr zu setzen. Die rufmörderische Kampagne dauerte volle 8 Monate. Die politischen GegnerInnen von Aufbruch und Realos arbeiteten nicht »mit offenem Visier« (Schatzmeister Hermann Schulz in seiner Begründung für seinen Austritt aus den Grünen), sondern verbargen sich hinter den Gerüchten, die sie selbst produziert hat­ten. Sie traten als die entrüsteten StellvertreterInnen

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einer veröffentlichten Meinung auf, die – von ihnen selbst mit Munition versorgt – ihre machtpolitischen Ziele weitgehend unterstützte. Der Parteibasis sollte die Trennung von diesem Bundesvorstand als der notwendige Befreiungsschlag zur Wiedergewinnung grüner Reputation erscheinen.

Auf der Bundesversammlung im Dezember 1988 ge­wann ein Mißtrauensantrag gegen den Bundesvorstand knapp. Daraufhin trat der Bundesvorstand zurück. Einige Zeit nach Beendigung der Intrige gab ein Kom­mentator in der taz zu, daß es des Mittels der Intrige bedurft habe, um den linken Bundesvorstand zu besei­tigen. Es habe sich um die erfolgreiche Einführung der Intrige in die politische Kultur der Grünen gehandelt. Durch die Vorwürfe tief verletzt und verbittert starb Hermann Schulz, einer der Gründer, geistigen Väter und der Schatzmeister der Grünen am 9. April 1989, viel zu früh, an einem alten Lungenleiden. In der Jak­kentasche des Toten fand seine Frau Ute Dokumente über die Finanzintrige.

Viele der erfolgreichen IntrigantInnen bekleideten nach ihrem Erfolg zentrale Partei- oder Fraktions­positionen. Obgleich Staatsanwälte und Wirtschafts­prüfungsgesellschaften inzwischen alle Vorwürfe widerlegten, dominierte seit Anfang 1989 die grüne Bundestagsfraktion mit ihrer Realo-Aufbruch-Mehr­heit das Erscheinungsbild der Grünen. Wichtiger ist vielleicht noch, daß die Grünen mit dieser Affäre, auch weil sie tabuisiert wird und nicht aufgearbeitet werden

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darf, ihre Integrität verloren.271 Viele aktive Grüne ver­ließen daraufhin angeekelt die Partei und überließen eines der ehemals erfolgreichsten Projekte gegen die herrschende Politik den Parteirechten. Es gab eine entscheidende Verschiebung der Sozialstruktur der Grünen nach rechts. Die Veränderungen in den Grü­nen nutzen Aufbruch und Realos seitdem mit immer neuen Angriffen gegen das bisherige Programm und existierende Strukturen der Grünen. Sie sind ihrem Ziel, ein radikalökologisches Oppositionsprojekt in eine bürgerliche, technokratische Partei zu deformie­ren, sehr nahe gekommen. Die Grünen sind heute eine weitgehend moralisch verschlissene Partei. Ein »Erfolg« dieser Entwicklung ist das Scheitern bei den Bundestagswahlen. An der Verantwortung von Realos und Aufbruch konnten schwache Bundesvorstände mit linken und halblinken Mitgliedern in der Zwischenzeit auch nichts ändern. Die kollektive Erfahrung schien zu lauten: Wer sich der Parteirechten widersetzt, die zwar auf Bundesversammlungen stets nur wenige KandidatInnen für den Bundesvorstand durchsetzen konnte, wird gestürzt. Denn in Wirklichkeit beherr­schen seit dem Winter 1988/89 längst Realos und Aufbruch die Partei. Fischer »regiert« telefonisch in Bundesvorstandssitzungen hinein, und Antje Vollmer und Udo Knapp gelang es beispielsweise in den Ost-West-Verhandlungen, die Fusion der West-Grünen mit den Ost-Grünen zugunsten des Bündnisses 90 vor den Bundestagswahlen zu verschieben.

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Einer der gegenwärtig erfolgreichsten Mythen in der grünen Partei ist das Lamento, die anderen Parteien hätten die Inhalte der Grünen übernommen. Diese Aussage ist antiaufklärerisch, weil sie dazu beiträgt, daß Menschen denken, die anderen Parteien hätten sich gewandelt. Und sie ist unwahr, weil andere Par­teien lediglich grüne Themen, Begriffshülsen verein­nahmten und in der Praxis damit lediglich eine wir­kungslose, umwelttechnokratische Politik zudeckten. Und nicht nur das: Nach dem Ende des Finanzskandals entradikalisierten die Grünen zentrale Politikinhalte und paßten sie der herrschenden Politik an, wie mit der seichten Klimakampagne im Bundestagswahlkampf 1990, die Verursacher wie die chemische Industrie oder die Atomindustrie nicht mehr kannte. Der verloren­gegangene grüne »Maßstab« führte dazu, daß schon bei der Verwendung des Wortes Ökologie, etwa durch die kapitalfreundliche Wachstumspartei SPD, nun fast der Eindruck entsteht, es handele sich bei der SPD um ökologische Politik.

Die Grünen gaben mehrheitlich272 die Meinungs­führerschaft in zentralen politischen Bereichen preis. Die Grünen hatten soziale Forderungen wie die für ein Grundeinkommen für alle in der Diskussion durchge­setzt. Sie hatten antistaatliche Vorstellungen von De­zentralisierung weiterverarbeitet, die ökologische mit der sozialen Frage verbunden, radikaldemokratisch die Entwaffnung des staatlichen Gewaltapparates gefor­dert usw. Und sie hatten ihre (in dieser Gesellschaft)

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radikalen Forderungen oft so verständlich vermittelt, daß sie bei vielen Menschen Unterstützung fanden. Viele Grüne vergaßen, angetrieben von der vermeint­lich grünenfreundlichen Unterstützung vieler bürger­licher Medien in Sachen Regierungsbeteiligung und Finanzintrige, ihre Erfahrung, wie lebensnotwendig vom herrschenden Meinungsapparat unabhängige Strukturen von Gegenöffentlichkeit sind. Übrigens ganz im Gegensatz zu der Zeit der Gründung der Grü­nen und der ersten parlamentarischen Erfolge, die gegen die bürgerlichen Medien (nahezu alle Zeitungen und das Fernsehen) mit eigenständiger Öffentlich­keitsarbeit, von Info-Tischen, über Veranstaltungen, Flugblätter und Briefkasteninformationen, Aktionen, Kampagnen, Demonstrationen bis hin zu alternativen Medien erkämpft wurden. So wurden die Grünen, in doppelter Hinsicht, schwächer und hingen am Tropf der veröffentlichten, herrschenden Meinung.

Es gibt schon seit längerer Zeit Symptome für den Niedergang. Das Engagement grüner Mitglieder für die eigene Partei wurde schwächer. Die Grünen wa­ren nur noch selten eine aktive Bündnispartnerin für andere. Veranstaltungsplakate werden manchmal fast ausschließlich kommerziell geklebt. Über die politische und ästhetische Qualität von Wahlkampfplakaten entscheiden inzwischen Werbeagenturen. Die Grü­nen waren in ihren ersten Jahren ein aktiver Teil der Bewegung, und gleichzeitig agierten sie im etablierten (parlamentarischen) Rahmen. Eine ihrer originären

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politischen Aufgaben war es, diesen Widerspruch nicht zu einer der beiden Seiten hin aufzulösen, sondern auszubauen und als entwicklungsfähigen, lebendigen Bestandteil politischer Kultur zu etablieren. Denn der vermeintliche Widerspruch war in Wirklichkeit ein zentrales Element der politischen Kultur und Stärke der Grünen. Mit deutschem Ordnungssinn und in einer tragischen Fehleinschätzung ihrer eigentlichen sozi­alen Stärke beendeten die Grünen diese dialektische Rolle zugunsten der etablierten Seite ihrer Politik. Die Bewegungspartei zog ihr Standbein aus den Bewegun­gen, verwandelte ihr parlamentarisches Spielbein flugs in ein zweites Standbein, fügte sich mit zwei Beinen in etablierte Strukturen ein, übersah die politischen Spielregeln für linke Opposition und verlor den Bo­den unter den Füßen, als beide parlamentarischen Standbeine einbrachen. Die spießbürgerliche Angst, vielleicht marginalisiert zu werden oder Karriereknicks zu erleiden, war stärker als das politische und intellek­tuelle Vergnügen an und die politische Verantwortung für gesellschaftliche Veränderungen.

Der Kampf gegen Kapital, Staatsparteien und die herrschende Kulturindustrie ist auch der Kampf ge­gen die »Verursacher« von falschem Bewußtsein und um die Köpfe von Menschen. Er hat viele Methoden: Aufklärung, Aktionen, strategisch inszenierte politi­sche Konflikte, die manchmal sogar über das Parla­ment Verbreitung finden können. Die Grünen gaben den Kampf um die Köpfe auf. Etablierte Formen von

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Öffentlichkeitsarbeit, wie parlamentarische Anträge, Presseerklärungen und -konferenzen und Promi-Inter­views wurden langweilig, weil sie erst in Verbindung mit alternativen Politikformen und dem gesellschaft-lichen Einfluß der Grünen Originalität und Bedeutung gewonnen hatten. Indem sie ihre (Beteiligung an) Gegenöffentlichkeit aufgaben, legten die Grünen ihre – weniger gewordenen – Ideen zur Verwertung in fremde Medienhände, Hände, die immer auch von den Interessen einzelner Kapitalfraktionen und Staatspar­teien mehr oder weniger abhängen.

Die Grünen schwächten ihre (Gegen-)Machtbasis, in­dem sie sich vielerorts aus der außerparlamentarischen Basisarbeit herauszogen. (Ich will nicht ausschließen, daß es mancherorts Initiativen auch besser ging, wenn bestimmte Grüne sie verließen). Die Grünen schwäch­ten den sozialen Wiederstand aber auch, indem sie die praktische und ideologische Verantwortung für den politischen Schutz des linksradikalen Widerstands nahezu beendeten. Selbst Minimalanforderungen wie die Anzettelung einer qualifi zierten radikaldemokra­tischen parlamentarischen Auseinandersetzung über die staatsterroristischen Paragraphen 129a und 130a fi elen aus.

Mit ihrer nationalen Anpassung, unter Absingen der Nationalhymne durch einige grüne Bundestags­abgeordnete, verschwand in der öffentlichen Wahr­nehmung die bislang einzige Parlamentsfraktion, die tendenziell internationalistisch orientiert war. Die

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Grünen schlossen sich dem Trend an. Einige rechte Grüne führten sich sogar als TrendsetterInnen auf, und redeten von der »Weltmacht Deutschland« (Antje Voll­mer) oder plädierten, wie Udo Knapp, wenige Tage vor Ölkriegsbeginn am Golf für »Deutsche an die Front«.273

Der Versuch der Grünen war hilflos, das Boot, auf dem sie mit dem nationalen Zeitstrom schwammen, we­nigstens bunt zu bemalen. Bezeichnend war etwa die grüne Wahlkampfparole »Grün ist mehr als schwarz­rot-gold«: die strukturelle Akzeptanz nationaler bis nationalistischer Symbolik, unter Hinzufügung von Farbtupfern. Nur noch eine linke Minderheit in den Grünen versuchte, die eigentliche politische Aufgabe einer radikaldemokratischen, internationalistischen Partei wahrzunehmen, die Ablehnung der »deutschen Einheit« zu begründen und zugleich linke ökologi­sche Perspektiven, bezogen auf die veränderte Lage, zu entwickeln. Diese Minderheit wurde hoffnungslos marginalisiert. Die überwiegende Mehrheit der Grünen hing längst in Menschentrauben auf den Trittbrettern des fahrenden Zugs, nicht unbedingt glücklich, aber vermeintlich ohne Alternative. Die Zustände innerhalb der Grünen erlaubten den bürgerlichen Medien, diese linke Minderheit weitgehend zu ignorieren. Damit gab es im Parlament keine Identifi kationsmöglichkeit für linke und liberale EinheitsgegnerInnen in der Gesell­schaft mehr, die mehr als ein Viertel der Bevölkerung ausmachten. Die Oppositionsrolle wurde freiwillig aufgegeben.

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Die Grünen verkannten, daß sie nicht um Wäh­lerInnen der CDU zu werben hatten, sondern daß es ihre wichtigste Aufgabe gewesen wäre, lautstarke Hoffnungsträgerin und Bündnispartnerin derjenigen Menschen zu sein, die die Entwicklung zur imperialen deutschen Weltmacht ablehnten, so verloren sie wei­ter an politischer Bedeutung. Sie waren weder willens noch fähig, dem Prozeß der Rechtsentwicklung und des aufblühenden Nationalismus politischen Druck, Aufklärung und Gegenöffentlichkeit entgegenzuset­zen. Die einzig wirklich gute Aktion im Bundestags­wahlkampf 1990 war der Aufruf zur Desertation an Bundeswehrsoldaten im Falle ihres Einsatzes an den Golf. Die Glaubwürdigkeit dieser Aktion litt allerdings durch öffentliche Stellungnahmen aus grünen Funk­tionärskreisen, die sich bei der Staatsanwaltschaft für die Wahlkampfunterstützung bedankten und damit in die Gesellschaft die Nichternsthaftigkeit dieser Aktion durch die Instrumentalisierung für den Stimmenfang signalisierten.

Die Grünen verloren 600 000 WählerInnen an die SPD, 270 000 ehemalige GrünwählerInnen wählten überhaupt nicht mehr. Beide Zahlen benennen Men­schen, die bei den letzten Bundestagswahlen 1987 grün wählten, als die Grünen noch eine lebhaft diskutierende, weitgehend linksprofilierte kampagnenfreudige Partei waren. Auf StammwählerInnen, in ihrer Zusammenset­zung eher links oder zumindest radikal an bestimmten Themen (Ökologie, Feminismus, Sozialpolitik, Antimi­

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litarismus, Demokratie usw.) und an alternativer politi­scher Kultur und Moral interessiert, zu verzichten, um schwer berechenbarer WechselwählerInnen willen, ist leichtsinnig. Der weitaus größte Teil der NichtwählerIn­nen waren StammwählerInnen. Arbeitsloseninitiativen und linksoppositionelle GewerkschafterInnen fanden kaum politische Arbeit gegen soziales Elend und für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Lohnabhän­gige, aber dafür die Bereitschaft, ImmigrantInnenquo­ten zu beschränken. HausbesetzerInnen erlebten eine AL Berlin (West), die nicht den bürgerkriegsähnlichen Polizeieinsatz in der Mainzer Straße in Berlin geißelte, sondern sich beleidigt bei der SPD beklagte, nicht rich­tig informiert gewesen zu sein. Radikale ÖkologInnen fanden den Spruch »Alle reden von Deutschland, wir sprechen von Klima« läppisch. Gegen Großdeutschland auf die Straße zu gehen und zugleich aus ökologischen und sozialen Gründen die Enteignung und Vergesell­schaftung von Chemiekonzernen wie Hoechst, Bayer oder BASF (IG Farben Nachfolgeorganisationen) zu fordern oder wenigstens die Gegner klar zu benennen, wäre radikalökologische Politik gewesen. Statt dessen fuhr ein Klimazug durchs Land, ertönte Sambamusik und stand eine Klimaausstellung auf wackligen Stän­dern. Auch FeministInnen sahen für ihre Positionen in den Grünen immer weniger Raum. Nicht nur die ersatzlose Streichung des § 218 ist bei den Grünen hef­tig umstritten, auch die Mindestquotierung für Frauen wird in Frage gestellt.

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WechselwählerInnen haben unterschiedliche, und oft außerhalb der Grünen liegende Motive, die Grünen zu wählen. Es gibt linkssozialdemokratische Gewerk­schafterInnen, die lieber das Original wählen, wenn eine linke soziale und ökologische Alternative zur SPD nicht erkennbar ist. Auch diese WählerInnen können selbstverständlich nicht durch maximale Anpassungs­leistung an die SPD wieder gewonnen werden. Warum sollten sie eine kleine sozialtechnokratische Kopie der SPD wählen? Andere WechselwählerInnen wählen die Grünen, so wie sie eine erfolgreiche Aktie erwerben, und wechseln bei einer anderen Wahl problemlos zu Genschers FDP-»Aktie«, sofern diese im Trend der Cocktailbars liegt. Wieder andere, die taktischen sozial­demokratischen Rosa-Grün-AnhängerInnen, wählten die Grünen als Mehrheitsbeschaffer für ihre SPD und wählen die Grünen nicht mehr, wenn Rosa-Grün keine Konjunktur mehr hat.

Eigentlich hätten die Grünen die besten Vorausset­zungen für antinationalistische, linke Oppositionspo­litik gegenüber dem »Vereinigungsprozeß« gehabt. Sie wurden zu Recht nie mit sogenannter realsoziali­stischer Politik identifiziert. Sie hätten also als ökolo­gische, radikaldemokratische und feministische Linke das Scheitern bürokratischer Kommandowirtschaft unbeschadet überstehen können. Die Grünen hat­ten ursprünglich die Strategie der Emanzipation der Menschen aus Fremdbestimmung in selbstbestimmte Lebens- und Arbeitsformen und sie waren führend in

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der Entwicklung politischer Konzepte der Dezentrali­sierung, Enthierarchisierung und Vergesellschaftung. Das wäre ihre Chance gewesen, in ein gesellschaftliches Sinnloch hinein Orientierung anzubieten und dem modernisierten Nationalismus ein emanzipatorisch­befreiendes Projekt gegenüber zu stellen. Statt dessen werden die Grünen zur 4. deutschen Staatspartei. Aus ihrem Scheitern zogen die Grünen mehrheitlich, einige in Panik, andere wohlüberlegt, die Schlußfol­gerung, den beschrittenen Weg in die Etablierung zur deutschen Normalpartei noch weiterzugehen. Wo doch selbst eine nur radikal-reformerische Politik zur Durchsetzung ihrer Inhalte Unabhängigkeit von Staatsmedien braucht, um den politischen Kampf zu organisieren und soziales Lernen zu ermöglichen.

Die konjunkturelle Abhängigkeit führte zur Aufgabe jeglicher strategischer Planungen eines Kampfes gegen den grenzenlosen Wachstumskurs von Kapital, Regie­rung und Staatsparteien (CDU/CSU/SPD/FDP). Der Preis war Kampagnen- und Handlungsunfähigkeit, die Aufgabe eines gesellschaftlichen Gegenkonzeptes, Aus­trocknung der Sachthemen zur technokratisch-parla­mentarisch zubereiteten Flickschusterei, Ausrichten der Partei auf die vorgegebenen parlamentarischen Themen und Formen, alle zugunsten eines fast ausschließlich noch durch die Medien, – der zumindest tendenziellen politischen Gegner –, vermittelten Politik.

Aber die objektiven Bedingungen vermischten sich auf das ungünstigste mit den subjektiven. Zu viele

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führende Aufbruch- und Realo-FunktionärInnen gehörten in den 70er Jahren dogmatischen linken Splittergruppen an, verarbeiteten ihre Erfahrungen und ihr Scheitern nicht, nahmen nicht an den eman­zipatorischen Bewegungen der 70er Jahre teil oder bekämpften diese sogar und gehören heute zum Milieu der rechtsliberalen ZynikerInnen, die ihre Erfahrung permanenten Scheiterns zum Konzept des totalen Mitmachens rationalisieren. Zwei Tage nach der verlorenen Bundestagswahl wurde ein altes, vielen verborgen gebliebenes, Bündnis völlig offen demon­striert. Antje Vollmer und Joschka Fischer verkünde­ten auf einer Pressekonferenz am 4. Dezember 1990 ihre Marschroute. Die inhaltliche Krise der Grünen soll mit sogenannten Strukturreformen beantwortet werden. Die Niederlage nutzend, wird nun auch noch den Resten emanzipatorischer politischer Kultur der Kampf angesagt.

Eine »marktwirtschaftliche«, das heißt den Ka­pitalismus als Rahmenbedingung akzeptierende umwelt technokratische, bürgerliche Partei braucht ordentliche, zentralistische, berechenbare Strukturen. Das Erlernen politischer Funktionen würde beendet (endgültige Abschaffung selbst der 4- und 8-Jahres-Rotation). Über grüne Politik in den Parlamenten sollen nur noch die ParlamentarierInnen entscheiden (Abschaffung des imperativen Mandats). Jetzige Land­tagsabgeordnete und Bundestagsabgeordnete sollen, damit es keine störenden Widersprüche zwischen

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den Fraktionen und der Partei mehr gibt, zugleich Vorstandsmitglieder sein können; die Zahl der »Füh­rungskräfte« würde kleiner, zentrale Funktionen lägen in der Hand von wenigen (Abschaffung der Trennung von Amt und Mandat), die zudem nicht mehr rotieren müssen. Die Partei würde endgültig der Logik der par­lamentarischen Arbeit unterworfen werden. Aus der alten Forderung egalitärer und am durchschnittlichen Facharbeiterlohn orientierten Gehälter und Diäten würden endgültig Spitzeneinkommen für wenige, die weder zu wesentlichen Diätenabführungen noch zu gläsernen Taschen verpfl ichtet wären.

Die Partei soll 1994 mit zwei »SpitzenkandidatIn­nen« in den nächsten Bundestagswahlkampf gehen. Nur noch ein oder zwei Parteivorsitzende sollen die Partei »führen«. Der Bundeshauptausschuß (BHA), das höchste Gremium zwischen den Bundesversamm­lungen, soll faktisch abgeschafft werden. Dieser BHA bestand bisher aus 2 bis 5 BasisvertreterInnen je Lan desverband, gewählt von Landesversammlungen. Das waren meistens Menschen, die an der Basis oder in thematischen Bundesarbeitsgemeinschaften aktiv waren und die weder ein Bundestagsmandat noch ein Parteiamt auf Bundesebene haben durften, statt dessen soll nun ein »Parteirat« oder ein »Länderbeirat« aus VertreterInnen der Landesvorstände und Landtags­fraktionen sowie Mitglieder einer möglichen künftigen Bundestagsfraktion dem Bundesvorstand »an die Seite« gestellt werden. Basismitglieder sind in den

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Vorschlägen der Parteirechten nicht mehr vorgesehen. Der Bundesvorstand würde mit diesen Vorschlägen zu­gunsten der parlamentarischen Fraktionen auf Landes­und Bundesebene politisch ausgehebelt. Noch mehr Funktionen würden in der Hand von immer weniger (hauptsächlich parlamentarischen) FunktionärInnen liegen. Dieses zentralistische »Strukturdeformierungs­modell« ist ein Schlag ins Gesicht einer aktiven Basis. Es ist der Versuch, die Basis auch formell endgültig zu­gun-sten eines hierarchisch ausgerichteten Parteimo­dells auszuschalten. Es ist die Abschottungspolitik einer Führungsclique, die sich dann, nach endgültiger Abschaffung der Rotation, die Macht in den Grünen auf Dauer untereinander aufteilen kann.

Diese sogenannte Reformierung der Partei wäre ein reaktionärer Rückfall in verschiedenartige Modelle linker Kaderparteien der 60er und 70er Jahre. Es hie­ße dann nicht Zentralkomitee, sondern Parteirat. Es würde ein Zwei-Klassen-Bundesvorstand geschaffen, dessen 1. Klasse mit den Rechten eines Politbüros und Generalsekretärs ausgestattet wäre. Einige Funktio­närInnen werden offensichtlich von ihrer Vergangen­heit wieder eingeholt. Dieses antiemanzipatorische hierarchische Organisationsmodell kannten lenini­stische oder stalinistische Kader allzu gut. Die, die früher autoritäre Strukturen vielleicht sogar erlitten, wurden nicht wirklich basisdemokratisch, sondern warteten, bis sie selbst in autoritären Strukturen die Macht ergreifen können. Wir finden hier im Kern die

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Entmündigung der Basis und die Abschottung einer abgehobenen Funktionselite, wie wir sie auch bei den deutschen Gewerkschaften und der Sozialdemokratie so schätzen. Für CDU und FDP gehören herrschende Apparate zum Wesen ihrer Politik. Für linke Politik galt der Anspruch, an die eigenen Strukturen den Maßstab der Selbstbestimmung und Emanzipation anzulegen. Aber die organisatorische Realität ähnelte häufi g der der rechten Gegner.

Ist die Partei erst einmal in der Hand einer klei­nen, fest umrissenen Clique, die neue Leute nach Geschmack kooptiert, ist die Parteibasis, mehr noch als heute, auf die Rolle von StatistInnen zurückge­worfen. Über den sogenannten grünen Streit, also die öffentlichen zentralen strategischen und inhalt­lichen Auseinandersetzungen, wurde innerhalb der Grünen Transparenz geschaffen. Die wird es, außer in extremen Konfliktfällen, systematisch nicht mehr geben. Die grüne Basis wird strukturell nicht mehr in der Lage sein, zu wissen, was sich hinter den Bonner – oder Berliner – Kulissen wirklich abspielt. Sie wird ihre Informationen über die Presse erhalten und auf Parteitagen eingenebelt werden. Es ist zu befürchten, daß ein großer Teil der grünen Basis diese Entwicklung anfangs noch begrüßen wird. Endlich bleibt ihnen die lästige Fragerei von NachbarInnen und KollegInnen erspart, warum sich denn die Grünen immer »strei­ten« müssen. Endlich herrscht Friedhofsruhe in der Partei. Dabei verdeckt dieses durch die herrschende

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öffentliche Meinung produzierte antiaufklärerische Stereotyp vom »grünen Streit«, daß es genau die po­litischen Auseinandersetzungen innerhalb der Grünen waren, in denen viele Menschen ihre eigenen Überle­gungen und Auseinandersetzungen wiedererkannten und die so zur Meinungsbildung und zur Veränderung gesellschaftlichen Bewußtseins beitrugen. Der Versuch großer Teile der Medien, die ja nur Interessentrans­porteure der herrschenden Eliten sind, den Grünen zu schaden, gelang erst, als sie es unterließen, die Themen des grünen Streites zu transportieren. Streit, bei dem Menschen nicht erkennen, worum es geht, stößt ab.

Die realpolitische-aufbrecherische Offensive zur brachialen Umwandlung der Grünen in eine wirkungs­lose deutsche Normalpartei hat Aussicht auf Erfolg. Das Bewußtsein innerhalb der Grünen ist vielerorts, besonders da, wo die Grünen in Koalitionen regieren, geprägt von Perspektivelosigkeit und der sehr direkten Abhängigkeit von grünen oder rosagrünen Jobs. Die panischen Reaktionen innerhalb der Grünen haben ihre Ursache in dem bundesweiten Absturz der rosa­grünen Option in der WählerInnensympathie. Die Grü­nen haben als gesamtes Projekt keine Perspektive mehr jenseits des Mitmachens – im Zeitgeist-Slang heißt das »Gestalten« – und Mitregierens. Und nur wenige grüne Mitglieder in führenden Ämtern und Mandaten haben auch außerhalb dieses beschränkten rosa-grü­nen Politikansatzes persönliche Perspektiven und sind unabhängig. Mit dem nur scheinbar einleuchtenden

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Argument der Finanzknappheit durch die Wahlnieder­lage werden unabhängig von Parteibeschlüssen Fakten geschaffen. Parteiangestellte, die Aufbruch und Realos politisch mißfallen, sollen entlassen oder hinausge­ekelt werden. Noch im Dezember 1990 warf Eberhard Walde, jahrelanger, von einer Bundesversammlung bestätigter Bundesgeschäftsführer, das Handtuch. Er ließ sich auf einen sogenannten Auflösungsvertrag ein, entnervt von Schmutzkampagnen, Intrigen und Diffamierungen. Wohl wissend, daß sie in einer of­fenen Auseinandersetzung scheitern würden, hatten bislang weder Fischer noch Vollmer gewagt, auf einer Bundesversammlung, einen Mißtrauensantrag gegen Walde zu stellen.

Seit Gründung der Grünen war Maßstab der Zu­sammenarbeit mit anderen politischen Gruppen, ob es inhaltliche Punkte der Übereinstimmung gibt. Von denen, die sich seit Jahren in engste Kooperationen mit der SPD stürzen, wird denen, die gegen die Ver­teufelung der PDS und für eine inhaltliche Auseinan­dersetzung mit dieser Partei argumentieren, mit anti­kommunistischer Hetze geantwortet. Auf der anderen Seite trat Antje Vollmer zum Beispiel im Landtags­wahlkampf 1990 in Brandenburg für das Neue Forum – und damit gegen die Grünen – auf. Antje Vollmers politische FreundInnen sitzen nun in einer Ampelkoa­lition mit SPD und FDP. Die Grünen in Brandenburg scheiterten knapp an der 5-Prozent-Hürde. Bei einer Fernsehdiskussion im November 1990 lobt Minister­

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präsident Stolpe seine JuniorpartnerInnen vom Bünd­nis 90 wohlwollend für ihre Bereitschaft, dem Ausbau eines Großflughafens, dem vierten Berliner Flughafen, zuzustimmen. Ökologische Politik? Noch 1989 hatte Ralf Fücks, ebenfalls Gruppe Aufbruch und damals Bundesvorstandssprecher, beharrlich abgelehnt, sich von der rechten Spalterorganisation »Grünes Forum« in Hamburg zu distanzieren. Er unterstützt damit ob­jektiv eine Partei, die in parlamentarischer Konkurrenz zum offiziellen grünen Landesverband GAL Hamburg steht. Das Grüne Forum warb inzwischen damit, daß sowohl Joschka Fischer als auch Antje Vollmer und Udo Knapp als GastrednerInnen im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf im Mai 1991 für das Grüne Forum und gegen die GAL, den letzten linken grünen Landesverband (West), auftreten werden. Diese Mel­dung war kein Anstoß für irgendeine energische Kritik von Seiten irgendwelcher grüner Parteigremien.

Alles zusammen betrachtet: Hätte sich eine gegneri­sche politische Partei ein Konzept zur Zerstörung der Grünen ausgedacht, es könnte nicht effektiver umge­setzt werden: Inhaltsleerer Streit wird inszeniert, die sozialen Bewegungen vor den Kopf gestoßen, zentrale ökologische und politische Positionen aufgegeben, die Partei von innen moralisch zersetzt, das politische Spektrum nach rechts eingeengt. Otto Schily verließ die Partei, als seine realpolitische Strömung sich be­reits mehrheitlich durchgesetzt hatte. Er war lediglich beleidigt, daß er kein drittes Mal für den Bundestag

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aufgestellt worden war. Einige andere AufbrecherIn­nen und Realos/as werden folgen, wenn sie sich gegen alle Erwartungen nicht vollständig durchsetzen oder die von ihnen demontierte grüne Partei ihnen keine sicheren Erfolgsaussichten mehr zu bieten hat.

Die Hardliner-Realos um Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit hofften bei den hessischen Land­tagswahlen am 20. Januar 1991 auf Mitleidsstimmen. Das bessere Ergebnis sollte belegen, daß das Pleite­modell Rosa-Grün der allein seligmachende Weg für die Grünen ist. Aber jeder grüne Landesverband, der so kurz nach den Bundestagswählen kandidiert hätte, hätte jene Mitleidsstimmen erhalten, bis hin zum linken Landesverband GAL Hamburg. Eine Woche nach der gescheiterten Bundestagswahl beschloß die realpolitische Mehrheit der Grünen-Hessen auf einer Landesversammlung, trotz bevorstehenden finanzi­ellen Bankrotts, einen großen Geldbetrag für die in­haltsleere Personalisierung grüner Politik auszugeben. Der hessische Ökofond wurde kalt enteignet, die hes­sischen Initiativen können in die Röhre schauen, aber erstmalig werben Plakate mit Portraits von Joschka Fischer (Landeslistenplatz 2) und von Iris Blaul (Lan­deslistenplatz 1) für die Grünen-Hessen. Zur zentralen Frankfurter Wahlkampfauftaktveranstaltung im De­zember 1990, dem ersten Ereignis im Rahmen dieses Konzeptes mit Joschka Fischer, kamen nicht einmal 200 Menschen. Wenn Plakate wie das beliebteste grüne Wahlplakat: »Wir haben die Erde von unseren

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Kindern nur geborgt« angeblich die WählerInnen nicht mehr ansprechen, warum sollten es dann Gesichter? Selbstverständlich werden Positionen von Menschen vermittelt und in die öffentliche Diskussion transpor­tiert. Zu unterstellen, das sei je fraglich gewesen, ist blanke Polemik. Aber damit Menschen, Positionen vermittelnd, an die Öffentlichkeit treten, müssen erst einmal radikalökologische, soziale, feministische und internationalistische Positionen klar sein, sonst gibt es nichts zu vermitteln. Eine Partei, zumal eine grün­alternative, die Inhalte durch immer weniger zentrali­sierte Monopolgesichter ersetzt, überzeugt nicht mehr, sie verkümmert.

Es ist für die weitere Entwicklung der Bundes­republik Deutschland uninteressant, ob es einer neoliberalen, etablierten kleinen Partei gelingt, hier oder dort in ein Parlament zu kommen. Weil es unser politisches Ziel ist, dieser nach innen wie außen bru­talen deutschen Großmacht soviel soziale Opposition entgegenzusetzen wie möglich, um zu leben, aus so­zialer wie internationalistischer Verantwortung und um zu verändern, dann sind diese Grünen in Zukunft für ein solch umfassendes politisches Konzept ohne größere Bedeutung. Die Grünen werden hie und da ihre Korruptionsskandale haben, sie werden sich ge­gen noch rechtere Unterwanderungsversuche wehren müssen. Wir werden die eine oder andere gute Rede aus einem Landtag hören können, oder auch nicht, aber mehr nicht. Die Arbeit für die Veränderung des

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politischen Klimas im Land, für die Existenz eines bunten, stabilen Widerstandsmilieus, gegen Verein­zelung und Isolierung und für die Entwicklung von Konzepten in Richtung unserer konkreten Utopie einer herrschaftsfreien, solidarischen, ökologischen Zukunftsgesellschaft, bleibt allein bei den Menschen außerhalb der Grünen.

Die Grünen waren keine im klassischen Sinn linke Partei, sondern ein Bündnis von Menschen aus der Anti-AKW-Bewegung und zum geringeren Teil aus anderen sozialen Bewegungen wie etwa der Frauenbe­wegung. Es kamen KommunistInnen, SozialistInnen, AnthroposophInnen, ChristInnen, Linksliberale, Femi­nistInnen, Wertkonservative usw. Dieses Bündnis bot lange Zeit hindurch einen breiten Raum für radikalöko­logische, feministische, soziale, internationalistische, basisdemokratische, also im weitesten Sinne linke Po­litik, und zwar in einem Maße, wie es bei traditionellen linken Gruppen in dieser Themenbreite nicht gab. Es war zum Beispiel, bei aller Bündnisbreite, über einen langen Zeitraum hinweg Konsens, daß die Grünen sich als eine antikapitalistische Partei verstehen und auch keine Koalition mit Wachstumsparteien eingehen. Dies läßt sich in noch gültigen Programmen nachlesen, die jetzt einer »Modernisierung« und »Überarbeitung« unterzogen werden sollen.

Eine grüne Politik, die sich nur auf der Ebene von Erscheinungen bewegt, weil die Auseinandersetzung mit den Ursachen der Verhältnisse koalitionsgefähr­

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dend sein könnte, macht keine radikale Reformpolitik, sondern ersäuft in dumpfestem und wirkungslosem Reformismus. Politische Ökologie wird entleert zu irgendeiner Umwelttechnokratie. Damit endet der politische Kampf gegen die gemeinsame Ursache von sozialer Verelendung und Naturvernichtung, den Kapitalismus mit seiner auf Profitmaximierung ausgerichteten Wirtschaftsordnung. Die Grünen ver­kommen zu einer verwechselbar schäbigen Kopie von SPD und FDP.

Über einen längeren Zeitraum war es den Grünen gelungen, verschiedene politische Bereiche program­matisch zusammenzuführen, die in der bundesrepu­blikanischen linken Opposition bis dahin getrennt waren. Traditionelle Linke setzten sich mit Natur­schützerInnen auseinander. Die Position »Ökologie vor Ökonomie« mußte gegen einige Linke wie gegen Bürgerliche durchgesetzt werden. Etliche Naturschüt­zerInnen verstanden vom Selbstbestimmungsrecht der Frauen sowenig wie manche FeministInnen von radikaler Ökologie. Es gab relativ breiten Raum für die notwendigen politischen Auseinandersetzungen, und so konnten sich oppositionelle Positionen auf relativ hohem Niveau weiterentwickeln. Die Grünen bestimm­ten für einige Zeit auf etlichen Themenfeldern, gerade wegen ihrer öffentlichen und organisierten inhaltlichen Auseinandersetzungen, die Themen, Fragestellungen und die Richtung der gesellschaftlichen Diskussion. Zu den unbestreitbaren Erfolgen der Grünen gehört, daß

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es ihnen besser als vielen linken Gruppen gelang, op­positionelle, auch radikal-linke Positionen mit Worten, in Bildern und Aktionen zu popularisieren.

Viel von der Kritik, die den Grünen heute berechtig­terweise von links vorgehalten wird, richtet sich gegen die Abschaffung basisdemokratischer Strukturen, die innerhalb der Linken vor den Grünen beileibe kein Konsens waren: die Rotation, die Mindestquotierung für Frauen in Gremien, Fraktionen und auf Redelisten, systematischer Minderheitenschutz in Gremien und in Programmfragen, Konsensregelungen statt formaler Abstimmungsmehrheiten, Trennung von Amt und Mandat, Diätenabgabe und Finanzierung von Öko­fonds, das imperative Mandat usw. Es widersprach unserem Verständnis von politischer Kultur – außer in Extremfällen, etwa wenn wir auf Rechtsradikale stießen –, administrative Maßnahmen durchzusetzen, wenn wir uns nicht einigten. Über einige Jahre hinweg gab es, trotz aller Schwierigkeiten, eine tragfähige Struktur von Konsens und Vielfalt und mehr Raum zum Lernen, als heute von grünen Bundesfunktionä­rInnen gewährt wird.

Wir leben in einer Zeit, in der die politischen Kräfte neu sortiert werden. Die Bundesrepublik Deutschland hat in der Vereinnahmung der DDR einen großen Schritt nach rechts gemacht. Links von den Grünen entstand ein politisches Vakuum – ohne den Autono­men damit auf die Füße treten zu wollen –, auch weil die Grünen politische Positionen freiwillig räumten.

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Vor einem Jahr, Anfang 1990, hatte ich eine kleine Hoffnung, daß Anregungen aus der DDR-Opposition den Grünen einen basisdemokratischen Tritt nach links und an die Basis geben würden. Es ist das Ge­genteil eingetreten. Diejenigen, die den Spaltungskurs betreiben, erhalten von der Bundestagsgruppe Bünd­nis 90/Die Grünen mehrheitlich Unterstützung bei der Bekämpfung der Linken in den Bewegungen und in den Grünen. Die Mehrheit der Bundestagsgruppe Bündnis 90/Grüne erweist sich als Brückenkopf in den Spaltungsplänen der Gruppe Aufbruch. Noch vor den Bundestagswahlen 1990 sagte Konrad Weiß in einem Interview274 deutlich, wessen Geistes Kind er ist: »Ich würde mir folgende Entwicklung vorstellen wollen, … daß es eine alternative linke Partei und eine alternative wertkonservative Partei gibt, die sich aus den Grünen heraus entwickeln könnte, zusammen mit den Bürgerbewegungen. … Wir – Demokratie jetzt – könnten beispielsweise mit den Aufbruch-Leuten hervorragend zusammengehen, vom christlichen An­satz unserer Politik her; wir würden sicher auch eine Reihe von Wählern von der CDU abziehen können, wenn man das äußere Erscheinungsbild der Grünen ändert … Auf jeden Fall sind das Überlegungen, die wir anstellen, die man aber vor den Wahlen natürlich nicht praktizieren kann; dazu ist die Zeit einfach zu kurz. Wir hätten es wahrscheinlich gemacht, wenn die Zeit ausgereicht hätte. Das ist eine Sache für die nächste Legislaturperiode, und ich vermute, daß es so

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eine Entwicklung geben könnte. Ich fände das nicht schlecht, einfach damit dieses furchtbar breite Spek­trum der Grünen, was die politische Arbeit sehr schwer macht, doch ein bißchen eingeengt würde und der Ansatz der Bürgerbewegung, der bürgernahe Ansatz, wieder viel stärker zum Tragen käme.« Konrad Weiß war es auch, der öffentlich kundtat, daß er sich Kurt Biedenkopf (CDU-Ministerpräsident in Sachsen) und Rita Süßmuth (CDU-Bundestagspräsidentin) näher fühle als den Linken. Weiß formulierte lediglich eine Spaltungslinie, die von den WortführerInnen des Aufbruchs, Antje Vollmer und Ralf Fücks, auf einer Bundesversammlung im Frühjahr 1990 zum Antrag erhoben worden war und vorerst scheiterte.

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Die »Jahrhundertchance« rosa-grüne Koaliti­on: ein Pleitemodell

»Die Hoffnungslosigkeit ist selber … das Unaushaltbarste, das ganz und gar den menschlichen Bedürfnissen Unerträgliche, weshalb sogar der Betrug, damit er wirkt, mit schmeichelhaft und verdorben erregter Hoffnung arbeiten muß.«

Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung175

Der Anpassungskurs der Grünen verläuft nicht li­near. Die Köpfe der meisten Basis-Grünen sind voll von Widersprüchen. Sie wissen um oder erahnen die Dramatik der ökologischen und sozialen Situation, sie wollen eigentlich substantielle gesellschaftliche Verän­derungen, aber gleichzeitig wollen sie glauben dürfen, mit rosa-grünen Bündnissen sei an den Verhältnissen wesentliches zu ändern.

Im März des Jahres 1989 spielte Christian Ströbele, Politiker der AL Berlin (West), auf der kompletten Kla­viatur des professionellen Demagogen. Er berichtete der grünen Bundesversammlung von den Ergebnissen der Verhandlungen zwischen der SPD und der Alterna­tiven Liste. Er litt während seiner Rede vor der grünen Bundesversammlung heftig, war »deprimiert« und »ziemlich fertig« ob des gemeinen Verhandlungsstils der SPD. Fast nichts sei zu holen, jammerte der Redner.

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Die AL habe sogar »ernsthaft diskutiert, ob wir uns von der SPD alles gefallen lassen müssen«. An diese Stelle setzte der Redner eine kleine Pause, um sich den erwarteten rauschenden Beifall einzufangen und um anschließend in eine rhetorische 180-Grad-Kurve zu rasen und zu rufen: »Die mir jetzt zugeklatscht haben, die bitte ich, zu überlegen, wie erkläre ich den Flücht­lingen und Ausländern, daß wir für sie in Berlin ein Programm vereinbart haben, das tatsächlich eine weit­gehende rechtliche und materielle Gleichstellung der Ausländer in der Stadt« verbürgt? Und dem Flüchtling, dessen Abschiebung »in den Libanon oder nach Bang­ladesh« drohe? »Und ich sage euch«, schrie Ströbele mit sich überschlagender Stimme in die Mikrophone, »wir haben mit der SPD ein Programm vereinbart, … von dem uns … die AusländerInnen, … und die Aus­länder, … sagen, bitte, bitte, bitte, mit Tränen in den Augen, das müßt ihr durchsetzen …!«276

Zum Unmenschen wird, wer da noch wagt, einer möglichen rosa-grünen Koalition zu widersprechen und irgendwelchen angeblich abstrakten Prinzipien halsstarrig Menschenleben zu opfern. Nein, niemand durfte anschließend eine Frage stellen. Niemand durfte mehr diskutieren. Ströbele wollte nicht nur die blinde Zustimmung für die Berliner SPD/AL-Koalition, er wollte auch gleich die Blanko-Zustimmung für den Übertrag dieses Modells auf die Bundesebene. Die gespielte Enttäuschung über die Gemeinheiten des sozialdemokratischen Verhandlungspartners dienten

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dem Zweck, vor einer gutgläubigen Basis tiefen Ein­druck zu schinden. Der harte Verhandlungskampf, das entsetzliche Leiden an der sozialdemokratischen Wirklichkeit hatten an diesem 4. März 1989 die Funk­tion, im rosa-grünen Melodram die Rolle des Helden zu besetzen. Arbeitslose gegen Autobahnkilometer, SozialhilfeempfängerInnen gegen ImmigrantInnen, in dieser Rede spielte Ströbele sie alle gegeneinander aus. Am Ende seiner Rede sagte er endlich deutlich, was er will: »Wir müssen in die morgigen Verhandlungen … reingehen mit einem ganz festen … Rückhalt der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen …«, denn »wir waren uns ja von Anfang an darüber im klaren, … daß wir in Berlin auch in diesen Verhandlungen … keine revolutionäre Veränderung durchbringen … Um was es geht in Berlin, … (ist) eine Jahrhundertchance«. Diese Art der Vertröstung der Hoffnungen auf Verän­derungen ins Jenseits kennen wir von der katholischen Kirche. Aber Ströbele bekam, wofür er gekommen war, die bedingungslose Zustimmung der grünen Bundes­partei, gewissermaßen eine politische Kursänderung der Grünen auf Bundesebene per Akklamation, unter Ausschluß jeglicher Diskussion, das wußten Redner und Diskussionsleitung zu verhindern. Auf derartig schwachen Beinen stand die rosa-grüne Koalition in Berlin von Anfang an. Heute ist die AL in einem mise­rablen Zustand. Viele Aktive, fast alle ÖkosozialistIn­nen, radikale FeministInnen und junge Leute haben die AL verlassen, als sie auf dem Koalitionskurs und in der

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Regierung mit der SPD Stück für Stück ihr eigenes, jah­relang sehr erfolgreiches politisches Profil verlor. Die AL hat ihre nicht unbeachtliche soziale Gegenmacht in Berlin kurzatmigen Opportunitäten geopfert.

Was blieb von der »Jahrhundertchance« in der Wirklichkeit? Die SPD verschleppte das vereinbarte kommunale Ausländerwahlrecht so lange, bis das Bundesverfassungsgericht auf Antrag der schleswig­holsteinischen CDU dagegen entschied. Die SPD ließ zu, daß die Ausländerbehörde die beschlossene Flüchtlingsanweisung blockierte, die Flüchtlingen aus Hauptfluchtländern wie Iran und Sri Lanka eine Auf­enthaltsgenehmigung ohne Einzelfallprüfung gewäh­ren sollte. Angst breitete sich unter den Betroffenen aus. Es wurde weiter abgeschoben und zur Ausreise aufgefordert, zurück in Krieg und Hungersnot, auch »in den Libanon oder nach Bangladesh«. Auch das veranlaßte die AL nicht zum Bruch der Koalition. Der Kampf der Ausländerinitiativen war verzweifelt. Der Ausländergesetzentwurf der SPD auf Bundesebene demonstrierte den Opportunismus gegenüber rechten Wählern. Der »neue nationale Konsens« zwischen CDU und SPD in der Ausländerfrage hat die Hoff­nung auf eine »weitgehende materielle und rechtliche Gleichstellung« zerschlagen, ob mit »Tränen in den Augen« oder ohne.

Trotz eingestandener negativer Bilanz machte die AL erst mal so weiter. Über eine neue naturvernichtende Stromtrasse wird Berlin nun mit Atomstrom aus dem

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Westen gespeist. Der Potsdamer Platz wurde zu Son­dertarifen vom Genossen Momper (SPD-Ministerprä­sident) an den Genossen Reuter (SPD, Daimler-Benz-Konzern) verkauft, gewissermaßen stadtplanerisch unter die Schirmherrschaft des Mercedes-Sterns ge­stellt. Mitzscherling, Berliner Wirtschaftssenator, sagte schon zu Beginn der rosa-grünen Koalition in Berlin offenherzig: »Jeder Investor hat Vertrauensschutz, er muß sich auf den Senat verlassen können.«

Es gab für Berlin keinen rosa-grünen Entwurf, der geeignet gewesen wäre, die Lebensverhältnisse der Menschen in der Stadt wenigstens in einigen Fragen substantiell zu verändern: Keine Rettung vor dem winterlichen Smog, kein Luftreinhaltungs- oder Was­sersanierungskonzept, nichts vom versprochenen öko­logischen Stadtumbau, dafür mehr kerosinsprühende Flüge, die über der Stadt lärmen. Die Einbindung der AL in die politische Szene Berlins, früher einmal Basis ihrer Gegenmacht, knirschte gleich zu Beginn. Der rosa-grüne Senat ließ besetzte Häuser räumen und verkündete belehrend, das Besetzen von Häusern sei unsoziales Vorbeidrängeln an anderen Wohnungssu­chenden. Als ob die Situation der Wohnungssuchen­den je ohne rebellische Aktion einiger für alle besser geworden wäre.

Die »Jahrhundertchance« erschöpfte sich in Tempo 100 auf der Avus und einigen Busspuren. Es gab keinen Konflikt mit der Autoindustrie oder der ADAC-Seele in Tausenden von WählerInnen um eine ökologi­

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sche Organisation des Verkehrs in einer »autofreien Stadt« (frühere Forderung der AL). Die Koalition der unverdienten HoffnungsträgerInnen wurde vom Op­portunismus regiert. Obdachlosen bot die Sozialsena­torin 15 D-Mark und im Winter die U-Bahn-Schächte. Rosa-grün ist weder in Frankfurt noch war es in Berlin etwas für Arme und Modernisierungsopfer: Zwar gab es zehn Prozent Erhöhung des Sozialhilfe-Regelsatzes, die Pauschalierung der Beihilfen aber minderte das Berliner »Notopfer« auf plus minus null.

Der Charakter von Rosa-Grün in Frankfurt ist nicht wesentlich anders. Auch dort: ungehemmtes Wirt­schaftswachstum, weitere Verdichtung der Stadt und Bauboom. Rosagrün läßt immer mehr Hochhäuser zu, erst in der Kontinuität der CDU-Baupolitik, nun original Rosa-Grün. Die Spekulation blüht weiter. Um Zuzug von Banken, mensch will z. B. die Europäische Zentralbank nach Frankfurt haben, wird auf Knien gefleht. Wohnen wird in Frankfurt für immer mehr Menschen unbezahlbar. Entweder werden sie an den Stadtrand ausgestoßen oder ins Obdachlosendasein. Nur die Besserverdienenden können steile Mietzu­wächse noch durch Konsumverzicht kompensieren. Der geringe soziale Wohnungsbau auf der grünen Wie­se am Stadtrand dient als Alibi für Luxuswohnungsbau und Hochhausbau.

Das ungebremste Wachsen von Ballungsräumen ist kein Thema für Rosa-Grün mehr. Eine wirklich ökologische Stadtplanung aber müßte das Wachstum

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begrenzen, den städtischen Raum auch als Naturraum erkennen und gesunde Lebensbedingungen für die Menschen schaffen. Ökologische Stadtplanung meint nicht die Begrünung von Parkhäusern, die Anlage vereinzelter kleiner Grünanlagen oder 100 Meter Bus­spur, sondern eine andere Logik in der Organisation städtischen Lebens zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Die Konzentration von Banken und Indu­strie – einmal unabhängig von der ökologischen und sozialen Qualität des Arbeitsprozesses, des Abfalls, der Produkte und der Dienstleistungen – zieht immer mehr Pendler aus weiter entfernten Regionen an, für die zwischen Wohnort und Arbeitsplatz eine große Schere klafft. Nur ein Wachstumsstopp und eine Dezentrali­sierung der Arbeitsplätze bringt eine Beruhigung für eine Stadt wie Frankfurt. Zum gesunden Leben in der Stadt gehört nicht nur menschliche Architektur und ökologisches Bauen, sondern auch die Freiheit von Au­toterror: Lärm, Abgase, stetig wachsende Versiegelung der Innenstadt, zerschnittene Stadtteile, verletzte und tote Menschen. Das Ziel ökologischer Stadtplanung muß z. B. die autofreie Stadt sein, und diese konkrete Utopie bestimmt Richtung und Qualität der Schritte dorthin. Einen großen Schritt in die Gegenrichtung mit dem Effekt der Zerstörung der Stadt für die Menschen schlägt ein, wer wie Rosa-Grün die Spekulation nicht bekämpft und wuchern läßt, so daß die Verdichtung der Stadt steigt, die Mieten ins Unermeßliche wachsen und die Verkehrsdichte unerträglich wird. Ökologische

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Stadtplanung und die Unterwerfung unter die Wachs­tumsinteressen von Kapital und Banken vertragen sich nicht. Rosa-Grün hat sich längst entschieden.

»Keine wirkliche Erneuerung durch einen öffent­lichen Diskussionsprozeß«, »Entmündigung« der BürgerInnen durch »exklusive Gremien«, wie Bürger­initiativen wütend kommentierten. Eine rosa-grüne Kungelrunde löste die nächste rosa-grüne Kungelrunde ab. Im Kleinstkreis beim Frühstück wurde beschlossen, Frankfurt mit Hochhäusern zuzupfl astern. Rosa-Grün drängt sich, Frankfurt, gleich hinter New York und Tokio, zur drittgrößten Finanzmetropole der Welt zu machen, London soll aus dem Rennen geworfen wer­den. Rosa-Grün heizt die Spekulation an: Hunderte von neuen Banken, Geschäftshochhäuser und solche für luxuriöses Wohnen. Aber die zerstören Wohnraum, drängen normal und weniger Verdienende in Stadt­randghettos, lassen die Verkehrslawine anwachsen, blockieren Frischluftschneisen und vermehren so den Smog. Auf einer Bürgerversammlung nahmen fast tau­send Menschen den rosa-grünen Magistrat freihändig in der Luft auseinander. Die Stadtteilgestaltung wird vernachlässigt. Die Ortsbeiräte werden abgebügelt wie zu CDU-Zeiten.

Rosa-Grün will um jeden Preis Wirtschaftsfreund­lichkeit beweisen, um den Preis von steigenden sozi­alen Problemen und Naturzerstörung. Wer in Frank­furt lebt, stirbt ständig ein kleines bißchen mehr an Rekordvergiftung der Luft, die Chancen, auf Dauer

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chronischen Krankheiten zu entgehen, ist gering. Die Existenz von Rosa-Grün wurde zum Selbstzweck. Rosa-Grün bedeutet auch in Frankfurt Frieden mit der Industrie- und Handelskammer. Rüstungskon­zerne von der Ansiedlung abhalten? »Dann können wir uns jede Wirtschaftsförderung sparen« (Armin Kleist, SPD-Stadtverordneter). Und wenn ein Frank­furter Regierungs-Realo mal seinen Mund aufmacht und »autofreie Innenstadt« sagt, auch ohne es ernst zu meinen, haut ihm SPD-Oberbürgermeister Hauff »urbane City« darauf und meint freie Fahrt zu freien Parkhäusern. Ob nun hier oder dort eine 150 Meter lange Taxispur mit Blumenkübeln »stillgelegt« wird oder Bäume aus einer rasend befahrenen Straße eine »Allee« machen sollen, ändert nichts Wesentliches.

Wer in Frankfurt lebt, wird vor allem auch von der Hoechst AG vergiftet. Es gibt keinen Konflikt mit der Autoindustrie und keinen mit der Hoechst AG. Rosa-Grün tritt dem Konzern nicht auf die Füße, sondern eilt ängstlich zu versichern, daß keiner des Chemiegigan­ten Kreise stört, nicht bei der Gentechnik, nicht bei der Abwasservergiftung. Grundwasser wird in Frankfurt nicht geschützt, sondern verseucht, und die Gebühren dafür und für die unverantwortliche Müllverbrennung kräftig erhöht. Rosa-Grün, das sind die Guten, die tun was für uns, sagen viele Alternative und Altlinke und drücken beide Augen zu und lassen sich Entwicklungen bieten, die unter einer CDU-Regierung einen Aufschrei verursacht hätten.

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Das rosa-grüne Wahlkampfversprechen über 4000 neue Wohnungen bleibt ein Versprechen. 150 Mil­lionen D-Mark war Rosa-Grün die Erweiterung des Frankfurter Flughafens wert, soviel kosten ungefähr 900 Wohnungen. Cohn-Bendit sitzt im Aufsichtsrat der Flughafenaktiengesellschaft, und immer mehr Flugzeuge donnern nachts auch über die Wohnviertel in der Innenstadt, legen Lärmteppiche auf Routen und zu Tageszeiten, die ihnen früher nicht erlaubt waren. Es gibt kein reales Nachtflugverbot, nicht einmal für Zivilflugzeuge. Zusätzlich wurde die US-Army-Base auf dem Frankfurter Flughafen das, wofür sie ge­baut wurde: Drehscheibe für die Vorbereitung und Durchführung von Kriegen. Tag und Nacht starten Flugzeuge mit Soldaten und Waffen an den Golf. Die Frankfurter Grünen haben mehrheitlich nur noch eine dunkle Erinnerung daran, daß es aus ökologischen Gründen eine Anti-Startbahnbewegung gab, die eine wesentliche Wurzel der hessischen Grünen ist. Am Flughafenausbau – natürlich ohne BürgerInnenbe­teiligung – hat sich nichts geändert und nichts an der Grund- und Trinkwasservergiftung durch Kerosin am Flughafen. Der einzige »Erfolg« der Frankfurter Rathausgrünen im Ökologiebereich war die Installie­rung eines Umweltdezernenten und einiger anderer Posten. Der Grund und Boden für den zweiten Grün­gürtel wird weiter durchlöchert wie ein Schweizer Käse für Bürohochhäuser, Luxuswohnungen, getarnt mit einigen Sozialwohnungen. Vor Kindertagesstätten

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sollen 50 Meter bis 150 Meter Schilder zur Geschwin­digkeitsbegrenzung aufgestellt werden, eventuell, weil Kritik an der Maßnahme laut wurde, sogar mit Radarkontrollen. Auf die praktischen und prompt wirkenden »schlafenden Polizisten«, bauliche Schwel­len auf der Straße, die bei Gefahr des Achsenbruches zum Langsamfahren zwingen, hat mensch im Inter­esse der Autofahrer verzichtet. Der Autobahnbau im Nordosten, die Kaiserlei-Bebauungspläne im Süden und der Bau der Leunabrücke plus Straße im Westen zerstören immer mehr Natur. Aber der SPD-Grüne-Magistrat verkündet in einer dummdreisten Anzeige: »In Frankfurt bekommt jedes Kind mehr als Schutz: Umweltschutz!«

Rosa-Grün ist, gemessen an selbstgesetzten Maß­stäben, gescheitert. Keine autofreie Innenstadt, 30 Stundenkilometer hier und da in einer Wohnstraße, nicht an den Hauptverkehrsstraßen, an denen mehr als ein Drittel der StadtbewohnerInnen leben und auf denen die schwersten Verkehrsunfälle geschehen. Eine tägliche aggressive Blechlawine beherrscht die Stadt. Weder die Abwassersatzung noch die Baumsatzung wurde verschärft. Alte Bäume werden weiter gefällt, Vorgärten zubetoniert, und Fahrradwege sind noch immer eine Quälerei. Der Löwenanteil des Geldes für den Frankfurter Verkehrsverbund (FVV) geht in den U-Bahn-Bau, dessen soziale und ökonomische Folge­kosten im Vergleich zur umwelt- und menschenfreund­lichen Straßenbahn wir seit Jahren dokumentieren.

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Unter anderem belastet die U-Bahn die öffentlichen Haushalte mit dem 30fachen dessen, was eine moderne Straßenbahn kostet.277

Tom Koenigs, grüner Umweltdezernent, kämpft nicht gegen Müllverbrennung, egal ob bei der Lurgi in Seckbach oder der Hoechst AG. Er will die Verbren­nung künftig »modern« gestalten. Ob unsere Lungen wohl zu würdigen wissen, daß sie von modernisierten Dioxinen vergiftet werden? Mitten im Stadtwald sollen für eine zweite Deponie auf dem Müllberg und Frei­zeitzentrum Monte Scherbelino fast 40 Hektar Wald mit Zehntausenden von Bäumen zerstört werden. Schon die alte Deponie vergiftete das Grundwasser, das in eines der letzten Trinkwassergewinnungszonen Frankfurts fließt. Der grüne Dezernent überholte die CDU bei der Standortsuche. So verseuchten früher schwarze, heute rosa-grüne Umwelttechnokraten die letzten Frankfurter Trinkwassergewinnungszonen.

Frauenpolitisch ist Rosa-Grün nicht nur blaß-lila, die Koalition ist feministisch abgetaucht. Multikul­turell ist außer großen Reden, Stellen- und Raumfor­derungen fast nichts passiert. Mit einem Gutachten über Roma und Sinti, dessen Fragen von rassistischen Vorurteilen trieften, stieß Rosa-Grün bei den Betrof­fenen und Engagierten auf helle Empörung, bis der Fragebogen zurückgezogen werden mußte. Daniel Cohn-Bendit fightet nicht mehr gegen Unterdrückung, sondern gegen Ladenschlußzeiten. Schließlich muß der Metropolenbewohner seine spontan aufbrechen­

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de Konsumsucht immer sofort befriedigen können. Multikulturell bedeutet um 22 Uhr bei müden spani­schen VerkäuferInnen einzukaufen, das soll wohl das mediterrane Feeling eines genußfreundlichen urbanen Citoyen markieren.

Rosa-grüne Stadtplanungspolitik verschärft soziale Gegensätze und Aggressivität in der Stadt, ein idealer Nährboden für noch mehr Ausländerfeindlichkeit. Es gibt auch Profiteure von Rosa-Grün. Einige Ban­kerInnen in Frankfurt sind angenehm erstaunt, wie Bauanträge, auch für Hochhausbauten, im Vergleich zu CDU-Zeiten nun unter SPD und Grünen so viel ra­scher bewilligt werden. Und rosa-grüner Parteibuchfilz versorgt so viele AnhängerInnen mit Posten bei der Stadt, als ob die nächste Wahl schon verloren wäre. Al­lein im Stadtplanungsamt wurden mehr als 80 Stellen geschaffen. Im Presseamt wurde darüber hinaus eine so überflüssige wie hochdotierte Stelle für einen ehe­maligen bundesweiten Realo-Koordinator geschaffen, der die vergebliche Aufgabe vollbringen soll, das an­geschlagene Image der Koalition in der Öffentlichkeit zu verbessern. Er hat einen frustrierenden Job, denn Rosa-Grün ist keine Jahrhundertchance, sondern ein Pleitemodell. Auch diejenigen, die die ernsthafte Ab­sicht hatten, mit Rosa-Grün etwas zum Guten zu än­dern, müßten das Experiment nach eineinhalb Jahren in Frankfurt und anderenorts als gescheitert ansehen, sofern der Maßstab grüner Politik noch ihr Nutzen für Mensch und Natur ist.

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Schöne Aussichten?

Rosa-Grün bedeutet, und das kann selbst beurteilen, wer die politische Praxis prüft und nicht wirklich­keitsfremden rosa-grünen Mythen nachhängt, Verlust an realer, politischer Macht durch Anpassung an die Modernisierungsinteressen des Kapitals, durch Verlust an Glaubwürdigkeit und den Bruch der Beziehungen zu den sozialen und ökologischen Bewegungen. Rosa­grüne Koalitionen unterwerfen in vorauseilendem Gehorsam die Städte, die sie »ökologisch und sozial« zu verändern vorgeben, in sozialdemokratischer Logik manchmal noch schneller den Verwertungsinteres­sen des Kapitals als CDU/FDP-Regierungen, sofern letztere unter den Druck einer lebendigen Opposition geraten. Das kleinere Übel, sowieso eine der dümmsten Formeln zur chronischen Rechtfertigung entfesselter Wachstumspolitik, ist manchmal das größte Übel. Vor allem aber verhindert es die Entwicklung von Alter­nativen zum Übel. Die große historische Chance des grünen Projekts degenerierte in rosa-grünen Koalitio­nen. Mit der radikalen und notwendigen Veränderung der Realität hat reformistische Politik, auch wenn sie Realpolitik genannt wird, verdammt wenig zu tun.

Wer grüne Politik retten wollte, in Berlin, Frankfurt, Bonn, Hannover, München oder anderswo, müßte mit dem rosa-grünen Mythos brechen. Diese rechtsver­schobene bundesdeutsche Gesellschaft braucht eine

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lebendige radikalökologische, soziale und rebellische Opposition auf der Straße und im Parlament. Es wäre gut gewesen, dabei auf die Grünen setzen zu können. Das scheint vorbei. Wer eine ökologische, radikalde­mokratische, feministische und soziale Opposition will, könnte sich in Zukunft mit der Tatsache konfrontiert sehen, daß die Grünen nur noch auf der anderen Seite stehen, der Seite der Herrschenden, nicht mehr auf seiten des Widerstandes, der sozialen Opfer und der ruinierten Natur. Eine grüne Partei à la Vollmer, Fi­scher oder Weiss ist ein »Hamm-Brücher«-Projekt: Im Parlament würde eine solche Partei für gute bürgerli­che Manieren sorgen, ein bißchen Opposition spielen, auf die nächste Koalitionsmöglichkeit mit SPD, FDP oder CDU warten und alles abfedern und abwehren, was an sozialem Druck auf dieses Parlament einwirken könnte. Wenn die Grünen als basisdemokratisches Projekt zerfallen, wird dies erst einmal bedeuten, daß diese Organisation linker ökologischer Politik, die einen gewissen parlamentarischen Erfolg hatte, gescheitert ist.

Was immer aus den Grünen wird, für die Ökologi­schen Linken in den Grünen, die RadikalökologInnen, ÖkosozialistInnen und FeministInnen, war die Zeit in den Grünen, falls sie sich eines Tages gezwungen sehen zu gehen, keine verlorene Zeit. Die Positionen, die wir entwickelt haben, die basisdemokratischen Strukturen, die Vernetzung untereinander, unsere Beziehungen zu Tausenden von Initiativen im ganzen Land, die inter­

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nationalen politischen Kontakte, der Pool an Wissen, der Reichtum an Erfahrungen - all das bleibt. Wir hoffen, daß der Steinbruch unserer Erfahrungen für theoretische Debatten, Aktionen und Bündnisse von anderen Linken genutzt werden wird, so wie wir hoffen, daß es zu einer engeren Vernetzung und Koordinie­rung der Arbeit radikalökologischer, sozialistischer, autonomer und feministischer Politikansätze kommen wird. Verloren gehen – vermutlich – die Grünen als politische Kraft. Das ist schlimm genug. Aber das ist nicht alles. Es wird neue politische Zusammenhänge geben, die sich außerparlamentarisch, gegen etablier­te Institutionen und antistaatlich organisieren, ohne parlamentarische Arbeit für alle Fälle auszuschließen. Parlamentarische Arbeit in einem kapitalistischen Staat kann niemals Hauptkampffeld sein, aber so wie es Sinn macht, bürgerliche Rechte als Menschenrechte, die Ergebnis bürgerlicher Kämpfe sind, zu verteidigen, weil sie unsere Grundlage sind für viel weitergehende gesellschaftliche Veränderungen, kann (nicht muß) es auch Sinn machen, ins Parlament zu gehen: für Öffent­lichkeitsarbeit und Vermittlung radikaler Positionen in die Gesellschaft, als Schutz vor Repressionen, zur Stärkung der Bewegungen und des sozialen Wider­standes, zur Informationsbeschaffung und zur Absi­cherung einer gesellschaftlich erkämpften radikalen Reformpolitik als Zwischenschritt.

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Widerstand und Perspektiven

Diese ungeheure Seichtigkeit des Seins

Warum hören viele linke und kritische Menschen eines Tages auf zu kämpfen? Warum werden so viele zynisch? Warum distanzieren sie sich vor allem von denjenigen, die der konkreten Utopie einer herr­schaftsfreien Gesellschaft treu bleiben? Der gegenwär­tige Anpassungsschub ist nichts Neues. In den späteren 60er Jahren brachen sich gegen den autoritären Mief der 50er Jahre antiautoritäre, linksradikale, bislang unterdrückte Gedanken, Analysen und Utopien Bahn in die gesellschaftliche Diskussion. Überall, in Hörsä­len und auf Straßen, in Schulen, Büros und Betrieben, tobten lebhafte Diskussionen. Das politische Klima veränderte sich durch linksradikalen Druck und wurde ein bißchen demokratischer. Unsere Themen waren die Befreiung von Ausbeutung, Konsumkritik, die Eman­zipation der Menschen von Herrschaft, die Selbstbe­stimmung auch der lohnabhängigen Menschen und internationale Solidarität mit den Unterdrückten im Trikont. Werte und Institutionen, die sich heute neu-er Anerkennung erfreuen, schienen auf Jahre hinaus geächtet: Herrschaft, Ausbeutung, Militär und Nato, Profitgier, Kapitalismus, Nationalismus.

Links oder linksradikal zu sein war nicht einfach, hatte aber eine große intellektuelle, moralische und

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aktionistische Anziehungskraft. So bremste starker gesellschaftlicher Druck die Anpassung vieler Men­schen an die herrschenden Verhältnisse. Wir machten Erfahrungen, die uns prägten. Zur Schwäche der au­ßerparlamentarischen Bewegung gehörten unter ande­rem Dogmatismus, Frauenfeindlichkeit, hierarchische innere Strukturen, die Trennung des politischen Le­bens vom sogenannten Privaten, die eindimensionale Konzentration auf den Arbeiter als dem revolutionä­ren Subjekt und die Ignoranz gegenüber dem Thema Ökologie. Statt aus ihren Fehlern zu lernen, ermüdeten viele AktivistInnen, privatisierten oder organisierten sich in einigen der zahlreichen links-dogmatischen Splittergruppen. Ein nicht unwesentlicher Teil der APO konnte aber auch in das herrschende System integriert werden. Der von Linken propagierte »Marsch durch die Institutionen« erwies sich als lahme Sackgasse in die Institutionen. Die RebellInnen kamen dem Kapital, das sich eine weltoffenere, modernere Maske zulegen wollte, als Blutauffrischung gerade recht. Die Jobs brachten ihren InhaberInnen Sozialprestige, materielle Vorteile und soziale Sicherheiten. Der Preis war der Verlust realer gesellschaftlicher Gegenmacht. Einige trugen in diesen Positionen mancherorts zu einer gewissen Liberalisierung des Bewußtseins bei. Im Gegenzug aber ließ der Druck der außerparlamentari­schen Bewegungen nach. Insgesamt erwiesen sich die Apparate, ob in Behörden oder der privaten Wirtschaft, allemal stärker als die Individuen. Wie seit einigen

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Jahren innerhalb der Grünen (»Wir müssen in die Regierung, die Bewegungen sind tot«) rechtfertigten die Anpasser ihren Weg mit angeblich ausgereizten gesellschaftlichen Verhältnissen und mit der Unterstel­lung, daß nach ihrer großartigen Bewegung keine mehr möglich sei. Eine falsche, mechanische Auffassung von politischer Entwicklung, sozialen Bewegungen und den Konjunkturen von sozialem Widerstand.

Die großen Streiks der 70er Jahre veränderten das Land. Frauen-, § 218- und Ökologiebewegung wurden meist ohne und oft auch gegen diejenigen traditionellen Linken stark, die sich zwar nicht auf den langen Marsch begeben hatten, aber Ökologie und Frauenemanzipation zu kleinbürgerlichen Neben­widersprüchen erklärten. Nach den Teilerfolgen der Anti-§ 218-Bewegung geriet die radikale Anti-AKW-Bewegung zur erfolgreichsten Nachkriegsbewegung: Sie war militant in ihren Aktionsformen (Blockaden, Bauplatzbesetzungen, Sabotage), konstruktiv in ihrem aufklärerischen Verhalten und der Entwicklung von Energiealternativen (Windenergieanlagen, Solarkol­lektoren und Solaranlagen, Energiesparmodelle usw.), entlarvend in bezug auf lügenhafte Energieprognosen, die militärischen Optionen mit der sogenannten zivi­len Atomenergienutzung, und deckte den personellen und strukturellen Filz von Politik und Kapital auf. Sie war fähig zu Bündnissen mit KommunistInnen wie Wertkonservativen und entwickelte sich zunehmend zu einer antikapitalistischen Bewegung.

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Auf dem Höhepunkt ihres massenhaften gesellschaft-lichen Einflusses stieß die Anti-AKW-Bewegung im Deutschen Herbst 1977 auf massive staatliche Repres­sion: Ermächtigungsgesetze, Außerkraftsetzung des Rechtsstaates, Staatssicherheitshysterie, polizeiliche Verfolgung linker Opposition, politische Prozesse. Diese sozialliberale Antwort auf die Infragestellung eines we­sentlichen Stranges kapitalistischer Produktionsweise war möglicherweise mehr dem Erfolg dieser radikalen Anti-AKW-Bewegung zuzuschreiben als der RAF, mit der das staatliche Vorgehen in der Öffentlichkeit ge­rechtfertigt wurde. Vielen der AktivistInnen erging es damals wie mir: Wer mit PKWs unterwegs war, die Anti-AKW-Aufkleber trugen, konnte sicher sein, regelmäßig von mit Maschinenpistolen im Anschlag bewaffneten Staatsdienern bedroht und schikaniert zu werden. Viele Menschen in der Anti-AKW-Bewegung hielten, besonders nach den bürgerkriegsähnlichen Einsätzen anläßlich der Großdemonstration in Kalkar im Septem­ber 1977, den Druck staatlichen Terrors nicht aus. Ein kleinerer Teil meinte, den Kampf mit diesem Staat mit bewaffneten Mitteln aufnehmen zu müssen. Der viel größere Teil zog sich erschrocken in eine lange Jahre währende Privatisierung zurück. Vor lauter Furcht, frisch erworbene Reputierlichkeiten als vermeintliche RAF-SympathisantInnen einbüßen zu müssen, beugten gerade solche tief den Rücken, um deren ungefährliche Biederkeit der Staat sowieso wußte.278 Auch von ihnen traf ich einige bei den Grünen wieder.

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Das Scheitern vieler linker Gruppen hat nicht nur objektive gesellschaftliche sondern auch selbstgemach­te Ursachen. Die entfremdeten, eindimensionalen und lustfeindlichen Politikformen traditioneller Linker waren auf Dauer genausowenig zu ertragen wie Verein­zelung, Ego-Trips und die Unfähigkeit zu kollektiven, auch disziplinierten Strukturen. Unterdrückung von Individualität und Verzicht waren damals von vielen nur auszuhalten, solange an die baldige Revolution geglaubt werden konnte. Als sich diese Hoffnung zer­schlug, zerbrachen die Kollektive, Vereinzelung und Anpassung kehrten ein. Der notwendige lange Atem war nicht vorbereitet. Andere, die sogenannten Spon­tis, entwickelten die »Politik in der ersten Person«, mit der zwar zeitweise mehr Spaß und subversive Aktion verbunden war, aber auch ein gerütteltes Maß an Analyseschwäche, Theoriefeindlichkeit und Perspek­tivelosigkeit. So entstand auf Dauer die Grundlage für die Politik für eine Person, nämlich für sich selbst. Die Strukturen in diesen Zusammenhängen waren nicht viel demokratischer, sie waren auch frauenfeindlich, die Hierarchie meist informell und darum oft noch autoritärer. Es gab keine Kultur, die Niederlagen er­tragen ließ.

Viele gescheiterte marxistisch-leninistische Dogma­tiker, viele MarschiererInnen durch die Institutionen und viele gescheiterte Sponti-RevolutionärInnen trafen sich bei den Grünen wieder. Die meisten kamen, als die Grünen bereits ein gutgehendes, erfolgversprechendes

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Unternehmen waren. Josef Fischer ist ein Prototyp des gescheiterten Spontis. Nach der Niederlage von Betriebs- und Häuserkampf, dem die strategische Basis und langfristige Perspektive fehlte, probierten er und andere jahrelang planlos alles Mögliche aus. Zeitweise war er, für den auch der Marxismus eingestandener­maßen nicht wissenschaftliche Methode und analyti­sche Orientierung in Klassenauseinandersetzungen, sondern Glaubensersatz war, voll Begeisterung für die Macht des islamischen Fundamentalismus im Iran. »Fundamentalismus« als Kampfbegriff diente später, seit Herbst 1983, der Stigmatisierung der innerpartei­lichen linken GegnerInnen als »islamische Sektierer und Dogmatiker« zur Vermeidung inhaltlicher poli­tischer Auseinandersetzung und zur absichtsvollen Verwechslung mit »Fundamentalopposition«, als einer Opposition im Grundsätzlichen.279

Noch gibt es keine breite Bewegung, die dem Zeit-Geist der Mitverantwortung für Kapitalinteressen Contra gäbe. Der Widerstand ist parzelliert. Soziale Mi­lieus sind weitgehend zerschlagen oder beginnen sich erst wieder zu entwickeln. Da wo sie erhalten werden, erfordert dies alle Energie, denn das gesellschaftliche Klima wird beherrscht von der Mentalität der Absah­nerInnen. Die eigene Person steht im Mittelpunkt, das totale Individuum sucht seine Identität in der Auswahl von Konsumgütern. In der Männer-Vogue, einem der sogenannten Lifestyle-Magazine, beklagte sich Otto Schily, daß die Oberhemden, die er im »sehr schönen

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Kaufhaus Harrods« immer direkt aus London bezogen habe, im Garn seine Ansprüche nun enttäuschten, und bat die Leser, ihm andere Bezugsquellen zu nennen.280

Lebensstil ist Ersatz für Lebenssinn. Zynisch wird der eigene Geisteszustand »Es-lohnt-sich-nicht-mehr-für­etwas-zu-kämpfen« zur Epidemie erklärt, als ob es je Veränderung ohne Widerstand und Kampf und je irgendeine sichere Aussicht auf Erfolg geben könnte.

Das allseitig isolierte, sich links empfi ndende In­dividuum – als ob Linkssein ein Sein ohne politische Praxis sein könnte – delegiert Dienstleistung wie Verantwortung. Mensch läßt kämpfen und sieht sich Aktionen im Fernsehen an, sofern über sie überhaupt noch berichtet wird. Die Entgegennahme der Spen­denbescheinigung wird zum Ersatz für politische Aktivität. Legionen verbürgerlichter PhilosophInnen und SozialwissenschaftlerInnen lassen ihr ganzes intellektuelles Vermögen nur noch um die Frage der sprachlich originellsten Rechtfertigung der eigenen politischen Anpassungsleistung an die herrschenden Verhältnisse kreisen. Von Leggewie und Offe bis zu Enzensberger, Habermas oder den Nachfolgern von Adorno, Horkheimer und Marcuse im berühmten Frankfurter Institut für Sozialforschung ist für die Organisierung eines sozialen, emanzipatorischen, le­bendigen Widerstandes nichts zu erwarten.281 Für sie ist jede risikolose Prominenten-Sitzblockade schon eine revolutionäre Tat. Und Demokratie ist nur noch eine schöne Idee, deren Verwirklichung mehr mit

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dem Einhalten bürgerlicher Konventionen als mit der Notwendigkeit zu tun hat, die »unserer« Demokratie zugrundeliegenden strukturellen ökonomischen Ge­waltverhältnisse zu beseitigen.

Um die Grünen einmal zu verteidigen: Ihre Anpas­sung wurde um so leichter, weil auch Linke außerhalb der Grünen sich den herrschenden Verhältnissen un­terwarfen. Leute wie Walser deutschtümelten lange be­vor die Mauer fiel. Kroetz rechtfertigte sein Schreiben in der Bild-Zeitung mit deren hohen Aufl agen. Enzens­berger setzte sich als Held zur Verteidigung Rushdies in Pose und gab an, »westliche Werte« – was immer das sein mag –, gegen den bösen, fremden Osten zu verteidigen. Die Aufgabe nehmen ihm heute fremde Truppen am Golf ab. Keiner von ihnen kam auf die Idee, sich gemeinsam mit anderen gegen imperialisti­sche Feldzüge in den Trikont zu organisieren, Linke in der Bundesrepublik gegen den Terror von politischen Terror- und Zensurparagraphen wie den § 129a und 130a282 in Schutz zu nehmen oder die Projekte Ha­fenstraße (Hamburg) oder Mainzer Straße (Berlin) zu verteidigen. Wenn angebliche Linke mehr Namen von teuren Weinsorten kennen als von Alternativprojekten, ist etwas faul. Die Kneipen sind voll von jammernden Altlinken, die sich Abend für Abend vollsaufen, mit dickem Kopf ins Bett gehen, um anderntags doch nichts an ihrer Lebens- und Arbeitspraxis zu ändern. Das Lamentieren ist ja auch nur Ventil, weil sie von der gegenwärtigen politischen Flaute durchaus beruf­

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lich und einkommensmäßig profitieren. Richtig sauer werden die neuen AbsahnerInnen, wenn ihre Posten oder Lebensstil bedroht werden oder ihnen in Gestalt von Linken, die solche geblieben sind, plötzlich die herausfordernde Erinnerung an eigene alte Ansprüche und Hoffnungen begegnet. Das hassen sie. »Alles ist im Fluß« war eine der Lieblingssprüche des Ex-KBW­lers und ehemaligen grünen Vorstandssprechers Ralf Fücks. Ja, ja, der Zeitgeist dümpelt vor sich hin, die In­tegration treibt mainstream, und die gegen den Strom schwimmen, sind – erst mal – weniger geworden.

Welche Schlußfolgerung ziehen wir daraus? Noch mehr Rückzug, Resignation und Parzellierung? Wäre es nicht viel mehr an der Zeit, verschüttete Ansätze antiautoritärer politischer Kultur, Widerstand und Protest freizuschaufeln, die Köpfe zu lüften und zu tun, was immer wir tun können, um politische Bewegung anzukurbeln? Wir brauchen für eine stabile linksradi­kale Widerstandskultur weder hedonistische Witzfigu­ren noch sich selbst entfremdete Verbandsfunktionäre. Wir könnten aus vielen linken Fehlern lernen, aus der dogmatischen Zwangskollektivität einerseits, weil Kollektivität ohne Individualität nicht funktioniert, und aus dem Fehler einer exzessiven Individualität, in der Solidarität ein Fremdwort ist und die in Egoismus umschlägt. Wir könnten gemeinsam lernen, individu­elle Freiheit mit Solidarität und kollektiven Lebens-, Arbeits- und Politikformen zu vermitteln. Eine Vor­aussetzung dafür ist, sich gemeinsam klar darüber zu

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werden, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse sind, in denen wir leben und an welchen Fragestellungen soziale Kämpfe aufbrechen könnten.

Leben wir in einer Demokratie?

Demokratie hieße, daß die Menschen ihr ganzes, ungeteiltes Leben selbst bestimmen und gestalten, einschließlich der Produktion, als der materiellen Grundlage ihres Lebens. Demokratie hieße, daß es keine Parlamente gäbe, in denen selbst die behaup­tete repräsentative Stellvertreterei nur vorgetäuscht wird, daß kein »Oben« und »Unten« mehr existierte, sondern die direkte Interessen Vermittlung der Men­schen in direkt gewählten und jederzeit abwählbaren Nachbarschafts-, Natur-, Ausbildungs-, Arbeits- und anderen Räten und ihre selbstverwaltete Koordinie­rung auf den notwendigen gesellschaftlichen Entschei­dungsebenen.

Im hochentwickelten kapitalistischen Staat Bundes­republik existiert eine ausnehmend effi ziente, adäqua­te Herrschaftsform. Diese Pseudo-Demokratie genügt nicht einmal ihren eigenen Ansprüchen, die Erfolge bürgerlicher Revolutionen sind, und deren Kodifizie­rung der bundesdeutschen Verfassung behauptet wird. Die Bundesrepublik löst den eigenen – im Vergleich zur demokratischen Utopie weit heruntergesetzten – Anspruch auf bestimmte demokratische Rechte

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und Freiheiten nicht ein. Denn schon diese demo­kratische Grundausstattung wäre geeignet, mit den zugrundeliegenden ökonomischen Strukturen auch die Grundlagen von Herrschaft in Frage zu stellen. Die autoritäre, formale Demokratie Bundesrepublik Deutschland sichert die Legitimation ihrer Herrschaft durch soziale Spaltung, Entsolidarisierung, Repression und Teilintegration und durch Massen- und Luxuskon­sum. In dieser Herrschaftsform ist angelegt, daß sie in eine offen autoritäre Herrschaftsform umgeschlagen werden kann, wenn die Legitimation ihrer Herrschaft bröckelt und die sozialen Konflikte nicht mehr im herrschenden Griff sind.

Zwischen verschleierten und offen faschistischen Herrschaftsverhältnissen liegen viele Stufen. Herr­schaftsverhältnisse müssen lange Zeit nicht in offen autoritäre kippen, sofern z. B. die Überwachung der Opposition so perfekt ist, die Disziplinierungsmaßnah­men und die Spaltung des Widerstandes untereinander und von der restlichen Gesellschaft so gut greifen, daß Wahlen und die Einhaltung begrenzter formaldemo­kratischer Spielregeln die Herrschaftssicherung nicht in Frage stellen. In einer solchen Herrschaftsordnung sind die sozialen Menschenrechte, die Forderungen der proletarischen Revolutionen, die bisher nicht gesiegt haben, per se nicht gesichert: soziale Freiheit von Ausbeutung, Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit, Hunger und Zwangsbeschränkung menschlicher Entfaltungs­möglichkeiten.

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Nein, wir leben nicht in einer Demokratie. Wir le­ben in einer Zeit, in der sich vorerst als herrschendes One-world-System der Kapitalismus durchgesetzt hat. Wir leben in der Bundesrepublik in einer formalen, parlamentarisch-repräsentativ verfaßten Pseudo-De­mokratie, die der Sicherung der kapitalistischen Pro­duktionsverhältnisse dient, sowohl materiell wie poli­tisch. So wie die kapitalistische Produktionsweise nur zu beurteilen ist, wenn wir sie bezogen auf ihr gesamtes territoriales und politisches Wirkungsfeld analysieren, muß sich auch die Untersuchung der demokratischen Qualität der Bundesrepublik an objektiven Kriterien messen lassen, zum Beispiel an der Lage von Minder­heiten, an der Freiheit der politischen Opposition, an der Erfüllung des Postulats des Allgemeinwohls, an der psychischen und körperlichen Unversehrtheit des Menschen, am Export von (anti)demokratischen Strukturen und an ihrer Gültigkeit in der gesamten Gesellschaft: Demokratie dürfte weder am Betriebstor noch vor den Glaspforten einer Bank enden.

Die politische Opposition in der Bundesrepublik ist in der seltenen Situation, in einem Land zu arbei­ten, in dem die Geheimdienste zweier Staaten, Stasi und »Verfassungsschutz«, »zusammenwachsen«, weil sie als Repressionsapparate »zusammengehö­ren«. Schon hat der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Boeden, Zugang zu den Akten des Stasi verlangt.283 Beide Einrichtungen sind anti­demokratische Unterdrückungsapparate, die, wenn

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auch auf unterschiedliche Weise, der Herrschaftssi­cherung dien(t)en. Es gibt einige nicht unwesentliche Unterschiede zwischen Stasi und Verfassungsschutz, z. B. eine unterschiedliche Quote von Geheimdienst­mitarbeiterInnen auf je 100 000 EinwohnerInnen: West: 25:100 000; Ost: 500:100 000.284 Der Stasi hatte außerdem einen eigenständigen militärischen Apparat, eigene Haftanstalten, Exekutivrechte, und eine einzige Staatspartei, die SED, hatte den Zugriff auf ihn. In der Bundesrepublik gibt es ein gewisses Maß an durchlöcherter Gewaltenteilung und gab und gibt es die Möglichkeit in einem – sehr begrenzten – Medienspektrum für öffentliche kritische Auseinan­dersetzungen mit den Geheimdiensten. Westdeutsche Geheimdienste hatten kein direktes Exekutivrecht, wo­bei es den Menschen, die aufgrund von Bespitzelungen Berufsverbote erhielten oder an Atomstandorten wie in Gorleben fortwährender Überwachung ausgesetzt waren, durchaus so erscheinen konnte. Der Haupt­unterschied besteht darin, daß es sich beim Stasi um eine altertümlich-grob bedrohende Repressionsein­richtung handelt, deren sich die gesamte Bevölkerung bewußt war, und daß es sich bei dem westdeutschen Geheimdienstnetz um ein hochkomplexes, hochtech­nologisches Repressions- und Überwachungssystem handelt, mit den Einzelmitgliedern Verfassungsschutz (VS), Bundesnachrichtendienst (BND), Militärischer Abschirmdienst (MAD) usw., die zudem noch mit anderen westlichen Geheimdiensten eng kooperie­

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ren, nicht nur der CIA. Ihr konkretes Wirken ist den meisten Menschen im Land nicht bewußt und soll es ihnen auch nicht werden.

Zu den repressiven Subtilitäten des bundesdeut­schen Staates gehören Paragraphen, deren Erfolg nicht unbedingt in Verurteilungen liegt. Der sogenannte Antiterrorparagraph § 129a StGB (Bildung, Werbung, Unterstützung einer terroristischen Vereinigung) führte nur in weniger als 2 Prozent der Fälle zu einer Verurteilung. Aber es kommt auf das Urteil so wenig an wie auf die klar abgegrenzte, einer einzelnen Person zweifelsfrei nachgewiesene Straftat, wie es eigentlich der Anspruch der Verfassung und Grundgedanke des Strafgesetzbuches – in Abgrenzung zur Nazijustiz – ist. Faktisch hebeln Gesinnungs- und politische Justiz diese Grundbestimmungen und Erfahrungen aus dem Faschismus im Strafgesetzbuch aus. Der Repressions­apparat steht im Widerspruch selbst zu den Spielregeln einer formalen, repräsentativen Demokratie. Die Pa­ragraphen 129a und 130a formulieren nur vage, inter­pretierbare Straftatbestände. Was ist zum Beispiel »die Gründung einer Vereinigung«, die »gemeingefährliche Straftaten« wie die »Störung öffentlicher Betriebe … wie Energieversorgungsunternehmen« plant? Nach § 129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung) könnte eine solche »terroristische Vereinigung« ein Streikkomitee oder eine Anti-AKW-Initiative sein. Der § 130a (Anleitung zu strafbaren Handlungen) verlangt auch keine konkrete Straftat für seine Anwendung. Ihm

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reicht’s, wenn jemand »eine Schrift … verbreitet, oder … zugänglich macht« oder auf Veranstaltungen »die Bereitschaft anderer« fördert oder weckt, rechtswid­rige Taten zu begehen. Nicht die konkrete Anleitung zur strafbaren Handlung, sondern die geistige Absicht zwischen den Zeilen des gesprochenen oder geschrie­benen Wortes, die vielleicht irgendwann, irgendwo zu einer strafbaren Handlung führen könnten, reichen für jahrelangen Knast. Aber eigentlich geht es eher darum: Bereits beim Verdacht des Verstoßes gegen die § 129a und § 130a gegen Einzelne ist es erlaubt, ganze politische Gruppen, ihr soziales und familiäres Milieu intensivster Bespitzelung zu unterziehen: Telefonüber­wachung, Postkontrolle, Beschlagnahmungen, direkte Beobachtung, Festnahmen usw.285 Viel interessanter als eine Verurteilung ist im allgemeinen die politische, soziale und psychologische Analyse der oppositionel­len, staatskritischen Szene. Herrschaftssysteme in kapitalistischen Zentren entwickeln feine Waffen und flexible Strategien zur Herrschaftssicherung.

Genügte die Bundesrepublik selbst formulierten Ansprüchen einer bürgerlichen Demokratie, gewährte sie selbstverständlich die Freiheit ihrer öffentlichen radikalen Infragestellung. Tatsächlich wird nicht erst die revolutionäre Tat geahndet, sondern bereits die oppositionelle linke Meinung. Es werden Menschen, wie z. B. Fritz Storim in Hamburg, zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie in – zumal kleinen – Zeitungen Texte abdrucken, die die legitime Meinung verbreiten, die

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herrschenden Verhältnisse seien abzuschaffen. Von 1951 bis 1968 wurden gegen 125 000 mutmaßliche KommunistInnen förmliche Ermittlungsverfahren eingeleitet. Schon die Frage eines Doktoranden nach derartigen Ermittlungsverfahren oder die Unterschrift unter eine Vietnamresolution konnte ein solches Ver­fahren auslösen.286

Eine Voraussetzung einer Demokratisierung der Bun­desrepublik wäre die Entnazifi zierung der herrschenden Strukturen in Politik, Justiz, Medizin, Medien, Kultur, Bildung usw. gewesen. Statt dessen trainierten bereits ab 1951 die Bereitschaftspolizeien der Länder (10 000 Mann) und der Bundesgrenzschutz (ab 1953: 20 000 Mann) bis an die Zähne bewaffnet die Niederschlagung von Aufständen und Streiks. Im beginnenden Kalten Krieg wurde die neue Republik als Bündnispartner der USA gegen die Sowjetunion gebraucht. Die Sieger und wirtschaftlich-ideologischen Bündnispartner verzich­teten nicht nur auf eine wirkliche Entnazifi zierung. Sie paktierten mit alten Nazis und verzichteten auf Repara­tionsleistungen für Kriegsschäden. Die BRD mußte nur etwa 2 Milliarden D-Mark abführen, die DDR hingegen rund 98 Milliarden D-Mark, teilweise wurden ganze Industrieanlagen von der Sowjetunion in der DDR de­montiert und in die Sowjetunion gebracht.

Politische Gefangene in der Bundesrepublik zählen wir in Hunderten und nicht Zehntausenden. Ist es etwa demokratisch, daß es keine Todesstrafe mehr gibt, aber Menschen psychisch und physisch mit Isolationshaft

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zerstört werden dürfen? Daß Angeklagte einen An­spruch auf anwaltliche Verteidigung haben, aber für sie das Kontaktsperregesetz gilt und die vertrauliche Prozeßvorbereitung mit einem Anwalt, einer Anwältin, und jeder Hautkontakt mit nahestehenden Menschen mit Hilfe einer Trennscheibe verhindert werden kann, glasklar und dick wie Beton? Daß auf streikende Arbei­terInnen nicht mit Maschinengewehrsalven geschossen wird, aber Maschinenpistolen gelegentlich im Anschlag liegen und mit Pistolen auf einzelne geschossen wurde? Die relativen demokratischen und sozialen Rechte, die wir haben, sind ein dauerhaft umkämpfter Teil der historischen Erfolge der Arbeiterbewegung.

Ein Staat kann nur ein demokratischer genannt werden, wenn er auch in anderen Teilen der Welt De­mokratie nicht zerstört, wenn er nicht skrupellos mit Diktatoren paktiert und wenn er nicht in autoritären Regimes Militär und Polizei für Kriege und Bürger­kriege ausrüstet und trainiert, für den Fall, daß die Verwertungsbedingungen bundesdeutschen Kapitals zum Beispiel von gewerkschaftlichen Kämpfen in sol­chen anderen Ländern eingeschränkt werden.

Staatstragende Parteien profitieren von politischer Apathie und schweigender Duldung ihrer Regierungs­macht. Unabhängig von historischer Entwicklung und ideologischen Unterschieden gilt für alle, daß sie sicherheitshysterisch werden und innenpolitisch aufrüsten, sobald politische Opposition lebendig wird. Jetzt, nach der sogenannten Wiedervereinigung,

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während die politische Opposition noch schwach und unkoordiniert arbeitet, besteht die Gefahr, daß das östliche Repressionsinstrumentarium dem westdeut­schen bruchlos eingegliedert wird. An der Oberfläche soll Anti-Stasi-Gekreisch den Bruch vortäuschen, hinter den Kulissen fließen Daten. Das ostdeutsche Fahndungssystem Dora nützt westdeutschen und westeuropäischen polizeilichen Fahndungsdateien. Dora verzeichnet polizeiliche und gerichtliche Daten über 500 000 Menschen in der ehemaligen DDR. Eine einheitliche Kennziffer für jede/n Erfaßte/n macht den Zugriff auf die erfaßten Menschen leicht.287

Zwar wurde ein genereller Zugriff auf die Stasiakten, wie vom Bundesinnenministerium gefordert, durch massive Proteste verhindert, die gesetzlich geregelte Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden und Ge­heimdiensten öffnet aber die Datentüren. Der Trick, mit dem der Zugriff auf das umfangreiche Stasi-Archiv möglich gemacht wird, ist einfach: Einzige Vorausset­zung ist die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens im Zusammenhang mit Staatsschutzdelikten.288

12 Tage vor der sogenannten Wiedervereinigung und ihrem politischen Windschatten verabschiedeten die Staatsparteien CDU/FDP und SPD im Bundesrat die neuen Verfassungsschutzgesetze. Die ermöglichen zum Beispiel den Datenaustausch zwischen dem Bun­desamt für Verfassungsschutz (BfV), dem BND und dem MAD mit Staatsanwaltschaften, Polizeien und Geheimdiensten. Die SPD stimmte zu.

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Der bundesdeutsche Staat wendet im allgemeinen keinen offenen, physisch bedrohlichen Terror an, weil er ihn (noch) nicht braucht. Nicht weil der Terror in ihm nicht politisch, technisch oder psychologisch ange­legt wäre. Der bundesdeutsche Sicherheitsstaat ist ein potentiell terroristischer und deshalb kein demokrati­scher, weil in einem solchen die Lösung politischer und sozialer Konflikte grundsätzlich einer anderen Logik folgen müßte. Parallel zur berechtigten Forderung nach der Auflösung des Stasi ist deswegen die Abschaffung der Geheimdienste (West) und z. B. der kasernierten Polizeieinheiten (Teile der Bereitschaftspolizei) und der verschiedenen Sondereinsatzkommandos überfäl­lig. Statt dessen wird der Verfassungsschutz ausgebaut. Das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln will auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erst mal 1000 »Ver­fassungsschützer« neu beschäftigen. Da darunter auch Bürger aus der DDR sind, will das Amt auch 14 neue Stellen an der Schule für Verfassungsschutz, denn denen müsse mensch erst das Grundgesetz und die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundord­nung beibringen. Ein Land, in dem sich Fremdenhaß und Rassismus ausbreiten kann, ist kein demokrati­sches Land. Zu den Voraussetzungen einer Demokratie gehört außerdem, daß Menschen, die in diesem Land leben, auch hier wählen können.

Aber auch für die »richtigen« Deutschen, die gleich und geheim wählen können, bedeutet das nicht die Möglichkeit, über die Entwicklung der Bundesrepublik

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substantiell mitentscheiden zu können. Die grund­sätzlichen Entscheidungen über die Entwicklung der Bundesrepublik werden in den Chefetagen des Kapitals getroffen und zum kleineren Teil in der politischen Administration. Die Debatten-»freiheit« im Parlament hat enge Grenzen. Trotzdem sollten auch Linke nicht unterschätzen, was auch ein begrenzter Rahmen für den Vortrag abweichender Meinungen bedeuten kann. Die Bundesrepublik ist ein Parteienstaat. Parteien fil­tern soziale Interessen. Wer in einer der Staatsparteien »nach oben« steigt, mag so gute Absichten gehabt haben, wie er oder sie will, der Apparat und die mate­riellen und sozialpsychologischen Bedingungen seines Aufsteigens haben den Menschen entweder vollständig verändert oder ihm unmißverständlich beigebracht, wie rasch er oder sie stürzen kann, wenn Fraktions­disziplin/Regierungsdisziplin usw. nicht eingehalten werden. Eine repräsentative, parlamentarisch verfaßte Pseudodemokratie, in der der militärisch-industri­ell-administrative Komplex herrscht, ist das genaue Gegenteil einer Demokratie, in der die Menschen über ihr Schicksal selbst bestimmen.

Die häufig propagierten Volksentscheide sind keine Garanten direkter Demokratie sondern bestenfalls eine technische Form dieser, die in eine parlamentarisch­repräsentative Demokratie, gepflanzt werden soll. Es gibt keine echte Chance, zwischen den Wahlen über einzelne Fragen oder Projekte direkt zu entscheiden. Volksentscheide sind als Möglichkeit in der einen oder

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anderen Landesverfassung enthalten (Bayern, Hes­sen), spielen in der politischen Praxis bis auf wenige Ausnahmen keine Rolle.

Eine Demokratie verlangt unabhängige Medien, die ihren Auftrag ernst nehmen und über die Wirk­lichkeit informieren. Wir haben die veröffentlichte Meinung herrschender Eliten, die für die öffentliche Meinung ausgegeben wird. Seit der Öffnung der Mau­er im November 1989 scheint der Umgang mit der Wahrheit noch manipulativer als zuvor. Ohne hier eine Medienanalyse entwickeln zu können: Manchmal verschlägt es informierten Menschen fast den Atem. Ein zufälliges, fast unbedeutendes Beispiel dafür, wie subtil und suggestiv hier gearbeitet wird, vom 25.12. 1990: Die Tagesschau berichtet über den Stand des Golfkonfliktes. Unter anderem werden US-Soldaten gezeigt, wie sie ihre Weihnachtsbäume unter Zelten verstecken, weil die saudi-arabische Regierung sich das ausbedungen habe. Einige tragen eine Weihnachts­mann-Mütze, sie singen christliche Lieder. Schnitt: Angehörige der christlichen Minderheit im Irak feiern die Weihnachtsmesse, die Tagesschau zeigt einige beim andächtigen Entgegennehmen von Oblaten in einer Kirche. Schnitt: Truppen von irakischen Soldaten, uni­formiert und bewaffnet, laufen im Kampfschritt, eine lange Einstellung lang, durch das Bild. Der Sprecher sagt etwa: Das sind irakische Soldaten, sie bereiten sich auf den Krieg vor. Die christliche US-Army ist der Weihnachtsmann, und das Böse der blutlüsterne

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irakische Soldat, der in den Krieg zieht und nicht an den Weihnachtsmann glaubt.

In der Verfassungsdiskussion während der Annexi­on der DDR tauchte unter Linken und Linksliberalen der illusionäre Gedanke auf, mit der Verteidigung des Grundgesetzes wenigstens liberale Verfassungsposi­tionen zu retten. Der § 15 des Grundgesetzes sei im­merhin offen für antikapitalistische Interpretationen: »(Sozialisierung) Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesell­schaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt wer­den.«289 Aber schon der Gesamtkontext des Grundge­setzes macht aus diesem Artikel nichts als eine Floskel. Die innerstaatliche Feinderklärung gegen links war schon vor der Wiedervereinigung unumstößlicher Be­standteil dieser Bibel der Liberalen mit der rosaroten Brille. Spätestens der sogenannte Einigungsvertrag hat als Bestandteil des materiellen Verfassungsrechtes die letzten Widerspruchsnischen verlötet.

Was gibt das Grundgesetz290 wirklich her? Seit seiner Verkündung im Jahre 1949 wurde das Grundgesetz mehr als 30mal geändert, meist in obrigkeitsstaatli­chem Sinn. Es garantierte auch bisher nur einen »de­mokratischen Minimalbestand, dessen grundlegendes Prinzip die Abwehr jeglicher Äußerung unmittelbarer Demokratie und die Absicherung einer bürokrati­schen Parteien- und Verwaltungsherrschaft ist.«291

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Das Grundgesetz gilt, trotz der angeblichen Trennung von Kirche und Staat, »vor Gott« und, ganz im völki­schen Sinne, nur für Deutsche. Die etwa 5 Millionen Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit sind Menschen zweiter Klasse. »Wir« sind weder »das« noch »ein« Volk. Die Menschen in der BRD gehören unterschiedlichen Klassen und damit unterschiedli­chen Interessenlagen an und kommen aus vielfältigen ethnischen Zusammenhängen.

Das Grundgesetz enthält Lügen (»Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden«, Art. 4, Abs. 3; »Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen«, Art. 12a, Abs. 2; »Eine Zensur findet nicht statt«, Art. 5, Abs. 1). Wer kein Glück vor Wehr­dienstverweigererkommissionen hat, hat Pech gehabt. Gewissen wird in Deutschland unter bestimmten Be­dingungen geprüft. Der Zivildienst dauert länger als der Wehrdienst. Und Totalverweigerer werden unter brutalen Bedingungen eingebuchtet. JournalistInnen dürfen nicht unbedingt die Wahrheit schreiben, spre­chen oder senden. Offene Zensurfälle sind auf der einen Seite nicht häufiger geworden, auf der anderen schneidet die selbstgebastelte Schere im Kopf immer schneller. Das Grundgesetz predigt »unverletzliche« Rechte (Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person, Art. 2; Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, Art. 10; Asylrecht, Art. 16, Abs. 2), die durch einfache Gesetze jederzeit eingeschränkt

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werden können. Manchmal geht es auch ganz ohne Gesetz: Der US-amerikanische Geheimdienst NSA hört, toleriert von der bundesdeutschen Regierung, nahezu alle Telefonate von BundesbürgerInnen ab.292

Das Grundgesetz macht das Grundrecht auf Meinungs­und Versammlungsfreiheit zum Spielball parlamen­tarischer Mehrheiten (Versammlungen unter freiem Himmel können gesetzlich eingeschränkt werden; Art. 8, Abs. 2) behindert und schikaniert z. B. durch ein Vermummungsverbot, das der Überwachung und Spei­cherung von DemonstrantInnen dient. Für manche Gruppen läßt es deren fast vollständige Einschränkung zu: Wehrdienst- und Zivildienstleistenden wird nicht nur die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern auch das Petitionsrecht verwehrt (Art. 17a, Abs. 1).

Die Münztelefone der Post, die letzten ungestörten »Anonymitätsinseln« (Heidelberger Bürgerinitiative TelekommunikAktion) sollen verschwinden, zugun­sten von Telefonkartentelefonen, die die systematische Erfassung aller persönlichen Anrufdaten gewährlei­sten. Die »Telefonkarte« ist personengebunden und ermöglicht die Bezahlung über die monatliche Tele­fonrechnung. Als Einstiegsdroge gibt es heute noch die anonyme Telefonkarte mit einprogrammiertem Guthaben. Die Umstellung des Telefonnetzes auf ISDN ermöglicht der Post, AnruferInnen, Telefonnummer, Datum, Uhrzeit, und Gesprächsdauer zu speichern, für die Erfassung des Gesprächsinhaltes sind andere Stel­len zuständig. Die persönliche Telefonkarte und ISDN

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hebeln das grundgesetzlich geschützte Fernmeldege­heimnis (Artikel 10 Grundgesetz) vollständig aus.

Das Grundgesetz ist eine Notstands- und Sicher­heitsstaatsverfassung mit einem klar festgeschriebe­nen inneren Feindbild. Wer Grundrechte »zum Kampf gegen die freiheitliche, demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte« (Art. 18). Was gegen die »freiheitliche demokratische Grund­ordnung« gerichtet ist, entscheidet das – im Interesse der Herrschenden von den Staatsparteien CDU/FDP/ SPD/CSU selbst zusammengesetzte – Bundesverfas­sungsgericht, das auch über die eventuelle Verfas­sungswidrigkeit einer Partei zu urteilen hat (Art. 21). Das Grundgesetz formuliert das absolute Grundrecht eines jeden Menschen: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« (Art. 2, Abs. 2), um noch im gleichen Absatz dieses menschliche Grund­recht politischen Mehrheiten zum Fraß vorzuwerfen: »In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.« Es formuliert Grundrechte, die in tiefem Gegensatz zu den realen sozialen Verhältnis­sen stehen: beispielsweise widerspricht die freie und freizügige Arbeitsplatzwahl (Art. 12, Abs. 1 und 2) der Massenerwerbslosigkeit und den Arbeitswanderungen von Norden nach Süden (Mobilitätszwang durch die Arbeitsämter) beziehungsweise von Osten nach We­sten. Und ebenso wird die Verfassungsbestimmung von der Zwangsarbeit, die »nur« gegen Knackis durch­setzbar sein solle (Art. 12, Abs. 3), in der Praxis längst

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SozialhilfeempfängerInnen unter der Drohung der Hilfeverweigerung aufgedrückt (Art. 12, Abs. 3).

Das Grundgesetz erlaubt nicht nur den Einsatz der paramilitärischen Truppen des Bundesgrenzschutzes «zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung« (Art. 91, Abs. 1), sondern auch der Streitkräfte gegen »organisierte und militärisch bewaffnete Aufstän­dische« im Inneren der Bundesrepublik (Art. 87a, Abs. 4). Es gibt Grundrechte, die existieren nur in Landesverfassungen und liegen dort auf Eis, das Verbot für die Kapitalisten, Streikende auszusperren (Aussperrungsverbot), oder das Monopolverbot für die Wirtschaft (Art. 29 und 39 der Verfassung des Landes Hessen). Bürgerlich-demokratische Verhält­nisse erleichtern unter Umständen emanzipatorischen, gesellschaftsverändernden Bewegungen das Leben. Sie müssen deshalb verteidigt werden, aber nicht mit dem Ziel, bei ihnen stehenzubleiben, sondern um sie zu überschreiten und in neuen gesellschaftlichen Formen aufzuheben. Wenn Verfassungen die vorüber­gehenden Kodifizierungen von Waffenstillständen im gesellschaftlichen Bürgerkrieg (Lasalle) sein sollten, ist diesem »Waffenstillstand« inzwischen längst einseitig die Geschäftsgrundlage zugunsten des herrschenden Machtkomplexes entzogen worden. In welch schlech­tem Zustand die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sind, beweist, daß die unterlegene Seite, z. B. Gewerk­schaften, auf die Verschlechterungen nicht einmal mit

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sozialen Kämpfen reagieren kann/will. Entmystifiziert mensch die Diskussion, kann eine Verfassungsdiskus­sion einen Sinn zur Selbstverständigung der Linken haben. »Eine radikale Opposition ist ohne eine ebenso radikale Kritik der Politik nicht zu denken, einschließ­lich der eigenen. … Um was es geht … ist nicht das Aufzeigen eines problematischen Verhältnisses der Politik zur Verfassung, sondern das Bewußtmachen dessen, daß die Verfassung selbst nichts anderes ist, als ›die Regelung eines gestörten gesellschaftlichen Verhältnisses‹ (Agnoli). Und nach wie vor gilt es, die­ses umzuwälzen, was allerdings voraussetzt, es erst einmal zu durchschauen.«293 Den inneren Zustand der bundesrepublikanischen Gesellschaft beschreibt, daß es keine helle, eine gesellschaftliche Mehrheit umfas­sende, Empörung gegen die geplanten Grundrechts­änderungen gibt, im Gegenteil, für die Demontage des Asylrechts und für den Einsatz der Bundeswehr am Golf – vermittelt u. a. über ihre Teilnahme an den UN-Truppen – ist auch die SPD offen.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und eines heißen politischen und ökonomischen Sieges über Osteuropa und die Sowjetunion wurden in der Bundesrepublik Menschenrechtsforderungen leiser, als ob sie nur dazu gedient hätten, den »realen Sozialismus« zu beseiti­gen. Die Politik des Staates Bundesrepublik zerstört die Demokratie und demokratische Entwicklungen in vielen Teilen der Erde. Nicht nur Amnesty Interna­tional nennt Staaten in Afrika, zum Beispiel: Senegal,

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Mali, Togo, Zaire, Zentralafrika und Kenia, in denen die Verelendung, die Flüchtlingsnot, die Unterdrük­kung zu sozialen Unruhen führt. Nun bewaffnen sich die Eliten, um ihre Privilegien zu verteidigen. »Daraus entstünden Bürgerkriegssituationen mit ›enormen Menschenrechtsverletzungen‹«.294

Damit nicht zuviel Elend in die Bundesrepublik dringt, so zumindest berichtet die taz – wird der Bun­desgrenzschutz bereits im Ausland gegen Flüchtlinge eingesetzt, damit sie die bundesdeutschen Grenzen erst gar nicht überschreiten können, um ihr Recht auf Asyl einzufordern. Bevor Asylsuchende über­haupt Asylanträge stellen können, der Artikel 16 des Grundgesetzes gewährt ihnen dieses Recht, werden sie von Bundesgrenzschützern, ausgestattet mit Luft­hansa-Uniformen, mit Lufthansa-Ausweisen und mit Touristenvisa, vor dem Betreten der Flugzeuge auf Flughäfen abgefangen – beispielsweise in Sri Lanka, Sudan, Nigeria und Ghana. Der Bundesgrenzschutz ist auch als »Flugbegleiter« dabei, wenn es darum geht, sich wehrende Flüchtlinge mit Gewalt in Flugzeuge zu setzen und in Länder abzuschieben, in denen Verfol­gung, Gefängnis, Folter oder Tod auf sie warten.295

Mit dem neuen Ausländergesetz fordern die staat­lichen FremdenhasserInnen Schulen, Sozial- und Jugendämter, Arbeits- und Finanzämter und Bera­tungsstellen auf, ihre Klienten ausländischer Herkunft zu bespitzeln und bei den zentralen Überwachungs­behörden zu denunzieren. Das Datengebirge hilft bei

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der Ausweisung, deren Gründe außerordentlich weit gefaßt wurden: politische Äußerungen, Gefährdung der öffentlichen Gesundheit, Obdachlosigkeit, nicht aus­reichender Wohnraum z. B. nach Geburt eines Kindes, soziale Bedürftigkeit usw. Jugendämter sind außerdem aufgefordert, Angaben über das zu erwartende soziale Verhalten von ausländischen Jugendlichen zu machen. Im Kölner Ausländerzentralregister sind jetzt schon rund 80 Millionen Daten gespeichert.296 Das neue Ge­setz legalisiert die totale Persönlichkeitserfassung, hebt die Privatsphäre auf und ist Ausdruck eines totalitären Überwachungsstaates.

Zu keiner Zeit wurde der staatliche Gewaltapparat so exzessiv ausgebaut wie unter der sozialliberalen Koalition von 1969 bis 1982. Der Polizeiapparat wurde waffentechnisch und gesetzlich aufgerüstet und mit immer mehr Befugnissen ausgestattet. Das Personal in den Verfassungsschutzämtern wurde verzweifacht bis verdreifacht. Der Bundesgrenzschutz von 16 500 auf 22 700 Mann aufgestockt. Später baute CSU-In­nenminister Zimmermann den BGS wieder ab – auf etwa 20 500 Mann.297 1991 soll nun der BGS (Gesam­tetat 1990: 1,3 Milliarden D-Mark) auf 30000 Mann aufgestockt und in eine Bundespolizei umgewandelt werden. Die Gewerkschaft der Polizei, die nicht will, daß die Beendigung des Kalten Krieges die Kollegen arbeitslos macht – mensch ist ja Kollege –, unter­stützt den Umstrukturierungsplan und schlug 1990 auf ihrem 19. Bundeskongress einstimmig als weitere

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Aufgaben den Schutz von Kraftwerken, Flughäfen und Bundeseinrichtungen vor.298 Dem undemokratischen parlamentarisch verfaßten deutschen Sicherheitsstaat gilt der aufmüpfige Bürger, die rebellische Bürgerin als das zentrale Sicherheitsrisiko. Unter der neutralen Bezeichnung »Bundesamt für Sicherheit in der Infor­mationstechnik« soll eine neue Superbehörde, besetzt mit Mitarbeitern des Bundesnachrichtendienstes, aufgebaut werden.299 In der Aufgabenbestimmung der neuen Behörde taucht als Objekt von Überwachungen und Sicherheitsüberprüfungen dieses eigentliche Si­cherheitsrisiko auf. Mit flächendeckendem Zugriff auf »Risikopersonen« soll beispielsweise »Einbrüchen in informationstechnische Systeme« begegnet werden.

In den 70er Jahren baute der MAD seine sogenannte »Zersetzerkartei« mit Daten über damals 30 000 Mili­tärkritikerInnen auf. Und während der BND hin und wieder mit illegalen Rüstungsgeschäften (z. B. mit Isra­el) ins Gerede kommt, wird der Sicherheitsstaat moder­nisiert. Zum »rechtsstaatlichen« Selbstverständnis der Bundesrepublik gehört, daß jeder Angriff auf demokrati­sche Rechte und auf die politische Opposition, so gut es geht, legalisiert wird. Während die bisherigen Aufgaben der Geheimdienste durch die Ost-West-Entwicklung schwinden, suchen die Geheimdienste dringend nach neuer Legitimation für ihr Fortbestehen und ihren Aus­bau. Es werden systematisch Bedrohungen überhöht, wie z. B. die Gefahr der »organisierten Kriminalität«, die den Ausbau des Polizeiapparates wie den erweiterten

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Einsatz der Geheimdienste rechtfertigen sollen, in Be­reichen, in denen dies bislang gesetzlich ausgeschlossen war. Gleichzeitig wachsen die im Geheimen arbeitenden Anteile der Polizei: V-Leute, Lockspitzel, Undercover-Agenten. So entsteht eine neue Geheimpolizei. Es droht nicht nur die Gefahr der geheimdienstlichen Infizierung gesellschaftlicher Konfliktbereiche, in denen wir schon mit dem Polizeiapparat genug Probleme haben. Es wächst auch der verdeckt arbeitende Teil des Sicher­heitsstaates mit dem exekutiv arbeitenden zusammen: ein Verstoß gegen die Bestimmungen zur Trennung von Geheimdiensten und Polizei. Die BürgerInnen der Bundesrepublik sollten sich, so der Wille der Alliierten nach dem 2. Weltkrieg, nie wieder mit einer Geheimen Staatspolizei (Gestapo) konfrontiert sehen, die sowohl verdeckt arbeitet, als auch Exekutivfunktionen wahr­nimmt.

Statt die eingetroffenen und kommenden sozialen Probleme zu lösen, rüstet der Sicherheitsstaat nach innen auf. Ideologisch, waffentechnisch, gesetzlich, geheimdienstlich. Der bürgerliche »Rechtsstaat« hält sich auch hier nicht an seine selbst gesetzten Regelun­gen. Das vielfältige Verwachsen der Geheimdienste mit der Polizei wird bei einer steigenden Zahl von Prozessen die Rechte der Angeklagten und ihrer Vertei­digerInnen aushebeln, wenn z. B. verdeckt arbeitende Staatsbeamte vor Gericht nicht aussagen dürfen und ihre Aussagen dennoch gewertet werden. Im Zweifel gegen die Angeklagten.

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Insgesamt läßt sich das Gros der waffentechnischen, überwachungstechnischen, gesetzlichen, personellen, ausbildungsmäßigen und organisatorisch-administra­tiven Entwicklung des sogenannten Sicherheitsappa­rates unter die Bekämpfung politischer Opposition und der »Prävention« herrschaftsdestabilisierenden sozialen Widerstandes buchen. Diese These läßt sich, untersucht mensch Schritt für Schritt die Entwicklung des staatlichen Gewaltapparates, systematisch bewei­sen, unter anderem damit, daß staatliche Gewaltmaß­nahmen, wie bestimmte Gesetze oder Waffen, meist mit bestimmten Widerstandsereignissen begründet werden, die sich doch erst Jahre nach der Planung und Entwicklung eben jener Gewaltmaßnahmen er­eigneten.

Die konkrete staatliche Gewalt nimmt drastisch zu. Neben den neuen Wasserwerfern, Gaswasserpanzern, die mindestens einen Menschen das Leben kosteten300

und schon mit ihrem schieren Druck Menschen tö­ten können, Kampfgasen wie CN- und CS-Gas, die schwere Gesundheitsschäden301 zur Folge haben kön­nen, ist die Polizei immer auf der Suche nach Waffen unterhalb der Schußwaffen-Schwelle, für deren allzu offenen Gebrauch es (noch) keine gesellschaftliche Legitimation gibt. Eines der neueren Geräte ist ein Schlagstock aus Fernost, in DemonstrantInnen­kreisen nach seinem Vorbild, der altjapanischen Kampfsportwaffe Tonfa genannt, 61 Zentimeter lang und 3,2 Zentimeter dick, mit einem besonderen Griff

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und zwei Stoß- und Schlagrichtungen. Wer damit auf gewisse Weise einen Kopf trifft, »knackt … jeden Schädel«, sagte ein Sprecher der Gewerkschaft der Polizei.302 Schon 1983 ließen sich Beamte der Poli­zeiführungsakademie Hiltrup im Düsseldorfer US-Konsulat von der US-Herstellerfirma Monadnock die Waffe vorführen, offensichtlich zur vollen Zufrieden­heit. Inzwischen sind die Sondereinsatzkommandos (SEK) der bundesdeutschen Polizei, verrufen für ihre Brutalität gegen linke DemonstrantInnen, mit dieser potentiell tödlichen Waffe ausgerüstet. Hessische SEK-Polizisten, DemokratInnen von ihren Einsätzen an der Startbahn West noch in blutiger Erinnerung, haben die Tonfas mit Hilfe der Kunststoffindustrie noch mit eloxiertem Stahl verstärkt.303

Die geplante Novellierung des Polizeigesetzes durch die schleswig-holsteinische SPD-Regierung, unter Björn Engholm, dem künftigen SPD-Vorsitzenden, er­laubt, daß Polizisten in Zukunft mutmaßliche Straftäter erschießen können, notfalls auch ohne Warnschuß und laut Innenminister Hans-Peter Bull »auch dann, wenn Unbeteiligte damit gefährdet werden«. Der Gesetzent­wurf erlaubt auch den verstärkten Einsatz von Under­cover-Agenten.304 Die Legalisierung des polizeilichen Todesschusses durch eine sozialdemokratische Regie­rung ist die konsequent antidemokratische Fortsetzung der Ausweitung des Polizeiapparates, der Ausdehnung seiner Befugnisse und seines Waffenarsenals durch die SPD/FDP-Bundesregierung in den 70er Jahren.

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Die Gewaltenteilung wird zugunsten der Polizei gelockert, die Polizei bekommt Exekutivfunktionen. Das bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG) erlaubt der Polizei seit dem 1. April 1989, Menschen 14 Tage ohne Haftbefehl einzusperren, d. h. Gefangennahme, ohne daß ausreichende Verdachtsmomente für einen richterlichen Haftbefehl vorliegen. Als Anlaß genügt der Verdacht auf mögliche künftige Begehung von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten. Diese Vorbeu­gehaft, ohne die Voraussetzungen für einen Haftbefehl nach der Strafprozeßordnung, wurde vom bayrischen Verfassungsgerichtshof im August 1990 CSU-treu bestätigt. Das Gericht meinte, daß die Gefahrenab­wehr mit den Bedingungen der Bundesgesetzgebung für die Untersuchungshaft nichts zu tun habe und allein in Länderkompetenz liege. Der Artikel 102 der Verfassung des Landes Bayern sagt: »Jeder … Festge­nommene ist spätestens am Tage nach der Festnahme dem zuständigen Richter vorzuführen. … Er hat gegen den Festgenommenen entweder Haftbefehl zu erlassen oder ihn unverzüglich in Freiheit zu setzen.«305 Die bayrische Verfassung schwebt irgendwo in den Alpen. Auf dem Boden herrscht nackte Willkür: Das bayrische Polizeiaufgabengesetz ist mit seiner Vorbeugehaft ge­eignet, einer Diktatur Ehre zu machen.

Was das Polizeiaufgabengesetz schon vor der Ver­schärfung in der Praxis bedeutet, habe ich selbst er­fahren. An einem Abend im Dezember 1985, am Tag vor einer großen Demonstration gegen die geplante

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Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf (bayrische Oberpfalz), war ich mit Bekannten in deren PKW zu unserem Schlafplatz bei einem evangelischen Pfarrer unterwegs. Auf dem Weg dahin wollten meine Freun­dInnen, gemäß einer Empfehlung der Polizei, die am gleichen Tag einen Hammer in ihrem Auto gegen Quittung beschlagnahmt hatte, diesen auf einer ihnen genannten Polizeistation abholen. Dort angekommen, wurden wir angewiesen, auf der Straße zu warten, bis mensch uns – gegen die Quittung – das Werkzeug wieder aushändige. Während unserer Wartezeit trafen 2 oder 3 Polizeieinsatzbusse ein, mit einem Einsatz­leiter, dessen Agressivität der eines gereizten Stieres glich. Er brüllte, wir sollten sofort die Straße vor der Polizeistation verlassen. Unser Versuch, mehrfach den Zweck unserer Anwesenheit zu erklären, blieb vergeb­lich. Plötzlich machte er ein paar zackige Handbewe­gungen und schrie ein paar Kommandos und wir waren festgenommen. Wir wurden in einen der Polizeibusse verfrachtet und durch die nächtliche bayrische Land­schaft kutschiert. Nach einigen Zwischenstationen und inszenierten Wartezeiten in Polizeistationen landeten wir in Gefangenenzellen, einige von uns in den ab­waschbar gekachelten, kalten Kellerzellen der Polizei­dienststelle in Amberg. Wir durften nicht telefonieren, weder mit Angehörigen noch mit Anwälten und hatten, bis auf unsere Kleidung, alle privaten Gegenstände abzugeben. Wir verschwanden einfach eine Nacht. Am nächsten Morgen wurden wir nach einem fadenschei­

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nigen Verhör durch angereiste Kripobeamte, denen die Rechtswidrigkeit unserer Freiheitsberaubung klar sein mußte, verhört und unter Androhung einer Strafanzei­ge wegen Hausfriedensbruch (!), freigelassen. In dem Verhör tauchte auch die Quittung wieder auf, mit der der Polizeibeamte in jenem Haus verschwunden war, zu dem wir aufgefordert worden waren, zu kommen, um das beschlagnahmte Werkzeug abzuholen. Nach dem neuen bayrischen Polizeiaufgabengesetz ist es möglich, Autofahrer im Großraum um eine geplante Demonstration für 14 Tage einzubuchten, wenn sie für Straftaten nutzbares Werkzeug mit sich führen, Benzinkanister, Lappen, leere Flaschen und gewiß auch – Hämmer.

Polizeiliche Ermächtigungsgesetze wie das bayrische sind keine Sonderfälle. Die Polizei insgesamt steht in keiner demokratischen Tradition. Eine Untersuchung über die Hamburger Polizei306 belegt, wie glatt der Übergang vom Faschismus in »die neue Zeit« geriet und welche unrühmliche Rolle ein SPD-Polizeisenator 1933 in seiner Unterwerfung gegenüber den Nazis spielte. Auch die Verhaftung von 75 KPD-Funktionä­ren stimmte den Reichskanzler nicht gnädiger. Die Gleichschaltung der Hamburger Polizei war keine harte Arbeit, sie war schon republikfeindlich. Fast alle Hamburger Polizeioffiziere waren Angehörige des re­aktionären »Stahlhelms«. Sie hatten Arbeiteraufstände brutal niedergeschlagen, verfolgten nun polnische PartisanInnen und ermordeten JüdInnen und PolIn­

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nen so erbarmungslos, daß Himmler ihnen den Rang von SS-Regimentern verlieh. Die Hamburger Kripo fühlte sich in besonderer Weise für die (End)»Lösung der Zigeunerfrage« zuständig. Nach dem Krieg gab es Versuche der alliierten Engländer, die Polizei zu de­mokratisieren, zu dezentralisieren, zu entwaffnen und sogar streng in Höflichkeit gegenüber den BürgerInnen zu unterrichten. Die kasernierte und die politische Polizei sollte abgeschafft werden.

Doch die Adenauerregierung und die Alliierten selbst arbeiteten gegen die Demokratisierung. Immer mehr alte Nazis in Polizeiuniform kamen in ihre Ämter und Funktionen zurück. Selbst Mitglieder von Todes­kommandos, die Tausende von jüdischen Männern, Frauen und Kindern auf dem Gewissen hatten, taten wieder Dienst und gaben Erfahrungen, Mentalität und Feindbilder weiter. Die Polizei wurde, wie überall in der Bundesrepublik, dem »freiheitlichsten Staat, den es je auf deutschem Boden gab« (Slang der Herrschen­den) wieder aufgerüstet und zum Teil kaserniert. Auf dem Gebiet des ehemaligen KZs Neuengamme wurde Aufstandsbekämpfung trainiert. Die Voraussetzung für die brutale Zerschlagung von Demonstrationen (erstmals im Mai 1951 gegen eine Demonstration für verbilligte Schülerfahrkarten) und von Streiks (erst­mals im Oktober 1951 gegen den Streik von über 3000 Hafenarbeitern für einen höheren Schichtlohn) war geschaffen. Für die letztendliche Wiederherstellung der Machtfülle der Hamburger Polizei war ein Sozi­

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aldemokrat verantwortlich, der später Bundeskanz­ler wurde: Helmut Schmidt. 1963 lobte er bei einer Polizei-Feier das 40jährige Jubiläum der gelungenen Niederschlagung des Oktober-Aufstandes von 1923. Der Ex-Wehrmachtsoffizier zentralisierte die gesamte Polizeistruktur wieder. Ihm unterstanden dann: die Polizeibehörde, das Landesamt für Verfassungsschutz, das statistische Landesamt, der Zivilschutz usw.307

Europa, so scheint es vielen, wird ein Kontinent mit grenzenloser Freizügigkeit. Aber während Kapitalin­teressen frei fließen können, werden sehr effiziente unsichtbare Grenzen für Flüchtlinge und Oppositio­nelle aufgebaut, deren Freizügigkeit mittels eines eng vernetzten, polizeilich kontrollierten Daten Verbundes rabiat eingeschränkt wird. Auch die Persönlichkeits­rechte einer großen Masse von Menschen sind nicht mehr geschützt. Wirtschaftsdaten fl oaten frei durch die europäischen Staaten und werden, ungeprüft auf datenschutzrechtliche Bestimmungen, verkauft. Im nationalen Rahmen tauschen die Rentenversiche­rungsträger miteinander Daten aus. Das Statistische Amt der EG in Luxemburg plant, den Transfer noch nicht-anonymisierten Daten, die dem Statistikgeheim­nis unterliegen. LandwirtInnen mußten, bei Bezug von Leistungen und Subventionen, private Daten in dicke Fragebogen eintragen. Die EG plant mit dem 30 Mil­lionen D-Mark-Programm »Analyse des menschlichen Genoms« das menschliche Erbgut zu kartieren, zum Zweck der gesundheitlichen Vorsorge natürlich. Es

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gibt keinen Datenschutz auf Europaebene, im Zwei­felsfall gilt, wie im Umweltschutz, immer das Recht des Landes mit dem niedrigsten Schutzniveau. Da die Bundesrepublik einen der höchsten Standards hat und wir wissen, wie erbärmlich wenig in der Bundesrepu­blik die »informationeile Selbstbestimmung« der Men­schen geschützt wird, können wir ahnen, wie es sonst aussieht: demokratiefreie Zone im Datengeschäft.308

»Eine besondere Gefährdung für das Persönlich­keitsrecht der Menschen innerhalb und außerhalb der EG stellt die informationelle Zusammenarbeit der europäischen Sicherheitsbehörden dar.«309 Diese Zusammenarbeit erfolgt in einer Vielzahl von kleine­ren Kooperationsabkommen, hauptsächlich aber in folgenden Abkommen: IKPO-Interpol (Internatio­nale Kriminalpolizeiliche Organisationen); TREVI (Terrorisme, Radicalisme, Extremisme, Violence International) und Schengen. Mit Interpol wird eine riesige Menge von Nachrichten (jährlich etwa 50 000) ausgetauscht. Bundesdeutscher Interpol-Partner ist das BKA. Bis 1984 gab es nicht die geringste Daten­schutzkontrolle, erst seit diesem Zeitpunkt gibt es eine, vermutlich wenig wirksame, halbinterne Kommission. »Der Schwerpunkt informationeller Polizeikooperati­on verlagert sich immer mehr weg von IKPO-Interpol und hin zu Einrichtungen, die der EG lose angegliedert sind, ohne dort organisatorisch eingebunden zu sein. Diese Kooperation z. B. bei TREVI und Schengen ist daher ebensowenig dem Europäischen Gerichtshof

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oder dem Europäischen Parlament verantwortlich wie die Interpol-Arbeit und hat den Vorteil größter Flexibi­lität, gleichgelagerter Regierungsinteressen und eines gemeinsamen hohen technischen Standards.«

Die Mitglieder des TREVI-Abkommens sind die EG-Staaten. TREVI weitete seine Aktivitäten und die eines eigenen, unkontrollierten, geschützten Kommu­nikationssystems, auf alle Kriminalitätsbereiche aus: vom sogenannten Terrorismus über unerwünschte AusländerInnen bis zu Drogen- und Waffenhandel. Mit dem sogenannten Schengen-Zusatzabkommen310

wird unter dem Namen Schengen II ein Staatsvertrag abgeschlossen, der die vertragliche Grundlage für eine europäische zentrale Polizeibehörde liefern wird. Für das »Europäische FBI« werden auch andere Namen gehandelt: »Europol« oder »Europäisches Krimi­nalamt«. Für diese europäische Polizeibehörde soll ein millionenschweres Informationssystem »in der Anlaufphase … mit ca. 800 000 Personendatensätzen 15 Prozent der Kapazitäten ausgeschöpft werden«.311

Diese Fahndungsdatei soll parallel bei den Nationa­len Zentralbüros, in der Bundesrepublik also vom BKA, geführt und von diesen dauernd ergänzt wer­den. Das Schengen-Informationssystem (SIS) erfaßt: Festnahmen, Einreise Verweigerungen, Vermißte, Gefahrenabwehr, Aufenthaltsermittlung, verdeckte Registrierung, gezielte Kontrolle, beobachtende Fahn­dung usw. Generalklauseln erlauben die Erfassung auf Basis vager Verdachtsmomente und aus Gründen der

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»Staatssicherheit« den Zugriff der Geheimdienste. Die durch die Alliierten aufgrund der Erfahrungen mit der Gestapo verbotene Verquickung polizeilicher (ideell offener) und geheimdienstlicher (verdeckter) Arbeit wird durch Schengen II gesetzlich abgeschafft. Die »Amtshilfe« und der Datenaustausch sind hemmungs­und grenzenlos. Einen wirksamen demokratischen Schutz für Einzelne gegen Maßnahmen auch fremder Polizeien gibt es nicht. Absoluten Vorrang vor allen Schutzregelungen zugunsten des Individuums haben staatsicherheitliche und wirtschaftliche Interessen. Weitere Dateien mit zusätzlichen Datenkategorien sind in Vorbereitung.

Der formaldemokratische Sektor endet am Fa­briktor. Hinter den Toren bundesdeutscher Betriebe herrscht die realexistierende kapitalistische Kom­mandowirtschaft: Unterdrückung und Hierarchie, Ausbeutung, Entfremdung, Gesundheitsgefährdung312

und sinnentleerte, zerhackte, monotone Arbeit. Wür­den die Lohnabhängigen demokratisch entscheiden, wie sie arbeiten und was sie produzieren, gäbe es eine vollständig andere Arbeitsorganisation.

Die Annexion der DDR verschafft der BRD die sozialen und politischen Voraussetzungen für eine längerfristige, stabile Phase der Kapitalakkumulation. Zu diesen Voraussetzungen gehört vor allem die neue Massenarbeitslosigkeit mit ihrem stetigen Druck auf die Reallöhne. Während die Reallöhne von Selbständi­genhaushalten von 1980 bis 1988 um durchschnittlich

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28,7 Prozent stiegen, sanken die der Lohnabhängigen­haushalte im gleichen Zeitraum bereits um 1 Prozent und die der Arbeitslosenhaushalte um 4,7 Prozent. Ziel in dieser Klassengesellschaft ist die Schwächung der Gewerkschaften, die Einschränkung des sozialen Sicherungssystems, auch unter dem Druck steigender Staatsverschuldung, und nicht zuletzt Entsolidarisie­rungs-und Spaltungsprozesse sowie die Demontage unzulänglicher Umweltschutzbestimmungen und ­einrichtungen. Diese Entwicklung wird ökonomische, soziale und politische Krisen hervorrufen, die einen glatten Weg »zur profitträchtigen Reorganisation der kapitalistischen Verwertungsbedingungen« hindern könnten. Eine dieser Hürden ist die enorme Staatsver­schuldung, mitverursacht durch die Strategie, die DDR in den Bankrott zu treiben und dann anzuschließen. Die gezielte Verarmung der DDR und die Spaltung in einen armen Osten und einen reichen Westen legt soziale Zeitbomben.

Die Bundesrepublik ist auf dem Weg einer US-Ame­rikanisierung. Sie ist eine »selbständig gewordene imperialistische Großmacht«, die sich nicht mehr nur indirekt an internationalen Kriegen beteiligen will. Eine Großmacht, regiert und beherrscht von einem der Demokratie verschlossenen administrativen Block und den zentralen international wirkenden Führungs­etagen des Kapitals. Das politische System in der BRD ist ein hermetisch geschlossener, etatistischer und hochkontrollierter Sicherheitsstaat. CDU/ CSU/

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FDP/SPD sind »nichts anderes als Staatsapparate«, »ein korporativ domestiziertes Gewerkschaftswe­sen, bis zum Exzeß staatstreue Intellektuelle und die perfektionierte Maschinerie der Überwachungs- und Geheimdienstagenturen«313, verstärkt durch die Ein­verleibung des Repressionsapparates Stasi mit seinen Methoden, Erfahrungen und Informationen über den angeschlossenen Teil der politischen Opposition. Das gefährliche Selbstbewußtsein dieser imperialen deut­schen Großmacht gedeiht auf Basis der vollständigen Entsorgung der Geschichte der Bundesrepublik, be­sonders ihres faschistischen Anteils.

Etliche unserer Erfolge, die alle Ergebnisse von sozialen Kämpfen sind, werden akut bedroht. Die bundesdeutsche Atommafia zum Beispiel steht vor einem Boom, einem Ausbau von Atomkraftwerken im Osten Deutschlands und Osteuropas. Neue Aufträge für Atomkraftwerke winken. Eine politisch bequemere Alternative zum sogenannten Endlager in Gorleben ist auf ostdeutschem Boden in Morsleben gefunden, und gegen die Kernfusion, den Schritt in das nächste Jahrtausend auf atomarem Kurs gegen den wiederer­neuerbaren Energiepfad, rührt sich kaum Widerstand. Die Schwäche der Linken verbindet sich auf katastro­phale Weise mit dem technokratischen Wunschden­ken vieler sonst kritischer Linker und Linksliberaler im Osten des Landes, die als BündnispartnerInnen in diesem neuen notwendigen Kampf nicht nur ausfallen, sondern oft genug auf der anderen Seite stehen. Für

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uns westdeutsche Anti-AKW-KämpferInnen, die es in den 70er Jahren aus einer extremen Randsituation zu gesellschaftlicher Meinungsmehrheit für ein radikales Nein zur Atomenergie gebracht hatten, ein harter, existentiell bedrohlicher Schlag. Wir befinden uns in einem Wettlauf mit der Zeit. Sind die Genehmigun­gen für die mörderischen, niemals beherrschbaren schlafenden Atombomben mit Dauerkrebswirkung schneller? Oder wir mit unseren Argumenten, unserem jahrelang fundierten Wissen, in der Überzeugung so vieler potentieller BündnispartnerInnen? In den USA müssen heute riesige radioaktiv verseuchte Gebiete für unendliche Zeiten für Menschen gesperrt werden, kein Geld der Welt kann diese unumgänglichen Fol­gen atomaren Wahns noch beseitigen.314 Wenn wir die Auseinandersetzung gegen die Atommafi a verlieren, verlieren wir sie endgültig und unumkehrbar. Das unterscheidet diesen Konflikt von vielen anderen.

Die Bundesrepublik, in der wir zukünftig leben, wird eine zutiefst sozial, regional und kulturell gespaltene Gesellschaft sein. Wie erträglich das Leben in ihr für uns alle, wie solidarisch die Widerstandsstrukturen und wie umwälzend unsere Aussichten in ihr sein wer­den, hängt von dem Bewußtsein möglichst vieler Men­schen ab und von gesellschaftlichen Bündnissen.

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Öffnung der Gewerkschaften?

In einigen Gewerkschaften haben Diskussionen zur Veränderung und Weiterentwicklung gewerkschaft­licher Organisationen begonnen. Zum einen stellen Individualisierung, der Zerfall sozialer Milieus, chro­nische Massenerwerbslosigkeit und Entsolidarisie­rung die Gewerkschaften vor Anforderungen, denen sie nicht ausweichen dürfen. Zum anderen verändert sich innerhalb der Gewerkschaften die Struktur der Mitglieder. Die gesellschaftlichen Veränderungen beeinflussen das Klima, in dem Gewerkschaften arbei­ten, und die Biographien ihrer Mitglieder und damit deren Bedürfnisse und Interessen. Nicht der klassische Facharbeiter mit einer von der Lehre bis zur Rente un­unterbrochenen Arbeit ist mehr das typische Mitglied, typisch ist vielmehr, daß es derartig prototypische Le­bensläufe seltener gibt. Die beruflichen Verläufe sind unterbrochen und durchbrochen. Die Mitgliedschaft der Gewerkschaften wird immer heterogener. Gewerk­schaften, sofern sie den Anspruch auf den Aufbau von solidarischer Gegenmacht gegen das Kapital nicht auf­geben, müssen sich einen schmalen Pfad zwischen zwei Fallen suchen. Die eine Falle ist das Festklammern an autoritären Strukturen und an undurchlässigen Hier­archien. Eine solche Struktur ist schwach, weil sie sich nicht als flexibel erweisen wird, die Erfahrungen vieler Mitglieder mit gewerkschaftsuntypi-schen Lebensläu­

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fen in ihre kollektive Kampfkraft zu integrieren. Streng hierarchische, schwerfällige Organisationsmodelle sind – im Gegensatz zu disziplinierten, aber kollek­tiv-solidarischen, kompetenten Organisationen – der Kapitalmacht unterlegen. Die andere Falle, in die Ge­werkschaften nicht laufen dürfen, ist die der Auflösung in die Beliebigkeit und die Anpassung an den Zeitgeist, der auf Egoismus setzt und auf Eurochauvinismus. Der Weg dazwischen ist schmal und nicht fertig. Er wird das Ergebnis von grundsätzlichen gewerkschaftlichen Diskussionen sein, die nicht in kleinen Gremien, son­dern transparent und von den Mitgliedern insgesamt geführt werden. In einigen Gewerkschaften existiert hierfür kein Raum. Die IG Chemie zum Beispiel ist, über ihre führenden Funktionäre, allen voran dem Rechtssozialdemokraten Rappe, dem Kapital aufs eng­ste interessenverbunden. In dieser Gewerkschaft wird in stalinistischer Manier herausgesäubert, wer es wagt, gewerkschaftliche Arbeit ernst zu nehmen: Kampf um soziale Interessen, um Gesundheit am Arbeitsplatz, um Mitbestimmung, um Einfl ußnahme gegen eine umweltzerstörende Produktion und um internationale Solidarität mit KollegInnen im Trikont. Die beste ge­werkschaftliche Arbeit machen im Chemiebereich die ausgeschlossenen oder von der IG Chemie bekämpften Listen wie die »Durchschaubaren« bei der Hoechst AG, die KollegInnen bei Boehringer Mannheim, der BASF und bei Bayer. In diesen Gruppen organisieren sich Lohnabhängige über den Tellerrand betriebsbor­

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nierter Interessen hinaus, die BündnispartnerInnen der sozialen Bewegungen sein können.

Die IG Medien ist an der Spitze noch in traditioneller Manier organisiert, so daß der Besuch in manchem Ressort dem eines sauber vom Nachbargarten abge­zirkelten Schrebergarten ähnelt. Aber der Apparat beginnt, Diskussionen um die Orientierung der Ge­werkschaften Raum zu geben. Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig: In Versammlungen tobt nicht gerade das volle Leben. Neue Gewerkschaftsmitglieder wollen mit der Entscheidung für gewerkschaftliche Aktivitäten nicht gleich eine Lebensentscheidung treffen, sind aber bereit, sich für eine begrenzte Zeit in Ämtern und Funk­tionen zu engagieren. Mitglieder mit »gemischten« Lebensläufen und Karrieren erlauben den Apparaten keine gruppenübergreifende, einheitliche Interessen­vertretung, weil die Interessen vielfältigere und andere geworden sind. Viele Menschen engagieren sich aus einer allgemeinen politischen Überzeugung heraus gewerkschaftlich. Sie sind nicht mit der Gewerkschaft groß geworden und bleiben auch in anderen, außerbe­trieblichen Bereichen politisch engagiert und wollen diese Lebenserfahrungen miteinander verbinden. Die grundsätzlichen Überzeugungen wie die konkreten Anforderungen verlangen eine Dezentralisierung und Demokratisierung der gewerkschaftlichen Strukturen und Entscheidungsprozesse. In den Thesen der IG Medien Hessen zu einer neuen Betriebspolitik wird der für gewerkschaftliche Verhältnisse fast revolutionäre

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Versuch gemacht, sich auf die neuen Entwicklungen einzustellen.315

Mit diesen Thesen wird die Offenheit und Trans­parenz von Beschlüssen und Strukturen verlangt und die Bereitschaft zur Kommunikation. Demokra­tisierung soll sowohl einzelnen Mitgliedern als auch Unorganisierten die aktive Mitarbeit ermöglichen. Viele Mitglieder sollen mobilisiert werden, sich auf Zeit in gewerkschaftlichen Positionen zu engagieren und zugleich sollen die Gewerkschaften politischer werden und an gesellschaftspolitischen Themen auf­nehmen, was ihre Mitglieder bewegt und diese oft erst zum gewerkschaftlichen Engagement gebracht hat. Zur Entwicklung betrieblicher Gegenmacht ge­hört die Mobilisierung über die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Fragen der Arbeitsorganisation, der Umgang mit gesundheitsschädlichen Stoffen, die ökologischen Auswirkungen der Produktion, die Einführung neuer Technologien, ich ergänze: die Si­tuation von Frauen. Sowie gewerkschaftliche Gegen­machtstrategie sich nicht auf rein rechtliche Strategien beschränken darf, reicht es nicht mehr, lautet die These, davon auszugehen, daß sich alle Beschäftigten als abhängig Beschäftigte in einer prinzipiell gleichen Situation befinden. Unterschiedliche, spezifi sche In­teressen müssen berücksichtigt werden. Damit die notwendigen zentralen Elemente eine Gewerkschaft nicht zentralisch und autoritär machen, braucht sie als Ergänzung einen stabilen, dezentralen Unterbau,

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gerade da wo gewerkschaftliche Arbeit ansetzen muß, im Betrieb. Im Betrieb werden viele Menschen zum ersten Mal mit einer Gewerkschaft konfrontiert und Betriebe spielen nach wie vor die entscheidende Rolle im Kapitalverwertungsprozeß.

GewerkschaftsfunktionärInnen werden lernen müssen, das Stellvertretersein ein Stück loszulassen und Initiativen zu unterstützen, die von den Lohnab­hängigen, auch von Unorganisierten, selbst kommen. Gewerkschaftliche Kampfkraft wird sich in Zukunft immer dann optimal herstellen lassen, wenn die Ein­heit gegenüber dem Kapital durch die Anerkennung der Vielfalt in den eigenen Arbeits- und Organisati­onszusammenhängen stabilisiert entwickelt wurde. Lebenslange 24-Stunden-Funktionäre, die sich unter der ständigen Bedrohung durch Herzinfarkte uner­setzlich fühlen, müssen lernen, zu delegieren und die Eigenverantwortung anderer ernst zu nehmen. Für manche wird es ein Kulturschock sein, der sich dann zur Bereicherung für die Gewerkschaften in ihrer Ge­samtheit entwickeln wird, wenn sich einheitliche, ver­bindliche, solidarische Kampfkraft mit dem Recht auf Individualität, Interessenvielfalt und Basisdemokratie vermitteln. Und viele »Nicht-Traditionelle« werden lernen müssen, daß der – zu verändernde – starre, bürokratische, abgeschottete Apparat auch ein Aus­druck kampferprobter, zuverlässiger »traditioneller« GewerkschafterInnen ist, ohne die kein Arbeitskampf je gewonnen worden wäre. »Meine These ist, daß wir

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diese Instabilitäten bewußt in Kauf nehmen müssen

und als Ideenwerkstätten nutzen müssen, wenn wir

neue Ufer … erreichen wollen … nicht Ordnung und

Einheitlichkeit, sondern Vielfalt und Turbulenzen

(werden) der Normalfall einer gewerkschaftlichen Or­

ganisation in den 90er Jahren sein.« (Manfred Balder,

Landesbezirksvorsitzender der IG Medien Hessen316)

Die Gewerkschaften sind zu grundsätzlichen Diskus­

sionen und Veränderungen gezwungen, wenn sie Ge­

genmacht aufbauen wollen und nicht bloß die Rolle des

Mitglieds im korporativen Block und der betrieblichen

Außenstelle der Sozialdemokratie mit dem Ziel der Be­

friedung sozialer Kämpfe spielen. Die Rückbesinnung

auf einen antikapitalistischen Weg jenseits jeglicher

Sozialpartnerschaftsideologie ist notwendig.

Im Namen des Embryo die Enteignung von Selbstbestimmung und Leben

Alle Kämpfe, die wir führen, sind immer auch Kämpfe

um das Bewußtsein von Menschen. Ohne diese gibt es

keine gesellschaftliche Veränderung und keine demo­

kratische Fortentwicklung. Emanzipation kommt nie

von oben, sie wird immer von unten erkämpft. Nur

dann gibt es die Chance (keine Sicherheit) einer gewis­

sen zeitweiligen Stabilität emanzipatorischer Prozesse.

Politische Erfolge sind nie statische Resultate von

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Kämpfen, sondern immer, mal mehr, mal weniger, be­droht. Schon um Erfolge zu halten, brauchen wir Kraft, sonst werden sie nach einer gewissen Zeit geschliffen. Lange Phasen von Schwäche und Gleichgültigkeit kön­nen wir uns nur bei Strafe, anschließend wieder von vorne beginnen zu müssen, leisten. Ein Beispiel ist der Kampf um die Köpfe in Sachen Selbstbestimmung von Frauen über Sexualität und Fortpflanzungsfähigkeit. Diese Selbstbestimmung wird in der Hauptsache aus zwei sehr unterschiedlich erscheinenden Richtungen angegriffen. Im Kern geht es in beiden Fällen um etwas, das nur mit Gewalt gegen Frauen durchzusetzen ist: um die Trennung des Embryo oder des Fötus von der Frau, in der er wächst. Frauen können im allgemeinen, sofern sie mit Männern schlafen, während rund 35 Jahre ihres Lebens schwanger werden. Der Mensch ist ein besonderer Teil der Natur.

Ausgestattet mit der Möglichkeit, zu denken – wo­von, wie wir wissen, allzu häufig kein oder schlechter Gebrauch gemacht wird – sind Menschen in der beson­deren Lage, soziale Beziehungen einzugehen und sich für verschiedene Lebensformen zu entscheiden. Das unterscheidet sie von den anderen Teilen der Natur.

Die biologische Möglichkeit für weibliche Menschen, schwanger zu werden, trifft auf ein Konglomerat an sozialen Strukturen, Eigenschaften und Interessen. Über Fortpflanzung überhaupt entscheiden zu können, unterscheidet den Menschen vom Tier. Frauen haben die Möglichkeit, den biologischen Prozeß, der mit

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ihrem Körper untrennbar verbunden ist, zuzulassen (Geburt) oder abzubrechen (Abtreibung). Weil sie Menschen sind, sind sie, wie männliche Menschen auch, zwar abhängig von biologischen Prozessen (der Wille zur Kinderlosigkeit hat keine schwangerschafts­verhütende Wirkung), sind ihnen aber nicht unbedingt hilfl os ausgeliefert.

Es gibt nun sogenannte LebensschützerInnen, die Frauenhaß, verklemmte Sexualmoral und Herrschafts­gier zu einem widerlichen Brei anrühren und in ge­waltigen Projektionen gegen Frauen entladen. In der Hauptsache greifen sie moralisch und ideologisch an. Gut zu beobachten ist dies in ihren Hochglanzbroschü­ren. Die bunten Bilder zeigen zerstückelte Embryonen und Föten in der Gebärmutter. Kein Foto zeigt eine ganze Frau. Sie zerschneiden die untrennbare biolo­gische Einheit von Frau und Embryo gewaltsam und reklamieren gegen die entmündigte Frau die Vor­mundschaft für das von ihnen willkürlich behauptete Konstrukt einer eigenständigen personalen Existenz des Embryo. »Im Namen des Embryo« verfolgen sie ihre ganz eigenen Ziele. 1980 ließ der Flughäfen küs­sende Papst Johannes Paul II. zu seiner ideologischen Unterstützung in Rom das »Institut Johannes Paul II. für Studien über Ehe und Familie« gründen. Dessen Leiter, Monsignore Carlo Caffara, erklärte 1988 auf einem Kongress seines Institutes: »Wer Verhütungs­mittel benutzt, will nicht, daß neues Leben entsteht, weil er ein solches Leben als Übel betrachtet. Dies ist

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dieselbe Einstellung, wie die eines Mörders, der es als Übel betrachtet, daß sein Opfer existiert.«317

Kirche und Christentum waren stets der Inbegriff patriarchalischer Herrschaft. Bevor ab dem Ende des 15. Jahrhunderts die Scheiterhaufen brannten, die Galgen aufgestellt wurden und die Folterwerkzeuge zum Einsatz kamen, war das Wissen um eine genuß­volle Sexualität groß. Die »weisen Frauen« kannten viele hundert Kräuterverbindungen für Verhütung und Abtreibung. Jahrhundertelang war christlicher Schwachsinn wie: »Unter Schmerzen sollst du gebären, deine Begierde soll auf deinen Mann sich richten, er aber wird über dich herrschen« (1. Mose 3, 16) gesell­schaftlich marginal. Dann änderten sich die materiel­len Rahmenbedingungen. Ab ungefähr 1300 wandelte sich das seit rund 500 Jahren außergewöhnlich milde Klima, das Weizen in Grönland und Oliven in England wachsen ließ, abrupt. Die Landwirtschaft warf weniger Erträge ab, der Boden verlor an Fruchtbarkeit. Die Bauern konnten ihren Abgabeverpfl ichtungen nicht mehr nachkommen. Die Großgrundbesitzer, allen voran die Kirchen, verloren weitere Einnahmen. Eine lange Reihe von Aufständen und Bauernkriegen be­gann. Die Pest tötete etwa 50 Prozent der BäuerInnen. Es gab nicht mehr genug Arbeitskräfte. Bis dahin wa­ren Kinder meist erwünschte Kinder und hatten meist eine – wenn auch begrenzte – Lebensperspektive. Den befreiten Bauern und Bäuerinnen, denen es zu­dem ökonomisch schlechtging, konnten mehr Kinder

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nicht so einfach abgepreßt werden. Der Menschen-, das heißt Arbeitskräftemangel, mußte als Ergebnis des verbrecherischen Eingriffs »in die Werke Gottes«, die Fortpflanzung, erklärt werden. Seit tausend Jah­ren ruhende bevölkerungspolitische Strafgesetze der Spätantike wurden nun durchgesetzt. Die Lösung für das wirtschaftliche Problem der Großgrundbesitzer wurde von der Kirche bevölkerungspolitisch gelöst. Allen voran die Kirche, reichste Großgrundbesitzerin, der ganze Teilstaaten gehörten, aber auch weltliche Grundbesitzer begannen europaweit mit der Hexen­bulle von 1484 mit der Verfolgung der »Hexen«, wie die weisen Frauen genannt werden. 300 Jahre lang brannten die Scheiterhaufen in Europa. Der Hexen­hammer erwies sich als der Geburtenkontrollhammer, mit dem die Bevölkerungspolitiker Millionen Frauen und Hunderttausende Männer erschlagen. Danach hatten die Menschen – allen voran die Frauen – ihre Lektion gelernt: Lust sollte Schuldgefühle und Angst produzieren, Sexualität ohne Kinder krank oder wahnsinnig machen. Die Frau hatte gattentreu und lustfeindlich zu sein. Die relativ freie Frau des Mittel­alters war nun wirklich endlich tot. Die Kirchen setzten die verantwortungslose Produktion von Kindern »im Namen Gottes« durch. Sexualität war nicht mehr frei, sondern wurde in die christliche Ehe gezwängt, den organisatorischen Rahmen für die Überproduktion an Kindern. Die christliche Moral verlangte, denn viele Kinder starben nun, die unbedingte Arbeitsamkeit,

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den Fleiß, das strenge Leben, das harte Arbeiten »für die Kinder«, eine Grundlage für die Entwicklung der Agrarwirtschaft und den folgenden Kapitalismus. Das bevölkerungsreiche Europa schwappte später in alle Welt. Missionare verbreiteten christliche Moral mit dramatischen Konsequenzen im Trikont. Zum einen begleiteten sie die imperialistischen Raubzüge, von denen die Kirchen, stets auf Seite der Herrschen­den, heftig profitierten. Zum anderen predigten sie christliche Moral und zerstörten selbstbestimmte, eigenverantwortliche Fortpflanzung. Bis heute ist kirchliche Ideologie fest in vielen Köpfen verankert. Der Schlachtruf der Kirche gegen die weisen Frauen war die »Heiligkeit des Lebens«.318 Heute lautet er »Schutz des ungeborenen Lebens«.

Die Angreifer der zweiten Sorte geben sich weniger eifernd, rationaler, technokratischer. Ihnen geht es um die konkrete, stoffliche Zerteilung der nur von der Frau – durch Abtreibung oder Geburt – aufzulösenden Einheit mit dem Embryo. Die GentechnokratInnen wollen die Verfügungsgewalt über Embryonen zu Forschungszwecken und für profitable Verwertung in unterschiedlichen Produkten. Dazu benötigen sie die stofflich-technischwissenschaftliche Enteignung der Frauen im Gegensatz zur moralisch-ideologisch-juri­stischen der selbsternannten LebensschützerInnen. Gebärzwang läßt sich nur um den Preis der Verletzung der Würde und körperlichen Unversehrtheit der Frau gegen sie durchsetzen. Die Herrscher des zu manipu­

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lierenden Lebens zwingen die Frauen nicht unbedingt zu gebären, viel mehr zur unbedingten Fruchtbarkeit, damit viele »überzählige« Embryonen abfallen und sie ihre Qualitäts- sprich Zuchtauswahl bekommen.

In einer patriarchalisch-kapitalistischen Gesellschaft steht nicht der Mensch mit all seinen potentiellen Fä­higkeiten im Vordergrund, sondern seine möglichst extensive und zunehmend intensive Ausbeutung. Er wird nur in seiner ökonomischen Verfügbarkeit gesehen, seiner Effizienz in der Produktion und an seinem Arbeitsplatz. Die brutalste Zuspitzung dieses Menschenbildes finden wir im Konzept der Men­schenzüchtung. Die Genomanalyse perfektioniert die Selektion von Menschen und richtet den Menschen für den Arbeitsplatz zu. Wer dem arbeitsplatzbedingten Krebs 10 Jahre länger widersteht, hat Chancen auf eben diesen Arbeitsplatz. Die pränatale Diagnostik ist – auf jeden Fall unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen – ein weiterer Baustein auf dem Weg hin zur Menschenzüchtung entsprechend den Regeln kapitalistischen Wirtschaftens.

Frauen sollen dazu gebracht werden, nur noch »nichtbehinderte« Kinder zu bekommen, die den Kri­terien hochwertigen Lebens genügen. Buhlt nicht auch ein Teil der Frauenbewegung mit einer beschränkten Sicht der Dinge um Verständnis für die Frauen, die sich einer zusätzlichen Belastung in einer behinder­tenfeindlichen Gesellschaft nicht aussetzen wollen? Die Einstiegsdroge für den manipulativen Zugriff auf

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das Leben ist die so harmlos erscheinende pränatale Diagnostik. Mit den Untersuchungsmethoden dieser vorgeburtlichen Diagnostik (Fruchtwasser- und Ge­webeuntersuchungen) können Frauen gegenwärtig in einer frühen Phase der Schwangerschaft erfahren, ob ihr mögliches späteres Kind unter dem Down’s Syndrome (in rassistischem Sprachgebrauch heißt das »Mongolismus«) oder dem »offenen Rücken« (spina fida) leiden würde. Den Frauen wird angeboten, Behinderungen bei ihren möglichen Kindern auszu­schließen. Schon das ist eine verlogene Wendung, denn nicht die Behinderungen werden vermieden, sondern die behinderten Kinder. Eine Abtreibung aus diesem Grund ist objektiv ein Mosaikstein des kommenden modernen Technofaschismus, auf der subjektiven Ebene erlaubt er vermeintlich die Flucht in die private Lebenserleichterung.

So sehr der gesellschaftliche Druck durch eine be­hindertenfeindliche, kapitalistische Gesellschaft auf die Frauen nachzuvollziehen ist: Es kann kein Recht geben, Leben nach seinem angeblichen höheren oder minderen Wert zu selektieren. Es ist das selbstver­ständliche, alleinige Recht von Frauen, über Sexualität, Abtreibung oder Geburt zu entscheiden. Ihre Ent­scheidung sollte Kriterien voraussetzen, die in ihrem eigenen Leben begründet liegen und die sie allein zu verantworten hat, was selbstbestimmte Diskussionen über diese Kriterien nicht ausschließen muß. Ein Selbstbestimmungsrecht auf Abtreibung, deren Grün­

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de in Eigenschaften des Embryo oder Fötus liegen, in seinem Geschlecht, einer sogenannten Behinderung, in Aussehen oder genetischen Dispositionen heißt, daß eine Frau damit nicht mehr nur über ihr eigenes Leben entscheidet (Kind ja oder nein), sondern über die Verbreitung und gesellschaftlichen Durchsetzung von eugenischem Bewußtsein. Ein solches »Selbst­bestimmungsrecht« läge außerdem in der gleichen Logik wie die Nutzung von Frauen aus dem Trikont als Leihgebärmütter für reiche weiße Frauen aus den kapitalistischen Zentren.

Daß die notwendige Diskussion über die Grenzen von Selbstbestimmung praktisch nicht stattfi ndet, hat damit zu tun, daß auch in großen Teilen der Frauenbe­wegung die Diskussion über die Kriterien von Frauen, ein Kind zu bekommen, tabuisiert ist. Der weitaus größte Teil von Behinderungen wird bei Menschen nach ihrer Geburt verursacht: Verkehrs- und Sport­unfälle, von Medikamenten verursachte Krankheiten, Berufsunfälle usw. Wenn eine Frau sich nach einer Fruchtwasser- oder Gewebeuntersuchung für ihr nicht­behindertes Kind entschieden hat und es sitzt nach einem Badeunfall querschnittsgelähmt im Rollstuhl – was dann? Abtreibungen aus eugenischen Grün­den, von den LebensschützerInnen gern zugelassen, signalisieren lebenden behinderten Menschen einen »minderen Wert«. Ein »Selbstbestimmungsrecht« auf ein nichtbehindertes, blond-blauäugiges, streßfest-in­telligent-begabtes Kind eines bestimmten Geschlechtes

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kann es nicht geben. In der Inanspruchnahme eines solchen Rechtes mischen sich die unhinterfragte Selbstverständlichkeit, den Wunsch für ein Kind nicht begründen zu müssen, die Ideologie von der Existenz minderwertigen Lebens, eine Warenbeziehung zum geplanten Kind und die realen sozialen Belastungen von Frauen.

Nicht die Absicht einzelner Menschen setzt ge­sellschaftliche Normen und Wertvorstellungen. Die patriarchal-kapitalistische Gesellschaft, die sich ohne Überwindung ihrer faschistischen Vergangenheit nach 45 Jahren Demokratie auf Niedrigstniveau auf dem Sprung zur Großmacht befindet, ist die Grundlage für die Entwicklung gesellschaftlicher Normen über lebenswertes Leben. Der gesellschaftliche Druck auf Frauen, ihren Embryo einer Qualitätskontrolle zu unterziehen, die rasch immer mehr Kriterien für soge­nannte Behinderungen beinhalten wird, wird gewaltig sein. In Indien genügt die »Behinderung« Frau zu sein, weibliche Föten gezielt abzutreiben und neugeborene kleine Mädchen zu ermorden. Würde diese bundes­deutsche Gesellschaft morgen Contergan-Kinder leben lassen? Mit dem Argument, das spätere behinderte Leben des Kindes lohne sich nicht, wird den Frauen die »Verantwortung« zur Kostendämpfung nahegelegt.

Einfache Lösungen gibt es für diesen komplizierten Zusammenhang nicht. Ich glaube, daß innerhalb der Frauenbewegung und aus dieser in die Gesellschaft hinein sehr viel offensiver und gründlicher diskutiert

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werden muß, daß Kinderkriegen in dieser Gesell­schaft nicht mehr als eine biographische Selbstver­ständlichkeit angesehen werden kann, die Kritik und Begründung ausschließt. Ich bin der Ansicht, daß die Entscheidung für ein Kind so bewußt getroffen wer­den muß, daß sie die Akzeptanz des Kindes in jeder Gestalt einschließen sollte. Es nützt nichts, sich den menschenfeindlichen Werten einer patriarchalen Warengesellschaft zu unterwerfen und die subjektive Lösung eines pflegeleichten erfolgreichen Kindes zu suchen. Es bleibt uns nichts anderes, als das Selbst­bestimmungsrecht von Frauen mit der Ablehnung menschenfeindlicher technisch-wissenschaftlicher Entwicklung und Werte zu verknüpfen.

Oft wurden in der Auseinandersetzung mit den Re­produktionstechniken Fehler gemacht. Wir haben uns nicht genug mit dem Wunsch von Frauen auseinan­dergesetzt, unbedingt ein eigenes Kind zu bekommen. Kinderlose Frauen setzen sich medizinischen Experi­menten aus, um ein »eigenes« Kind zu bekommen: künstliche Befruchtung, Späteinpfl anzung befruchteter Eier oder schon sich entwickelnder Föten. In etwa 90 Prozent der Fälle sind die Experimente, die sich über Jahre hinziehen können, qualvoll und ergebnislos – für die Frauen. Der Wissenschaft bringt jedes Retorten­baby im Schnitt 300-400 »überzählige« Embryonen für weitere Experimente mit dem Leben und für kom­merzielle Nutzung. Unser falsches Verständnis für die Selbstverständlichkeit des Kinderwunsches von Frauen

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hat geholfen, die gesellschaftliche Legitimation für die Gen-und Reproduktionstechniken rasant zu beschleu­nigen. Keine Überraschung in einer Gesellschaft, in der die Erfüllung weiblichen Lebens im »eigenen« Kind gesehen wird. Daher sollte sich die Forderung nach ersatzloser Streichung des § 218 mit der Ablehnung der Gen- und Reproduktionstechnologie verbinden.

Joseph Huber, ein aus der Alternativszene nach rechts aufgestiegener Wirtschafts- und Sozialwissen­schaftler, verkündet zur Freude der Herrschenden, daß es ökologische Modernisierung nur mit dem Ka­pital geben kann. Mit solchen Thesen wurde er zum gefragten Berater in etablierten Kreisen, die sich von Leuten wie ihm die argumentative Munition gegen den radikalökologischen Widerstand versprechen. Huber ist der Ansicht, daß Kapital und Ökologie einander er­gänzen, weil beide sparsam sein müßten: die Ökologie um Ressourcen zu schonen, das Kapital angeblich um Profite zu maximieren. Gefragt, ob das Kapital seine Sparsamkeit nicht stets durch die Auslagerung von Problemen habe vermeiden können, antwortet Huber: »… Diese Expansion war immer begleitet von techni­schen Innovationen und Produktivitätssteigerungen. Heute ist die historische Erstmaligkeit, daß es keine weißen Flecken auf der Landkarte mehr gibt, eine Ausdehnung der Grenzen also nicht mehr möglich ist, wir somit nur mehr die Chance haben, die Probleme durch Innovationen zu lösen. Das wird den Beteiligten, von den Wissenschaftlern über die Politiker zu den

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Managern, immer bewußter. Ich bin im Grunde also optimistisch, weil ich die Bedingungen heranreifen sehe, die das Umschalten von einem bürokratischen Umweltschutz auf einen innovativen, marktgerechten Umweltschutz ermöglichen, erzwingen und beschleu­nigen.«319

Was für ein blühender Blödsinn! Daß das Kapital Menschen und natürliche Ressourcen gar nicht spar­sam verschwendet, plündert, vernichtet, haben wir schon gezeigt. Selbst wenn es keine riesigen unbekann­ten Teile der Erde mehr gibt – kleinere gibt es dennoch –, gibt es doch große Regionen und Bereiche, die den Verwertungsbedingungen des Kapitals noch nicht oder noch nicht ganz unterworfen sind: Regenwälder, Ant­arktis, Wüsten, Rohstoffe, Menschen. Darüber hinaus aber läuft die Entwicklung der den Regeln des Kapita­lismus unterworfenen Technik und Wissenschaft hin zur Intensivstausbeutung des vorhandenen Menschen-und Natur»materials«. Ist es »umweltschonende Sparsamkeit«, die weißen Flecken im menschlichen Erbmaterial in einem wissenschaftlichen Kreuzzug zu erschließen? Ist es eine Entwicklung zur Vernunft, ausgelaugte Böden mit gentechnischen Mitteln zu manipulieren oder Nahrung gleich gentechnisch im Labor herzustellen? Entspricht es dem Huberschen Fortschrittsbild, »daß die Dinge besser werden«, wenn verschuldete Trikontländer wie Thailand, die Philip­pinen oder Kenia mit der sexuellen Ausbeutung von Mädchen und Frauen ihre Schuldzinsen abzahlen?

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Wir sind mit der Gen- und Reproduktionstechnik mit einer gewaltigen Triebkraft konfrontiert, einer Allianz aus grenzenloser Fortschrittsgläubigkeit und dem vielleicht größten Geschäft aller Zeiten. Einiges erinnert an die Propaganda für die Atomenergie in den 60er Jahren. Die neue Energie sollte so sauber, fort­schrittlich, unbegrenzt und billig sein, daß Stromzähler überflüssig würden und der Entfaltung der Produktiv­kräfte keine Grenzen gesetzt seien. Heute schlagen wir uns für Jahrzehntausende mit Atommüllbergen herum, bekommen Krebs und Immunschwäche und sehen den Wald sterben, auch an radioaktiven Isotopen. Nun soll die Gentechnik die Fortschrittsverheißung sein gegen (fast) alles, was Menschen quält: Hunger, Krebs, Erb­krankheiten, Behinderungen, Unfruchtbarkeit, Aids.

Lassen wir uns von der Mystifi zierung nicht blenden und stellen ein paar einfache Fragen: Wer sagt das, in wessen Interesse und mit welcher Absicht? Wer investiert Milliardenbeträge? Welches sind die ökono­mischen, politischen und militärischen Motive? Was nützt die Gentechnik den Menschen und der Natur insgesamt und nicht nur ausgewählten Gruppen?

Die transnationalen Chemie- und Lebensmittelkon­zerne haben das – neben dem Krieg – größte Geschäft der Zukunft fast vollständig unter sich aufgeteilt. Aus­gerechnet sie, die im Trikont die regionalen landwirt­schaftlichen und Wirtschaftsstrukturen zerschlagen haben, um – nach der Vertreibung der BäuerInnen und LandarbeiterInnen – chemiegetränkte Monokulturen

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für den Export anzulegen, versprechen die Beseitigung des Hungers. Die Chemiemultis können in Zukunft, auf einem unter den Monopolen aufgeteilten Welt­markt, die abhängigen Trikontstaaten zwingen, teures, gentechnisch manipuliertes, patentiertes Saatgut zu kaufen, das zudem erst wächst, wenn es mit teurem Dünger und teuren Pestiziden des gleichen Anbieters behandelt wird. Statt der Beiseitigung des Hungers erleben wir also ein neues widerwärtiges Geschäft mit Armut, Hunger und künstlicher Abhängigkeit, dem Artenvielfalt und die Kraft zur Selbstversorgung weichen müssen.

In El Salvador und Guatemala besitzen 2 Prozent der Landeigentümer zwei Drittel des bebaubaren Bodens. Eine wirkungsvolle Maßnahme gegen den Hunger wäre die Enteignung der Großgrundbesitzer und die Verteilung des Bodens an die armen BäuerInnen und LandarbeiterInnen. Sie sorgen für die Ernährung der Menschen, selten die Großgrundbesitzer, die häufig auf ökologisch problematischen Monokulturen nur Exportprodukte anbauen.320

Mit der Weiterentwicklung der Gentechnik kommt – neben dem neuen Mangel – auch ein gentechni­scher Rassismus, der andere Rassismen, unter denen Menschen leiden, weit in den Schatten stellen wird. Eine vom Bundesforschungsministerium eingesetzte Kommission321 urteilte mehrheitlich, die Gentechnik sei sinnvoll, »ethisch vertretbar und rechtlich zuläs­sig«. Im Bereich des Arbeitsrechtes sollen Beschäftigte

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die Genomanalyse verweigern dürfen, die Folgen aber müssen sie selbst tragen. Das Bundesforschungsmini­sterium fördert ein Projekt an der Universität Mainz mit vorerst 1,5 Millionen D-Mark, mit dem Menschen heraussortiert werden können, die leichter mit Krebs­krankheit auf bestimmte Chemikalien reagieren als ihre ArbeitskollegInnen. Ziel sei es, ein Routinetest­verfahren für die chemische Industrie zu entwickeln, mit dem die gentechnische Reparaturfähigkeit ein­zelner Menschen festgestellt werden könne.322 Beides erlaubt, eine/n Arbeitssuchende/n, der/die sich einer Genomanalyse verweigert, gar nicht erst einzustellen. Der Weg zur gentechnischen Selektion von Menschen ist mit dem Kommissionsbeschluß frei.

Mit Hilfe der Genomanalyse werden Menschen nicht vor Arbeitsplatzgiften geschützt, sondern das Kapital kann aus einem größer werdenden Pool Ar­beitssuchender passend zu den Anforderungen einer unveränderten, gesundheitsgefährlichen Produktion auswählen. Genomanalysen werden helfen, Kosten für Produktionsumstellungen zu vermeiden und für berufsbedingten Krebs möglichst nicht zur finanziellen Verantwortung gezogen zu werden. Mit der Gentechnik werden die potentiellen Opfer von Arbeitsplatzgiften kapitalfreundlich sortiert. Schwarze Genom-Listen mit den Daten nicht ausreichend giftresistenter oder gesundheitlich anfälliger Menschen werden zwischen den Arbeitgebern hin und her gereicht werden. Eine »schlechte« Genomanalyse kann ein sehr endgültiges

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Urteil über eine/n Arbeitssuchende/n sein, mit verhee­renden sozialen und psychologischen Folgen.

Die Gentechnik-VerkäuferInnen wollen uns glauben machen, daß eines Tages Umweltgifte von manipulier­ten Kleinlebewesen einfach »aufgefressen« werden können. Damit würde aber ein Ventil geschaffen, das den politischen Druck für Produktionsein- und -Um­stellungen von den Schultern des Kapitals nimmt und weiter Giftmüll produziert wird. Wer die Gentechnik auf diese Weise anpreist, nimmt außerdem die nächsten Umweltverbrechen in Kauf. Die gentechnisch manipu­lierten Bakterien können sich selbst vermehren, mit unbekannten und unkontrollierbaren Auswirkungen.

Viele Ursachen von Krebs sind bekannt: Radioak­tivität aus Atomanlagen und Atomwaffenversuchen, Chemikalien in Produkten und in der Produktion der chemischen oder metallverarbeitenden Industrie z. B., eine verschwenderische Energiepolitik, eine Ver­kehrspolitik mit Abgasterror, Flächenversiegelung und Streß323 als Folge der Intensivierung von Arbeit. Aus­gerechnet, die die aus Profi tgründen Krebskrankheiten mitverschulden, wollen an den bekannten Ursachen nichts ändern, versprechen aber, mit gentechnischen Zukunftsprodukten den Krebs zu bekämpfen. So wol­len die Täter zweimal Profit machen: mit der krebser­zeugenden Produktionsweise und der anschließenden gentechnischen Reparatur.

Derselbe Prozeß, der Krebs verursacht, zerstört auch natürliche Möglichkeiten, Krebs zu heilen. Das

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nationale Krebsinstitut der USA hat bisher mehr als 1400 Tropenwaldpflanzen erfaßt, die krebsheilende Eigenschaften besitzen, ein winziger Bruchteil des zur schonenden Verfügung stehenden Reichtums des tropischen Regenwaldes. In Meeresorganismen ent­deckten WissenschaftlerInnen 1200 Wirkstoffe, viele von ihnen medizinisch hochwirksam. Aus Schwämmen wird zum Beispiel ein Wirkstoff gegen Gehirnhautent­zündung gewonnen.324

Dem Menschen und besonders dem Frauenbild vieler Mediziner und Gentechniker entspricht es, dem Selbstbestimmungsrecht und dem Körper der Frau, dieser »dunklen Höhle und Finsternis«, das Geheimnis und den Zugriff auf das Leben zu entreißen. Während Föten immer später in die Gebärmutter »eingepflanzt« werden können, überleben Frühgeborene immer früher außerhalb des Mutterleibes in Neugeborenen-Intensiv­stationen. Je mehr sich diese Zeitlinien aufeinander zu bewegen, desto eher wird es möglich sein, die Fähig­keit der Fortpflanzung den Frauen zu enteignen und vollständig wissenschaftlichen und damit politischen und industriellen Interessen zu unterwerfen.

Ist es nicht eigenartig, daß wir in Gesellschaften leben, in der die Erfüllung des Frauenlebens durch ein biologisch eigenes Kind ein so viel höherer Wert ist als die Sorge um Leben und Glück bereits geborener Kinder? Und auch die wachsende Unfruchtbarkeit von Männern wird nicht durch die Beseitigung ihrer Ursachen – die zunehmende radioaktive und chemi­

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sche Verseuchung zum Beispiel – bekämpft, sondern

gentechnischer Reparatur unterworfen.

Wachstumszitadelle Europa: Antifaschismus und Internationalismus

»Ich kann mich allerdings nicht über die Re­

stauration des deutschen Super-Staates freu­

en, der vielleicht eine deutsche Supermacht

wird – und es ist eine Restauration gewesen

und keine Revolution. … Wenn Deutsch­

land eine Supermacht wird und wenn die

Geschichte im Schlamm steckenbleibt, in

dem giftigen Morast von Kapitalismus und

geistlosem Wachstum, dann erscheint es als

eine ziemliche Gewißheit, daß der D-Mark

vielleicht gelingt, was Bismarck, Wilhelm II.

und Hitler nicht erreicht haben. Nachdem

ich den größeren Teil von 7 Jahrzehnten in

einer ›Supermacht‹ gelebt habe, die mensch

die Vereinigten Staaten nennt, kenne ich

ihre psychologischen, sozialen, politischen,

kulturellen und ökonomischen Wirkungen

gewaltig gut. Seid also vorbereitet auf das,

was kommen wird: Arroganz, noch mehr

Habgier, als ihr sie heute schon seht, Anomie,

kulturelle Homogenität, eine unterdrücken­

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de Marktökonomie, die Kriminalität erzeugt, Rassismus und Chauvinismus – vielleicht gar Imperialismus jenseits der Grenzen Europas. Die deutsche Jugend war die am meisten eu­ropäische und weltbürgerliche der heutigen Welt. Laßt Nationalismus und Staatlichkeit in Deutschland los, und zukünftige deutsche Generationen – wie Generationen in den USA in der Vergangenheit – werden ihren Sinn für Welt, ihre ›Universalität‹, wie He­gel sagen würde, verlieren und sie werden vom Aussatz ihrer nationalen Identität« und ›Macht‹ aufgefressen werden.«

Murray Bookchin325

In der Bundesrepublik werden täglich mehr Menschen aus rassistischen Gründen mit physischer Gewalt be­droht. Auf wie wenig staatlichen Schutz sie dabei zäh­len können, machten junge türkische Berliner einem Reporter in einer ZDF-Fernsehsendung im Juli 1989 deutlich. Sie erzählten von körperlichen Angriffen von Neonazis, und auf die Frage, weshalb sie in solchen Fällen nicht die Polizei rufen, stutzten sie einen Mo­ment, um dann laut und hilflos zu lachen: »Wir sagen hier, die Telefonnummer der Republikaner ist 110« (Notruf der Polizei).

Rechtsradikalismus, Rassismus und Nationalismus haben in der BRD nie aufgehört zu existieren. Jede gegenteilige Behauptung wäre ein unverdienter Frei­

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spruch für das Land, in dem stets AntifaschistInnen verfolgt wurden, selten aber Alt- oder Neonazis. Mit den RepublikanerInnen trat für eine gewisse Zeit eine parlamentarisch-zubereitete Variante bundesdeut­schen Rechtsradikalismus ans Licht der Öffentlichkeit. Der offene, fl aggenbestückte, nationalhymnenschmet­ternde, weltmachtberauschte deutsche Nationalismus wurde im Jahr 1990 zu einem gesellschaftlich so er­folgreichen Projekt, daß er sich nicht mehr hinter einer kleinen extremistischen Partei zu verstecken hatte. Die Republikaner werden heute (erst mal) nicht mehr gebraucht, die Begierde ihres Klientel nach deutsch­nationaler Identität und nach staatlich sanktioniertem Fremdenhaß werden heute auch von anderen Parteien, offener als je in der bundesrepublikanischen Geschich­te, befriedigt. Die (gegenwärtigen) Wahlniederlagen der Reps sind somit kein Grund für antifaschistische Zufriedenheit, sondern Anlaß für gewaltige Besorgnis über den Zustand des Landes.

Antifaschistische Politik, die sich allein auf die Reps konzentriert, vergißt leicht, daß Faschismus eine Form des Staatsterrorismus ist, die im Kapitalismus als perverse Potenz angelegt ist und die ohne Kapita­lismus nicht geht. Sie kann »ausbrechen«, wenn die Hemmnisse für die totalen Verwertungsbedingungen des Kapitals, wie zum Beispiel eine starke Arbeiter-Innenbewegung oder allgemeinpolitische soziale Opposition, ein hohes Niveau an erkämpften sozialen und Arbeitsrechten und schwerwiegende Hindernisse

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gegen imperialistische Raubzüge in aller Welt zusam­menkommen. Faschismus ist kein nebenbei gewähltes Mittel der herrschenden Elite, wenn ihr die Opposition zu lästig wird. Dazu ist Faschismus auf Dauer nicht effizient genug: Terror im Inneren und Äußeren und Kriegsführung sind extrem teuer. Das Ansehen in den nichtfaschistischen, kapitalistischen Teilen der Welt sinkt und schadet den Geschäften. Der Zustand im Inneren bremst oder verhindert wissenschaftliche und technologische Innovationen, außer vielleicht eine gewisse Weiterentwicklung der Waffentechnik, und behindert damit langfristig die Akkumulation des Kapitals.

Die gewalttätigen Strukturen des Systems Kapitalis­mus sind auch ohne Kategorienunschärfe grauenhaft genug. Antifachistische Arbeit sollte sich nicht in der symbolischen oder auch konkret-praktischen alleini­gen Auseinandersetzung mit den Reps, der FAP usw. erschöpfen, sondern antifaschistische Arbeit muß mit der politischen Arbeit gegen den Kapitalismus im allgemeinen vermittelt werden. Um besondere Formen der Unterdrückung, der Ausbeutung und Erniedrigung von Menschen zu bezeichnen, werden von AntifaschistInnen häufig Begriffe in einen Topf geworfen: Sexismus, Rassismus (einschließlich seiner antisemitischen Variante), Eugenik, Imperialismus – alles dies sei Faschismus.

Rassismus und Sexismus sind beileibe nicht auf faschistische Gesellschaften beschränkt. Sexismus ist

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eine Einstellung, eine Ideologie und ein Verhalten, das aus patriarchaler Herrschaft abzuleiten ist, und die existierte schon vor dem Kapitalismus, dem sie nützt und als Wurzel dient. Rassismus kennen wir auch aus (noch) nicht-kapitalistischen Gesellschaften wie der Sowjetunion. Sie liegt historisch weit vor dem Kapitalismus, ist aber für ihn ein nützliches Vehikel zur Spaltung der von der kapitalistischen Produktionswei­se Betroffenen. Eugenik als reines faschistisches Ge­dankengut zu bezeichnen, entlastet den Kapitalismus unverdientermaßen. Neo-Eugenik ist vielleicht eher ein ideologisches Scharnier zwischen dem Kapitalis­mus, seiner möglichen faschistischen Gestalt und sei­ner tatsächlichen faschistischen Vergangenheit. Sie ist die mentale (und im Faschismus konkret-mörderische) Umsetzung der Ideologie von der Minderwertigkeit von schon im kapitalistischen Sinn nicht »nützlichem« Leben. Die physische, eugenisch begründete Vernich­tung von Menschen im Faschismus findet ihre kapi­talistischen Vorstufen beispielsweise in der Isolation von Menschen in Altersheimen und psychiatrischen Verwahr- und Freiheitsberaubungsanstalten, im Lei­stungsprinzip, d. h. der Denunziation und Ausgrenzung der nicht Leistungsbereiten oder -fähigen, in der Pra­xis, Gesundheit durch Arbeitstauglichkeit zu ersetzen, und aus der drohenden gentechnischen Selektion arbeitssuchender Menschen. Die bundesrepublikani­sche Gesellschaft trägt als kapitalistische in sich den möglichen – aber nicht unabdingbar aufbrechenden

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– Kern einer faschistischen Gesellschaft anderen Typs in sich.

Was bedeutet antifaschistische Arbeit im Alltag? Nach dem Einzug der Republikaner in einige Parla­mente gelang ihnen die breite Selbstdarstellung in den Massenmedien rasch. Linke und liberale Me­dienvertreterInnen reagierten oft hilfl os falsch und bewußtlos. Die einen ignorierten den Konfl ikt, andere luden Rechtsradikale zur Diskussion und zeigten sich dann vollständig unfähig, antifaschistische Positionen in der Auseinandersetzung mit Neonazis oder Rechts­extremisten zu artikulieren. Wieder andere, wie zum Beispiel Peter Glotz (SPD), trugen zur Reputierlichkeit der Reps bei. Glotz ließ sich mit Schönhuber auf ein ausführliches, moderates Gespräch ein, daß die »Welt« im Sommer 1989 in zwei Folgen abdruckte. Trägt ein Rechtsradikaler Schlips, Kragen, Aktenkoffer und bürgerliche Manieren, stehen ihm viele Türen offen. Das erinnert mich an den angeblichen antinazistischen Widerstand von Teilen des deutschen Adels, dem, autoritär, antidemokratisch, monarchistisch und an­tisemitisch, wie er zu einem großen Teil war, die Nazis und Hitler oft einfach zu pöbelhaft waren.

Aber wie hätte mensch auch allen Ernstes von vielen JournalistInnen eine qualifi zierte Auseinandersetzung mit Neonazis oder Rechtsradikalen erwarten können? Die politische Berichterstattung wird weitgehend von JournalistInnen getragen, die ihren Beruf als Hofbe­richterstatter und/oder ZynikerInnen ausüben. Die

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Schere im Kopf soll Konflikte und Karriereknicks vermeiden helfen. Kenntnisreiche, fundierte kritische Auseinandersetzung mit den real existierenden Ver­hältnissen, so die bürgerlich-idealistische Eigendefini­tion journalistischer Tätigkeit, gilt, wird sie praktiziert, in Wahrheit als atemberaubend kühne Palastrevoluti­on. Pressefreiheit wird weitgehend nicht als Freiheit der Presse, über herrschende Strukturen aufzuklären, praktiziert, sondern oft als »Freiheit«, Belangloses auf­zublähen oder soziale Minderheiten vorzuführen. Es gibt nur eine gelegentliche mediale Beschäftigung mit den Ursachen und Auswirkungen des Faschismus, die gegen den riesigen Berg an bedeutungslosen Informa­tionen kaum durchzudringen vermag. Im allgemeinen »analysiert« der/die gutmeinende deutsche Journali­stin als Ursache von Neofaschismus soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot. Das ist be­quem. Denn die antifaschistische Lösung liegt dann in der einleuchtenden – und grundsätzlich richtigen – Forderung nach Wohnungen und Arbeitsplätzen. Diese allgemeinen sozialpolitischen Forderungen bewahren den bürgerlichen Antifaschisten vor der schmerzhaften Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Faschismus in der bürgerlichen Gesellschaft und in so manchem linken Kopf. Die Ansicht, soziale Not sei ursächlich für Faschismus, impliziert, daß faschistische Anschauun­gen ein Problem der Armen sei. Damit entlastet sich in arroganter Manier eine Gesellschaftsschicht, die ihre Vergangenheit nicht aufarbeiten will und ihre

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faschistoiden Bewußtseins-elemente nur besser, den herrschenden Konventionen gemäßer, zu kaschieren weiß. Faschistischer Ideologie läßt sich der Boden nicht mit sozialtechnischen Lösungen wegziehen. So­ziale Verelendung kann in verschiedene Richtungen umschlagen, nach links und nach rechts.

Geschichte wiederholt sich nicht als Stereotyp. Die objektiven Bedingungen ändern sich wie die subjektiven Voraussetzungen. Ein »moderner« Faschismus würde sich vollständig vom stiefelknarrenden Giftgas-KZ-Na­zismus unterscheiden. Ideologische Grundmuster des Faschismus sind in großen Teilen der bundesrepubli­kanischen Gesellschaft akzeptiert. Rechtsradikalismus hat seine Wurzeln in vielen gespaltenen Köpfen. Eine dieser Wurzeln ist Nationalismus, das heißt die Ideolo­gie von der Ausschließung fremder Menschen aus der höherwertigen »Volksgemeinschaft«. Nationalismus ist weder ein Menschenrecht noch ein menschliches Bedürfnis, aber eine wichtige Grundlage für Herrschaft innerhalb eines Staates und gegenüber anderen Län­dern. Auch in seiner sozialdemokratischen, scheinbar linkeren oder aufgeklärten Erscheinungsform bleibt Nationalismus was er ist: lebensgefährlich für die, die außerhalb dieser Nation stehen oder sich als Interna­tionalistInnen antinationalistisch verstehen. Ob Brandt oder Momper die Nationalhymne singen, oder ob La­fontaine den Deutschnationalismus zu eng fi ndet und für ein starkes verteidigungsbereites Europa plädiert, das ist kein wesentlicher Unterschied. 1933 steht nicht

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vor der Tür. Technofaschismus kommt vielleicht in re­spektiertem, gesellschaftlich schon breit verankertem Gewand: modern, wissenschaftlich verbrämt, ökono­misch mächtig, technisch hochentwickelt und in seiner diplomatischen Außendarstellung enorm fl exibel. Es wird auch nicht unbedingt Konzentrationslager geben müssen. Die antifaschistische Opposition wird auf kal­tem Weg ausgeschaltet und sprachlos gemacht. Dank der großen Auswahl an Arbeitskräften bei steigender Arbeitslosigkeit und polarisierter Reich-Arm-Struktur wird die Auswahl an anpassungsbereiten Techniker Innen, IngenieurInnen, Wissenschaftlerinnen, Medi­enarbeiterInnen usw. immer größer.

Moderner Faschismus kommt nicht in Gestalt ar­thritischer Männer in Uniform, die mit Knobelbechern durch die Straßen marschieren, in Reih und Glied, begleitet von Scharen kurzgeschorener, dumpf-fana­tischer Jugendlicher. Ihre Uniformen sind vielleicht eher weiße Kittel oder feine Anzüge als grobe braune Uniformen. Eine bestimmte Form antifaschistischer Politik verschwendet alle Kraft auf die ausschließli­che Beschäftigung mit dem traditionellen Typus von Faschismus und geht damit in die Falle, nicht auf künftige, völlig anders erscheinende Verkleidungen derselben menschenverachtenden Herrschaftsform vorbereitet und mit ihr auseinandersetzungsfähig zu sein. Noch Ende der 60er Jahre und in den 70er Jahren hatten neonazistische Einstellungen unter Jugendli­chen nur geringe Chancen.

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Antifaschistische Einstellungen waren in weiten Teilen der Jugendlichen hegemonial: antiautoritär, feministisch, basisdemokratisch, solidarisch und inter­nationalistisch war das Lebensgefühl, statt in nationa­lem Mief zu suhlen und fremden- und frauenfeindliche Kumpanei zu pflegen. Diese von Rechten bekämpften Werte, die auch von Teilen der Linken aufgegeben wurden, verloren an gesellschaftlicher Bedeutung.

Es gibt keinen vereinheitlichten Antifaschismus innerhalb der Linken. Die einen sind moralisch ent­rüstet, »natürlich« antifaschistisch eingestellt und ignorieren das Problem ansonsten. Andere verniedli­chen, indem sie mit sensibler Betroffenheit enthüllen: der Faschismus steckt in uns allen, was nichts erklärt, aber menschenverachtende Interessen und Strukturen verschleiern hilft. Wieder andere hängen Gedenktafeln auf oder prügeln sich mit Neonazis. Während sich viele Linke ihren Wehwehchen widmen, in VeteranInnen-Erinnerungen an APO-Zeiten schwelgen oder sich cool der Karriere hingeben, organisiert sich die Neo­naziszene auch um ein Thema, das die Linke beinahe schon einmal verloren hätte und wieder zu verlieren droht: die Ökologie. Es ist ein Zeichen von Dummheit, seine Gegner zu unterschätzen. Das rechtsradikale und neofaschistische Milieu organisiert sich und rekrutiert auch um die ökologische Frage in ökofaschistischer Interpretation. Linke geben nicht nur die Ökologie als soziale politische emanzipatori-sche Ökologie frei oder haben sie nie für sich entdeckt, sie setzen sich auch nur

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einzeln oder in kleinen Gruppen von SpezialistInnen mit dem aufkommenden Ökofaschismus auseinander. Der ideologischen Erneuerung eines technisch-wissen­schaftlich verbrämten, modernisierten, eurochauvi­nistischen Faschismus steht furchtbar wenig im Weg. RepublikanerwählerInnen sind nicht plötzlich als Pro­testwählerInnen vom Himmel gefallen: Keiner ahnte etwas, und die ganze demokratische Gemeinschaft ist zutiefst betroffen. Der Rechtsradikalismus in Parteige­stalt trat unter dem weiten Mantel von CDU/CSU als selbstständige politische Kraft hervor, als diese ihre reaktionären Versprechungen nicht einhielt, während sie mit der SPD um die Art der Modernisierung des BRD-Kapitals stritt. Die neofaschistischen Merkmale Menschen Verachtung, Rassismus und Frauenfeind­lichkeit sind nicht Eigentum des von den Bürgerlichen verachteten »Pöbels«, sondern sie sind ganz Eigentum eben jener BürgerInnen. White-Collar-Welteroberer aus der deutschen Industrie sind gefährlicher für die meisten Menschen auf der Welt als eine Wehrsport­gruppe. Ein vatikantreuer Erzbischof verbreitet inqui­sitorischen Frauenhaß machtvoller als neofaschistische Stammtische. Wer wie einige führende SPD-Strategen stolz darauf ist, den Fremdenhaß zu mindern, indem Asylsuchende schon außerhalb der deutschen Grenzen in ihre Folterländer zurückgejagt werden, gibt dem Haß eine wirkliche Chance.

Nun, Dyba und andere Pharisäer verprügeln Frau-en nicht selbst. Und SozialdemokratInnen lassen

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zwar DemonstrantInnen und HausbesetzerInnen niederknüppeln, sind aber selbstverständlich keine lateinamerikanischen Todesschwa-drone. Aber alle­samt bereiten sie den Boden für die Zerstörung der bürgerlichen Demokratie. BiologistInnen halfen die soziale Frage von der ökologischen zu lösen und den Naturschutz kapitalismusverträglich zu definieren. Klerikale Hetze schuf, gemeinsam mit den sogenann­ten LebensschützerInnen, eine Voraussetzung für die Enteignung der Selbstbestimmung der Frauen über Sexualität und Fortpfl anzung. Und sozialdemokrati­sche Asylverweigerungen bestätigen die öffentliche Meinung, statt diese zu verändern, in dem Vorurteil, daß es soviel ernsthafte Fluchtgründe gar nicht geben kann und dieses Land vor allem auch keine Schuld für Flucht und Asylsuche trägt. Lafontaines von der CDU begeistert begrüßtes Anliegen einer Verfassungsän­derung zur Einschränkung des Asylrechtes war der Versuch, rechte und rechtsradikale WählerInnen wieder einzufangen. Aus blankem Opportunismus und Machterhalts trieb bestätigte er rassistische Einstellun­gen, anstatt die notwendige Auseinandersetzung mit ihnen aufzunehmen. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keinen »Konsens der Demokraten« ge­gen Rechtsradikalismus und Neofaschismus. Es gibt Hilflosigkeit, heimliche Kumpanei, Opportunismus, Passivität. Antifaschistische Politik liegt weiter allein in der Verantwortung von linken und radikaldemo­kratischen Kräften.

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Rechtsradikalismus und Neofaschismus in ihrer heutigen Form sind Auswirkungen der Modernisie­rungstrategien des Kapitals. Nicht die materiellen Probleme wie Wohnungsnot und Erwerbslosigkeit sind in erster Linie die Ursachen, sondern die Atomisierung sozialer Milieus, die ein Mindestmaß an Geborgenheit und Solidarität boten. Der radikale Umstrukturie­rungsprozeß des Kapitals wird, so wie er stattfindet und wie er in den kommenden Jahren ablaufen wird, hochkonzentriert, rasch und mit erbarmungslosen sozialen Folgen, von vielen Menschen nicht durch­schaut, und sie wissen, daß sie diesen Prozeß kaum beeinflussen können. Wie sollen Jugendliche sich mit einer Entwicklung selbstbewußt auseinandersetzen, die nicht einmal politisch erfahrenere Menschen oder Intellektuelle ganz zu begreifen scheinen? Die Zukunft ist diffus, intransparent, beängstigend, der eigene so­ziale Abstieg und die Isolierung scheinen beschlossene Sache. Berufliche und familiäre Zusammenhänge, Nachbarschaftsverbände, gewerkschaftliche Kollektive verschwinden, verlieren an Ausstrahlungskraft, bieten keine stabilisierende Identität oder existieren nur in mikroskopischer Menge. Ist es ein Wunder, daß straff geordnete, klar hierarchisch gegliederte erkennbare Strukturen in rechten bis rechtsradikalen Kreisen für manche, meist männliche, Jugendliche eine gewisse Attraktivität und Geborgenheit versprechen? Mitglied einer rechtsradikalen Gruppe zu sein garantiert minde­stens dreierlei: keine Konkurrenz emanzipierter Frau­

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en, es stehen immer noch andere soziale Gruppen unter einem (AusländerInnen) und man ist nicht allein. Ohne naiv die einfache Austauschbarkeit sozialer Gruppen zu unterstellen, ist festzustellen, daß die Gesellschaft und die Linke Milieus mit identitätsstiftender Funktion kaum zu bieten hat.

Antifaschistische Arbeit bedeutet daher sich kon­tinuierlich in den alltäglichen Strukturen die Mühe zu machen, widerstandsfähige Milieus aufzubauen und zu erhalten, nicht als starre Notgemeinschaften, sondern als lebendige, auseinandersetzungsfreudige, theoretisch arbeitende wie aktionsbereite Gruppen. Wir brauchen alternative, linksradikale, basisdemokra­tische politische und soziale Milieus, die die Qualität haben, Schutz, Zusammenhalt, Selbstbewußtsein zu stärken, Identität und Widerstandskraft zu wecken, linke Milieus mit Phantasie, Intellekt und solidari­schen, emanzipatorischen Strukturen. Wir wollen nicht weniger als die Hegemonie antifaschistischer Werte in der Bundesrepublik.

Die Grünen haben in der Schaffung dieser Milieus weitgehend versagt. Sie haben in weiten Teilen die soziale Anerkennung durch die Herrschenden wich­tiger genommen als innere Unabhängigkeit und ihre Verantwortung für eine machtvolle Gegenkultur. Das fehlt: »Wir« scheißen aufs Establishment, »wir« bauen uns unsere eigenen Strukturen, »wir« haben eine soziale Vision, »wir« bekämpfen Konsumterror, Herrschaft, Unterdrückung, Ausbeutung hier und im

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Trikont, »wir« sind die VerteidigerInnen der besse­ren Werte und wir definieren sie selbst. Ein solches »Wir«-Gefühl bieten ein paar Jugendzentren, Bürger­initiativen, autonome Kollektive, und seltener Gewerk­schaftsgruppen oder Naturschutzvereine. Die Grünen bieten Jugendlichen keine Utopie, keine mitreißenden Aktionen, keinenSpaß, dafür langweilige, bürokra­tische Sitzungen, Biederkeit statt Action, Satzungs­debatten statt aufrührerischer Reden. Um sich nicht in Sozialarbeitermanier rechtsradikal beeindruckten Jugendlichen anzubiedern, wäre es nötig, daß Linke und Alternative einen Teil des nachbarschaftlichen Milieus dieser Jugendlichen ausmachen. Aber der linke Lehrer wohnt eher in der Eigentumswohnung als in der Trabantenstadt, der linke Sportler arbeitet nicht im Fußballfanclub mit erwerbslosen Jugendlichen, Teile der Frauenbewegung sind eher an Lobbyverbänden zur Durchsetzung von Karrieren interessiert als an der politischen Arbeit mit Mädchen in beschissenen sozialen Verhältnissen.

Viele Linke fühlen sich durch die Entwicklung der Grünen in die bürgerliche Anpassung allzu leichtfertig und zu Unrecht darin bestätigt, daß ökologische Politik sich immer, quasi vollautomatisch, nach rechts entwik­keln muß. Sie setzen sich mit ökologischen Positionen zu wenig auseinander und verspielen Notwendigkeit und Chance. Es entsteht so ein Vakuum, das auch von Neofaschisten besetzt wird, als erfolgversprechendes Feld der Rekrutierung gerade junger Leute. Wer anti­

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faschistisch aktiv ist, weiß, wie vielfältig und verfloch­

ten die Neonazi-Szene arbeitet und wie intensiv sie

sich inzwischen mit pseudo-ökologischen Positionen

schmückt und (reaktionär verstandene) Ökologie

zum Thema ihrer rechtsradikalen Schulungen macht.

Ökofaschismus hat um so mehr Erfolg, wenn sich die

radikale Linke nicht wirklich mit politischer Ökologie

auseinandersetzt und keine eigene radikalökologische

Position entwickelt. Es wird nicht genügen, sich ein

Öko-Etikett aufzukleben und ökologisch Engagierte

freundlicherweise gewähren zu lassen. Es gibt keine

Zukunft mehr für linke Politik, wenn sie nicht auch

radikalökologisch und feministisch ist.

Öl-Krieg am Golf – die offenen und verdeck­ten Kriege gegen den Trikont stoppen

Es liegt in der Verantwortung der europäischen Koloni­

almächte und der Imperialmacht USA, daß wertvolles

Öl aus der Golfregion seit Beginn dieses Jahrhunderts

zum Vorteil der kapitalistischen Zentren und zu Nied­

rigstpreisen in den Entwicklungsmotor der Wirtschaft

des Nordens floß. Die Bündnispartner der kapita­

listischen Metropolen am Golf waren vorzugsweise

diktatorische, undemokratische Regimes, von den Ver­

tretern der kapitalistischen Metropolen »gemäßigte«

Golf Staaten genannt, weil sie stets bereit waren, den

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Reichtum an Ressourcen und die Zukunft ihrer arabi­schen Völker zum eigenen Vorteil zu verschleudern. Das macht einen Teil der innerarabischen Konflikte und Kriegsursachen aus. Und nur mit europäischer (besonders auch deutscher), US-amerikanischer und sowjetischer Hilfe konnte Saddam Hussein zum Dik­tator eines hochgerüsteten Irak werden, der andere Völker und das irakische Volk mit seinen panarabisch­imperialen Absichten bedroht.

Im Windschatten des Krieges, bei dem es neben dem Zugriff auf billige Ressourcen und um die Ausweitung des Herrschaftsbereiches der USA und Europas geht, werden neue Vasallen der USA und Europas milli­ardenschwer mit Waffen aufgerüstet, der Schlächter Assad aus Syrien und der türkische Präsident Özal, verantwortlich für den Mord an KurdInnen und für die Folterungen von politisch Oppositionellen. Es geht um Öl, und es geht um mehr als Öl: Es liegt in den strategischen Interessen des herrschenden militärisch­industriellen Komplexes der USA, den Irak und Kuwait niederzuwerfen und so einen langfristigen, stabilen, politisch-militärischen Zugriff auf diese Region durch­zusetzen. Und es geht auch um die Verbesserung der Verwertungsbedingungen des US-Rüstungskapitals nach dem vorläufigen Stopp des Ost-West-Rüstungs­wettlaufes. »Nicht kriegerische Raub- und Beutezüge werden künftig das Schicksal der Menschheit bestim­men. Der Imperialismus mit kriegerischen Mitteln ist überholt«, schrieb Rudolf Augstein im Spiegel

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Nr. 1, 1990. Falsch! Der Öl-Krieg heizt die Rüstungs­produktion – von der nahezu alle Industriebranchen profitieren – und das Defizit im US-Haushalt an. Die Menschen in den USA müssen für den Ölkrieg bezah­len, wie für die staatlichen Milliarden zur Stützung der Banken und Sparkassen. Der Klassenkampf von oben verschärft sich weiter: zahlen müssen die Armen, die Alten, nicht nur durch die Kürzung der Sozialausgaben und die Natur. Es profitiert das Rüstungskapital, das zusätzliche, staatlich garantierte Extraprofi te kassiert. Die Rezession in den USA führt zu einer weiteren Um­verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten des Kapitals, es sei denn, die Ausgebeuteten schließen sich zusammen und kämpfen für ihre Interessen.

Die Großmacht Deutschland will ihre Interessen am Golf über den Nato-Partner Türkei erreichen, die eine Erweiterung ihrer östlichen Grenze in den kurdischen, ölreichen Norden des Irak hinein anpeilt. Schon wie­der tötet Özal unter schweigender Duldung der Nato, der BRD und der USA, den Krieg gegen den Irak nut­zend, KurdInnen im Osten der Türkei. Er läßt sie mit Bomben vernichten, während er, zur Täuschung der Öffentlichkeit, den Unterdrückten die Ausübung ihrer kurdischen Sprache erlaubt.

Die Großmacht Deutschland, die den Niedergang der nicht-kapitalistischen osteuropäischen Staaten und die Annektion der DDR zum Anlaß nahm, die nie geleistete Aufarbeitung des deutschen Faschismus endgültig zu staubigen Akten zu legen, betreibt psy­

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chologische Kriegsführung, noch vor dem direkten Eintritt in den Krieg deutscher Soldaten am Golf. Schuldgefühle sollen PazifistInnen und Linken die Zustimmung zu Rüstungsexporten nach Israel abzwin­gen. Der Krieg wird vor allem gegen »anti-imperiali­stische Blockaden« in den Köpfen von DemokratInnen in den kapitalistischen Zentren geführt. Noch nie ist versucht worden, antifaschistische Verantwortung niederträchtiger zu mißbrau chen. Der radikaldemo­kratische, antifaschistische und pazifi stische Konsens soll zerstört werden und damit jede handlungsfähige Linke in den kommenden Jahrzehnten. Wenn aber Antisemitismus eine spezifi sche Ausprägung des Ras­sismus ist, kann Anti-Arabismus nicht Hand in Hand mit Antifaschismus gehen.

Wenn militaristische Logik einmal in Gang kommt, wo soll sie beendet werden? Bei Raketen? Giftgas? Oder der Atombombe? Die Waffenlieferungen der bundesdeutschen Kriegstreiberregierung an Israel steigern die Spirale der Eskalation. Wie der Einsatz deutscher Soldaten und Waffen in der Türkei werden sie benutzt, um das politische Klima zugunsten einer Grundgesetzänderung zu verändern. Diese Änderung soll den Einsatz der Bundeswehr auch außerhalb der Nato erlauben. Der ach so weite angebliche Friedensmantel verbirgt die politisch-ökonomisch­militärischen Interessen der alliierten Streitkräfte unter US-Führung. Der Öl-Krieg nützt auch der lange geplanten Aufrüstung Europas: die deutsche und die

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französische Regierung forcieren europäische, mili­tärische Eingreiftruppen.

Israel ist einer der weltweit hochgerüstetsten Staa­ten. Die, die den Krieg vorantreiben, wollen jedwede Unterscheidung zwischen dem Schutz von Menschen in Israel und der Aufrüstung des waffenstarrenden Atomstaates Israel aufheben. Aber der beste Schutz für die Menschen wäre die Beendigung der Besatzungs­machtsrolle und die Bereitschaft, die seit langem aus­gesprochene Kriegserklärung an arabische Nachbarn zurückzunehmen, weg von militärischen Konfliktlösun­gen hin zu politischen. So wie das Selbstbestimmungs­recht des israelischen Volkes und das Existenzrecht des israelischen Staates selbstverständlich sein muß (und seit 1988 von der PLO endlich anerkannt ist), so wäre auch die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechtes des palästinensischen Volkes und sein Recht auf eine eigene staatliche Existenz eine von Israel zu leistende Voraussetzung der Aussöhnung mit den arabischen Nachbarvölkern.

Wir hören im Januar 1991 die ersten Töne in den USA und Frankreich zur psychologischen Vorbereitung eines schnellen, abschließenden, »die Spannung lösen­den« atomaren Schlags. Während ich dies schreibe, ist der Krieg gerade 2 Wochen alt. Wir wissen nicht, wie der Kriegsverlauf sein wird. Bereits jetzt ist die BRD mit Zahlungen in Höhe von 15 Milliarden D-Mark an die Alliierten aktiv am Krieg beteiligt. Wann und wie werden hinter den Propagandaberichten die mensch­

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lichen Opfer wahrgenommen werden? Diesmal holt die USA keine Mittelklassesöhne als Wehrpflichtige gegen ihren Willen in die Schlacht wie in Vietnam. Diesmal schickt sie ihre eigene »Dritte Welt«, die Ärm­sten, Chicanos und Schwarze in den möglichen Tod, die die Berufsarmee wählten, als Ausweg aus sozialer Per-spektivelosigkeit. Sie sterben für die Interessen der herrschenden US-Elite, für einen US-Imperialis­mus, der innenpolitisch die Ausbeutung von Mensch und Natur verschärfen wird. Ihr Tod wird die sozial ignorante öffentliche USA vermutlich nicht gewaltig erschüttern.

Der Beginn des Golfkrieges war der furchtbare Ausbruch eines Konfliktes, der in den internationa­len Beziehungen von Herrschaft und Unterdrückung grundsätzlich angelegt ist. Wie immer dieser Krieg noch verlaufen wird oder gelaufen sein wird: Gegen Krieg zu sein heißt auch, diejenigen Strukturen radikal umzuwälzen, die Völkermord immer wieder möglich machen. Internationalistische, antimilitaristische An­tifaschistInnen haben nur sehr spezifi sche Waffen: die Organisierung von Widerstand, von Aufklärung (zum Beispiel auch über deutsche Waffenlieferungen in alle Welt) und konkreten Aktionen, den leidenschaftlichen Kampf um die Köpfe, die Entwaffnung psychologischer Kriegsführung und die Destabilisierung der Kriegs­treiberstaaten, indem wir den innenpolitischen Preis für diese und jede andere deutsche Kriegsbeteiligung – ob über die NATO oder die UN – hochtreiben, bis sie

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innenpolitisch unbezahlbar werden. Ein erstes antimi­

litaristisches Ziel ist die Beendigung jeder Waffenpro­

duktion auf deutschem Boden und die Schließung und

Enteignung von Rüstungsbetrieben. Gegen Krieg sein

heißt langfristig: die Strukturen von Herrschaft und

Unterdrückung zwischen den kapitalistischen Zentren

und dem Trikont, die Mensch und Natur vernichten,

abzuschaffen.

Außerparlamentarische Opposition – subversiv, organisiert und solidarisch

»Es gehört also mindestens ein Zusam­

menwirken von Gemüt, Gewissen und vor

allem Erkenntnis dazu, um sozialistisches

Bewußtsein gegen das eigene bisherige ge­

sellschaftliche Sein abzuheben.«

Ernst Bloch 1938-1945326

»Der theoretische Lernprozeß durch Auf­

klärung wird zum repressiven Konsum,

wenn er den Weg der praktischen Aktion

nicht findet.«

Rudi Dutschke 1967327

In Tausenden von Gruppen setzen sich Menschen,

meist getrennt voneinander, mit einzelnen Bedro­

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hungen so qualifiziert wie parzelliert auseinander. Die fachliche wie ideologische Durchdringung von einzelnen gesellschaftlichen Fragen dürfte so hoch entwickelt sein wie noch nie in der Geschichte der Bun­desrepublik. Es sind FeministInnen, die in autonomen Studien die Bedingungen für Sextourismus, Prosti­tution und Heiratshandel erarbeiten. Bürgerinitiati­ven gegen Müllverbrennungsanlagen geben sich mit Schadstoff- und Verfahrensanalysen nicht zufrieden, sondern entwickeln detaillierte Produktionsalterna­tiven. GentechnikkritikerInnen blamieren mit ihren Kenntnissen hochbezahlte MolekularbiologInnen und ReproduktionstechnikerInnen. Linke Gewerk­schafterInnen kämpfen für den Erhalt von solidari­schen Zusammenhängen und Arbeitszeitverkürzung. Ökologische WissenschaftlerInnen entwickelten aus Erkenntnissen der Anti-AKW-Bewegung komplette Alternativenergiekonzepte für die Bundesrepublik. InternationalistInnen unterstützen den Aufbau sozi­aler Projekte in von der Guerilla befreiten Zonen in El Salvador. Autonome Gruppen kämpfen gegen staatli­che Repression und beschäftigen sich mit Sexismus. Ohne Bürgerrechtsgruppen gäbe es keine qualifizierte Analyse des staatlichen Gewaltapparates und des tat­sächlichen Zustandes der Demokratie in der BRD.

Unser Widerstand läuft Gefahr, einen Haufen po­litischer Schrebergärten zu produzieren, auf hohem Niveau, aber wie einsame Inseln getrennt voneinander. Wie vermittelt sich denn nun diese Qualität mit der

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Organisierung von Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse? Wo bleibt die politische Intervention?

Wenn es uns nicht gelingt, ein Bewußtsein über den Zusammenhang und die notwendige Koordinierung der einzelnen Kämpfe zu schaffen, werden wir schei­tern. Die Einzelkämpfe haben manchmal Ähnlichkeit mit einer Flucht in die Sicherheit des fachlich abge­grenzten, überschaubaren Bereichs. Eine außerpar­lamentarische Bewegung, die politische Gegenmacht gewinnen soll, braucht aber eine fachliche Qualifizie­rung, die vermittelt ist mit der theoretischen Erkennt­nis über die allgemeinen gesellschaftlichen Zustände und mit der praktischen Bereitschaft der politischen Organisation, der Intervention und der Aktion. Eine neue APO braucht ein interdisziplinäres Verständnis ihrer Arbeit, strukturell und programmatisch.

Die praktische Umsetzung dieses Anspruchs findet seinen Ausdruck in der Bereitschaft, soziale Bünd­nisse einzugehen. Soziale Bündnisse sind Bündnisse mit Menschen, die unterschiedliche Erfahrungen, Biographien, politische Anschauungen haben, mög­licherweise aus unterschiedlichen Kulturen kommen oder verschiedenen Ethnien angehören.

Ein Machtfaktor wird die Linke in der Bundesre­publik Deutschland nur, wenn sie die Schaffung von Bündnissen als ihre alltägliche politische Arbeit ver­steht. Die Bündnisse brauchen ihre prinzipielle Auto­nomie, nicht von sozialer Verantwortung, sondern von Kapital, Staatsparteien und der Kulturindustrie. Eine

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neue APO, mag sie eine soziale oder gar eine Sozialre­volutionäre Bewegung sein, hat einige, von der Linken bislang noch unbewältigte Aufgaben vor sich. Sie muß in einer Gesellschaft, in der die hedonistische Witzfi­gur Vorbild einer neurotischen Konsumgesellschaft ist, die Kritik an hemmungsloser Individualität mit der Kritik an totalitärer Kollektivität vermitteln und daraus Strukturen entwickeln, die persönliche Freiheit, soziale Beziehungen und kollektive Solidarität in eine neue Beziehung setzen.

Welche Rolle linke politische Gruppen wie die PDS (Partei des demokratischen Sozialismus) oder die Organisationen, die sich unter dem Namen Radikale Linke treffen, oder die Autonomen in Zukunft spielen, ist zum Jahreswechsel 1990/91 noch offen. Politische Zusammenarbeit richtet sich nach inhaltlichen Über­einstimmungen in Einzelfragen. So selbstverständlich eine solche Zusammenarbeit zum Beispiel mit der PDS ist, so wenig wird die PDS als Ganzes Teil des gesellschaftlichen Oppositionslagers sein. Ihr Ehrgeiz, diesem Staat zu beweisen, wie sehr sie auf dem Boden des Grundgesetzes steht, zeigt nicht nur ein unkriti­sches Verhältnis zu dieser Verfassung, sondern den naiven Glauben, sich durch das freiwillige bußfertige Entblößen der Brust vor planvoller staatlicher Repres­sion retten zu können. Ob sie als Gesamtformation die Begrenztheit ihres traditionellen technokratischen Ansatzes überwinden, ist“ offen. Schwankende bis befürwortende Positionen zur Atomenergie und zur

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Gentechnik und die Akzeptanz der Sozialstaatsillusion lassen eher eine Hinwendung zum Sozialdemokra­tismus befürchten. Es wird innerhalb der PDS einen Klärungsprozeß geben müssen, und sein Ausgang ist offen. Dagegen finden sich in der Radikalen Linken viele entwickelte Positionen, Widersprüche einge­schlossen. Das ist eine Chance, wenn es gelingt, die unterschiedlichen Erfahrungen zu einer gemeinsamen Debatte über die Weiterentwicklung linker Theorie, die Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und die Entwicklung gemeinsamer Aktions- und Widerstands­perspektiven, – die Voraussetzung gesellschaftlicher Interventionsfähigkeit –, zusammenzuführen.

Die Besonderheit autonomen Politikverständnisses liegt im Zusammenhang des »Prinzips der direkten Aktion« mit der eigenen, subjektiven Veränderung. Autonome Politik ist – parallel zum Streß durch staatliche Kriminalisierungswellen – der komplizierte Versuch der Gratwanderung zwischen privatistischen Sackgassen und entfremdeten, objektivistischen Politikstrukturen. Mit ihrer Aktionsfreudigkeit sind sie anderen Linken oft voraus. Ihre Schwäche liegt in der zu starken Isolierung von anderen politischen Zusammenhängen und der zu geringen Bereitschaft zur theoretischen Auseinandersetzung.328

Millionen von Menschen leben in der gleichen sozialen Lage: unter oder am Rand des Existenzmini­mums, ohne menschenwürdige Wohnung und ohne Chance, sich selbst auch nur annähernd zu verwirk­

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lichen und Kindern eine qualifizierte Ausbildung zu bezahlen. Sie leben in der gleichen Lage, ohne daß sie – wie in England oder Frankreich – ein gemeinsames (Klassen)Bewußtsein besäßen. Die Aufl ösung stabiler sozialer Milieus hat dazu beigetragen, daß die erlitte­nen Diskriminierungen und die Ausbeutung nicht als Facetten der gleichen ökonomischen Struktur wahrge­nommen wird. Die Aufklärung und das Bewußtmachen dieses Zusammenhanges ist die Aufgabe von Linken, die aber selbst eine vergleichbare Isolation und Ent­fremdung überwinden müssen.

Die Möglichkeit, im Widerstand Kreativität zu ent­falten, die Lust am Lernen in sozialen Zusammenhän­gen, die Erfahrung von kollektiven Erfolgen und Soli­darität sind an Intensität, Glücksgefühl, Chancen zur Persönlichkeitsentwicklung und Sinn jedem Zeitgeist­leben überlegen. Der berüchtigte »Sinn des Lebens« fällt einem Menschen nicht beim orientierungslosen Jammern in den Schoß, sondern er ist das Produkt einer Entscheidung.

Die soziale Gegenmacht zur Weltherrschaft des Kapitalismus und zur Atomisierung jeder Hoffnung einer befreienden sozialen Utopie wird ausschließlich das Resultat von politischer Arbeit sein, die es versteht, die dem Kapitalismus immanenten Krisenprozesse zu nutzen. Einer Arbeit, die nur eine Chance hat, wenn die Menschen sie als ihre eigene, nicht auf politische Stell­vertreterInnen delegierbare betrachten. Eine Arbeit aber auch, die ganz das Gegenteil von Entfremdung

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bedeutet. Eine Arbeit, die, wenn sie gut gemacht wird, geeignet ist, die Teilung in lästige Pflicht und lustvolle Kunst aufzuheben. Erfolgreicher Widerstand ist nicht plump und schnell ausgepowert, sondern kunstvoll, radikal und voll Phantasie, subversiv und autonom, in aufrechtem Gang und gerissen, (gegen) machtbewußt und herrschaftsfeindlich und mit langem Atem. Solch ein Widerstand garantiert: nie mehr Monotonie, hilf­loses Ausgeliefertsein und dumpfes Nichtverstehen, sondern Solidarität, persönliche Freiheit und kollektive Weiterentwicklung, Erkenntnis und Perspektiven.

Mit dem Zustand der Bundesrepublik zufrieden zu sein hieße, bedenkenlos von vermeintlichen Annehm­lichkeiten zu profitieren, deren Voraussetzungen die große Mehrheit der Menschen der Welt in Elend und Tod versinken läßt. In unseren langfristigen Überle­gungen sollten wir über eine Gesellschaft ohne Lohn­arbeit, Geld und Waren nachdenken, eine Gesellschaft, die Gebrauchsgüter herstellt, ohne diese Herstellung asketisch-zwanghaft zu regulieren, aber auch ohne das grenzenlose Wachstum des kapitalistischen Wirtschaf­tens mit seinem Zwang zu Konkurrenz, Egoismus und Ellenbogengesellschaft. Denn die bürgerliche Gesell­schaft hat »kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. … Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Frei­heiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.«

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(Karl Marx)329 Die materielle Entwicklung, die Ent­faltung der Produktivkräfte, die technologischen Vor­aussetzungen für die freie Versorgung aller Menschen bei dann verändertem, verantwortlichem Konsum, veränderter Produktion wie veränderten Produkten schaffen die Möglichkeit, die individuellen Bedürfnisse mit den gesellschaftlichen Notwendigkeiten (z. B. Na­turerhaltung) zu vermitteln.

Natürlich machen Linke Fehler, wie alle, die han­deln. Wir müssen uns in offeneren, konfliktfreudi­geren Diskussionen als bisher mit den Grundlagen unseres sozialen Seins auseinandersetzen – und mit unseren Fehlern. Neben der Ignoranz gegenüber Öko­logie, Feminismus, Wissenschaftskritik usw. und der verbreiteten Faulheit, Bündnisse zu schmieden und alltäglich Widerstand zu organisieren, gehören dazu an vorderster Stelle zwei Fehler: einmal der Verzicht auf theoretische Arbeit als Grundlage aller Gesell­schaftskritik und zum anderen die Weigerung, sich in konkrete, tägliche politische Arbeit zu begeben. Eine Linke, die in diese beiden Teile zerfällt, bleibt schwach. Sie wird noch schwächer, wenn sie, dem Zeitgeist ist’s verdankt, Harmoniesucht für eine besondere Qualität hält. Harmonie in der Politik ist meist nichts anderes als intellektuelle Faulheit und die Angst vor Konflikten. Die Vermeidung von Konflikten räumt den Rechten Raum frei. Linke brauchen – und sei es zunächst nur in den Köpfen – zur Durchsetzung radikalökologischer, ökosozialistischer, feministischer, internationalisti­

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scher, antimilitaristischer und basisdemokratischer Positionen Konflikte und bewußte gesellschaftspoli­tische Polarisierung. Die Kunst linksradikaler Politik liegt in der Einbindung dieser Ziele in eine Strategie, die sich auf Alltagsauseinandersetzungen bezieht, größere Konflikte vorbereitet und das langfristige Ziel gesellschaftlicher Umwälzungen nicht aus dem Auge verliert. Jenseits von Anpassung und Reformismus liegt die Befreiung des Menschen und der Natur. Inner­halb der herrschenden Strukturen ist diese Befreiung nicht zu schaffen, sie beginnt aber mit dem politischen Widerstand gegen Bewußtseinstrübung, Anpassung, Durchsetzung neuer Kapitalstrategien, mit der wis­senschaftskritischen Auseinandersetzung, mit sozialen Bündnissen, mit der Bereitschaft zu handeln.

Multinationale Konzerne und Staaten plündern die Erde und verschaffen Milliarden Menschen ein Leben voller Not. Können wir uns vorstellen, daß sich 90 Prozent der Menschheit gefallen lassen, von einer Minderheit ausgebeutet, erniedrigt und mit dem Tod bedroht zu werden? Vielleicht ist der neue Schub von Fremdenhaß, der über die Bundesrepublik schwappt, einschließlich der Aushebelung des Asylrechts, schon ein Anzeichen der Panik der Besitzenden, die hoffen, den Zugang zu ihren Wachstumszitadellen rechtzeitig gegen die Armen verbunkern zu können, bevor Hunge­raufstände im Süden das Fundament ihres Wohlstands erschüttern. Der Erfolg unserer Anstrengungen ist of­fen, aber einen anderen Weg gibt es nicht. Der Mensch

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wird zum Menschen, indem er dafür kämpft, daß die Bedingungen für alle menschlicher werden.

1

Anmerkungen

Die »Reportage« über die Pariser Kommune ist auf Grundlage folgender Quellen geschrieben: 1.) Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich, Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, Berlin 1891, 3. Aufl age, in: MEW Bd. 17, Berlin (DDR) 1962 2.) Prosper Lissagaray, Geschichte der Commune von 1871, edition suhrkamp, Frankfurt 1971 3.) Pariser Kommune 1871, Bd. 1, Texte von Baku­nin, Kropotkin und Lavrov, und Bd. 2, Texte von Marx, Engels, Lenin und Trotzki, rororo Klassiker, Reinbek bei Hamburg 1971 4.) P. L. Lavrov, Die Pariser Kommune vom 18. März 1871, Rotbuch 25, Berlin 1971 5.) Tagebuch der Pariser Kommune, Karl Marx, Friedrich Engels (Zusammenstellung von Texten und Briefen), Frankfurt 1971 6.) Pariser Kommune 1871, Berichte und Doku­mente von Zeitgenossen, Universum Bücherei Bd. 92, Berlin 1931 7.) Helmut Swoboda (Hg), Die Pariser Kommune 1871, dtv dokumente, München 1972 8.) W. I. Lenin, Staat und Revolution, Die Erfah­rungen der Pariser Kommune vom Jahre 1871. Die Analyse von Marx, in: W. I. Lenin, Werke, Bd. 25, Berlin (DDR) 1981

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2 Friedrich Engels laut Protokollbuch des General­rates der Internationalen Arbeiterassoziation in der Sitzung am 21. März 1871 in Anwesenheit des Bürgers Karl Marx.

3 Am 22. Januar hatten Pariser Arbeiter und die Nationalgarde aufeiner Demonstration den Sturz der Regierung und die Errichtung der Kommune gefordert. Die »Regierung der nationalen Ver­teidigung« unter Thiers ließ die Demonstration zusammenschießen.

4 Der Aufstand des Pariser Proletariats vom 23. bis zum 26. Juni 1848 wurde blutig niedergeschlagen und galt bis zur Niederschlagung der Kommune als besonders grausam. Die Bourgeoisrepubli­kaner demonstrieren durch das Gemetzel und Niederwerfen des Juni-Aufstandes, daß sie die Interessen der monarchistischen Bourgeois und Großgrundbesitzer bestens zu vertreten wissen Danach wurde eine Koalition aus allen konter­revolutionären Fraktionen der herrschenden, aneignenden Klasse geschaffen, die in ihrem jetzt offenen Gegensatz zu der arbeitenden Klasse stand. Ministerpräsident Thiers, der Henker der Kommune, sagte einmal: Die parlamentarische Republik ist die Staatsform, die die Fraktionen der herrschenden Klasse am wenigsten trennt.

5 Thiers läßt als Reaktion auf die Niederlage be­reits gedruckte Siegesmeldungen vernichten und beeilt sich, seinen Entschluß, der Nationalgarde

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seien ihre Waffen zu lassen, zu verkünden. Er verbindetdies mit einem Aufruf an diese, sich den Regierungstruppen anzuschließen. Aber nur 300 von 300 000 Nationalgardisten (gleich 0,1 Prozent) folgen seinem Ruf.

6 Mit der französischen Revolution von 1789 7 Die Gesamtzahl der Mitglieder des Pariser Kom­

munerates betrug 107. Sofort nach ihrer Wahl legten die 16 Mitglieder der »gemäßigten oder bourgeoisen Partei«, also Anhänger Thiers und der Regierung, ihr Mandat nieder. Für sie fanden Ergänzungswahlen statt. In den ersten 10 April­tagen folgten 6 weitere Austritte, allesamt von Anhängern Gambettas, der sich vom Linken zum Anhänger der opportunistischen Strömung ge­mausert hat Wären diese 6 linken Kommuneräte geblieben, hätte es etwa ab April sehr oft linke Abstimmungsmehrheiten gegeben. Die Interna­tionalisten warfen den 6 Fahnenfl ucht vor. Eine linke Mehrheit, so der Kommunarde Malon, hätte bei etlichen schicksalhaften Entscheidungen für die Kommune unschätzbare Folgen gehabt. Ansonsten stimmten meistens etwa 21-23 Räte mit der sozialistischen Minderheit. Zu dieser Minderheit gehörten 15 der 17 Internationalisten, 2 von ihnen gingen zur Mehrheit über, und etwa 6 Vertreter anderer Fraktionen schlossen sich den Internationalisten an. Am 16. Mai erklärt die sozialistische Minderheit ihren Austritt aus

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der Kommune, fand sich aber zur letzten Sitzung des Rates am 21. Mai noch einmal fast vollstän­dig ein. Nur das Schicksal von 5 Mitgliedern des Kommunerates ist unbekannt. Die 23 Mitglieder, die ihr Mandat niedergelegt hatten überlebten. 2 Mitglieder wurden während der Zeit der Kom­mune als Polizeispitzel entlarvt, einer verhaftet, 2 Mitglieder und Anhänger der Kommune wurden in der gleichen Zeit ermordet. Am Ende der Kom­mune flohen 40 Mitglieder ins Ausland, 7 wurden in Abwesenheit zum Tode verurteilt. 12 wurden ohne Zwangsarbeit verbannt, 3 mit Zwangsarbeit. Im Gefängnis und im Zuchthaus landeten 4 Mit­glieder, 7 wurden erschossen. 3 Mitglieder fielen unter anderem auf den Barrikaden.

8 Tatsächlich gab es in vielen anderen französischen Städten Erhebungen. In Lyon wird die Kommune am 22. März ausgerufen, bricht 3Tage später zu­sammen und an einem Tag, dem 30. April, noch einmal auf. Die Kommune von Marseilles, ausge­rufen am 23. März,überlebt 12 Tage, Narbonne 7 Tage, St. Etienne 4 Tage, Toulouse 3Tage, Le Creusot 2 Tage und Limoges nur 1.

9 Die geschätzten jährlichen Mieteinnahmen in Paris lagen zwischen300 und 400 Millionen Francs.

10 Damit war die Niederschlagung der römischen Republik durch französische Truppen zur Unter­stützung des päpstlichen Vatikans gemeint.

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11 Aufruf der Kommune am 9. April 1871 12 Die Kommune arbeitet preiswert. Dem Rechen­

schaftsbericht ihrer Finanzkommission für die Zeit vom 20. März bis 30. April kann mensch entnehmen, daß sie bei Einnahmen in Höhe von 26 013 916,70 Francs und Ausgaben in Höhe von 25 138089,12 Francs mit einem Gutha­ben von 875 827,50 Francs abschloß. Ihre we­sentlichen Ausgaben für: 20 Arrondissements 14 4 5 645,54 Francs, an dieDelegation für Kriegs­wesen 20 056 573,15 Francs. Die anderen Mini­sterien kosteten im gleichen Zeitraum lediglich 1000,00 (Unterrichtswesen) bis 112 129,66 Francs (Auswärtiges). Ausgaben für Militärlazarette: 182510,91 Francs, für die Barrikadenkommissi­on: 44 500,00 Francs. Das Zentralkomitee selbst kostete 15 651,20 Francs.

13 Sie ist eine Nachahmung der Trajan-Säule in Rom und wurde vonNapoléon I. zur Verherrlichung seiner militärischen Siege errichtet.

14 Die Ruhe und Ordnung, die Thiers Bürgertum, Adel, Kirche undKapital versprochen hatte, errichtete er auf Leichenbergen. Schätzungen registrierten 30 000 ermordete PariserInnen. Vom 24. Maibis zum 13. Juni liefen 39 9823 De­nunziationen ein. In Massenverhaftungen, laut Regierungsberichten, wurden 38 568 Menschen, unter ihnen 1058 Frauen und 651 Kinder gefan­gengenommen. Gegen 13 450 wurde Anklage er­

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hoben, darunter gegen 9285 wegen bewaffneten Aufstandes. Die Gerichte fällten 270 Todesurteile, darunter 8 gegen Frauen. Ende 1877, sechseinhalb Jahre später, lebten noch 15 000 Deportierte unter unmenschlichen Bedingungen unter anderem im damaligen Neu-Caledonien. Das Pariser Pro­letariat verlor insgesamt durch Tod, Flucht oder Deportation 70 000 KämpferInnen.

15 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frank­furt 1970

16 Hans Magnus Enzensberger, Gangarten – Ein Nachtrag zur Utopie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 19.5.1990

17 Ernst Bloch, a.a.O. 18 Quelle und weiterführende Literatur: Jutta Dit­

furth, Ökologie in Kuba, in: Konkret 12/1989; und: Harald Wieser, Rainer Traub, DieVolks­front, Zur Entstehung, Geschichte und Theorie, in: Kursbuch46, Berlin 1976, zitiert in: Fernando Mires, Kuba – Die Revolution ist keine Insel, Berlin, 1. Aufl . 1978

19 Eduardo Galeano, in: El Pais v. 28.1.1990 20 Bloch, a.a.O. 21 Bloch, a.a.O. 22 Karl Marx, Der Bürgerkrieg in Frankreich,

3. deutsche Auflage 1891, MEW, Bd. 17, Berlin 1983

23 ProduzentInnen im Marxschen Sinne sind Men­schen, die durch ihre eigene Arbeit den gesell­

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schaftlichen Reichtum schaffen und die als Klasse gegen diejenigen kämpfen, die die Produktivkräfte (arbeitende Menschen, Maschinen, Technik und Wissenschaft) besitzenoder über sie herrschen. Die beiden einzigen Quellen des Reichtums sind die Arbeit und die Natur.

24 Julie Mitchells, Frauenbewegung – Frauenbe­freiung, Ulm 1981, in:Marie-Theres Knapper, Feminismus, Autonomie, Subjektivität, Bochum 1984

25 Dieser Fall ist nur ein extremes Beispiel für die mörderische Praxis der Herrschenden in El Sal­vador. Francisco Estrada, der Rektor der Jesui­tenuniversität von San Salvador, kritisierte im November 1989, ein Jahr nach dem Mord, daß die Ermittlungen gegen die Mörder stagnieren. Generalstab und US-Botschaft blockierten die Untersuchungen, und der US-Geheimdienst rücke seine Unterlagen nicht heraus, »aus Rücksicht auf die nationale Sicherheit«. Die einzige überle­bende Tatzeugin, Lucia Cerna, wurde vom FBI in Miami (!) eine Woche unter Druck gesetzt, bis sie ihre die Armee belastende Aussage zurücknahm. US-Major Buckland nahm seine Aussage, er habe schon Tage vorher von dem Mord gewußt, auf Druck des US-State Department erst zurück, um sie später, in El Salvador, vor dem Richter, aber aufrechtzuerhalten. Obgleich sich die deutsche Bundesregierung verpflichtet hat, bis zur Klärung

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keine Entwicklungshilfe an El Salvador auszuzah­len, fließt das Geld. Vgl. Die Tageszeitung (taz) v. 17.11.1990

26 Joachim Hirsch, Kapitalismus ohne Alternative?, VSA Hamburg 1990

27 Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frankfurt 1973

28 Name geändert 29 Dietrich Wetzel/Jürgen Schnappertz, Bericht an

die Bundestagsfraktion Die Grünen über Anfor­derungen an das in West-Berlin neu eingerichtete Unterstützungsbüro für DDR-Gruppen, Bonn, den 12. Februar 1990, S. 14

30 Die Grüne Partei (DDR) entschied auf ihrer Grün­dungsversammlung am 12. Februar 1990 in Halle (DDR), wem sie Bündnisverhandlungen anbieten wollte: Demokratie Jetzt: 161 Ja-, 107 Nein-Stim­men, 48 Enthaltungen; Initiative für Frieden und Menschenrechte: 197/58/40; Unabhängiger Frauenverband: 200/79/36. Aber nicht dem Neuen Forum: 118 Ja–, 143 Nein-Stimmen, 47 Enthaltungen, der Vereinigten Linken: 41/193/74 und dem Bauernverband: 76/175/60. Auszug aus dem »Offenen Brief der Vereinigten Linken an alle Mitglieder der Grünen (BRD)« vom 4. März 1990: »… Im Vorfeld der Wahlen hat die Vereinigte Linke mit aller Konsequenz auf ein breites, demokratisches Wahlbündnis der Bürgerbewegungen orientiert. Dieses Bünd­

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nis sollte nach inhaltlicher Diskussion für eine gemeinsame Plattform zur Wahl geschlossen werden, und es gab die besten Aussichten, einen solchen Konsensbildungsprozeß zu Resultaten zu führen. Woran dieses breite Bündnis scheiterte, ist bekannt: Noch bevor die inhaltliche Arbeit in einer gemeinsamen Wahlplattform richtig begann, wurden der Grünen Partei, dem Unab­hängigen Frauenverband und der Vereinigten Linken von den anderen Bürgerbewegungen signalisiert, daß dieses Bündnis ohne die drei genannten Vereinigungen angestrebt werde. Hinsichtlich der VL gab es regelrechte Unver­einbarkeitsbeschlüsse der ›Initiative für Frieden und Menschenrechte‹ und seitens des ›Neuen Forum‹ sowie ›Demokratie jetzt‹. Insofern ist der auf Seite 3 (Pkt. 1.1) des Berichtes Wetzel und Schnappertz an die Bundestagsfraktion der Grünen behauptete Rückzug von UVF und VL vom großen Bündnis schlicht wahrheitswidrig. Der Unabhängige Frauenverband und die Grüne Partei kamen mit uns überein, die Verständi­gung über ein zweites Bündnis zu beginnen. Mit der Entscheidung der Grünen Partei auf ihrem Hallenser Parteitag, kein Wahlbündnis mit der VL einzugehen, entschied sich auch der UVF ge­gen die VL. Wir haben diese Entwicklung schon mehrfach bedauert. Wir sind sicher, daß wir alle die Folgen der Zersplitterung der Bürgerbewe­

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gung rasch zu spüren bekommen werden: Mit dem Erstarken des Rechtsbündnisses der Allianz und dem Kapitulationskurs der SPD (dieser Of­fene Brief wurde vor den DDR-Wahlen am 18. März 1990 geschrieben; d. A.) fährt ein Zug ab, der auch die überrollen wird, welche zugunsten von Stehplätzen im letzten Wagen des Zuges der deutschen ›Einheit‹ und im Namen ihres Begrif­fes von Realpolitik freiwillig oder unfreiwillig unser aller Handlungsspielräume verengen helfen.« Im folgenden betonen die Autoren Thomas Klein (für die VL in der DDR-Volkskammer), Michael Mäde (wie Klein Mitglied des Sprecherrates der Vereinigten Linken Berlin) und Martin Schramm (Mitglied des Politischen Beirates der VL Berlin), daß sie in Diskussionen mit anderen »neue Wege zum Ausbau direkter Demokratie, für eine öko­logische Alternative zum System der organisier­ten Verantwortungslosigkeit in kapitalistischer ›freier Marktwirtschaft‹ und stalinistischer Kommandowirtschaft« suchen. Sie weisen an anderer Stelle darauf hin, daß sie »vielfach und gern« die zahlreichen Diskussionsmöglichkeiten mit Mitgliedern der Grünen Partei (DDR) genutzt haben, sich aber nun, nach dem einseitigen Bruch fragen müssen, ob sie eigentlich immer nur die­jenigen als Diskussionspartner hatten, mit denen es weitgehende Übereinstimmungen gab. Anlaß

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für diese Frage sind Unterstellungen im Wet­zel/Schnappertz-Bericht, in dem unter anderem behauptet wird, daß die VL leugne, daß die DDR vor dem Zusammenbruch stünde, nehme damit die bedingungslose Kolonialisierung der DDR in Kauf, habe keine Konzepte usw. Die VL-Autoren widersprechen im Offenen Brief heftig: die richti­gen Positionen der VL seien den Grünen bekannt, warum diese denn jetzt zu solchen demagogischen Unterstellungen griffen? Nach einer analytischen Beschreibung der Lage der DDR einschließlich der Lage der Opposition und der Bedrohung durch das BRD-Kapital kom­men Klein, Mäde und Schramm noch einmal auf die Einmischung der bundesdeutschen Grünen zurück. Der Hoffnung auf eine »rot-grüne Re­gierung in der DDR«, von der sich Wetzel und Schnappertz einiges für die Grünen in der BRD versprechen, habe man wohl ein breites DDR-Bündnis aus taktischen Gründen geopfert. Die Au­toren fragen auf Seite 6 des Offenen Briefes: »Wie weit war man bereit zu gehen … ?« Sie berichten von den Angriffen, denen der Geschäftsführende Ausschuß der Alternativen Liste (Berlin-West) von Seiten grüner Realos ausgesetzt war, weil er gemeinsam mit der VL und Linken aus dem Neuen Forum eine Pressekonferenz gegen den Anschluß der DDR veranstaltete. Die Hoffnung der Realos, auch das zweite Bündnis zwischen

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Grüner Partei, VL und dem Unabhängigen Frau­enverband werde scheitern, habe sich schließlich erfüllt: »Die Hoffnung war nicht vergebens. Dem ging nach unseren Informationen voraus, daß sich die Grüne Partei der DDR entschieden gegen Einmischungsgesuche der Grünen aus­gesprochen hat. Dem ging voraus, daß solche Einmischungsversuche trotzdem stattgefunden haben und es Bestandteil dieser Versuche war, mit dem Entzug der materiellen Unterstützung zu drohen, wenn es zu einem Bündnis mit der VL käme. Wir wissen, daß diese Versuche nicht öffentlich stattfanden, wie auch der Bericht, aus dem wir zitieren, nicht öffentlich wurde, sondern daß in vertraulichen und ›Einzelgesprächen‹ Li­nie gemacht werden sollte. Und wir wissen jetzt, daß diese Versuche ihren Zweck nicht verfehlten. … Unsere Enttäuschung über den Opportunis­mus, die geheimdiplomatischen Manöver und die machtpolitischen Allüren einer bestimmten Strömung innerhalb der Grünen ist groß. … Wir lassen keinen Zweifel daran, daß wir uns weiter­hin allen Grünen verbunden fühlen, soweit sie sich nicht mit diesen Praktiken identifi zieren und dem Anspruch treu bleiben, unter dem sie einst angetreten sind.«

31 Namen geändert 32 Tempo, 4/1990, S. 54 33 Spiegel-TV am 11. 3. 1990 in RTL

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34 Vgl. Barbara Holland-Cunz, Wiedervereinigung der Männer, in: links 243, Juli/August 1990

35 Seit dem 3.12.1990 ist er, zusammen mit Christine Weiske, Mitgliedim »gesamtdeutschen« Bundes­vorstand der Grünen

36 taz v. 17.7.1990 37 taz v. 10.7.1990 38 Bundestagsrede v. 9.8.1990 39 Kommune 9/1990 40 Rainer Trampert, Bewegung 2. Juli, in: Konkret

7/1990 41 Frankfurter Neue Presse (FNP) v. 4.10.1990 42 Vgl. Jutta Ditfurth/Manfred Zieran, Vergiftungen

pflastern ihrenWeg, Hoechst, Bayer, BASF – Die IG Farben und ihre Nachfolger, in: Jutta Ditfurth, Träumen Kämpfen Verwirklichen, Politische Texte bis 1987, Köln 1988

43 taz v. 17.10.1990 44 Frankfurter Rundschau (FR) v. 18.12.1990 45 Klaus Stern, Die Umleitung eines Teils des Abflus­

ses nördlicher europäischer und sibirischer Flüsse in der Sowjetunion und mögliche Auswirkungen auf die Umwelt, in: Josef Breburda (Hg.), Osteu­ropastudien des Landes Hessen, Reihe I, Bd. 145, Berlin 1986, S. 69; darin auch: M. M. Davydov, The Ob will enter the Caspian: The Yenisey-Ob-Aral-Caspian-Water Connection and the Energy Problem, in:SG, 9, 1972, S. 603 (Übersetzung eines Artikel von M. M. Davydovaus dem Jahr 1949)

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46 Stern v. 7.5.1986 47 Aus dem Beschluß des 8. Bundeskongresses der

SDAJ vom Dezember 1984 48 Wem diese Argumente noch nicht genügen:

Es gibt außerdem keineTrennung in zivile und militärische Nutzung der Atomenergie. Wer Atomanlagen hat, ist technisch jederzeit in der Lage, auch Atombomben zu bauen. Der Bau und Betrieb von Atomkraftwerken geht mit massiver Energieverschwendung einher. Es wird nicht mehr gefragt: wofür brauchen wir welche En­ergie (Energiedienstleistung), also wofür wie­viel Luxusenergie Strom, und wo brauchen wir lediglich Heizwärme, sondern es werden große Atomkraftwerke in dieLandschaft gestellt (in der Bundesrepublik Leichtwasserreaktoren mit ca. 1300 Megawatt Leistung), die dann den gesamten Bedarf an Energie decken sollen, ohne daß nach den einzelnen Nutzungsformen gefragt wird. Die Energieindustrie hat ein enormes Interesse an Stromverschwendung, weil sie daran verdient. Atomenergie ist leicht ersetzbar. Erstens gibt es enorme Stromüberschüsse in der Bundesrepu­blik und zweitens liegen längst ausgearbeitete Konzepte vor, wie eine ökologische und soziale Energieversorgung betrieben werden könnte. Ihre Elemente sind: rationelle Energienutzung, Energieeinsparung und die sofortige Anwendung der vorhandenen erneuerbaren Energieträger,

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Sonne, Wind, und Wasser und deren Weiterent­wicklung. Die erneuerbaren Energieträger decken in Ka li fornien bereits 12 Prozent des Bedarfs an elek trischer Energie. Der CO2-Ausstoß bei der Strom erzeugung sank seit 1980 um 17 Prozent. Die Produktionskosten der erneuerbaren Ener­gieträger sind seit 1980 dramatisch gesunken: Bei der Windenergie um 75 Prozent, bei der Solarenergie sogar um 90 Prozent. Solarenergie ist bereits jetzt billiger als Atomstrom. Würden alle alternativen Ressourcen der USA vollständig genutzt, so böten sie, rund 200 mal soviel Ener­gie wie in den energieverschwenderischen USA gegenwärtig verpraßt wird. Vgl. World-watch lt. Der Spiegel (Spiegel) 52/1990 Weiterführende Literatur: 1.) Jutta Ditfurth, Alle Atomanlagen sofort still­legen! Zur Auseinandersetzung um die Atom­energie nach Tschernobyl, in: Jutta Ditfurth, Träumen Kämpfen Verwirklichen, a.a.O.; und: 2.) Die Grünen im Bundestag, Das Grüne En­ergiewende-Szenario 2010 – Sonne, Wind und Wasser, Köln 1989

49 Fritz Rische, Zur Energiepolitik der DKP, in: Marxistische Blätter, Mai/Juni 1978

50 MEW, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1988, S. 529/530 51 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2, Frank­

furt 1977, S. 779

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52 Der sowjetische Umweltminister Nikolai Woronzov lt. taz v. 23.10.1990, 26.10.1990, 30.10.1990, 7.1. 1991; Frankfurter Rundschau(FR) v. 27.10.1990, 30.10.1990, 12.1.1991

53 Erste Texte von Murray Bookchin über die che­mische Vergiftung derUmwelt, insbesondere der Ernährung, erschienen bereits 1952. Esfolgten seine sozialökologischen Schriften: Our Syn­thetic Environment, 1962; ders., Ecology and Revolutionary Thought, 1964; ders.,Toward a Liberatory Technology, 1965; ders., The Power to Destroy,The Power to Create, 1969.

54 Hoimar v. Ditfurth, Innenansichten eines Artge­nossen, Düsseldorf 1989

55 Umwelt- und Prognose-Institut Heidelberg (UPI)1990; Stern 1/1991

56 Ergebnisse der US-Umweltbehörde EPA, der Weltgesundheitsorganisation der WHO, der Gesundheitsbehörde in New York und des Hy­gieneinstitutes in London, vgl. FR v. 17.11.1990; Natur 11/1990

57 DGB, Stellungnahme zum Sachverständigen­gutachten 1990/1991, Informationen zur Wirt­schafts- und Strukturpolitik 7/1990, Nov.1990;IG Medien, Kontrapunkt 25-26/1990

58 Spiegel 52/1990; Kontrapunkt 25-26/1990 59 IG Medien, Kontrapunkt1990; taz v. 24.10.1990 60 Globus 8543/1990 61 Bundesarbeitsgemeinschaft für Nichtseßhaften­

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hilfe (BAGNH) lt.FR v. 10.12.1990 62 Armutsbericht verschiedener Wohlfahrtsverbän­

de in Köln, lt. FR v. 15.12.1990 63 Spiegel 52/1990 64 Ursula Engelen-Kefer, DGB, lt. taz v. 24. 10.1990 65 FR v. 3.1.1991 66 IG Medien, Kontrapunkt1990 67 In einem Gespräch mit der Autorin im November

1990 68 Zu den Absätzen über die USA vgl. folgende Quel­

len: Spiegel 41/1990, 43/1990, 44/1990, 45/1990, 1/1991; Süddeutsche Zeitung (SZ) v. 8.1.1991; Christian Tenbrock, Das Spiel ist aus, in: Die Zeit (Zeit) v. 21.12.1990, 7.12.1990; FR v. 29.11.1990, 7.1.1991, 8.1.1991 und 9.1.1991; FAZ v. 10.5.1990; Bericht des Zentrums für sozialpolitische Studien der Annie-Casey-Stiftung v. 1. 2.1991, in: SZ v. 4. 2.1991; Heike Kleffner, »Alles Lügen«, in: Konkret 2/1991; ak – Arbeiterkampf 325 v. 10.12.1990; taz v. 30.10.1990

69 Trikont = die drei von den kapitalistischen Zent ren unterentwickelt gehaltenen Kontinen­te Asien, Zentral- und Südamerika und Afrika. Mit dem Begriff wird der Versuch gemacht, die Hierarchie im Begriff »Dritte Welt« durch eine neutralere Kategorie zu ersetzen. Im folgenden wird Trikont im Wechsel mit »Dritte-Welt-Län­der« oder»unterentwickelt gehaltene Länder« benutzt.

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70 Klemens Ludwig, Bedrohte Völker, München 1990

71 Noam Chomsky in: Bruni Höfer u. a. (Hg.), Das FünfhundertjährigeReich – Emanzipation und lateinamerikanische Identität: 1492–1992, Me­dico International, Verlag Althammer & Reese, Fulda1990

72 Als internationalistisches, antikoloniales Gegen­projekt zu den Feiern des 500jährigen Reiches hat sich 1988 das Internationales Kultur-und Wissen­schaftsforum: Emanzipation und Lateinamerika­nischeIdentität: 1492–1992 mit Sitz in Mexiko ge­gründet. Kontaktadressen: Medico International, Frankfurt, und Monimbó e.V.,Dietzenbach.

73 Das mit mehreren Milliarden US-Dollar finan­zierte Jubelprojekt der spanischen Regierung wird von der EG, der OAS, den USA, Israel und Teilen der internationalen Sozialdemokratie un­terstützt.

74 epd-Entwicklungspolitik 20/21, 1990 75 Nach einer Schätzung des afrikanischen Histori­

kers Joseph Ki-Zerbolaut SZ v. 29./30.12.1990 76 Vgl. Abschlußbericht der Weltkonferenz über

Reparationen für Afrika und die Afrikaner in der Diaspora, zitiert in: FR v. 18.12.1990

77 Die Mohawk sind eine Nation, die dem mehrere hundert Jahre alten Staatenbund »Six Nations Confederacy« angehört. Dazu gehörenauch die Nationen der Cayuga, Oneida, Onondaga, Sene­

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ca und Tuscarora. Sie haben eine gemeinsame Verfassung, das »Gaianere-kowa«, das »Große Friedensgesetz«.

78 Quellen: The Edmonton Journal v. 14.7.1990, 15.7.1990; The Globe and Mail v. 13.7.1990, 14.7.1990, 16.7.1990, 15.9.1990;The Edmonton Sun v. 13.7.1990; The New York Times v. 14.7.1990; Calgary Herald v. 14.7.1990; Washington Post v. 13.7.1990; Pressemitteilungen der kanadischen Botschaft; Presseerklärungen der Gesellschaft für bedrohte Völker; SZ am Wochenende – Feuille­ton-Beilage der SZ v. 4/5.9.1990; FR v. 28.9.1990, 22.11.1990. Für Rückfragen interessierter Lese­rInnen bieten sichdie Autoren der ausgewerteten Dokumentation der Europa-Fraktion der Grünen an: Günter Wippel und Rainer Schelb, Freiburg, Telefon 0761/475949 (Büro), Telefax 0761/4759 19 oder das Media Information Centre der Mo­hawk c/o Mohawk Nation Offi ce, Kahnawake, Kanada.

79 Vorstehende Zitate aus: Spiegel 2/1990 80 FR v. 17.10.1990 81 SZ v. 30.11.1990 82 Eduardo Galeano in: El Pais v. 28.3.1990, über­

setzt und auf unterschiedliche Weise gekürzt in: ›Diskus‹ Nr. 2, Mai1990, und taz v. 14.4.1990

83 Vgl. Leo Gabriel in der taz v. 4.4.1990 84 30 Millionen Kinder in den unterentwickelt

gehaltenen Ländern sterben Jahr für Jahr vor

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Beendigung ihres 5. Lebensjahres, das sind mehr als 82 000 Kinder pro Tag, vgl. taz v. 15.9.1990

85 UNICEF, Zur Situation der Kinder in der Welt 1991

86 Krieg wird von Istvan Kende definiert als gewalt­samer Massenkonflikt, der drei Eigenschaften aufweist: 1.) Beteiligung von 2 oder mehr bewaff­neten Streitkräften, mindestens auf einer Seite reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten); 2.) auf beiden Seiten ein Mindestmaß an zentraler Lenkung (einschließlich bewaffneter Verteidigungs­operationen, strategisch-taktisch-planmäßige Überfälle); 3.) eine gewisse Kontinuierlichkeit der bewaffneten Handlungen und nicht nur ge­legentlich spontane Ausbrüche, d. h. beide Seiten operieren nach planmäßiger Strategie, unabhän­gig vom Gebiet und der Dauer der Handlungen. Vgl. Volker Matthies, Kriegsschauplatz Dritte Welt, München 1988

87 Zitiert nach: Dieter Senghaas, Militärische Kon­fl ikte, Konfliktformationen in der gegenwärtigen internationalen Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament,B 49, 8.12. 1973, S. 18; zitiert in: Volker Matthies, a. a. O.

88 Vgl. Volker Matthies a. a. O. 89 SZ v. 1.8.1990 90 Vgl. Michael Sontheimer, Die Erde ist voll, in:

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Zeit 52 v. 21.12.1990; Spiegel 33/1989; FR v. 20.11.1990

91 FR v. 5.9.1989 92 Andre Gunder Frank/Marta Fuentes-Frank, Wi­

derstand im Weltsystem, Promedia1990 93 Stern 32 v. 3.8.1989; FR v. 7.1.1991 94 FR v. 25.10.1990 95 FRv. 13.9.1990 96 taz v. 29. 9.1989 97 Vgl. Stern 32 v. 3. 8. 1989; SZ v. 7.1.1991; FR v.

7.1.1991. Die Gesamtauslandsschulden Zentral-und Südamerikas betrugen 1988 411Milliarden US-Dollar, 1989 schon 434,63 Millarden. Seit 1982 sind allein von Lateinamerika insgesamt 180 Millarden Dollar mehr an Zins- und Tilgungszah­lungen in die Gläubigerländer transferiert worden, als der Kontinent von dort an Kapitalzufl üssen er­halten hat.Neue Kredite, die als Gegenleistung für die vom IWF verordnetenAnpassungsleistungen versprochen waren, kamen nicht. Brasilien hatte sich bis 1989 mit 120 Milliarden US-Dollar verschuldet. Die Schuldsumme pro Kopf der 138,4 Millionen BrasilianerInnen betrug 867 US-Dollar, knapp 48 Prozent des Bruttoso­zialproduktes. Zwischen 1984 und 1988 hat das Land 69,7 Milliarden US-Dollar an Zinsen und Tilgung gezahlt. Dieses entspricht 62 Prozent der derzeitigen Auslandsschuld. In derselben Zeit erhielt Brasilien nur in Höhe von 28,5 Milli­

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arden Dollar neue Kredite. Allein 1988 waren 14 Milliarden Dollar für den Schuldendienst nötig. Brasiliens Schulden sind unbezahlbar. In den 18 Monaten bis Dezember1990 häufte Brasilien Zinsrückstände allein bei privaten internationalen Banken in Höhe von 8,5 Milliarden US-Dollar an. Brasilien will mit der Privatisierung von Staats­unternehmen und der Streichung öffentlicher Stellen die Rezession überwinden. Außerdem sollen zahlreiche Beamtenwohnungen und halb­staatliche Hotels verkauft und fünftausend derzeit unbesetzte öffentliche Stellen gestrichen werden. Niemand muß raten, in welchen Bereichen (in der Sozial- und Umweltpolitik) und mit welchen Folgen: Hunger, Krankheit, Tod. Die Maßnahmen sollen die hohe Inflation stoppen. Sie sind ein zi­schender Tropfen auf einem Stein in Flammen. Argentinien steht mit 60 Milliarden US-Dollar in der Kreide. Bei einer Infl ationsrate (1989) von 337 Prozent liegen die Schulden pro Kopf mit 1923 US-Dollar bei 83 Prozent des Bruttosozial­produkts. Die lateinamerikanische Wirtschafts­system-Organisation SELA meldet für 1989 eine steigende Verschuldung Lateinamerikas um 1,5 Prozent mehr als 1988, insgesamt, einschließlich Kuba, 434,63 Milliarden US-Dollar. Argentinien hat in den vergangenen 15 Monaten nur noch symbolische Zahlungen geleistet. Der Zahlungs­rückstand beträgt 4,4 Milliarden US-Dollar.

519

Auch die anderen lateinamerikanischen Länder hängen am Tropf des reichen Nordens: Zum Beispiel beträgt die Pro-Kopf-Verschuldung im Vergleich zum Bruttosozialprodukt pro Kopf in Uruguay 79 Prozent, in Chile 129 Prozent, in Bolivien 144, in Peru 88, in Ecuador 99, in Ko­lumbien 48 und Venezuela 67 Prozent. In Zen­tralamerika ist es genauso schlimm: Costa Rica 125 Prozent, Mexiko 72 Prozent und Jamaika 223 Prozent. Auch Asien liegt schlecht im Rennen um seine Zukunft. Die Philippinen etwa haben eine ProKopf-Verschuldung, die 94 Prozent des Pro-Kopf-Bruttosozialproduktes beträgt. Jahresexportwerte (Jex): Die Fähigkeit, die Schulden zurückzuzahlen, hängt mit der Ex­portkraft der Schuldnernation zusammen. Der Export ist die wichtigste Quelle für das Geld, das für Zinsen und Tilgung gebraucht wird. Relativ »wenig verschuldet« gemessen am Jahresexport (Jex) sind 28 Länder mit höchstens 3 Jex, unter ihnen China, Indonesien, Thailand und Südkorea. Mit 3-5 Jex »hoch verschuldet« sind 34 Länder, darunter Indien, Brasilien, Nigeria, Pakistan und die Türkei. »Bedenklich verschuldet« mit 5 bis 7 Jex 10 Länder, unter ihnen etwa Mexiko, Irak, Philippinen, Ägypten und Peru. »Übermäßig verschuldet« sind 13 Länder mit mehr als 7 Jex. Dazu gehören Bangladesh, Birma, Argentinien, Tansania, der Sudan und andere. Spitzenreiter

520

ist die Arabische Republik Jemen mit einer Aus­landsverschuldung im Wert von 115 Jex.

98 taz v. 15.9.1990 99 FR v. 7.5.1990 100 FR v. 22.11.1990 101 SZ v. 23.10.1990 102 FRv. 19.9.1989 103 Laut Spiegel 44/1990 betrug die Inflationsrate

1990 im Vergleich zu 1989 in Polen 1176,3 Pro­zent, in Jugoslawien 1875,6, in Peru2864,3, in Brasilien 6406,6, in Nicaragua 10531,0, in Argen­tinien14029,5 Prozent.

104 taz v. 24.11.1990 105 FR v. 31.12.1990 106 Quellen für »Japanisches Kapital und japani­

scher Staat: Ökoterroristen …«: Natur 2/1990; Welt v. 31.10.1989, 30.12.1989; Spiegel 40/1989, 46/1989 und 11/1990; Tempo 12/1989; FR v. 30.10.1990,8.12.1990; für »Minamata«: Egmont R. Koch/Fritz Vahrenholt, Seveso ist überall, Köln 1978

107 Deutsches Atomforum e.V., Faltblatt Kernenergie aktuell, Stand:8/1990

108 Vgl. Spiegel 4/1990 109 SZ v. 28.11.1990 110 FR v. 15.7.1989 111 FAZ v. 29.10.1990 112 Welt v. 2.8.1990; FR v. 13.3.1990, 31.5.1990; GAL

Hamburg, Treibhauseffekt und Klimakatastro­

521

phe?, Januar 1989; Die Grünen im Bundestag, Klimaschutzprogramm, Mai 1988; Die Grünen, Informationsblatt 4/1989; Öko-Institut Freiburg, Abschätzung der FCKW-Produktion in der BRD, Freiburg, 4/1988

113 Bild der Wissenschaft 1/1990 114 FR v. 20.3.1990 115 Ich vermute, diese Lebenserwartung ist für Men­

schen errechnet, die das 5. Lebensjahr bereits erreicht haben, und die Zahl von 50 Lebensjahren wäre noch niedriger, würde die hohe Kindersterb­lichkeit im Trikont mit eingerechnet.

116 Vgl. ak – Arbeiterkampf 309 v. 21. 8.1989; Stern 32 v. 3.8.1989

117 Spiegel 4/1990 118 Der zweite wurde inzwischen wegen internatio­

naler Proteste von UmweltschützerInnen zurück­gezogen.

119 FR v. 31.10.1990 120 Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland

e.V. (BUND) (Hg.), Wie Weltbankmacht die Welt krank macht, Köln 1988

121 Laut eigener Aussage z. B. beim Carajás-Projekt; vgl. epd-Entwicklungspolitik 16/17/1988, S. 29

122 A.a.O. 123 Werner Paczian und Reinhard Behrend weisen in

ihrem Buch Raubmord am Regenwald, Reinbek 1990, nach, daß sich Funktionäre des »Vereins Deutscher Holzeinfuhrhäuser« (VDH) und Ver­

522

treter der »Bundesforschungsanstalt für Forst-und Holzwirtschaft«(BFH) seit 1987 mehrfach vertraulich trafen, um gemeinsam eineStrategie gegen die Aufrufe zum Tropenholzimportboykott zu entwickeln. Die BFH erklärte sich bereit, ein von der Wirtschaft bezahltes entsprechendes Gutachten vorzulegen, in dem VDH nicht er­wähnt wird. So geschah es auch. Die BFH erhält außerdem regelmäßig Forschungsaufträge von der Holzindustrie (S. 184ff). Desweiteren belegen die Autoren den Verdacht, daß die GTZ (bundes­deutsche Gesellschaft für Technische Zusammen­arbeit) mit Bestechungsgeldern Projekte an Land zieht, an denen sie verdienen darf (S. 118/119).

124 Die Gesamtfläche der tropischen Regenwälder ist von 14,5 Millionen Quadratkilometer im Jahr 1980 um 11,6 Prozent auf 12,82 Millionen Qua­dratkilometer im Jahr 1990 gesunken. Afrika: minus 16,5 Prozent; Asien: minus 14 Prozent und Lateinamerika minus 8,8 Prozent. Vgl. FR v. 6.11.1990

125 BUND, a.a.O. 126 Claudia v. Braunmühl, »Dritte Welt« Ex und

Hopp, Konkret 8/1990 127 Stern 32 V. 3.8.1989 128 Christa Wichterich, Das Streichholz und die Welt­

bank, taz v. 27.3.1990 129 Die Größe der alten BRD beträgt etwa 248 000

Quadratkilometer.

523

130 Der Bodensee hat eine Fläche von 539 Quadrat­kilometern. DerAralsee war also etwa 126 mal so groß wie der Bodensee und ist nur noch etwa 72 mal so groß.

131 Der Bodensee ist bis zu 252 Meter tief, und der Baikalsee, der tiefste See der Erde, an manchen Stellen mehr als 1700 Meter.

132 B-58 ist identisch mit der chemischen Substanz Dimethoat gleich Thiophosphorsäureester. Gilt als Fisch- und Bienengiftig. Soll von Grundwasser fern gehalten werden. Einatmen und Hautkontakt müssen vermieden werden. Kinder dürfen damit nicht in Berührung kommen, und bei Hautberüh­rung soll die Chemikalie sofort mit Seife entfernt werden. Darf nicht gegen den Wind eingesetzt werden. Methaphos ist Parathiomethyl. Gesund­heitsschädlich. Kotoran ist Fluometuron, in der BRD nicht zugelassen. Reizt die Schleimhäute, führt zu Anämie, kaum Informationen über lang­fristige Gefahren. Butylchlorphos ist wegen seiner gesundheitsgefährdenden Wirkungen in der So­wjetunion seit zwei Jahren nicht mehr zugelassen. Lindau ist ein Gamma-Hexachlorcyclohexan. Krebserregend, reichert sich im menschlichen Körper und im Boden an. Das Breitband-Insek­tizid DDT ist in der BRD seit dem DDT-Gesetz vom 7. 8.1972 verboten. Es ist schwer abbaubar, gefährdet die Gesundheit beim Einatmen und bei Hautkontakten, ist erbschädigend und steht

524

im Verdacht, Krebs zu erzeugen. DDT wird im menschlichen Fettgewebe (Leber, Niere, Gehirn) gespeichert, reichert sich an und wird zum Bei­spiel über die Muttermilch ausgeschieden, das heißt Säuglinge werden konzentriert mit DDT er­nährt. Besonders gefährlich und zum Teil gefähr­licher als DDT selbst sind seine Abbauprodukte wie DDE oder DDD. DDE wurde in Kasachstan und Usbekistan gefunden. DDT-Abbauprodukte entstehen zum Beispiel durch chemische Um­wandlungen im menschlichen Körper.

133 Vgl. Jutta Ditfurth, Das ist das Unerwartete, Konkret 10/1989

134 taz v. 22.9.1989, 1.11.1989 135 The Hindu v. 27.10.1985 136 Meßstelle für Arbeits- und Umweltschutz e.V.

(M.A.U.S.) Bremen, Birgit Kanngießer, Walter Swoboda u. a., Export von Umweltzerstörung in die »3. Welt« – Die Lederindustrie in Indien, 1988

137 Nach Statistiken der UN (Industrial Statistics Yearbook), zit. in: Birgit Kanngießer, Walter Swoboda, a.a.O.

138 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam­menarbeit (BMZ)(Hg.), Länderkurzbericht In­dien, Stand: 1.1.1988

139 Ökotest 12/1990; taz v. 23.8.1990; Stern 50 v. 6.12.1990; Verlag der ökologischen Briefe, Arbeit & Ökologie-Briefe 8,1990

525

140 Greenpeace Nachrichten 4/1988 141 Spiegel 42/1990 142 Vgl. taz v. 20. 7.1989, 28. 9.1989; FR 18. 8.1989 143 WHO, The Use of Essential Drugs, Technical Re­

port Series 770,Geneva 1988, in: Robert Hartog/ Hermann Schulte-Sasse, Das Bundesdeutsche Arzneimittelangebot in der Dritten Welt, BUKO-Pharmakampagne, Juni 1990, S. 7

144 WHO, Essential Drug Monitor, Nr. 6, 1988. In der Regel sind auf den Märkten des Trikont 5000 bis 20 000 Arzneimittel vorhanden. (BUKO Phar­makampagne/Medico International [Hg.], Pillen heilen keine Armut, Bielefeld, Juli1990, S. 18). Je größer im allgemeinen die Zahl verfügbarer Medikamente und je wilder die Kombination unterschiedlicher Wirkstoffe in einem Präpa­rat (Kombinations-Präparate) und je unüber­sichtlicher das Angebot gleicher oder ähnlicher Produkte mit zum Teil völlig unterschiedlichen Anwendungsgebieten, desto unsicherer und ge­fährlicher ist die Arzneimittelversorgung nach internationalen Standards zu bewerten.

145 Bundeskonferenz entwicklungspolitischer Ak­tionsgruppen (BUKO), Arbeitsmaterialien zur BUKO-Pharmakampagne, Macht Hoechst krank? Das Pharmageschäft in der Dritten Welt, 1986, Bielefeld (BUKO 1986) und die 2. veränderte Auflage, 1988 (BUKO 1988). Die Broschüren dokumentieren die Arbeitsmethoden und die

526

Arbeitsergebnisse einer Untersuchung, die im Auftrag derBUKO von Ärzten und Dritte Welt­organisationen in der BRD undinternational erarbeitet wurde.

146 BUKO 1986 147 BUKO 1986. Im übrigen sind, nach Angaben der

BUKO-Pharmakampagne (BUKO 1986), von Hoechst-Produkten in Afrika (78) 56,5 Prozent – nach den Kriterien der WHO – entbehrlich, in Indien (34) 76,5 Prozent, in Mexiko (41) 65,9 Prozent, in Zentralamerika (47) 66 Prozent, in Kolumbien (29) 55,2 Prozent, in Brasilien (54) 64,8 Prozent, in den Philippinen (37) 56,8 Prozent und insgesamt 67,3 Prozent von 165 verkauften Hoechst-Medikamenten entbehrlich. In Klam­mern die absolute Zahl der jeweils in diesen Län­dern verkauften Hoechst-Pharmaka. Von diesen 165 Medikamenten wird nur ein Drittel in der Bundesrepublik verkauft.

148 Robert Hartog/Hermann Schulte-Sasse, a. a. O., S. 21/22

149 Hoechst AG, Geschäftsberichte 1988/1989 150 Die Kriterien entstammen der erwähnten Bro­

schüre BUKO 1986, S. 53. Der Anteil der pharma­kologisch positiv bewerteten Medikamente betrug unter diesen zehn meistverkauften Hoechst-Arz­neimitteln (1984) 825,9 Millionen D-Mark (33,3 Prozent), der der eingeschränkt positiven Phar­mazeutika 962,3 Millionen D-Mark (38,8Prozent)

527

und der der überflüssigen und gefährlichen 693,3 MillionenD-Mark (28 Prozent). Berechnet nach BUKO 1986.

151 Kurt Langbein/Hans-Peter Martin/Hans Weiss, Bittere Pillen, 55.komplett überarbeitete Auflage, Köln1990, S. 41 ff

152 arznei-telegramm, 9/1986, in: Bittere Pillen, a.a.O.: arznei-telegramm, 1/1984, in: Marcel Bühler/Leo Locher, Geschäfte mit der Armut, Bornheim-Merten 1984. Nach den Ergebnissen der von Hoechst selbst in Auftrag gegebenen, wissenschaftlich heftig umstrittenen »Boston-Studie« (»International Agranulocytosis and Aplastic Anemia Study-IAAAS« der Boston University, USA, 1986-1989) erkranken jährlich weltweit 7500 bis 15 000 Menschen an Metami­zol-verursachter Agranulozytose. Vgl. BUKO 1986 und Bittere Pillen, a.a.O., S.40ff

153 Bittere Pillen, a. a. O., S. 40 154 Robert Hartog/Hermann Schulte-Sasse, a.a.O. 155 BUKO 1986 156 Pharmazeutische Zeitung v. 11.5.1989, S.1151, in:

Pharma-Brief 4–5, 1989 • 157 BUKO/Health Action International (HAI) BRD,

Pharma-Brief 4–5 Mai–Juni 1989; vgl. verschie­dene Faksimile von Werbeanzeigen von1988 und Auszüge aus Medikamentenführern, abgedruckt in:Pharma-Brief 4–5/1989; Pharma-Brief 1/1991, und in: BUKO 1986

528

158 Hoechst asserts is drug not harmful, The Na­tion v. 22.10.1987; und: Brief der Drug Study Group Thailand an BUKO-Pharmakampagnev. 29.11.1987, in: BUKO 1988

159 Scrip, Hoechst in 1987 and 1988, 23. 3.1988, S. 14, in: Pharma-Brief4-5 1988

160 BUKO 1988 161 BUKO 1988 162 BUKO 1986, S. 24ff 163 Bremer Anzeiger zum Sonntag v. 13.6.1987, in:

Pharma-Brief 1/1991 164 SZ v. 16. 8.1990 165 Greenpeace Nachrichten 3/1989 166 Auf der UNEP-Konferenz (United Nations En­

vironmental and Development Programme) im März 1989 in Basel

167 Greenpeace Nachrichten 3/1989 168 A.a.O. 169 Einige der beschriebenen Fälle stammen aus:

Christiane Grefe und Caroline Fetscher, Gespen­stische Ware – Müllexport in die armeWelt, in: Greenpeace Nachrichten 3/1989

170 Ecologist, zitiert in: Der Morgen v. 17./18.10.1990 171 Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN; Hg.) in Koope­

ration mit Buntstift e.V., Gefährliche Exporte, Hamburg 1990; SZ v. 3.1.1991; FR v. 29.12.1990; Express 9/1990

172 Stern 32 v. 3.8.1989 173 Spiegel 35/89

529

174 FNP v. 16.10.1990 175 taz v. 24.10.1990 176 Vgl. BUND, a.a.O. 177 Spiegel 34/1989 178 taz v. 3.1.1991; FR v. 8.1.1991 179 FR v. 26.10.1990 180 Spiegel 34/1989 181 FAZ v. 15.10.1990 182 Vgl. Thomas Siepelmeyer, Gekürzte Atompro­

gramme verdeutlichen Abhängigkeit, in: taz v. 21. 2.1990

183 BUND, a.a.O. 184 Gabriele Vensky, Der Skandal von Bhopal hat

kein Ende, in: FR v.30.11.1990 185 FR v. 6.3.1990 186 FAZ v. 15.12.1990 187 FR v. 1.9.1989, 2.11.1990; Spiegel 42/1989; taz v.

23.10.1990 188 FR v. 25.7.1990 189 FR v. 25.7.1990 190 FR v. 5.2.1991 191 BUND, a.a.O., ak 309 v. 21.8.1989; Spiegel

34/1989 192 Klaus Boldt, Wer zerstört den Regenwald?, in:

epd 4/88 193 Veröffentlichung der WHO kurz nach der Welt­

bankkonferenz im September1990. Vgl. FR v. 26.9.1990, 31.10.1990

194 FR v. 15.9.1989; Schöner Wohnen 9/1989

530

195 Die Weltbank finanzierte – nach eigenen Angaben – seit 1976 5 Umsiedlungsprojekte in Indonesien, vgl. epd-Entwicklungspolitik 16/17/1988

196 Spiegel 34/1989 197 BUND, a.a.O. 198 Stern 10 v. 1.3.1990 199 FR v. 27.7.1989; und:

Quelle: Stern 32 v. 3.8.1989 200 Claudia von Braunmühl, a.a.O. 201 FR v. 27.7.1989 202 Claudia von Braunmühl, a. a. O. 203 Spiegel 31/1990 204 Mexikos Bevölkerung hat sich in den letzten 25

Jahren verdoppelt. 1952: 25,8 Millionen,1990:

531

81,2 Millionen Menschen, allein in Mexico City leben 20 Millionen, vgl. FAZ v. 1. 8.1990

205 Lesenswert: Nadine Hostettler, Kapitalismus, mexikanisch, Zeit 46 v. 9.11.1990

206 taz v. 18.9.1989 207 Stern 32 v. 3.8.1989 208 Jahresexportvolumen (Jex) 209 FR v. 13.9.1989, 16.9.1989 210 Vgl. FAZ v. 26. 9. 1989 211 FAZ v. 29. 9.1989 212 In Venezuela leben 17,8 Millionen Menschen, das

Land hat proEinwohnerin 1966 US-Dollar Schul­den gleich 67 Prozent des Bruttosozialproduktes. Stern 32 v. 3.8.1989

213 taz v. 29.9.1989 214 FAZ 1. 8.1989 215 SZ v. 14./15.8.1989. Weitere Quellen: Wirtschafts­

woche 39 v.22. 9.1989; taz v. 18. 8.1989, 26. 9.1989 und 29. 9.1989; FAZ v. 1.8.1989, 26.9.1989 und 29.9.1989; Handelsblatt v. 25.9.1989; FR v. 13.9.1989, 16.9.1989, 19.9.1989 und 23.9.1989; SZ v. 14./15. 8.1989; Spiegel 31/1989

216 Vgl. FR v. 26.9.1990 217 FR v. 26.9.1990 218 FR v. 23.9.1989 219 taz v. 6. 2.1990; FR v. 6. 2.1990, 23.12.1990, 26.

7.1989 220 Vgl. BUND (Hg.), Wie Weltbankmacht die Welt

krank macht, Köln 1988

532

221 FR v. 10.10.1990 222 taz v. 8. 6.1990 223 FAZ v. 1. 8.1989 224 Unterentwickelt gehaltene Länder aus Afrika, der

Karibik und dem Pazifik, die mit den EG-Staaten, ihren ehemaligen Kolonialmächten, durch die Konvention von Lomé verbunden sind.

225 FR v. 29.7.1989 226 FR v. 27.9.1989 227 FR v. 27.9.1989 228 Übersetzung etwa: »Schuld-gegen-Beteiligung

Tausch« 229 BUKO, Debt for nature swap – Tauschhandel

mit dem Tropenwald, 3/4, 1989 230 Der World Wildlife Fund (WWF), der den »Debt­

to-nature swap«zuerst in die Diskussion brachte, hat allein in den USA 320 000 Mitglieder und in 23 Ländern Sektionen. In der Bundesrepublik (vor dem 3.10.1990) hat der WWF 50 000 Fördermit­glieder. Vorstandsvorsitzender war bis vor kurzem Kurt Lotz, der 1942–1945 im Generalstab der deutschen Wehrmacht und später Vorstandsvor­sitzenderdes VW-Konzerns war. Seit 1.1.1989 heißt der Hauptgeschäftsführer Hartmut Schumann, der den ehemaligen Oberbürgermeistervon Offenbach Walter Suermann (CDU) ablöst. Schumann war bis dahin Justitiar und Prokurist der Atomfirma Interatom, die unter anderem den Schnellen Brüter in Kalkar baute. Vgl. FR v. 28. 2.1989

533

231 Barbara J. Bramble, Direktorin der National Wildlife Federation,in: Ecologist Vol. 17 Nr.4/5 1987; zitiert in: BUKO, a.a.O.

232 Barbara Unmüßig, Regenwald zum Schleuder­preis, in: taz v.22. 9.1988

233 A.a.O. 234 Vgl. Karl-Heinz Häberle, Schulden gegen Natur­

schutz, in: Umweltzeitung, hg. vom Verein zur Förderung von Landwirtschaft undUmweltschutz in der Dritten Welt e.V. (VFLU) 4/1988

235 Neues Deutschland (ND) v. 17./18.11.1990 236 Vgl. Environment, Health, and Human Ecologic

Considerations in Economic Development Pro­jects, World Bank 1973; Offi ce Memorandum, World Bank, 1987; Stein Hansen, Debt for Nature Swaps:Overview and Discussion of Key Issues, Environment Department Working Paper No. 1, World Bank, Februar 1988; alle erwähnt in: Ralph Ostermann, Lassen sich Bäume gegen Schulden eintauschen?, Wechselwirkung Nr. 38, August 1988

237 Natur 7/1989 238 Vgl. Pierrot 3, 9/10/11,1990; Quick 7 v. 8.2.1990;

diverse Selbstdarstellungen und Briefe des Pro­jektes v. August 1989, Oktober1989, usw.

239 Spiegel 34/1990 240 FR v. 4.11.1990 241 taz v. 8.6.1990 242 Thomas Siepelmeyer, Der Ökologiekongreß in

534

Berlin – den Weltbankökologen auf den Leim gegangen, in: Blätter des iz3w 154, Dezember 1988/Januar 1989

243 Thomas Siepelmeyer, a. a. O. 244 FR v. 25.10.1989 245 Witoon Permpongsacharoen, Ein Dorf und den

Wald darf man niemals voneinander trennen, in: Naturerbe Regenwald, Reihe Ökozid, Gießen 1990

246 ila 122/1989 und Lateinamerika Nachrichten 181/1989

247 Vgl. David Holden, Die Kinder der leeren Hütten, in: taz v.26. 8.1989

248 FR v. 16. 8.1989 249 Vgl. taz v. 11. 7.1989 250 SZ v. 7.11.1990; FAZ v. 24. 11.1990 251 Spiegel 45/1990 252 A.a.O. 253 Doris Cebulka, Besuch im traurigen Land, Ein

Häuptling aus Borneo begegnet den Deutschen, in: Zeit v. 23.11.1990

254 ila 125/1989 255 Originalerklärung in: epd-Entwicklungspolitik

18/1988 256 A.a.O. 257 Klaus Boldt, Zum Schutz des Tropenwaldes

mangelt es an geeignetenProjekten, in: FR v. 15.1.1990

258 Zitiert in einem Leserbrief von Fridolin Weis, in:

535

FR v. 18.8.1989 259 A.a.O. Lektüreempfehlung: Elisabeth Burgos,

Rigoberta Menchú – Leben in Guatemala, Born­heim 1983

260 Konrad Ege, Der stille Krieg – Marktwirtschaft in der Dritten Welt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 9/1990

261 Claudia von Braunmühl, Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe oder der real existierende Zy­nismus in der deutschen Entwicklungspolitik, in: Gruppe feministischer Internationalismus (Hg.), Zwischen Staatshaushalt und Haushaltskasse, Frauen in der Weltwirtschaft, Bremen 1989

262 taz v. 5.1.1991 263 UNICEF, Zur Situation der Kinder in der Welt

1991 264 FR v. 21.12.1991 265 Dr. med. Mabuse, Nr. 69, Dezember1990 266 Vgl.: Gruppe feministischer Internationalismus

(Hg.), a. a. O.; und: agisra (Hg.), Frauenhandel und Prostitutionstourismus – Eine Bestands­aufnahme, München1990. Kontakte: agisra (Arbeitsgemeinschaft gegen internationale sexuelle und rassistische Ausbeutung), Mainzer Landstr. 147, 6000 Frankfurt am Main 1, Telefon 069/7392152; Amnesty For Women, Städtegrup­pe Hamburg, Steintorweg 2, 2000 Hamburg 1, Telefon 040/2802829; Frauen-Anstiftung e.V., c/o Frauen lernen gemeinsam e.V., Grindelallee

536

43, 2000Hamburg 13 267 Marokko ist mit 20 Milliarden US-Dollar verschul­

det (1987), allein der Schuldendienst verbraucht zur Zeit 44 Prozent der Deviseneinnahmen. Aus­gelöst wurde die Verschuldung durch den Krieg gegendie Sahrauis, den Preiseinbruch bei den Phosphaten, und dem Anstieg der Erdölpreise. Ei­nen Teil des Verlustes gleichen Tourismusdevisen und Überweisungen von im Ausland arbeitenden MarokkanerInnen aus. Vgl. Zeit 46 v. 9.11.1990

268 Manchmal verschwindet ein Land einfach von der Landkarte, so dieWestsahara in der Zeit v. 31.8.1990 auf einer Zeichnung von Wolfgang Sischke, auf der der Staat der Sahrauis, wie in Vorwegnahme eines marokkanischen Sieges, dem Staat Marokko zugeschlagen wird und zwischen Marokko und der Westsahara keine Grenze mehr existiert.

269 Zur weiteren Information: Jutta Ditfurth, »Habt Geduld, das Leben ist so kostbar«, SZ-Magazin 44, u/1990; Sahara-Info, Gesellschaft der Freunde des sahrauischen Volkes e.V. (Hg.), Bamberger-Str. 34, 2800 Bremen 1

270 Im Dezember 1984 wurde ich – neben Rainer Trampert und LukasBeckmann – von einer grünen Bundesversammlung zu einer der drei gleichberechtigten SprecherInnen im Bundes­vorstand derGrünen gewählt, und im Frühjahr 1987 – neben Regina Michalik und Christian

Schmidt – für weitere 2 Jahre wiedergewählt. Der Bundesvorstand bestand stets aus 11 Mit­gliedern inclusive der drei SprecherInnen, eines Schatzmeisters (1980 bis 1988 HermannSchulz), einem/r Schriftführerin und 6 Beisitzerinnen. Alle 11 Bundesvorstandsmitglieder waren gleichbe­rechtigt.

271 Interessentinnen können über die Autorin per Verlagsadresse eine Dokumentation des dama­ligen Pressesprechers des Bundesvorstandes, Michael Schroeren, plus aktualisierte Informa­tionen, beziehen. Schroerens Drehbuch zum Film zeichnet den größten Teil derFinanzintrige anhand von Originaldokumenten nach.

272 Wenn ich »Die Grünen« schreibe, lasse ich meist den Zusatz »in ihrer Mehrheit« oder »mehrheit­lich« aus Gründen einfachererSchreibweise weg. Ich bitte darum, das einfach hinzuzudenken.

273 taz (Hamburg) v. 15.1.1991 274 Interview mit Konrad Weiss, in: Blätter für deut­

sche und internationale Politik 10/1990 275 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frank­

furt 1970 276 Aus einer Tonbandabschrift der Rede von Christi­

an Ströbele vor der grünen Bundesversammlung am 4. März 1989 in Dortmund.

277 Die Grünen im Römer, Frankfurt. Konzeptionen für die Veränderung einer Stadt, Reihe Grüne Römerpost, Januar 1985; Radikalökologischer

Arbeitskreis der Grünen Frankfurt, Ökologisch und sozial- Radikalökologisches Programm für Frankfurt, Januar 1989.Beide zu beziehen über die Autorin per Verlagsadresse.

278 Vgl. Jutta Ditfurth, Für die Amnestie der politi­schen Gefangenen – Recht vor Gnade! 10 Jahre Deutscher Herbst; und: dies., … und noch immer kein »positiv formuliertes Staatsverständnis«, Nov. 1987, in: Jutta Ditfurth, Träumen Kämpfen Verwirklichen, 1988

279 Vgl. Wolf gang Kraushaar, Realpolitik als Ideolo­gie. Von Ludwig August von Rochau zu Joschka Fischer, in: 1999 – Zeitschrift für Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 3/1989.

280 Zitiert in Spiegel 44/1990 281 Vgl. die exemplarische Auseinandersetzung zwi­

schen JoachimHirsch, Ein Bekenntnis zur real existierenden Demokratie, in: links1/1990 und Helmut Dubiel/Günter Frankenberg/Ulrich Ro­del, Unpolitische Radikalität, in: links 3/1990

282 Vgl. Jutta Ditfurth, Wir sind alle TerroristInnen – § 129a und § 130a, Staatsterrorgesetze und Widerstandsperspektiven, in: dies., Träumen Kämpfen Verwirklichen, Köln 1988

283 FAZ v. 8.1.1991 284 Wolf-Dieter Narr/Falco Werkentin, Stasi gleich

»Verfassungsschutz«?, Bürgerrechte & Polizei Cilip 36, Nr. 2,1990.Unverzichtbare Lektüre über Staat, Repressi­

on, Widerstand, Widerstandsgeschichte usw.: Rolf Gössner, Widerstand gegen Staatsgewalt, Handbuch zur Verteidigung der Bürgerrechte, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1988; Geheim – Zeitschrift über nationale und internationale Geheimdienste, Lütticherstr. 14, 5000 Köln 1; Joachim Hirsch, Der Sicherheitsstaat, Frankfurt/ M. 1980

285 Vgl. Jutta Ditfurth, a. a. O. 286 Wolf-Dieter Narr/Falco Werkentin, a.a.O. 287 Spiegel 2/1991 288 Wolfgang Gast, Der Geheimdienst soll Zugriff auf

Stasi-Akten bekommen, in: taz v. 9.11.1990 289 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

vom 23. Mai 1949, in: Verfassungen der deut­schen Bundesländer, 3. Auflage, Beck-Texte im dtv, München 1988

290 Alle Verfassungs-Zitate im folgenden Text stam­men aus: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, a. a. O.

291 Joachim Hirsch, in: links 7/8/1990 292 Abendzeitung (az) v. 23.10.1990; Spiegel 9/1989 293 Joachim Hirsch, a. a. O. 294 AI-Generalsekretär Volker Deile zitiert in: FR v.

3.12.1990 295 taz v. 4. 9.1990 296 Spiegel 4/1991 297 Allein an Vollzugspersonal (also nicht Verwal­

tung, Angestellte, ArbeiterInnen) beschäftigte

der »Sicherheitsapparat« BRD bis1989: Polizei der Länder: 195 000; Polizei des Bundes, davon BGS:20 500; BKA: ca. 3600; Bahnpolizei: ca. 2900; Exekutivkräfte Zoll: 15 000. – Geheimdien­ste, davon Landesämter für Verfassungsschutz: 2700; Bundesamt für Verfassungsschutz: 2360; Bundesnachrichtendienst: ca. 8500; Militäri­scher Abschirmdienst: ca. 2000, vgl. Wolf-Dieter Narr/Falco Werkentin, a.a.O. Bei diesen Zahlen handelt es sich um offizielle Zahlen, sie sind also mit Vorsicht zu genießen.

298 FR v. 2.11.1990 299 Bundestags-Drucksache 11/7029 300 Am 28.9.1985 starb in Frankfurt Günter Sare

unter einem Wasserwerfer. Die verantwortlichen Polizeibeamten wurden auch in der 2. Instanz freigesprochen.

301 Die sogenannten Distanzmittel der Polizei, das Tränengas Omega-Chloracetophenon (CN) und Ortho-Chlorbenzyliden-Malodinitril (CS) lösen – unbeachtet anderer Unterschiede und des häufig geäußerten Verdachtes, daß mindestens CS-Gas langfristig Krebs auslösen kann – laut einer Untersuchung der Universitäts-Hautklinik in Göttingen nicht nur Haut- und Schleimhaut­reizungen aus, sondern vielfach auch schwere Kontaktallergien. 20 Prozent der 56 untersuchten DemonstationsteilnehmerInnen aus dem Gebiet von Wackersdorf, dem Rhein-Main-Gebiet und

Göttingen zeigten schon nach einmaliger Be­rührung mit den Gasen erhebliche allergische Reaktionen. Die möglichen Symptome sind Schwellungen, Rötungen, Augenbrennen, Trä­nenfluß, Bindehautrötungen, Sehbehinderungen und Lidkrämpfe. Einer der untersuchenden Ärzte meinte, bisher sei, außer Nickel, keine Substanz bekannt gewesen, auf die ein derart hoher Anteil von Menschen mit einer Kontaktallergie reagiere. Vgl. Tagesspiegel v. 13.5.1990

302 Spiegel 43/1990 303 A.a.O. 304 Welt v. 12.1.1991; SZ v. 11.1.1991 305 Verfassung des Freistaates Bayern, in: Verfassun­

gen der deutschen Bundesländer, a.a.O. 306 Norbert Steinborn/Karin Schanzenbach, Die

Hamburger Polizei nach 1945- Ein Neuanfang, der keiner war, Hamburg1990, Bezugsadresse: Verlag Heiner Biller, Schlangenkoppel 1, 2000 Hamburg 74.

307 A.a.O. 308 Vgl. Thilo Weichert, Griff nach den Sternen

– Europa im Datennetz, in: Bürger kontrollieren die Polizei, CILIP (Hg.), Bullen greifen nach den Sternen, 1990

309 Vgl. auch im folgenden: Thilo Weichert, a.a.O. 310 Schengen I (1985) war formal ein Regierungsab­

kommen über die Reduzierung von Grenzkontrol­len.

311 Thilo Weichert, a. a. O. 312 »Millionenfach« werden nach Auskunft des Ham­

burger Sozialmediziners Werner Maschewsky in der Bundesrepublik betrieblich bedingte Leiden kaschiert und die Kosten für ihre Behandlung den Krankenkassen in die Schuhe geschoben. Allein tausende von Fällen an Nervenschädigungen, die eigentlich entschädigungspflichtig sind, gäbe es vermutlich jährlich. Die Orte der Vergiftung: Chemische Industrie, Metallverarbeitung, Autoin­dustrie, Chemische Reinigungen, Landwirtschaft, Druckgewerbe, Maler- und Lackierbetriebe, Ma­schinen- und Flugzeugbau und klimatisierte Bü­ros. DieVerantwortlichen reagierten bislang mit Ignoranz, Abwiegeln undAblenkungsmanövern. (1990)

313 Joachim Hirsch, in: links 12/1990/1/1991 314 Spiegel 2/1991 315 Vgl. Geschäftsführender Landesbezirksvorstand

der IG MedienHessen (Hg.), Die Debatte, Forum der IG Medien Hessen, Frankfurt, Oktober1990

316 In einem nicht gehaltenen Diskussionsbeitrag für den außerordentlichen Gewerkschaftskongreß der IG Medien im Oktober1990.

317 Spiegel 52/1990 318 Vgl. Gunnar Heinsohn/Otto Steiger, Die Vernich­

tung der weisenFrauen, Herbstein 1985 319 Interview mit Joseph Huber, in: Alternative Mo­

natszeitung MOZ,Wien, November 1990

320 FR v. 12.1.1991. 321 Dieser im September 1989 eingesetzten Kom­

mission gehören auch Vertreter von Kirchen und Gewerkschaften an. Es gab nur das explizite Minderheitenvotum der Sozialpsychologin Elisa­beth Beck-Gernsheim. Vgl. FR v. 17.10.1990; taz v. 13.10.1990

322 SZ v. 29./30.12.1990 323 Angst, Zeitdruck, die Sucht alles unter Kontrolle

zu bringen wirken auf den Körper wie Gift und können u. a. zum Herzinfarkt führen.Gesund­heitszirkel in einigen Betrieben versuchen einer Arbeitsorganisation entgegenzuarbeiten, die die Menschen krank macht. Diese Zirkel tagen während der Arbeitszeit und machen konkrete-Vorschläge für eine gesundheitsgerechte Arbeits­gestaltung, jenseitsvon Dauerstreß, Rivalität und Schuldgefühlen.

324 Natur 1/1991 325 Murray Bookchin im November1990 in einem

noch unveröffentlichten Interview. 326 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, S. 1605,

Frankfurt 1970 327 Rudi Dutschke, Das Sich-Verweigern erfordert

Guerilla-Mentalität, in: ders., Geschichte ist machbar, Berlin 1980

328 Zur Selbsteinschätzung der Autonomen: Gero­nimo, Feuer undFlamme – Zur Geschichte und Gegenwart der Autonomen, Edition ID, Archiv

im JISG, Amsterdam/Berlin1990; Autonome Studis (Bolschewiki), Mit den überlieferten Vor­stellungen radikal brechen – Ein Blick über den Tellerrand autonomer Basisbanalitäten, Archiv für soziale Bewegungen, 2. erweiterte Auflage, Freiburg 1990.

329 Karl Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW Bd. 4, Berlin 1972

Ende e-Book: Jutta Ditfurth - Lebe wild und gefährlich