kulturelle aspekte der biologie

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Biologie in unserer Zeit Helmut Kinzel Kulturelle Aspekte der Biologie In manchen Tageszeitungen gibt es fest- stehende Rubriken fur regelmafiig wieder- kehrende Themen, 2.B. eine Seite, die mit ,,Kultur" iiberschrieben ist. Hier findet man dann Berichte iiber Theaterpremieren, neu erschienene Romane, Kunstausstellungen u. dgl. Von Wissenschaft ist dort im allgemeinen nicht die Rede. Ober sie wird in einer anderen Rubrik berichtet, die in einer solchen Zei- tung heifit ,,Wissenschaft und Technik". Warum ist der Begriff ,, Wissenschaft" im offentlichen Bewui3tsein eher mit dem Be- griff ,,Technik" assoziiert als mit dem Begriff ,,Kultur"? Blicken wir in die Geschichte zuruck, dann wird sofort klar, dafi sich die Technik ohne jede Beziehung zu dem, was wir heute unter ,,Wissenschaft" verstehen, entwickelt hat, Im Gegenteil: Gerade die altesten unter den heute noch etablierten Techniken, namlich die Landwirtschaft (die ja zumindest von ihrer Methode her als Technik bezeichnet werden kann) und die Metallbearbeitung, waren an ihren Urspriingen von mythologi- schen Vorstellungen und kultischen Prakti- ken getragen. Man denke etwa an die weit verbreiteten Fruchtbarkeitskulte bei den alten Ackerbauvolkern, an Funde bei keltischen Verhuttungsanlagen, die darauf schliei3en lassen, dai3 vor dem Anblasen der Schmelz- ofen Tieropfer dargebracht wurden, an die Sagen von den Zauberkraften der ersten Schmiede u. a. Was nach der Zasur des spatantiken Verfalles dann den Aufstieg der mitteleuropaischen Zivilisation im Friih- und Hochmittelalter herauffuhrte, war sicher ein Zusammenwir- ken verschiedenster Faktoren. Fur eine in der BewuBtseinsbildung des Mitteleuropaers wesentliche Komponente halten manche Kul- turhistoriker eine wohl im Fruhmittelalter gemachte technische Erfindung, ,,die eine energische Ausbeutung der Erde erst mog- lich machte: der tiefgreifende Pflug, der Schollen aufreifit und umwendet. Dadurch wurden auf den schweren Boden Nordeuro- pas die Ernten wesentlich gesteigert. Notig waren nunmehr acht Zugtiere statt des Zweiergespannes, das aus Urzeiten iiber- kommen war. Die nordeuropaischen Bauern machten die Erfahrung, dai3 man der Natur nur mit Macht entgegenzutreten braucht, um sie zu einer bestimmten Leistung zu zwin- gen. Riicksichtnahme auf Gotter in Baumen oder auf Nymphen an Quellen war nicht mehr angebracht; das Christentum hatte sie vertrieben und die Natur zum Objekt und Gegeniiber des Menschen erklart" [l]. Die Rolle des Christentums bei der Entwick- lung der Technik auf Grund des in der Genesis enthaltenen Imperativs ,,Machet Euch die Erde untertan" wird oft falsch ein- geschatzt. Diese Rolle war vermutlich nur eine indirekte, indem der Mensch frei wurde von den alten kultischen Bindungen an per- sonifizierte Naturkrafte. Wohl erst vie1 spa- ter, als das neue Machtgefiihl, das der Mensch in der beginnenden Beherrschung der Natur- krafte erlebte, zur Hybris umzuschlagen begann und dabei in einer anderen Schicht des Bewufitseins ein Schuldgefiihl aufkam, wurde in einem Prozei3, den die Psychologie sekundare Rationalisierung nennt, zur ethi- schen Rechtfertigung das oben zitierte Bibel- wort herangezogen, das ja keineswegs zu den zentralen Anliegen des Christentums gehort. Die Entwicklung der mitteleuropaischen Naturwissenschaft hingegen, die mit den experimentellen Arbeiten der Renaissance- Zeit einsetzte, kniipfte nur zum Teil an die Wissenschaft der Antike einerseits und an die Technik andererseits an. Wohl bezog 2.B. die Chemie viele Impulse aus dem berg- mannischen Probier- und Verhuttungswesen einerseits und der Pharmazie andererseits, aber schon die Biologie war keineswegs gleich eng an die Medizin gebunden, und zumal die Physik mit ihrer mathematischen Formelsprache entwickelte sich zunachst weitgehend unabhangig im rein philosophi- schen Raum. Erst gegen Ende des 18. Jahr- hunderts wurde denen, deren Bildung auf der Hohe der Zeit stand, klar, dafi sich wis- Biologie in unserer Zeit / 5. Jahrg. 1975 / Nr. h 161

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Biologie in unserer Zeit

Helmut Kinzel Kulturelle Aspekte der Biologie

In manchen Tageszeitungen gibt es fest- stehende Rubriken fur regelmafiig wieder- kehrende Themen, 2.B. eine Seite, die mit ,,Kultur" iiberschrieben ist. Hier findet man dann Berichte iiber Theaterpremieren, neu erschienene Romane, Kunstausstellungen u. dgl. Von Wissenschaft ist dort im allgemeinen nicht die Rede. Ober sie wird in einer anderen Rubrik berichtet, die in einer solchen Zei- tung heifit ,,Wissenschaft und Technik". Warum ist der Begriff ,, Wissenschaft" im offentlichen Bewui3tsein eher mit dem Be- griff ,,Technik" assoziiert als mit dem Begriff ,,Kultur"?

Blicken wir in die Geschichte zuruck, dann wird sofort klar, dafi sich die Technik ohne jede Beziehung zu dem, was wir heute unter ,,Wissenschaft" verstehen, entwickelt hat, Im Gegenteil: Gerade die altesten unter den heute noch etablierten Techniken, namlich die Landwirtschaft (die ja zumindest von ihrer Methode her als Technik bezeichnet werden kann) und die Metallbearbeitung, waren an ihren Urspriingen von mythologi- schen Vorstellungen und kultischen Prakti- ken getragen. Man denke etwa an die weit verbreiteten Fruchtbarkeitskulte bei den alten Ackerbauvolkern, an Funde bei keltischen Verhuttungsanlagen, die darauf schliei3en lassen, dai3 vor dem Anblasen der Schmelz- ofen Tieropfer dargebracht wurden, an die Sagen von den Zauberkraften der ersten Schmiede u. a.

Was nach der Zasur des spatantiken Verfalles dann den Aufstieg der mitteleuropaischen Zivilisation im Friih- und Hochmittelalter herauffuhrte, war sicher ein Zusammenwir- ken verschiedenster Faktoren. Fur eine in der BewuBtseinsbildung des Mitteleuropaers wesentliche Komponente halten manche Kul- turhistoriker eine wohl im Fruhmittelalter gemachte technische Erfindung, ,,die eine energische Ausbeutung der Erde erst mog- lich machte: der tiefgreifende Pflug, der Schollen aufreifit und umwendet. Dadurch wurden auf den schweren Boden Nordeuro- pas die Ernten wesentlich gesteigert. Notig

waren nunmehr acht Zugtiere statt des Zweiergespannes, das aus Urzeiten iiber- kommen war. Die nordeuropaischen Bauern machten die Erfahrung, dai3 man der Natur nur mit Macht entgegenzutreten braucht, um sie zu einer bestimmten Leistung zu zwin- gen. Riicksichtnahme auf Gotter in Baumen oder auf Nymphen an Quellen war nicht mehr angebracht; das Christentum hatte sie vertrieben und die Natur zum Objekt und Gegeniiber des Menschen erklart" [l].

Die Rolle des Christentums bei der Entwick- lung der Technik auf Grund des in der Genesis enthaltenen Imperativs ,,Machet Euch die Erde untertan" wird oft falsch ein- geschatzt. Diese Rolle war vermutlich nur eine indirekte, indem der Mensch frei wurde von den alten kultischen Bindungen an per- sonifizierte Naturkrafte. Wohl erst vie1 spa- ter, als das neue Machtgefiihl, das der Mensch in der beginnenden Beherrschung der Natur- krafte erlebte, zur Hybris umzuschlagen begann und dabei in einer anderen Schicht des Bewufitseins ein Schuldgefiihl aufkam, wurde in einem Prozei3, den die Psychologie sekundare Rationalisierung nennt, zur ethi- schen Rechtfertigung das oben zitierte Bibel- wort herangezogen, das ja keineswegs zu den zentralen Anliegen des Christentums gehort.

Die Entwicklung der mitteleuropaischen Naturwissenschaft hingegen, die mit den experimentellen Arbeiten der Renaissance- Zeit einsetzte, kniipfte nur zum Teil an die Wissenschaft der Antike einerseits und an die Technik andererseits an. Wohl bezog 2.B. die Chemie viele Impulse aus dem berg- mannischen Probier- und Verhuttungswesen einerseits und der Pharmazie andererseits, aber schon die Biologie war keineswegs gleich eng an die Medizin gebunden, und zumal die Physik mit ihrer mathematischen Formelsprache entwickelte sich zunachst weitgehend unabhangig im rein philosophi- schen Raum. Erst gegen Ende des 18. Jahr- hunderts wurde denen, deren Bildung auf der Hohe der Zeit stand, klar, dafi sich wis-

Biologie in unserer Zeit / 5 . Jahrg. 1975 / Nr. h 161

senschaftliche Erkenntnissc in systematischer Weise in technische Anwendungsmoglichkei- ten umsetzen lassen. Das Zeitalter der Auf- klarung rnit seiner Neigung, eine rnit rationa- len Argumenten formulierbare Nutzlichkeit als Handlungszicl zu propagieren, mag diesen Prozefl beschleunigt haben. Der Merkantilis- mus des 19. Jahrhunderts cndlich cntwickelte daraus einc Bewufltseinslage, untcr der wir nun zu leiden beginnen: Als Mafl fur dicsc rational begriindbare Nutzlichkeit wurden fznanzielle Kategorien fcstgesetzt. Der Um- weltschutz, die Sozialpolitik und anderc Bereiche unseres Lebens kranken heute an der Unfahigkcit unserer Gesellschaft, Werte, die sich nicht in Geldsummen ausdriicken lassen, als Zielvorstellungen in Planungs- konzepte cinzubauen.

So vollzog sich im 19. Jahrhundert und in der ersten Halfte des 20. Jahrhundcrts auf einer hoheren Ebene dasselbe, was sich, wie oben erwahnt, im Fruhmittelalter in der Land- wirtschaft ereignet hattc: Die Erfolge in der Beherrschung von Naturvorgangen steigerten das Selbstbewufitsein des Menschen aufier- ordentlich. In der Folge wurde die Natur- wissenschaft mit einem betrachtlichen Anteil ihrer Aktivitat zum Ideenlieferanten fur die Technik, so daB die eingangs zitierte Lage der offentlichen Meinung wohl nicht ganz unberechtigt ist. Seit einigen Jahren beginnen wir, uns aber in der Rolle des Beherrschcrs der Natur mehr und mehr unwohl zu fuhlen. In weitcn Kreisen der Bevolkerung hoch- zivilisierter Lander wachst, manchmal ins UnterbewuBtsein verdrangt und mit gespiel- tem Optimismus uberkompensiert, manch- ma1 offen ausgesprochcn, das Gefuhl, sich auf einen Abgrund hin zu bcwegen, das Gefuhl, in der Rechnung einen entscheiden- den Faktor vergessen zu haben.

Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, wird ein tiefgreifcnder Wandlungsprozefl un- seres personlichen und kollektiven Fuhlens, Denkens und Handelns notig sein, dessen erste Ansatze vielleicht (hoffentlich!) bereits im Gange sind. Ein wesentlicher Beitrag dazu kann auch von Seiten der Wissenschaft kommen, vor allem von Seiten der Biologie. Bei der Rolle der Biologie denkt man natur- lich zunachst an die Bedeutung biologischer Erkenntnisse fur die Umweltschutz-Proble- matik, die sicherlich niemand unterschatzen wird. Davon sol1 aber hier nicht die Rede sein, sondern vielmehr von etwas Fundamen- talerem, von einer Grundhaltung, die jeder Biologe, wenn er diesen Namen verdient,

sich zu eigen gemacht haben sollte. Verglei- chen wir, um das Gesagte zu erlautern, einen typischen Techniker, etwa einen Maschinen- konstrukteur, mit dem Angehorigen eines Berufes, der mit biologischen Objekten um- geht, etwa einem Landwirt oder Gartner. Das Handlungsziel des Technikers ist die Realisierung einer Idee, etwa einer bestimm- ten mechanischen Funktion, von der der phy- sikalisch Informierte vermuten darf, dafi sie realisierbar sein muBte. Ein Beispiel aus letzter Zeit: der Wankel-Motor. Am Anfang stand die fur den Auflenstehenden zunachst fast absurde Idee: So konnte es funktionieren. Nach jahrelanger Konstruktions- und Ent- wicklungsarbeit zeigte sich, dafl es so wirk- lich funktioniert. Der Landwirt oder Gartner hingegen ist in einer vollig anderen Situation, die allerdings durch den starken Einsatz technischer Mittel in der Landwirtschaft gele- gentlich vcrschleiert wird: Im Samenkorn liegt ein Objekt vor, das den Bauplan der daraus entstehenden Pflanze und die Ent- wicklungstendenz, die zu seiner Realisierung fuhrt, bereits in sich trugt. Alle, auch die technisch getonten Mafinahmen des Land- wirtes dienen ausschliefllich dam, dieser Ent- wicklungstendenz optimale Bedingungen zu schaffen. In bciden Fallen handelt es sich also urn die Realisierung einer Idee, in der Tech- nik um die Realisierung einer Moglichkeit, die menschlicher Geist erdacht hat, in der Landwirtschaft um die Realisierung eines Konzeptcs, das, wie immer man es auch welt- anschaulich beleuchten mag, jcdenfalls nicht vom Menschen stammt.

Ein anderes Beispiel ist die Tatigkeit des Er- ziehers. In dem Kinde, das ihm gegenuber- steht, ist cine gcwisse Konstellation von korperlichen und intellektuellen Moglichkei- ten, eine bestimmte psychische Grundstruk- tur bereits vorgegeben. Aus diesen Voraus- setzungen hcraus entfaltet sich die Person- lichkeit, mehr oder weniger stark gepragt durch die Bedingungen, die ihr wahrend der Entwicklung gebotcn wcrden. Jedermann kennt Berichte uber unvernunftigc Vater, die schon bei der Geburt eines Kindes bestim- men, dafl es einmal in das vaterlichc Geschaft einzutreten oder Arzt, Geistlicher oder etwas anderes zu werdcn habe. Bei diesem Ver- fahren wird in dcr Regel nichts Gutes her- auskommen, und zwar auch dann, wenn das Kind zufallig fur die betreffende Lauf- bahn wirklich geeignet ist. Der Grund hierfur laflt sich auf die einfache Forrnel bringen: Der betreffende Vater liebt seine eigenen Plane mehr als das Kind, das ihm anvertraut

ist - und das wird auch das Kind selbst sehr wohl merken. Dcr vcrstandigc Erzieher wird hingegen danach fragen, was denn wohl die ,,Optimalgestalt" dieser Personlichkeit sei, auf die hin sie sich entfalten will. Hier hat er es schwerer als der Girtner oder Landwirt, die aus vielfaltiger Erfahrung genau wissen, wie eine optimal entwickelte Rose oder ein optimal entwickeltes Weizenfeld aussieht. Eine menschliche Personlichkeit ist hingegen ein Unikat, eine nie wieder in genau gleicher Weise wicderkehrende Konstellation von Gegebenheiten und Moglichkeiten. Zur Er- kenntnis der Optimalform gibt es hier kein Patentrezept, auch keine Garantie fur die Vermeidung von Irrtiimern. Es wird von der Uneigenniitzigkeit der Bestrebungcn des Er- ziehers, von dem Ernst seines Fragens, von der Leidenschaft seiner Hingabe abhangen, wie weit er sich der Erkenntnis der Optimal- gestalt dieser Personlichkeit nahern kann. Eine darauf hin gerichtete Entwicklung zu betreuen, ist seine Aufgabe. U m nicht miB- verstanden zu werden: Eine Entwicklung zu betreuen, heifit nicht, ihr in wohlwollendem Zusehen freien Lauf zu lassen. Der Erzieher mufi selbstverstandlich zur rechten Stunde auch handeln konnen. Er muB Fehlentwick- lungen entschieden entgegentreten, er mufl von aufien kornrnende Gefahren nach Kraften abzuwehren versuchen. Seine Handlungen werden aber nur dann segensreich sein, wenn sie nicht durch Verliebtheit in die eigenen Plane und Vorstellungen, sondern durch Bejahung und Zuneigung zur Eigenart des Zoglings motiviert sind.

Fast alles, was hier uber den Gegensatz zwi- schen technischer Konstruktion und der Be- treuung von Lebewesen gesagt wurdc, laflt sich auf die Aufgaben ubertragen, die uns in der Gestaltung der Welt der Zukunft gestellt sind. Die erste Voraussetzung fur ein gcdeih- liches Anfassen dieser Aufgaben besteht in der Erkenntnis, daB die Welt der Zukunft keine Konstruktion ist, die man auf dern Rciflbrett entwerfen und dann durch organi- satorische Maflnahmen realisieren kann, son- dern dafi die Welt ein Organismus ist, der scit vielen Jahrmillionen in Entfaltung be- griffen ist und sich eben in einer besonders rasanten und kritischen Phase dieser Ent- wicklung befindet. Die tatige Betreuung dieser Entwicklung (und nicht die Konstruk- tion von vollig Neuem) ist nun die Aufgabc, die dem Menschen seit jeher und heute be- sonders dringlich gestellt ist. Die daraus fol- gende weitcre Voraussetzung fur unserc Handlungsmotivation liegt in der Entwick-

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lung von Zielbildern, an denen sich unsere ,,padagogische" Arbeit an der Welt ausrich- ten kann. Nun gibt es zwar gewisse, den meisten Menschen gemeinsame Grundvor- stellungen von Gut und Bose im personlichen Handeln, aber an Vorstellungen uber Struk- turen, Funktionen und wunschenswerte Ver- haltensweisen in dem ,,Uber-Organismus", zu dem sich die Menschheit zu entwickeln anschickt, fehlt es noch sehr. SektenmaBig verharteten Vorstellungen einzelner ideolo- gischer Gruppen steht eine unerfreulich ver- schwommene Haltung weiter Kreise der Bevolkerung gegenuber. Der Ausgangspunkt fur die Entwicklung solcher Zielvorstellun- gen mus wohl in der Bejahung der Tatsache liegen, dai3 die Entfaltung der Welt schon zu einem Zeitpunkt einsetzte, als noch kein menschliches Gehirn einen Gedanken fassen konnte. Darauf werden sich Vertreter sehr vieler weltanschaulicher Richtungen einigen konnen. Weniger leicht wird die Einigung daruber sein, ob es zum gegenwartigen Zeit- punkt allein am . Ideenreichtum dieses menschlichen Gehirnes liegt, einen brauch- baren Weg in die Zukunft zu finden. Hierzu kann der Verfasser nur seine personliche Uberzeugung a d e r n : In dem Samenkorn, das in die Erde gelegt wird, ist das Zielbild bereits enthalten und fur den Gartner kommt es nicht darauf an, selbst eine Idee von diesem Zielbild zu entwickeln, sondern das im Ob- jekt relbst liegende Zielbild zu erfassen. So sollten wir auch gegenuber der Welt nach der Optimalgestalt fragen, die als Anlage und Idee in sie hineingelegt ist. Besonders schon hat das, was hier gemeint ist, Walter Dirks im Anschlufl an eine Betrachtung uber das Vaterunser formuliert, namlich als Bitte darum, befreit zu werden von allem, was uns daran hindert, ,,ganz wir selber zu werden, so wie wir als einzelne und als Menschheit gemeint waren und gemeint sind, was uns hindert, so zu werden, wie wir selber in un- seren besten Stunden und die Menschheit in ihren grogen Utopien sein mochten, ganz und gar frei fur unsere eigentliche Chance" PI.

Wenn wir als Handlungsziel die Betreuung einer Entwicklung auf dieses Ziel hin akzep- tiert haben, dann konnen wir uns daran erin- nern, das das lateinische Wort fiir pflegen oder betreuen (das gerade auch fur die Auf- zucht von Pflanzen in der Landwirtschaft zu verwenden ist) ,,colere" heist. Davon ist das Wort ,,Kultur" abgeleitet, und damit kehren wir an den Anfang unserer Betrach- tung zuruck. Von dieser Etymologie her wird

deutlich, daB unter Kultur nicht nur speziell die kunstlerische Gestaltung, sondern alle pflegende und gestaltende Tatigkeit in einem vie1 weiteren Sinne verstanden werden sollte, so wie wir ja auch von der Kultur von Pflan- Zen, sogar von Bakterien sprechen. Ein kulti- viertes Leben ware demnach nicht das Leben dessen, der alle neuen Romane verschlungen, alle Theaterpremieren gesehen und alle Kunstausstellungen besucht hat, sondern ein aufmerksames, gestaltetes, von innen heraus diszipliniertes Leben, ein Leben, das von Wert- und Zielvorstellungen gepragt ist. U m ein kultiviertes Leben in diesem Sinne nicht nur fur den Einzelnen, sondern auch fur die Menschheit als Ganze zu ermoglichen, d a m kann - neben anderen Bereichen mensch- licher Aktivitat - auch eine recht verstandene Wissenschaft und hier besonders die Biologie Wesentliches beitragen.

Literatur

[ 11 Christian Schutze in ,,Radius", September 1973, S. 41 f.

[2] Walter Dirks in ,,Bibel heute", 1. Quartal 1974, S. 107.

Prof. Dr. H. Kinzel, 50, ist Inhaber der Lehr- kanzel fur Chemische Physiologie der Pflan- Zen an der Universitat Wien. Er ist vor allem durch Forschungen im Bereich der physiolo- gischen Ukologie und vergleichenden Phy- siologie der Pflanzen hervorgetreten (vgl. seinen Beitrag Jonenwirkungen im Pflan- zenleben", biuz 114, 1971, S. 122-130).

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