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Klaus Berger

Kommentarzum

Neuen Testament

Gütersloher Verlagshaus

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier Munken Premium

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1. AuflageCopyright © 2011 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalbder engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und

strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und dieEinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagmotiv: grungy paper, © myszka – fotolia.comSatz: SatzWeise, Föhren

Druck und Einband: Tešínská tiskárna a.s., Cesky TešínPrinted in Czech RepublicISBN 978-3-579-08129-8

www.gtvh.de

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Für Josef Vollberg OCSOAbt des Klosters Mariawald

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Das Evangelium nach Matthäus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Das Evangelium nach Markus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130

Das Evangelium nach Lukas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

Das Evangelium nach Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

Die Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Der Brief an die Römer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

Der erste Brief an die Korinther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566

Der zweite Brief an die Korinther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 630

Der Brief des Apostels Paulus an die Galater . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665

Der Brief an die Epheser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688

Der Brief an die Philipper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718

Der Brief an die Kolosser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736

Der erste Brief an die Thessalonicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 758

Der zweite Brief an die Thessalonicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778

Der erste Brief an Timotheus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790

Der zweite Brief an Timotheus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809

Der Brief an Titus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822

Der Brief an Philemon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827

Der Brief an die Hebräer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 831

Der Brief des Jakobus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889

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Der erste Brief des Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907

Der zweite Brief des Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 934

Der erste Brief des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944

Der zweite Brief des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970

Der dritte Brief des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974

Der Brief des Judas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977

Die Offenbarung des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983

Häufiger zitierte Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051

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Vorwort

Im Folgenden ist die Grundlage der griechische Text des Neuen Testaments nach Nestle-Aland,24. Auflage (E. Nestle, K. Aland, B. Aland: Novum Testamentum Graece). Als Übersetzung entstandparallel und wird daher hier überall als Anregung zur Auslegung vorausgesetzt: Das Neue Testamentund frühchristliche Schriften, übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord,6. Aufl., Frankfurt 2005. Dort auf S. 1363-1367 auch ein Verzeichnis der Abkürzungen. Dieses betrifftauch die zitierten alt-und neutestamentlichen Apokryphen.

Die hier häufiger zitierte Literatur ist auf einer Liste zusammengestellt S. 1051.Um die Kommentierung nicht durch unnötige Extratouren zu belasten, habe ich auf Folgendes

durchgehend und bewusst verzichtet:– auf neue Hypothesen, betreffend die synoptische Frage. Mit den Fachleuten in aller Welt warte ich

auf eine neue These, die das 19. Jh. hinter sich lässt. Bis dahin ist »alles offen«. An den relevantenStellen habe ich daher auf eine kausale Erklärung verzichtet und mich damit begnügt, die Unter-schiede in den bestehenden Endfassungen aufzuweisen.

– auf Teilungshypothesen und auf Rekonstruktion von »redaktionellen Schichten«. Derartige Versucheerschienen mir immer wieder als Ausweis mangelnder Durchdringung der dann notleidenden Texte.

– auf weitläufige Forschungsgeschichte. Zum Ersatz habe ich den jeweiligen Kommentierungen voran-gestellt eine chronologische Liste der Kommentare, soweit sie für mich (aus eigener Sammlung)zugänglich waren.

Was die Methoden betrifft, so habe ich neben den bekannten historischen (dazu auch die eigeneArbeit zur Formgeschichte »Formen und Gattungen im Neuen Testament«, 2005) besonders die derKompositionskritik verwendet: Welche theologische Konzeption verrät sich aus der Anordnung derThemen und Stoffe?

Religionsgeschichtliche Fragestellungen sind für mich nach wie vor wichtig. Dabei ist das zeitgenös-sische Judentum als theologischer Hintergrund bzw. Mutterboden aller neutestamentlichen Theo-logien angenommen. An zweiter Stelle sind außerbiblische Texte der frühen Kirche und der altenchristlichen Liturgien für mich von zentraler Bedeutung. Die »Parallelen« haben für mich in der Regelkonstruktive Funktion. Denn die biblischen Texte werden dadurch nicht weniger, dass sich außerbib-lische Parallelen finden.

Schwachstellen der geläufigen Schulexegese wie mangelnde Berücksichtigung des Heiligen Geistes,aber auch der Dimensionen der Leiblichkeit, Leibhaftigkeit und Kirche habe ich mich bemüht zu ver-meiden.

Wenn ich die Hypothesen und Thesen der liberalen und noch mehr der hegelianisch beeinflusstenExegese in der Regel ablehne, dann ändert das nichts an der Achtung vor dem hohen Maß an Intelli-genz und Fleiß, das man hier der Schrift hat angedeihen lassen. Oft nehme ich Anregungen aus demReichtum der 1700 Jahre vormoderner Auslegung auf. Der innere Zusammenhang zwischen Halb-bildung und Unglaube steht mir dabei warnend vor Augen.

Der Kommentar versucht u. a. eine durchgehende Neudatierung der frühchristlichen Schriften.

Heidelberg, In assumptione BMV 2011Klaus Berger

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Das Evangelium nach Matthäus

Kommentare: Theodor v. Heraclea (350). – Apolli-naris v. Laodicea (380). – Joh. Chrysostomus I-II (vor400). – Theophilus v. Alexandrien (400). – Hierony-mus (400). – Theodor v. Mopsuestia (425). – Cyrill v.Alexandrien (440). – Hrabanus Maurus (vor 856). –Paschasius Radbertus XII (vor 856). – Otfried v.Weißenburg (868) – Photius v. Konstantinopel(880). – Sedulius Scottus I-II (9. Jh.). – Komm. dergriech. Kirche (ed. J. Reuss 1957 [TU 61]). – Grego-rius Abulfarag (1200). – Thomas v. Aquin (1220). –Hugo v. St. Cher (vor 1264). – Nicolaus Lyranus (vor1349). – Nikolaus v. Dinkelsbühl (vor 1433). –Alphonsus Abulensis (1455). – Dionysius Carthusia-nus (vor 1471) – Faber Stapulensis (1521). – PhilippMelanchthon (1523). – C. Hagendorf (1525). –W. Musculus Dusanus (1544). – D. Carthusianus(ed. 1545). – F. T. Hassellensis (1547). – A. Marlora-tus (vor 1562). – D. Chytraeus (1575). – Joh. Ferus

(1577). – L. de Aponte I-II (1641). – A. de Sanseve-rino (1659). – Joh. Gerhard (1663). – J. Huysinga(1679). – Emanuel de Incarnatione I-IV (1695). –J. de Sylveira (1697). – F. Lucas Brugensis (1712). –C. Wolfius (1741). – Alexander Natalis (1745). –J. J. Wettstein (1752). – C. T. Kuinoel (1823). –C. F. A. Fritzsche (1826). – H. A. W. Meyer (1876). –C. F. Keil (1877). – A.-J. Liagre I-II (1883). – R. Kübel(1889). – H. Holtzmann (1889). – J. KnabenbauerI-II (1892). – F. C. Ceulemans (1900). – Th. Zahn(1903; 4. Aufl. 1922). – J. A. van Steenkiste I-III,Brüssel (1903). – E. Klostermann (1909). – A. Schlat-ter (1936). – E. Käsemann Ms Vorlesung SS (1957).– J. Schmid (1959). – E. Lohmeyer (1962). –W. Grundmann (1972). – E. Schweizer (1973). –U. Luz I-IV (1985 ff). – H. Frankemölle I-II (1994). –H. Th. Wrege (1991). – U. Luck (1993). – M. Vahren-horst (2002).

EINFÜHRUNG

Datierung und AdressatenkreisDer wichtigste Unterschied zum MkEv (und auchzum JohEv) ist, dass die Mission unter Heidenoffen zugegeben, ja befohlen wird. Andererseitshäufen sich die Signale für eine strikte Trennungvon Juden- und Heidenmission. Der Evangelistbringt das Kunststück fertig: Nirgends sonst istJesus so streng und eindeutig Messias für Israel,und daher betritt er kein heidnisches Haus undhält das Gesetz vollständig. Gleichzeitig wird dieHeidenmission durch ihn begründet – so klarwie sonst höchstens annähernd bei Lukas. Diebleibende Bedeutung dieses Ansatzes besteht da-rin, dass zwei unterschiedliche Typen von Chris-tentum gleichermaßen durch Jesus selbst legi-timiert sind. – Jesus ist also gewissermaßen dasnoch gelungen, woran Paulus historisch-bio-graphisch gescheitert ist, der wegen seiner Tätig-keit als Völkerapostel dann als abgefallener Judeimmer wieder heftig verfolgt und schließlichumgebracht wurde.

In seiner theologischen Geografie nimmt das

MtEv die ganze Welt in den Blick. Gegenüberdem MkEv ist die Heidenmission selbstständigergeworden. Sie muss nicht versteckt werden.Denn Jesus ist zu hundert Prozent Jude und dieHeidenmission zu hundert Prozent an die heid-nischen Adressaten gerichtet. Die Schrift ist undblieb gemeinsame Instanz, aber mehr als Buchder Prophezeiungen. Beschneidung ist kein The-ma. Darin sind sich merkwürdigerweise alle vierEvangelien einig. Dennoch empfiehlt Mt 23,3,das zu tun, was die Schriftgelehrten und Phari-säer lehren.

Dieser Verzicht auf das Thema Beschneidungsetzt auch einen Verzicht auf die Beschneidungvon Heiden voraus, die Christen werden. Es mussdaher ein grundlegend anderes Milieu vorliegenals in Galatien und in Rom, wo Paulus heftig mitdiesem Thema zu kämpfen hat. Das heißt: DieHeidenchristen leben ein Judentum, das dem vonGottesfürchtigen und Sympathisanten ähnelte(vgl. dazu B. Wander: Gottesfürchtige). Ein sol-

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ches Judentum der Unbeschnittenen gab es wohlin Antiochien und in Alexandrien. In Röm 4,12bkönnte Paulus auch solche Christen meinen (un-beschnitten sein, dennoch wie Abraham leben).

Dass das Thema Beschneidung in den Evan-gelien nicht vorkommt, besagt gewiss nichts da-rüber, dass hier nicht von Anfang an die still-schweigend vorausgesetzte Trennwand gegen-über dem »echten« Judentum lag.

Zeitpunkt der Entstehung des MtEvNach den antiochenischen Wirren, also nach48-50. Keine Überschneidung mit dem Juden-christentum. Die säuberliche Trennung im Evan-gelium setzt auch dieselbe in der kirchlichenLandschaft voraus. Auch der Paulus des Römpartizipiert daran (Röm 4,11-12). Verzicht aufLiberalisierung des Judentums bedeutet nichtdessen Ausschluss vom Glauben an Jesus. DasMtEv dürfte daher zwischen 50 und 60 n. Chr.entstanden sein. Warum nicht später? Noch istdie judenchristliche Kirche stark vertreten.

Israel und die Völker der Welt – zur matthäischenGeschichtstheologieDer Evangelist Matthäus liebt die Kontraste.Wohl auch deshalb wurde er schnell zum Lieb-lings-Evangelisten der Kirche. Auf die Frage nachseinen Lieblingsfarben würde er wohl sagen:Weiß wegen der Seligen – Schwarz wegen derVerurteilten – Rot wegen der Märtyrer, die vonden Propheten bis in die Gegenwart des Evan-gelisten reichen. Theologisch ist Matthäus hartund kompromisslos, ungefügig. Oft und langewar man der Meinung, das gelte auch für endgül-tige Aussagen über Israel, die er bietet. Zum Bei-spiel findet sich nur in der Passion der Ruf desganzen Volkes der Juden: »Sein Blut komme überuns und unsere Kinder.« Und selbst der alteAdolf Schlatter konnte 1910 sagen: »Matthäus er-zählt die Geschichte Jesu als den Abschluss derGeschichte Israels … (Israels) Zeit ist vorbei,und wie Jesus, so haben auch seine Boten diePflicht, ihm den nahenden Untergang anzukün-digen. Das Reich erbt Jesu Gemeinde.« – Erst inden letzten 25 Jahren hat sich auch bei den Evan-gelischen die Einstellung gewandelt. Man ent-deckte die Antijudaismen vor allem auch in derBibelauslegung selbst und betrieb »Theologiedes Judentums«.

Seit Jesus gekommen ist, kann man mit Mat-thäus drei Phasen der Heilsgeschichte unter-scheiden: 1. das Wirken des irdischen Jesus, indem Jesus von seinem Volk durchgehend abge-lehnt wurde, 2. das Reich des Menschensohneszwischen Ostern und Wiederkunft Christi und3. die Wiederkunft Jesu als Beginn des sicht-baren Reiches Gottes. – In der Zeit des Reichesdes Menschensohnes gibt es nun die Mission derHeidenvölker einerseits und eine Fortsetzungder Mission Jesu in Israel nach Ostern anderer-seits (vor allem nach Mt 10; die Bitte um Ernte-arbeiter ist ein klares Indiz). Das heißt: Auch inder Gegenwart des Evangelisten ist Israel nichteinfach abgeschrieben und verloren, sondernMission im Stil Jesu wird fortgesetzt, und zwarbis zu seiner Wiederkunft. In dieser Zeitspannetrifft auch das Strafgericht des Jahres 70 Jerusa-lem (Zerstörung des Tempels), aber so, dass da-mit alle Schuld an den Märtyrern der ganzenHeilsgeschichte abgebüßt ist. Das Wort »SeinBlut komme über uns und unsere Kinder« ist da-mit ein für alle Mal abgegolten.

Sodann kann man lernen, dass Matthäus das»Gericht« am Ende in drei unterschiedlichen Sze-narien denkt. Einmal kennt der Evangelist dieEntrückung der Treuen und Auserwählten, alsoder Jünger und anderer Christen, zum Menschen-sohn hin (Mt 24,31), sodann weiß er um das Ge-richt, das die zwölf Apostel über Israel haltenwerden (Mt 19,28), und schließlich unterscheideter wiederum davon das Gericht über die Heiden-völker (Mt 25,31-46). Von den Gerechten heißt esja, dass sie ahnungslos darüber waren, dass ihnenim Bettler und Kranken der Herr begegnete. DieJünger aber wissen durch Matthäus darum, alsokann sich Mt 25,31-46 nur auf Nicht-Jünger be-ziehen. Eine Parallele dazu gibt es im jüdischenTestament des Abraham (Übers.: E. Janssen).Dort wird unterschieden ein Gericht durch Abel(vom Martyrium bis zur Wiederkunft), einesdurch die zwölf Stämme Israels und eines durchden Gott persönlich. – Bemerkenswert ist die Ent-sprechung zwischen den zwölf Stämmen und denzwölf Aposteln. Und Abel ist Sohn Adams unddamit »Sohn des Menschen«. Nur ist die Vertei-lung im Testament des Abraham größer, und dieGerichteten sind jeweils alle Menschen, nicht ver-schiedene Gruppen wie bei Matthäus.

Der Satz in Mt 23,39 »… bis ihr mir zurufen

12 Das Evangelium nach Matthäus

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werdet: Gesegnet, der da kommen soll im Namendes Herrn« ist auf den freudigen Empfang deswiederkommenden Jesus durch Israel zu deuten.Der Ausdruck »der da kommen soll« hat sich zurZeit des Matthäus (vgl. 11,3) schon so weit ver-selbstständigt, dass damit unzweifelhaft derMessias gemeint ist (und nicht einer seiner Boten,wie man auch erwägen könnte). Das heißt: DieGeschichte Jesu mit Israel ist weder mit der Kreu-zigung noch mit der Zerstörung Jerusalems be-endet, sondern die Israelmission in der Gegen-wart des Evangelisten mündet (dereinst) in denWillkommensgruß Jesu in Jerusalem. Gerade soerwartet es auch die Alte Kirche (bis hin zu denMoslems). Jesus ist der Hirte Israels also nicht

nur im Erdenwirken, sondern durch seine Botenjetzt und als Messias Israels dann.

Fazit: Israel ist weder verdammt, noch hat eseinen eigenen Heilsweg, der irgendwo an Jesusvorbeiführte oder ihn überflüssig machte. Gera-de das Letztere wird heute von den Israel-Theo-logen durchgehend vertreten (»doppelter Aus-gang der Schrift«). Matthäus haben sie nicht aufihrer Seite. Doch andererseits ist, wie schon Axelvon Dobbeler im Jahre 2000 feststellte, die Mis-sion in Israel strikt von der Mission unter denübrigen Völkern zu trennen und verläuft nacheigenem Stil und – mit der Begrüßung in Jerusa-lem – auch nach den Bedingungen Israels. Paulussieht das in Röm 11,26 dann wohl ganz genauso.

KOMMENTAR

Zum Aufbau Mt 1-4

Sakrale GeografieDer Evangelist Lukas beginnt seine Berichte überden Täufer (Lk 3,1-2) und über Jesus (Lk 1,5;2.1f) mit einer Einordnung in die Regierungs-bzw. Herrschaftszeiten der staatlichen römischenAutoritäten, genannt Synchronismos. Der Evan-gelist Matthäus dagegen wählt ein anderes Mit-tel, das nicht chronologischer, sondern geogra-fischer Art ist. Man könnte es Synoikismos nen-nen: Wo in der damaligen Welt liegen die Ortedes Geschehens? – Und Matthäus antwortet: inder Mitte. Wie stark sein eigenes Interesse aneiner solchen Platzierung ist, zeigt die Tatsache,dass er die meisten dieser Orte mit Hilfe von Re-flexionszitaten legitimiert bzw. ausschmückt.

Liest man die Darstellung in den ersten Kapi-teln unter diesem Aspekt, so fällt einem zuerstder Satz Thomas Manns zu Beginn des erstenTeils seiner Josefsromane ein: Tief ist der Brun-nen der Vergangenheit. Wie Thomas Mann (undwohl als sein Vorbild), so beginnt bereits Mat-thäus mit Abraham und Babylon. Schon imStammbaum Jesu fällt, von den Kommentatorenkaum beobachtet, dreimal ganz auffällig dasStichwort Babylon (1,12.17 [2�]). So ist auchdie Sichtweise des damaligen Judentums: In Ba-bylon liegt der Ursprung aller Kultur. Daherkommt auch Abraham aus dem Zweistromland.Und die Magier mit ihrer Astronomie in Mt 2,1

haben ihr Fach ganz gewiss bei den Babyloniernerlernt (So würde es ganz sicher Matthäus aufBefragen hin sagen). Wo aber Babylon genanntwird, darf auch der – wie es sich in den Augender damaligen Geografen darstellt – GegenpolÄgypten nicht fehlen (Mt 2,13-15.19-23). Dasheilige Geschehen, über das der Evangelist be-richtet, liegt demnach in der Mitte zwischen Ba-bylon und Ägypten. Jeder Jude würde bestätigen:Diese Mitte ist Jerusalem, seit dem 2. Jh. v. Chr.der Nabel der Welt. Der Evangelist ist so kühnzu sagen: Die Mitte liegt bei Jerusalem, nämlichin Betlehem; denn nach 2,6 ist Betlehem unterden Fürstenstädten Judas »keineswegs die ge-ringste«, also die bedeutendste. Betlehem ist alsodie Mitte zwischen Babylon und Ägypten. Baby-lon wurde durch den Stammbaum »legitimiert«,Betlehem durch das Reflexionszitat in Mt 2,6(Micha 5,1), Ägypten durch das Reflexionszitatin 2,15 (aus Hos 11,1). Als Ort des Schreckenswird Betlehem typologisch als »neues Rama« ge-deutet (2,18 aus Jer 31,15 LXX: 38,15). Und dieweiteren Orte werden ebenfalls sorgfältig mitSchriftzitaten als Erfüllung von Gottes Wort imAlten Testament gedeutet: Nazaret in 2,23 (mitRi 13,5), und da Kafarnaum im Gebiet der Stäm-me Sebulon und Naftali liegt, fand sich auch da-für eine Schriftstelle (4,13-15 aus Jes 9,1f), undso ist es auch mit dem Ort, an dem der Täufer

Kommentar 13

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predigt und tauft, der Wüste (Mt 3,3 aus Jes40,3). Der Einzug Jesu nach Jerusalem wird mitdem Sion-Zitat aus Jes 62,11 begründet (Mt21,8 f) und Jesu Wirken im Tempel nach Mt21,13 durch Jes 56,7. Schließlich wird noch derfür die 30 Silberlinge gekaufte Acker theo-logisch-geografisch legitimiert (Mt 27,9 f ausSach 11,12f; Jer 18,2f; 19,1 ff; 22,6 ff).

Fazit: Die »Orte« Babylon, Betlehem, Ägypten,Betlehem/Rama, Nazaret, Kafarnaum, die Wüs-te, der Töpferacker sind in ihrer Bedeutung fürdie Heilsgeschichte durch die Schrift bestens le-gitimiert. Fast alle diese Stellen stehen in denersten Kapiteln (1-4) des MtEv.

Zwischen diesen Orten werden nun Wege ge-nommen. So wie Abraham (und dann das ver-bannte Volk) aus Babylon kam, so Jesus ausÄgypten. Palästina war und ist Wanderungsziel.Und eine weitere Wanderungsbewegung ist nichtzu verschweigen: die von Judäa nach Galiläa(2,22f). Gewiss ist es auch das Anliegen des Evan-gelisten zu zeigen, dass das Christentum noblenUrsprungs, dass also Betlehem nicht ein lächer-liches orientalisches Nest im Winkel ist.

Kindschaft/GenealogieDas zweite große Thema der matthäischen An-fangskapitel sind Variationen zum Thema Kind-schaft. Das betrifft sowohl Jesus selbst als auchandere Kinder aus Betlehem und Umgebungund schließlich auch neue Kinder, die Gott Abra-ham schenken könnte. Für Jesus selbst wird ge-zeigt, dass er »Gottes und der Menschen Sohn«ist. Die menschliche Linie beginnt mit Abrahamund endet bei Josef. – Der Stammbaum nach Mtumfasst 3�14 Generationen (in der 2. Reihe 15,in der 3. Reihe 13). Die Überschrift zum Stamm-baum ist: »Buch des Ursprungs«. Die kunstvollaufgebauten Listen des Stammbaums zielen aufJosef, den »Mann Marias, aus der geboren wurdeJesus, der Christus genannt wird«. Der Stamm-baum beweist die Herkunft des heiligen Josefvon David und Abraham. Der naheliegende Ein-wand, dass Jesus, weil er nicht physisch von Josefabstammt, also auch nicht von David abstammt,zieht nicht, weil die juristische Vaterschaft er-weisbar ist und in jedem Fall gilt, die physischedagegen nie sicher ist. Schließlich gilt: Durch dieVerbindung zweier Familien gelten auch die bei-

derseitigen Vorfahren als gemeinsame. DieAdoption hatte die gleiche rechtliche Wirkungwie die biblische Abstammung.

Weil es sich um den Stammbaum Josefs han-delt, hat man schon früh gefragt: Wieso gilt dasvon Jesus, der doch von Josef gar nicht ab-stammt? Die syrische Überlieferung gleicht aus:»Josef zeugte …« Textkritisch ist diese Verände-rung wertlos, da ein dogmatisches Interesseadoptianistischer Art bei den frühen Syrern er-weisbar ist.

Aus dem gleichen Grund (weil der Stamm-baum auf Josef zuläuft) muss auch die folgendeDarstellung in 1,18-25 von Josef handeln. DieBrücke zwischen der menschlichen Herkunft (je-denfalls von Maria) und der Gottessohnschaftliegt darin, dass Maria nach 1,20 vom HeiligenGeist empfangen hat. Diese Entstehung durchGottes Geist wird in Mt 3,16f öffentlich. In derSzene bei der Taufe Jesu liegt daher das inhalt-liche Gegengewicht zum Stammbaum in 1,1-17(deshalb steht ebenfalls bei Lukas beides zusam-men). Und auch das ist ein Weg: vom geheimen,aus der Sicht Josefs eher zu verheimlichenden Ge-schehen in Marias Schoß bis zur Öffentlichkeitder Proklamation bei der Taufe.

Schließlich geht es um die Bedrohung des Kin-des im Rahmen der »Gefährdung des Retterkin-des« (s. u.) und auch anderer Kinder (Mt 2,16-18).

Korrespondenz zwischen Anfang und Schluss desEvangeliumsWie kein anderes Evangelium weist das MtEv in-tensive, meist auch wörtliche Übereinstimmun-gen zwischen Anfang und Ende auf. Damit er-reicht der Evangelist den Eindruck der Stimmig-keit im gesamten Text. Auch hieran wird seineigentliches Thema erkennbar: die Begründungder Heidenmission durch den Messias Israels.

Der Mord in Betlehem durch Herodes entsprichtdem Mord in Jerusalem durch Herodes.Der gesuchte König der Juden (2,2) entsprichtdem König der Juden auf dem Kreuzestitel(27,37).Dass Jesus von den Sünden retten wird (1,21), ent-spricht der Sündenvergebung durch sein Blut(26,28).Der Titel »Gott mit uns« (Immanuel; 1,23) ent-spricht dem »ich … mit euch« (28,20).Anerkennung durch Fremde: Dass die Magier vor

14 Das Evangelium nach Matthäus

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Jesus niederfielen und ihm huldigten (2,11), ent-spricht dem Bekenntnis des Hauptmanns: »Dieserwar Gottes Sohn« (27,54).Die Versuchung in der Wüste (4,3.6: »Wenn duder Sohn Gottes bist, …« [Imperativ]) entsprichtder Versuchung unter dem Kreuz (27,40: »Wenndu der Sohn Gottes bist, …« [Imperativ]).Die Mitte der Welt in Betlehem (Kap. 1-2) ent-spricht der Sendung an alle Völker von Jerusalemaus (28,19).Der Berg der Versuchung (4,8) entspricht demBerg der Auferstehungserscheinung (28,16).Die Rolle der fremdstämmigen Frauen im Stamm-baum (Kap. 1) entspricht der Sendung an alleVölker (28,19).

Die Weltherrschaft als Versuchung durch Satan(4,8) und die von Gott verliehene Vollmacht Jesuim Himmel und auf Erden (28,18) stehen in dua-listischer Entsprechung.

Instrumente theologischer GeschichtsschreibungImmer wieder erscheint ein Engel des Herrn imTraum und gibt Gottes Absichten kund (1,20;2,12.13.19.22). Bei den zeitgenössischen Heidensind Träume unangefochtene Offenbarungsmit-tel, bei Juden dagegen suspekt. Dadurch aber,dass der Evangelist in Träumen den Engel desHerrn auftreten lässt, stabilisiert er dieses Instru-ment der Offenbarung. Gott lenkt auch auf dieseWeise die Geschichte.

Mt 1: Jesu Stammbaum – Josefs Bedenken

Der Abschnitt Mt (1,1-11.18-25 ist eng mit denKindheitsgeschichten bei Lukas vernetzt. Das zei-gen folgende gemeinsamen Elemente: JesuStammbaum (zwischen Abraham und Davidweitgehend identisch); Zeit des Königs Herodes;Maria ist die Verlobte Josefs; der Heilige Geist ist»Urheber« Jesu im Leib Marias; dieses wird durcheinen Engel bekannt gemacht (bei Mt: Josef nachder Empfängnis; bei Lk: Maria vor der Empfäng-nis); Maria hat zuvor keinen Verkehr mit Josefgehabt (Mt 1,18; Lk 1,34); der Engel sagt: »Dusollst seinen Namen Jesus nennen« (bei Lk zu Ma-ria, bei Mt zu Josef); Jesus wird in Betlehem ge-boren; das Kind bekam den Namen Jesus; all die-ses Material wird dem Bericht über Johannes denTäufer und die Taufe Jesu im Jordan voran-gestellt; nur Lk holt den Stammbaum Jesu (in3,23-38) nach. – Dabei ist theologisch wichtig:Der Herkunft Josefs von David entspricht die da-vidische Geburtsstadt Betlehem. Auffallend ist,dass die weiteste Übereinstimmung in dem Satzbesteht, wonach das Kind Jesus heißen soll. Und:Der Heilige Geist wirkt Marias Schwangerschaft;dies wird als Engelsbotschaft abgesichert.

Bei den im Stammbaum Jesu genannten vierFrauen handelt es sich jeweils um eine illegitimeSchwangerschaft oder eine solche, bei der der Va-ter nicht der regulär dafür gehaltene Mann war.Tamar und Rahab sind Dirnen, die Frau des Uriakommt durch ein Verbrechen an Davids Seite,Rut stammt aus dem feindlichen Volk der Moabi-

ter. Bei Josef hat Gott selbst diese »merkwürdige«Linie aufgegriffen. Was zuvor im Stammbaummenschlich fragwürdiges oder im Dunkel derGeschichte versunkenes Geschehen war, hat Gotthier durch den Heiligen Geist mit eigener Hand-schrift fortgesetzt und umgewandelt. So gibt eshier die Typologie – dass der übliche biologischeVater fehlt in der Übereinstimmung des Defekteseines normalen Vaters – neben der Antitypologie,die darin besteht, dass bei Jesus diese Rolle keinzweifelhafter Mann ausfüllt, sondern GottesGeist.

Mt 1,18-24: »Bekehrung Josefs«

Man kann diesen Text durchaus die »Bekehrungdes heiligen Josef« nennen. Damit aber ist derText, wie jede biblische Bekehrungsgeschichte,auch an die Leser gerichtet. So ist – ungewöhn-lich genug – das ganze Kapitel 1 eine Geburts-geschichte, erzählt aus der Perspektive des Zieh-vaters, der für Schwangerschaft und Geburtnichts kann.

Man kann Matthäus nicht vorwerfen, dass ernicht sofort an die einzige Ausnahme gedachthat, die der Prophet Jesaja (7,14) beschreibt. Of-fenbar sind Maria und er noch nicht lange ver-lobt, sodass jeder wissen und sehen kann, dassJosef nicht der Vater sein kann. So möchte erdas Verlöbnis ohne großen Medienrummel dis-

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kret lösen, d. h. Maria nach Hause schicken, so-dass sie allein die Schande der unehelichen Mut-ter zu tragen hat.

Deshalb muss dann erstens Gott seinen Engelzu Josef schicken, ihm eine Offenbarung geben,und zweitens muss eine Schriftstelle herangezo-gen werden, um das Geschehen plausibel zu ma-chen. Das heißt: Auch Gott hielt hier den Glau-ben nicht für selbstverständlich, sondern hat ihndurch sein eigenes Handeln und Erklären erst er-möglicht.

Zur Menschwerdung Jesu durch den HeiligenGeist ist zu sagen: Die hierzu nächste jüdischeParallele gibt es gerade zur Matthäus-Version:Der Anhang zum slawischen Henochbuch (1. Jh.v. oder n. Chr.; jüdisch) berichtet über die gott-gewirkte Entstehung des Kindes Melchisedek imLeib einer zuvor unfruchtbaren Frau, die bei derGeburt stirbt. Der Vater will – wie Josef bei Mt –das Kind nicht anerkennen und erwägt, seineFrau zu entlassen. Von Melchisedek gilt somit:»ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum«(Hebr 7,3). Im Unterschied zu Matthäus fehlender Engel, der Heilige Geist, das davidische Ele-ment, die symbolische Bedeutung und Deutungdes Namens (Jesus = Erlöser). Bei Matthäus undLukas ist die Menschwerdung Jesu durch denHeiligen Geist die höchstmögliche Zuspitzungder Berufung und Heiligung vom Mutterleib an.Hier wird eine prophetische Tradition radikali-siert; nach Lk 1,15 war auch Johannes der Täuferschon vom Mutterleib an wenigstens mit Heili-gem Geist erfüllt; Jesus ist gar durch den Heili-gen Geist entstanden. Wie seine Auferstehunggeistgewirkt war, so ist es auch seine Entstehung.

Engel (in den Kindheitsgeschichten) sindnichts Selbstverständliches. Doch zunächst istdas stets etwas Ungeheuerliches, herrlich undschrecklich zugleich. Gottes Menschwerdung istein Geheimnis – genauso wie seine Auferstehung.Und niemand ist hier oder dort Zeuge. Aber das,was offenbart werden kann, sagt in beiden Fällenein Engel. Die spätere Kirche wird sagen: Durchdiese geheim gebliebenen Vorgänge konnte Satanhintergangen werden. Ohne dass er es merkte,wurde das entscheidende Heil gewirkt. In diesenFällen ist daher die Offenbarung durch Engel zu-gleich eine Art der Geheimhaltung.

Wie bei den Osterberichten sind auch bei den

Engelerscheinungen in den Kindheitsgeschichtendie Evangelien sozusagen Exklusivberichte deszuvor Geheimen. In jedem Fall also richtet sichdie Engelsbotschaft an intime Zeugen des hei-ligsten Geheimnisses: dass Maria vom HeiligenGeist schwanger wurde und dass die Frauen dasGrab leer sahen und eine Engelsbotschaft dortvernahmen. Übrigens geht es beide Male um et-was, das der Heilige Geist am Leib Jesu wirkt.Denn wo immer gefragt wird, wer Ostern eigent-lich bewirkte, war es Gottes Heiliger Geist (Ez 37;Offb 11,11; Röm 1,3f; 1 Tim 3,16). Gott hatdurch seinen Heiligen Geist die Zone der Leib-lichkeit Jesu erreicht. Dieses Eingreifen geschiehtan den beiden entscheidenden Eckpunkten desLebens Jesu, bei seiner Menschwerdung und beiseiner Auferstehung.

Aber kann man nicht, wie es viele tun, einfachdie Jesaja-Verheißung in Mt 1,23 wiedergebenmit den Worten: »Eine junge Frau wird empfan-gen und einen Sohn gebären …«? Dann braucheman keine Jungfrau. Und dann ist die ganze Ge-schichte eine normale Schwangerschaft. – In derErzählung bei Mt ist die Jesaja-Stelle doch erstdas zweite Zeugnis und nicht der Grund, weshalbdie ganze Geschichte erfunden wurde. An ersterStelle steht die Botschaft des Engels, und sie hatviele Gemeinsamkeiten mit dem, was wir aus denKindheitsgeschichten nach Lukas kennen. Dochliest man Jes 7 aufmerksam, dann soll hier einbesonderes Zeichen gegeben werden. Dass abereine »junge Frau« ein Kind bekommt, ist über-haupt kein besonderes Zeichen, sondern das inaller Welt Übliche. Daher kann das Zeichen, dasGott gibt, jedenfalls nur in etwas Außergewöhn-lichem bestehen. Und das hebräische Wort »al-ma« kann durchaus »Jungfrau« bedeuten. Soübersetzt es übrigens die griechische Bibel derJuden, die Septuaginta. In der Erwartung derGriechisch sprechenden Juden war der Immanuelaus Davids Haus daher von einer Jungfrau ge-boren. Und Jes 7,14 ist auch nicht der »Ur-sprung« der neutestamentlichen »Konstruktionder Jungfrauengeburt«, sondern wird von Mat-thäus beiläufig hinzugezogen, um die christlicheTradition, die er mit Lukas teilt, zu kommentie-ren. Aber man kann nicht sagen, von da aus seidiese Legende entstanden.

16 Das Evangelium nach Matthäus

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Mt 2,1-12: Die Magier

Von Mose, Abraham und Jesus erzählt man: EinKnabe soll geboren werden, der künftig sein Volkretten wird, der also in irgendeinem Sinne »Kö-nig« sein wird. Durch Fachleute (Astronomen,Astrologen, Weise) erfährt der noch regierendegegenwärtige Herrscher von der Gefahr, die ihmdroht. Denn ein Stern verrät den neugeborenenKönig (wegen Num 24,17). Er ist regelmäßigein grausamer, gottloser Herrscher. – Da er dasneugeborene Kind nicht finden kann, weil es ineiner Höhle oder an anderem unerwarteten Ortversteckt ist, lässt er flächendeckend alle Knabendieses Alters umbringen. Nur der, den er eigent-lich fangen will, entgeht ihm, wird in seinem Ver-steck wunderbar ernährt und danach dennochKönig. – Diese Erzählungen könnte man die »Ge-fährdung des Retterkindes« nennen. (parallel zur»Gefährdung der Ahnfrau«). Die Magier, diedem Kind die Geschenke bringen, sind auch inden Parallelerzählungen über Mose und Abra-ham stets Nichtjuden. Früher hat man aus diesenbis ins Einzelne gehenden Ähnlichkeiten im Ab-lauf geschlossen, dass im Ganzen nichts davonwahr sei, da alles biografischer Topos gewesensei. Dabei hat man übersehen, dass Ähnlichkei-ten der Erzählungen nichts über die »Historizi-tät« besagen. Denn Analogie zu einem anderenFall kann durchaus die historische Wahrschein-lichkeit erhöhen. Es kann auch sein, dass Ähn-lichkeiten bestehen, die dann vom Erzähler imSinne des allgemeinen Ablaufs ergänzt werden.Anders gesagt: Auch wenn nur ein leiser Anlassbesteht, dass auch dieses Retterkind verfolgt wur-de, kann der Erzähler die anderen Punkte nach-reichen. Schließlich gilt: Die Handschrift Gottesbleibt in der Geschichte immer erkennbar. Offen-barung muss keineswegs immer das Neuestekundtun; sowohl das Wort wie das Geschehenkönnen dasselbe Altbewährte in neuer Wieder-holung (mit Abweichungen) sein.

Quellen für die Motive des Kindermordes und derMagier im Umkreis des Neuen Testaments:pers = Chronik von Zuqnin (Berger/Colpe, Reli-gionsgesch. Textbuch, Nr. 180); mos = Berichtüber Mose nach Ex 1,15 ff und paläst. Targum zuEx 1,15; abr = Abraham-Midraschim nachA. Wünsche, Aus Israels Lehrhallen I, 14.16.18.35.42; protev = Protevangelium des Jakobus 19;

ignat = Ignatius v. Antiochien, An die Epheser19: mt = Mt 2.Stern (zeigt neuen Herrscher an; Num 24,17):pers, abr, protev, mt, ignat.Höhle (im Berg, als Geburtsort): pers, abr, protevGottloser Herrscher: mos, abr, mt.Herrscher hat einen Traum: mos (Targum; Lammund Waage). In den anderen Quellen steht an die-ser Stelle oft eine Notiz über unaufgeklärte astro-nomische Phänomene.Anbetung des neuen wahren Herrschers: pers, mtNeuer Herrscher ist König der Magier: pers, ignat,mt.

Mt 2,2: Der neugeborene König der Juden

Religionsgeschichtlich gesehen haben wir es hierzu tun mit einem Stück aus einer orientalischen,jüdischen und vorkanonischen Tradition. Mankönnte diese nennen »Die Offenbarung des Men-schengestaltigen im Himmelslicht«. D. h.: Man er-wartet die Offenbarung eines himmlischen Er-lösers bzw. Befreiers. Diese wird sich nach einigenTexten auf einem Berg ereignen (denn der Bergist dem Himmel nahe, bzw. ihm ähnlich). Siekommt aus dem Licht des Himmels (Stern). Die-ser Befreier sieht aus wie ein Mensch oder einhimmlisches Kind. Repräsentanten der Mensch-heit erleben dessen Offenbarung. Belege für die-se verbreitete Tradition: Vision in Ez 1,26: »etwas,das einem Throne gleichsah. Auf dem thronähn-lichen Gebilde war oben darauf eine Gestalt, dieeinem Menschen glich.« Ferner: Vision des Men-schenähnlichen in Dan 7,13: »Ich schaute in denNachtgesichten, und siehe, mit den Wolken desHimmels kam einer, der aussah wie ein Mensch(Sohn eines Menschen). Er gelangte bis zu demHochbetagten. Ihm verlieh man Herrschaft …«In äth Hen wird der Menschensohn als Richtervorgestellt, der auf seinem Thron sitzend die Völ-ker richten wird.

Im Neuen Testament dient diese Tradition da-zu, den himmlischen Ursprung Jesu und seinekünftige Richterfunktion zu bekräftigen. DassJesus überhaupt Menschensohn genannt wird,hängt mit seinem Ursprung und mit seiner er-warteten Funktion zusammen.

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Parallel zu Ez und Dan wird diese Tradition un-ter persischem Einfluss in Kleinasien rezipiertund umgeformt:

»Betreffs der Offenbarung des Lichtes jenesverborgenen Sterns … und jeder einzelne vonuns sah wunderbare und verschiedene Visionen… Und wir kamen, jeder einzelne von uns, umzum Berg der Siege hinaufzusteigen und umuns zu taufen in der Quelle der Reinigung …Und wir sahen ein Licht in Gestalt einer Säulevon unaussprechlichem Licht, das herunterstiegund über den Mysterien stehen blieb …, undüber ihm den leuchtenden Stern, von dessenLicht zu sprechen wir nicht imstande waren …und wir stiegen hinauf und fanden die Säule desLichtes vor der Höhle … und es näherte sich vorunseren Augen … etwas wie die Hand eines klei-nen Menschen … und stärkte uns. Und wir nah-men unsere Kronen und legten sie unter seineFüße« (nach G. Widengren, Iranisch-semitischeKulturbegegnung in parthischer Zeit, 1960, 71-86, ähnlich im Opus Imperfectum in MatthaeumPG 566,637f, vgl. die alte christliche Traditionvon der Geburt Jesu in der Höhle im ProtEvJakund bei Justin; vgl. jetzt die Übersetzung derChronik von Zuqnin, auf die sich G. Widengrenbezieht, bei: B. Landau, Revelation of the Magi,2010).

Da die Offb im Ganzen nach Ez aufgebaut ist,besteht kein Problem, die Vision des Menschen-gestaltigen nach 1,13-16 und den Berg nach21,10 im Sinne der dargestellten Tradition vonder Erlösung durch den lichtvollen Messias zuverstehen, die sich in dem lichtvollen Geschehenauf dem Berg auswirkt.

Da es sich in Ez 1,15 und in Offb 1,13 umeinen »Sohn des Menschen« handelt, wird be-greiflich, dass das »kleine Menschenkind« nacheinigen Variationen des Mythos nichts weiter istals der sehr wörtlich verstandene »Sohn/Kindeines Menschen«, und zwar ohne Namen.

Bei der Verklärung nach Mk 9 kommen dieseElemente aus der Tradition zusammen: Berg,Licht, begrenzte Zahl der Zeugen (die auf denBerg hinaufgehen), die lichtverklärte Gestalteines Menschen; eigentlich (wenigstens im Ver-gleich mit Ez 1; Offb 1) ist daher Mk 9 eine Men-schensohn-Vision. (Aber vom Gottessohn aufdem Berg ist auch nach Lactantius die Rede.)

Besonderheiten in Mt 2Nirgends sonst besuchen die Weisen/Astrologendas Kind oder geleitet der Stern diese zum Fund-ort des Kindes. Nur hier werden dem Kind vonden Weisen/Astrologen Gaben dargebracht, nir-gends sonst fallen diese ihm anbetend zu Füßen,nirgends sonst wird auch gegen Ende der Erzäh-lung sorgfältig darauf geachtet, dass der Herr-scher die Weisen nicht doch noch trifft. Die Ma-gier sind selbstständig handelnde Figuren gewor-den. In den Parallelberichten geht es zwar auchoft um Astrologie/Astronomie, aber die Astrono-men sind für den Herrscher nur die Quelle seinerKenntnis, sie gehen nicht selbstständig zu demerwählten Kind, um es zu verehren. Dass sie dasKind anbeten, fehlt in den Parallelen von Abra-ham und Mose, Jesus wird dadurch als Gottes-sohn vor ihnen ausgezeichnet. Weil nur bei Mat-thäus die Astronomen das Kind besuchen, sindauch die Gaben, die sie mitbringen, samt ihrersymbolischen Bedeutung typisch für Matthäus.Während Frühjudentum und Neues Testamentskeptisch bis ablehnend gegenüber dem Traumals Mittel der Offenbarung sind, ist er in Mt 2,12;27,19 positiv bewertet – sicher im Kontext derHochachtung gegenüber der Heidenmission. –Wie in der Passion Jesu heißt der Widersacher»König Herodes« (hier: Herodes d. Gr., dort: He-rodes Antipas); Jesus wird mit dem Tod bedrohtund wunderbar errettet. Er ist der »Typus« desleidenden und von der staatlichen Macht verfolg-ten Gerechten, und zwar am Anfang und am En-de seines Lebens. Das entscheidende Stichwortaber für Matthäus ist die »Anbetung«, die Jesushier zuerst und dann noch öfter zuteil wird, undzwar nur bei Matthäus. Denn er fasst die Gottes-sohnschaft Jesu so auf, dass der eine und einzigeGott in Jesus präsent ist wie in einem Tempel under demgemäß hier anzubeten ist. Das bedeutetauch »Gott mit uns« nach 1,23: Weil Jesus da ist,ist auch Gott bei den Menschen. Denn in ihmund durch ihn wendet sich Gott den Menschenzu, und zwar von Anfang an auch den Heiden.Denn die Magier, die dem Christuskind die Ge-schenke bringen, sind auch in den Parallelerzäh-lungen über Mose und Abraham stets Nicht-juden.

Schließlich: Nur bei Matthäus ist der Fundortdes neugeborenen Kindes ein besonderes Thema.Denn um diesen Ort dreht sich die ganze Erzäh-

18 Das Evangelium nach Matthäus

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lung, bevor es hier zur Anbetung kommt. Fürden Leser hat Betlehem Jerusalem als Heilsort er-setzen können. Hier wird der Gottessohn gefun-den. Damit wird das Thema der Davidsohnschaftaus Kap. 1 wieder aufgegriffen, denn Betlehemist die Stadt Davids. In Jerusalem sitzt Herodes,und dort werden auch später die Feinde Jesuwohnen. Denn Jerusalem hat nach der Auffas-sung von Matthäus und Lukas alle Propheten er-mordet, und so wird es auch mit Jesus geschehen(Mt 23,37; Lk 13,33). Jerusalem steht daher fürdas abtrünnig gewordene Volk. Betlehem dage-gen bedeutet den Neubeginn des Heils geradeaus der Stadt, die man für die unbedeutendstehält (Mt 2,6). Aber so ist es ja mit Jesus auch: Erist der Stein, den die Bauleute verworfen haben,der aber zum Eckstein wurde (Mt 21,42). WiderErwarten wird das scheinbar Geringste zumGrößten. Das ist auch ein Stück pharisäischerWeltanschauung, die sich besonders bei Mat-thäus erhalten hat (Mt 5,19). Am Kleinsten ent-scheidet sich alles. Matthäus setzt auf das Kleins-te, weil er ahnt, dass alles Große sowieso korrum-piert ist, sonst hätte es – zu den Bedingungendieser Welt – nicht so groß werden können. Sosteht Betlehem für den Neubeginn aus der Un-schuld des Hirtenidylls, genauso wie zeitgenössi-sche Propheten – Johannes der Täufer und ande-re – einen radikalen Neubeginn aus der Wüsteversuchen. Denn die Wüste ist noch reines Land,nicht befleckt von der Korruption der Geschich-te. Auch David hat in Betlehem noch keines sei-ner Vergehen begangen. Von hier aus ist Neu-beginn möglich. Das Judentum dieser Zeit suchtdaher, so können wir feststellen, für das Pro-gramm von Umkehr und Neubeginn Orte, diefür den Zauber des Anfangs stehen und von derKorruption der Geschichte frei sind. Deshalb istBetlehem das, was für den Täufer die Wüste ist.

Dass es drei Männer waren, hat man nur ausder Dreizahl der Gaben erschlossen; dass es Kö-nige gewesen seien, erschloss man aus der per-sischen Kopfbedeckung, die man dem höherenGegenüber vor die Füße legte (vgl. Offb 4,10).Die Gaben von Gold, Weihrauch und Myrrhesind seit alters her symbolisch gedeutet worden:Gold steht für das Königtum (Reichtum, Glanz,Macht), Weihrauch für die Gottheit Jesu Christi(vgl. die entsprechende Anbetung des römi-schen Kaisers) und Myrrhe für das Leiden. Bis

heute wird Myrrhen-Tinktur als Mittel zur Rei-nigung von Wunden gebraucht; die Anwendungselbst ist schmerzhaft. Zur Platzierung der Myr-rhe in der Passion Jesu vgl. Mk 15,23; Joh 19,39;das griech. Wort »smyrna« kommt von der StadtSmyrna (Offb 1,11; 2,8). Zu Gold und Weih-rauch vgl. schon Jes 60; dass die drei MännerKönige waren, konnte man auch aus Jes 60 lesen,denn es heißt dort in V. 3: »Völker wallen zu dei-nem Licht und Könige dort zu deinem strahlen-den Lichtglanz.« Hier hat Gott also den Heidendas Zeichen vom Himmel (!) gegeben, das erseinem eigenen Volk verweigert hat (Mk 8,11f).Die drei Gaben sind damit symbolische Vorzei-chen und gehören als solche in die Kindheits-geschichten. Die Gattung der symbolischen Vor-zeichen (Prodigien) gehört fest in den Ablaufvon Herrscherbiografien. In Jesus ist daher einererschienen, der Mensch, König und Gott zu-gleich ist. Wenn dieser vorwegnehmend hier alsKönig der Heidenvölker und als Weiser allerihrer Weisen (denn Magier galten als gelehrtund weise) dargestellt wird, dann nimmt er et-was in Anspruch, was außer ihm in damaligerZeit nur einer tat: der Kaiser in Rom.

In Mt 2,6 wird das Zitat aus Micha 5 in seinerBedeutung umgedreht: Während es im hebräi-schen Text heißt: »Du, Betlehem, bist die gerings-te …«, macht Matthäus daraus: »Du, Betlehem,bist keineswegs die geringste …« Doch wird derGesamtsinn dadurch nicht verfälscht. Der Sinndes hebr. Textes ist: Obwohl du die geringstebist … ; der Sinn des griech. Textes: Weil du kei-neswegs die Geringste bist, … – nämlich: Weildu durch die Herkunft Davids geadelt bist. Zitatedieser Art nennt man Reflexionszitate, weil derEvangelist mit ihnen den Bericht im Lichte derSchrift kommentiert und illustriert. Zitate dieserArt aus dem Alten Testament finden sich vorzüg-lich, aber nicht ausschließlich, im Evangeliumnach Matthäus.

Für die Historizität könnte sprechen: a) ÜberHerodes d. Gr. wird auch sonst nichts Gutes be-richtet. – b) Die Beseitigung potenzieller Rivalendurch Kindermord gehört zu den politischenÜblichkeiten gerade des 1. Jh. n. Chr. Gerade fürdieses Jahrhundert wird wiederholt davon be-richtet (Livius, Sueton, Dio Cassius). – c) Im Un-terschied zur älteren Forschung ist davon aus-zugehen, dass Sondergut einzelner Evangelisten

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– darum handelt es sich hier – nicht einfach der»Erfindung« des Redaktors zuzuschreiben sind,sondern in der Regel auf dessen eigener über-kommener, spezifischer Tradition beruhen. –d) Auch bei nur einmaliger Bezeugung (also hierin Mt 2) ist bis zum Erweis des Gegenteils davonauszugehen, dass die Evangelisten ihre Lesernicht täuschen, sondern Historisches berichtenwollen. Es gibt noch genügend »Platz« im Lebendes Herodes, sodass er diese Tat sehr wohl voll-bracht haben kann. – Die Historizität dieses Be-richts auf Verdacht hin zu bestreiten überfor-dert jede denkbare Kompetenz von Historikern.

Religionsgeschichtlich gesehen tritt neben die»Gefährdung des Retterkinds« noch ein zweiterStrang: Die Verehrung des persischen »Messias«durch die Anhänger der persischen Religion.Diese Tradition umfasst die Verehrung des als

Mensch erschienenen Lichtes in einer Höhledurch Magier (hier haben die Darstellungen derAnbetung Jesu in einer Höhle und die Aussagender Liturgie über das Licht zum 6.1. ihren Ur-sprung (vgl. dazu K. Berger/C. Colpe, Religions-geschichtliches Textbuch zum NT, 1987, 114,Nr. 180). Im bunten religiösen Milieu Antio-chiens bestand für den Evangelisten sicher dieMöglichkeit, sich über diese Auffassungen zuorientieren.

Innerhalb der vier Evangelien gibt es das Wort»König der Juden« nur und erst in den Passions-berichten, so etwa in Mk 15,2 etc. Ausnahme istnur Mt 2,2. Denn hier geht es – wie bei den sym-bolischen Gaben – gleichfalls um Prodigien, umVorzeichen für das kommende Geschick derHauptperson.

Mt 2,16-23: Kindermord und Rückkehr

Von »theologischer Geografie« spricht man,wenn das auf einer Landkarte VerzeichnetePunkt für Punkt und Ort für Ort eine sakraleBedeutung hat. Der Evangelist Matthäus entfaltetdieses vor allem in den Kapiteln 2-4. Dadurch le-sen sich diese Kapitel wie ein frühes Pilgerhand-buch. Jeder dieser heiligen Orte wird als solchermit einem »Reflexionszitat« begründet. So nenntman Texte aus dem Alten Testament, die einEvangelist im Lichte ihrer neutestamentlichen Er-füllung liest und die er in diesem Geschehen be-stätigt sieht. Er »reflektiert« darin die Erfüllungdes neutestamentlichen Geschehens mit Hilfe desAlten Testaments. So begründet und reflektiertder Evangelist Mt den Geburtsort Betlehem in2,6 durch Micha 5,1. In Mt 2,15 reflektiert er Jesuzeitweiligen Aufenthalt in Ägypten durch Hos11,1; Num 23,22. In Mt 2,23 reflektiert er die Be-deutung der Heimat Jesu in Nazaret mit einemrätselhaften Zitat, das wohl auf die Nasiräer-Tex-te in Ri 13,5 oder Num 6 zurückgeht. Undschließlich wird in Mt 4,15 Jesu Auftreten in Ka-farnaum und im »Galiläa der Heiden« reflektiertmit Jes 8,23; 9,1. – Auch gegen Ende des LebensJesu wird der Evangelist die Topographie der Pas-sionsgeschichte entsprechend mit Schriftzitatenverbinden, so Sion (21,5), den Tempel (21,13)und den Acker des Töpfers für das Judasgrab in

27,9 f. Besonders zu Anfang des Evangeliumswerden die heiligen Stätten der Kindheit unddes Wirkens Jesu genannt: Betlehem, Ägypten,Nazaret und Kafarnaum. Jede ist eine »StadtJesu«. Der Ort am Anfang des Evangeliums ent-spricht dem Schema der Biografie. Denn nächstEltern (Abkunft) und Ausbildung müssen die»Wohnsitze« genannt werden, um eine Personzu skizzieren. Die Offenbarung Gottes ist boden-ständig. Sie vollzieht sich nicht im luftleerenRaum und irgendwie »rein geistig«, sondern wieschon im Alten Bund (Sinai, Sion etc.) an heili-gen Orten. Damit wird ein Stück Schrifterfül-lung geleistet und Wallfahrtstheologie prakti-ziert. Die Nennung der Stämme Sebulon undNaftali in 4,12-14 erinnert daran, dass Matthäusbesonderen Wert auf die Zwölfzahl der Stämmelegt (19,28). Andererseits sind zwei der angege-benen heiligen Orte heidnisch: Ägypten und Ga-liläa. So wie der Evangelist auch sonst eine sorg-fältige Balance sucht zwischen Jesu Zuwendungzu Juden und Heiden, so nennt er neben zwei ty-pisch jüdischen Orten (Nazaret und Betlehem)zwei heidnische.

20 Das Evangelium nach Matthäus

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Mt 2,19-23: Heimkehr nach Nazaret

Der Ortsname Nazaret ist im Alten Testamentnicht belegt. Das Zitat in Mt 2,23 kann sich nurauf die Gruppe der Nasiräer beziehen. Das philo-logische Problem entsteht daraus, dass Nasiräernicht Nazoräer sind, schon gar nicht aber Naza-rener. Nun wird in Mt 4,13 Nazaret mit demWort Nazara benannt. Das gibt der Diskussionüber Nazaret eine neue Richtung: Nasaraioi isteine bei frühen östlichen syrischen und grie-chischen Kirchenlehrern bezeugte Gruppe vonHeilern und Exorzisten. Sie könnte vorchrist-lichen Ursprungs sein. Epiphanius (Haereses29.7.3) sagt: »Die Nasaräer existierten vor Chris-

tus und kannten Christus nicht.« So nennt er sie(19.5) als jüdische Religionspartei neben Saddu-zäern, Essenern und anderen (vgl. mehr zu Mk1,24). Im Aramäischen und Syrischen werdendie Christen mit scharfem s (Sade) nasraija ge-schrieben, die Nasiräer dagegen mit weichem z(Zain; nezira). Auch das spricht gegen die Her-leitung von den Nasiräern. Oder sind die Chris-ten von nasar (mit scharfem s) hergeleitet unddamit die Bewahrenden, Beobachtenden, alsodie Observanten? Das JohEv würde das bestäti-gen (Bewahren der Gebote Jesu, griech.: terein).Auch das o wäre vom Partizip her zu erklären.Und das käme auch der Textgestalt in Mt 2,23nahe.

Mt 3,1 – 4,12: Taufe und Versuchung

Mt 3,13-17: Taufe Jesu

Besonderheiten bei Mt: Die Himmelsstimme amSchluss ruft nicht: »Du bist mein Sohn«, sondernsie erklärt den Umstehenden: »Dieser ist meinSohn, mein Geliebter und Auserwählter.« – DerLeser des Matthäus-Evangeliums weiß schon vonder Kindheitsgeschichte her, dass Jesus SohnGottes ist. Deshalb kann es bei der Taufe wederum die Adoption (durch »Du bist …« wie beiMk, wie manche meinen) noch um die Einset-zung (im Sinne des Amtsantritts oder der juris-tisch verstandenen offiziellen Bestellung) zumSohn gehen. Vielmehr liegt die Gattung der Pro-klamation vor: Das, was Jesus schon seit derEmpfängnis ist, wird nun öffentlich enthülltund allen kundgetan. Diesen Akt der Vorstel-lung kennt man aus dem Herrscherritual (Vor-stellung, Präsentation). 3,16 ist eine »Epiphanie«(plötzliches hilfreiches, rettendes Erscheineneines Gottes oder eben eines Herrschers). DieTaufe Jesu ist eine mystische Erfahrung. – Daherwird auch im judenchristlichen Ebioniten-Evan-gelium die Taufe Jesu im Rahmen des Erstrah-lens eines großen, starken Lichts dargestellt(Übers.: Berger/Nord, 983f).

So wie Matthäus uns die Taufe schildert, wirddarin ein politischer Anspruch erhoben. Prokla-mation und Epiphanie meinen einen Gottkaiser(und mehr), eben den, der am Schluss des Evan-geliums von sich sagen wird: »Mir ist alle Gewalt

gegeben im Himmel und auf der Erde.« Nach3,15 will Jesus durch seine Taufe Gottes Forde-rung nach Gerechtigkeit nachkommen. Im Klar-text heißt das: Gottes Gebote erfüllen. So wirdJesus seine Bergpredigt verstehen, zu deren Be-ginn er davon spricht, dass es ihm um die Erfül-lung des Gesetzes geht (5,17). Weil sie Gerechtesind, werden die Christen verfolgt (5,10); ihreGerechtigkeit muss radikaler, durchdringendersein als die der Pharisäer (5,20). Und wenn Jesusin 21,32 seine gesamte Lehre als »Weg der Ge-rechtigkeit« zusammenfasst, dann schließt erauch hier Johannes den Täufer ausdrücklich mitein. So spricht er ja auch in 3,15 davon, dass »wiralle Gerechtigkeit erfüllen« müssen. Im Hinter-grund könnte Ez 36,24-27 stehen (Gott gibtWasser und Geist, »dass ihr meine Forderungennach Gerechtigkeit erfüllt«. Nach Röm 8,3f wirdgerade an der Sendung Jesu auf Erden (undnicht erst bei der Auferstehung) deutlich, dass inihm Gottes Geist wirkt zur Erfüllung des ganzenGesetzes. Deshalb ist bei Matthäus auch sonst(28,19) und bei Paulus öfter (z. B. 1 Kor 12,13)der Heilige Geist mit der Taufe verbunden.

In Mk 1,9f; Lk 3,21 fehlt der Dialog zwischen Jo-hannes und Jesus aus Mt 3,14 f. Bei Mk und Lkwird stark die Vorbildfunktion Jesu für den Wegjedes Christen betont. Das ist im MtEv und nochstärker im JohEv anders. Bei Mt ist Jesus von An-fang an wahrer Gott und wahrer Mensch. Von die-sem Standpunkt aus ist die Taufe durch Johannes

Kapitel 3 21

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tatsächlich eher problematisch. Nach Mk wirdJesus mit Wasser und Geist getauft, wie es zur Zeitdes MkEv Standard war – nach Joh 1 wird Jesusgar nicht getauft; denn im JohEv steht Jesus mehrden Menschen gegenüber, als dass er ihnen aufdem Weg vorangeht. Bei Mt, der Joh hier nahe-steht, muss die Taufe des Gottessohnes wirklichgerechtfertigt werden. Sie gehört (vgl. Mt 21,32)zum Weg der Gerechtigkeit dazu, weil jederChrist aus Wasser und Geist getauft werden muss.Dass es sich aber bei Jesus nur um eine Proklama-tion handelt (»Dieser ist …«) und nicht um eineInstallation (»Du bist …«), das macht gerade hierSinn. Denn im Unterschied zu den Christen hatJesus nach Mt den Geist von Mutterleib an. Den-noch ist Jesu Taufe ein Zeichen für alle Christen,auch wenn im Ausnahmefall Jesu der HeiligeGeist in der Taufe nicht verliehen, sondern nurpublik gemacht wird.

Mt 4,1-11: Versuchung in der Wüste

Zur Versuchungsgeschichte im Ganzen: Im Rah-men der Gattungsgeschichte gehen die Ver-suchungsberichte in den drei ersten Evangelienzurück auf den biografischen Topos der »An-fechtung des Neubekehrten«, wie sie das Juden-tum aus den Nacherzählungen des Lebens Abra-hams, Hiobs und anderer kennt und wie sie z. B.für die Thessalonicher auch Paulus voraussetzt(1 Thess 3). Nun ist Jesus kein Neubekehrter, so-dass ein Gattungstransfer vorliegt. Doch seineTaufe wird offenbar als eine Art Berufung ver-standen, und die Grenzen zwischen Bekehrungund Berufung sind tatsächlich unscharf. ImMtEv ist die Taufe eine öffentliche Berufung.Der Versuchungsbericht stellt die Echtheit derBerufung und damit auch ihre inhaltliche Struk-tur fest, indem er dieses Thema dialogisch ent-faltet. Dabei ist die tiefgreifende theologischeErfahrung vorausgesetzt, dass Teuflisches undGöttliches sich rein äußerlich sehr ähneln (vgl.zur Theologie der Offb das Phänomen der Nach-äffung). Denn der Teuflische ahmt stets Gottnach; deshalb kenne ich, was die Einleitung, denRahmen, betrifft keinen Versuchungsbericht,der ohne die Gestalt des Teufels auskommt.Eben deshalb ist eine präzise Unterscheidungvon Anfang an nötig. Auch im Corpus des Evan-

geliums selbst wird ja der Verdacht geäußert,Jesus stehe in Wirklichkeit auf der Seite des Teu-fels (Mt 12,24-32).

Dass die Versuchung als schriftgelehrter Dis-put geführt wird, ist einzigartig. Auffällig ist da-bei, dass Jesu Antworten alle aus Dtn 6-8 stam-men. Das Dtn ist übrigens – nicht zuletzt wegendes Hauptgebotes in 6,4f – das (neben Jes, Ps,Gen und Ex) auffällig häufig zitierte Buch imNeuen Testament.

Inhaltlich geht es in der Versuchungsgeschichteum zwei Themen: um die Frage des Nutzens derBerufung für Jesus persönlich und um die Defi-nition von Gottes Reich, letztlich um das Gottes-bild. Zur ersten Frage: Wenn Jesus Steine in Brotverwandelt, hat er sich selbst aus der durch dieWüste gegebenen Situation des Hungers befreit.Auch unter dem Kreuz werden die Menschen sa-gen: Rette dich selbst, Arzt, hilf dir selbst. UndSteine in Brot zu verwandeln, ist göttlich. Mankönnte die Speisungsberichte der Evangelienauch so deuten. Doch Jesus nutzt seine Vollmachtnicht zum eigenen Wohlergehen. Genau das wür-de ihn als teuflisch erweisen.

So wäre auch der Sturz von der Tempelzinneein Schauwunder zu eigenen Gunsten. (Jakobus,dem Herrenbruder, Jesu Verwandtem, wird mandas später antun, ohne dass ihn Engel retten).Die Steigerung gegenüber dem Brotwunder lägedarin, dass es beim Sturz um Leben und Tod gin-ge. Auch beim Gang zum Kreuz rettet sich Jesusnicht selbst aus dem Tod. Das muss ein anderertun. Darauf werden die Leser hier vorbereitet.

Die größte Steigerung schließlich ist die Welt-herrschaft mit all ihrem Glanz. Interessant ist,dass der Teufel (!) sie zu vergeben hat (vgl. 2 Kor4,3 f). Auch hier wäre die scheinbare Parallele zuGottes Reich ganz offenkundig. Daher die Ent-sprechung von Mt 4,8 zu Mt 28,18.

Fazit: Jesus lehnt nicht nur die Ratschläge desTeufels ab, er weist auch ein Dienst- und Anbe-tungsverhältnis zurück. Soweit die grundsätz-liche Uneinigkeit zwischen Jesus und dem Satan.Der Preis für all die angebotene Selbstbedienungwäre ein Verrat an Gott.

Aber was wird positiv aus diesem Dialog fürGottes Reich und den Gott Jesu Christi erkenn-bar? Ist Gott etwa nicht auf Macht erpicht? SollenVerwandlungswunder (Steine in Brot) und Ret-tungswunder (Bewahrung vom Sturz in den Tod)

22 Das Evangelium nach Matthäus

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etwa nicht seine Wege sein, die Herzen der Men-schen zu bekehren, und zwar für sich zu bekeh-ren? Ist die »Macht und die Herrlichkeit« nichtsein wahres Thema? (Alle diese Elemente spielenin der Kirchenkritik späterer Jahrhunderte stetseine Rolle). Hat Jesus Gott falsch verstanden?

Die Brisanz und die Anstößigkeit der Ver-suchungsberichte liegen genau darin: Gott ver-zichtet auf das kurzfristig und sichtbar Hilfrei-che. Das überlässt er im Zweifelsfalle dem Satan.Zumindest Brot und Rettung aus Abstürzen sinddoch wirklich hilfreich! Und wenn einer wie Jesus(freilich unter Verzicht des Bekenntnisses zuGott) Chef der Weltregierung würde, wäre dasnicht gut? Könnte man dann nicht seine Ableug-nung des Glaubens an Gott geradezu als Zeichender Toleranz auch positiv werten? – Die Antwor-ten, die Jesus in diesem Dialog gibt, reichen bis indie Theodizeefrage hinein. Denn alles Sichtbareist nur ein kleiner Teil der Herrschaft Gottes, istnur der nebensächliche Vordergrund. Und wieauf der Bühne kann der Vordergrund aus Grün-den weitreichender Regierungsstrategie auch leerbleiben oder schnell umdisponiert werden. Dahersind sichtbare Veränderungen – und seien sieauch noch so hilfreich – nicht (zwingende) Bewei-se für diesen Gott. Die hat er nicht nötig. MehrNahrung und mehr wunderbare Rettungen blei-ben im Zwielicht des Vordergrunds. Es wird nichtgesagt, das Unsichtbare oder Innerliche sei das Ei-gentliche. Gemeint ist etwas anderes: Gottes Regi-ment und Willen sind nicht festzulegen auf das,was »weltlichen« Nutzen bringt, schon gar nicht,wenn der Preis die Ableugnung Gottes ist.

Jesus plädiert für drei Prioritäten: die desHörens auf Gottes Wort, die des Wartens aufGottes Eingreifen, wann und wie er es will, unddie Priorität der Anbetung. Mit diesen drei Prio-ritäten kämpft Jesus für Gottes Reich. Es enthältdie Verheißung, dass es so für den Menschen ambesten sei. Alles andere ist Illusion, vergänglichesteuflisches Trugbild.

Die Gegenfrage: Was will der Teufel in diesemBericht? Durchaus dasselbe wie in der Ver-suchung Mt 16,23, wo Jesus ihn erneut scharf zu-rückweist, als er aus Petrus spricht: Da sieht derTeufel den Sinn messianischer Existenz in einemleidfreien Wohlergehen. Das ist auch das Themader Versuchungen in 4,3-7 (kein Hunger mehr,keine körperliche Katastrophe mehr). Der Ge-

rechte aber muss leiden – das ist die unschöneSchlussfolgerung, die sich aus Mt 4,1-11 und16,23 nahelegt.

Die dritte Versuchung ist nur zu verstehen aufdem Hintergrund des römischen Kaisertums im1. Jh. n. Chr. Denn die Weltherrschaft liegt be-reits in den Händen eines Einzigen, des römi-schen Kaisers. Und Jesus bestätigt der einzigenund absoluten Großmacht seiner Zeit, ihr Selbst-verständnis sei teuflisch. Denn so ist jede Macht,die ohne den Glauben an Gott auskommt. GottesMacht inklusive Gottes Messias sind nicht ein-zuplanen in die Machtspiele der Welt.

Ähnliche Spannungen bestehen auch zum Restdes Evangeliums, zu den Speisungsgeschichtenund zu Jesu Errettung aus dem Tod. Denn Gottwill auch ohne Wunder geglaubt werden. Er lie-fert Wunder nicht auf Anforderung oder auf Be-fehl, sondern wann und wie er will. Gewiss heißtes: »nicht vom Brot allein«. Jesus will beides ge-ben, Gottes Wort und Brot, der Teufel nur eines.Wenn Jesus beides gibt, dann nur unter Respek-tierung der Souveränität Gottes, nicht unterdem Diktat des Nützlichen im Rahmen vergäng-licher »Werte«.

Theologiegeschichtlich ist das, was die Ver-suchungsgeschichten bieten, zweifach einzuord-nen: einmal in die weisheitliche Tradition derKritik gegen jede Verabsolutierung der »Werte«der Gesellschaft (Reichtum, Militär, »dumme«Gesundheit). Diese Werte sind nur Spielmaterial,nicht das Letzte. Zum anderen ist der Ver-suchungsbericht bestimmt von demselben pneu-matologischen Dualismus, der auch in den Exor-zismen zutage tritt. Gottes Reich steht gegen dasReich des Teufels, und Letzteres hat entgegendem Augenschein jetzt ein Ende. So wird es deut-lich aus Mt 12,28; Lk 11,20 und aus dem Freer-Logion Mk 16,14: »Da verteidigten die Jünger ihrVerhalten und sagten: ›Unsere Welt ist ohne Ge-setz und ohne Glauben. Sie steht unter der Herr-schaft Satans. Der Satan verhindert durch böseDämonen, dass wir Menschen den wahren undwirklichen Gott und seine Kraft erfassen.‹ Sie ba-ten den Messias: ›Lass die Zeit offenbar werden,in der deine Gerechtigkeit herrscht.‹ Und derMessias erwiderte: ›Das Maß der Jahre, in denenSatan herrschen kann, ist schon voll. Doch ande-res Schreckliches kommt auf euch zu. Es wirdauch die heimsuchen, die gesündigt hatten und

Kapitel 4 23

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Klaus Berger

Kommentar zum Neuen Testament

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 1056 Seiten, 16,2 x 24,3 cmISBN: 978-3-579-08129-8

Gütersloher Verlagshaus

Erscheinungstermin: Dezember 2011

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