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Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit Modul 2: Das Christentum in seiner Geschichte Universität Duisburg-Essen, Winter-Semester 2006/07 Kirche und Staat Rechtliche und moralische Aspekte einer privilegierten Beziehung

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Page 1: Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit Modul 2: Das Christentum in seiner Geschichte Universität Duisburg-Essen, Winter-Semester 2006/07 Kirche und Staat

Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit

Modul 2: Das Christentum in seiner Geschichte

Universität Duisburg-Essen, Winter-Semester 2006/07

Kirche und Staat

Rechtliche und moralische Aspekte einer privilegierten Beziehung

Page 2: Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit Modul 2: Das Christentum in seiner Geschichte Universität Duisburg-Essen, Winter-Semester 2006/07 Kirche und Staat

KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat2

Kurfürst Johann Friedrich und die Wittenberger Reformatoren, ca. 1543

Lucas Cranach d. J.,

Holz 73 x 40 (Fragment), Toledo Museum of Arts

Martin Luther

Magister Georg Spalatin

Kurfürst Johann Friedrich

Kanzler Dr. Gregor Brück

Philipp Melanchthon

von links nach rechts:

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat3

Übersicht

1. Vom advocatus ecclesiae zum landesherrlichen Kirchenregiment

2. Obrigkeitsgehorsam und Widerstandsrecht

3. Nationalkirchliche Bewegungen im Katholizismus

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat4

1.1 der Fürst als advocatus ecclesiae

• Zum ersten, daz wir in zeit solicher kuniglichen wirde, ambts und regierung die cristenheit und den stul zu Rom, auch bebstliche Heiligkeit und die kirchen | als derselben advocat in guetem bevelch [Verwaltung] und schirm haben, darzue in sonderheit in dem heiligen reiche friden, recht und ainigkeit phlanzen und aufrichten und verfugen sollen und wellen, daz die [Frieden, Recht] iren geburlichen gang | dem armen als dem reichen gewinnen und haben, … und denselben ordnungen,... und löblichem herkommen nach gericht gehalten werden sol

Karl V., Wahlkapitulation (1519)

Corpus Christianum

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat5

1.2 die Obrigkeit als höchste Autorität in Religionssachen – Der Reichstag zu Speyer, 1526

• Es haben sich auch churfürsten und stende des reichs ... vereinigt, mit iren underthanen in mitlerzeit¹ des concilii .. also zu leben, zu regiren und zu halten, wie ein ieder solichs gegen gott und irer Mat.² hofft und getraut zu verantworten,

• uf das fried und einigkeit destobaß³ gehalten und sovil mentschlich und muglich kunftig ufrur und entborung4 im reich furkommen [vermieden] werde ...

Reichstagsabschied von Speyer (1526)

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1.3 die geistliche Verantwortung der Obrigkeit – aus der Dogmatik Melanchthons

... damit Gott verherrlicht werde.

Dieses Ziel sollte einem weisen Lenker des Staates vor allen Dingen vor Augen stehen, so wird das Gemeinwesen glücklich sein.

Die Obrigkeit muss nämlich gottlose Formen des Gottesdienstes und ein Bekenntnis gottloser Dogmen verhindern und Häretiker bestrafen ...

Denn auch die Obrigkeit ist ein Glied der Kirche, auf die sie ein sehr sorgfältiges Augenmerk haben sollte.

Gott schmückt die Könige mit der Ehre seines Namens: Ich habe gesagt, Götter seid ihr (Ps. 82,6), d.h. sie sollen wissen, dass es ihres Amtes ist, die göttlichen Dinge zu beurteilen und in der Welt zu bewahren.

Philipp Melanchthon, Loci theologici, 2. Aufl., 1533

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat7

1.4 die religiöse Verantwortung des Fürsten – die politische Theorie Melanchthons

Das Ziel einer menschlichen Gesellschaft ist eigentlich und letztlich: dass Gott bekannt wird.

Die Obrigkeit ist der Hüter der menschlichen Gesellschaft; also muss er ein Hüter vor allem dieses Zweckes sein. ...

Es irren also solche Obrigkeiten, die die Herrschaft dieser Zweckbestimmung entreißen und sich nur als Hüter des Friedens und des leiblichen Wohls verstehen.

Sie haben ein anderes, höheres Amt, nämlich die Verteidigung des ganzen Gesetzes, der ersten und der zweiten Tafel [des Dekalogs], insoweit die äußere Verfassung betroffen ist.

Deshalb lässt Gott ihnen die Gemeinschaft seines Namens zuteil werden1 ...

Philipp Melanchthon, Philosophiae moralis epitomes I (1538)

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat8

1.8.1 Glossar (1): die beiden Tafeln des Gesetzes

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat9

1.8.2 Glossar (1): die beiden Tafeln des Gesetzes

1. Tafel2. Tafel1. Ich bin der Herr, dein Gott ... Du

sollst keine anderen Götter haben neben mir

2. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen ...

3. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen ...

4. Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest ...

5. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren ...

6. Du sollst nicht töten.

7. Du sollst nicht ehebrechen.

8. Du sollst nicht stehlen.

9. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.

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1.5 Der Augsburger Religionsfriede: ‚cuius regio, eius religio‘

• [Wir] setzen [fest], ordnen [an], wollen und gebieten, dass künftig niemand ... um keinerlei Ursachen willen ... den anderen befehden, bekriegen, berauben ... soll. Und damit solcher Landfriede auch in bezug auf die Religionsspaltung ... desto ... beständiger ... aufgericht und gehalten werde, sollen die kaiserliche Majestät, ... auch Kurfürsten, Fürsten und Stände des Heiligen Reiches keinen Stand des Reiches der Augsburgischen Konfession wegen ... gewaltsam überziehen ... oder sonst gegen sein Gewissen, Wissen und Wollen von dieser Augsburgischen Konfession, Religion, Glaube, Kirchengebräuche, Ordnungen und Zeremonien ... in andere Wege drängen ..., sondern bei solcher Religion ... friedlich bleiben lassen ...

• Dagegen sollen die Stände, die der Augsburgischen Konfession zugehörig sind, jene Reichstände, die der alten Religion anhängen, Geistliche oder Weltliche, ... gleicherweise bei ihrer Religion ... unbehelligt bleiben ... lassen.

Abschied des Augsburger Reichstages, 1555, §§ 14; 16

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat11

1.6 das landesherrliche Kirchenregiment

• Welcher Regent ... nun auch öffentliche, allgemeine Reichs- und Friedensschlüsse für sich hat, daß er Episcopus in externis sei und daß er auch die anderen jura Episcopalia, welche die Bischöfe sonst allein für sich oder durch ihre Officiales verrichtet, durch gewisse dazu bestellte ... Personen, die man Consistoriales oder Superintendentes (das ist eben so viel als Episcopi) nennt, zu führen habe, der wird ja daraus ... erkennen, daß es nicht zu verantworten sei, wenn er .. damit .. unordentlich umgeht

Veit Ludwig von Seckendorff, Christenstaat (1685)

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat12

1.7 die Entkonfessionalisierung der obrigkeitlichen Religionsfürsorge

• Ich bin gewissermaßen der Papst der Lutheraner und das kirchliche Haupt der Reformierten. Ich ernenne die Prediger und fordere von ihnen nichts als Sittenreinheit und Versöhnlichkeit. Ich erteile Ehedispense ..., da die Ehe im Grunde nur ein bürgerlicher Vertrag ist, … Alle anderen christlichen Sekten werden in Preußen geduldet. Dem ersten, der einen Bürgerkrieg entzünden will, schließt man den Mund, und die Lehrer der Neuerer werden der … Lächerlichkeit preisgegeben. Ich bin neutral zwischen Rom und Genf.Friedrich II.,

Politisches Testament (1752)

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat13

1.9 Glossar (2): Zum landesherrlichen Kirchenregiment

• Summus episcopus– Bischofsamt einer weltlichen Obrigkeit

in der Reformation nach Wegfall der bisherigen bischöflichen Jurisdiktion ausgebildet; bei Melanchthon als ‚membrum praecipuum’ (besonderes Mitglied [der an sich gleichen Gemeindeglieder])bezeichnet, dann als Notbischof, schließlich, seit dem Westfälischen Frieden als summus episcopus

• Konsistorium– oberste Verwaltungsbehörde der Landes- bzw. Provinzialkirche

übte im Namen des Landesherrn dessen kirchl. Regierungsrechte aus (Summepiskopat); Leitung: kollegiales Gremium aus Juristen und Theologen; nach 1918 in Landeskirchenamt umbenannt; im 19. Jh. wurde diese Kirchenstruktur um synodale Elemente erweitert

• Ius circa sacra– Recht über äußeren kirchliche Angelegenheiten

im Gegensatz zum ius in sacra (Predigt, Sakramentsverwaltiung) die juristische Kompetenz, in allen äußerlichen Fragen des kirchlichen Lebens zu entscheiden (Kult, Ordnung, Organisation etc.), wobei die Differenzierung problematisch bleibt

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat14

Übersicht

1. Vom advocatus ecclesiae zum landesherrlichen Kirchenregiment

2. Obrigkeitsgehorsam und Widerstandsrecht

3. Nationalkirchliche Bewegungen

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat15

2.1 die Confessio Augustana, Art. xvi, 1530 – Von der Obrigkeit

• Von Polizei und weltlichem Regiment wird gelehret, daß alle Obrigkeit in der Welt und geordnete Regiment und Gesetze gute Ordnung, von Gott geschaffen und eingesetzt seind,

• und daß Christen mögen in Oberkeit, Fürsten= und Richter=Amt ohne Sunde sein, nach kaiserlichen und anderen ublichen Rechten Urteil und Recht sprechen, Ubeltäter mit dem Schwert strafen, rechte Kriege fuhren, streiten [Prozesse führen], kaufen und verkaufen, aufgelegte Eide tun, Eigenes haben, ehelich sein etc.

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2.2 Apologie zur Confessio Augustana, Art. XVI

• In Summa, ... wir lehren, daß Oberkeit und Regiment, item ihr Recht und Strafe und alles, was dazu gehört, sein gute Kreaturen Gottes und Gottes Ordnung, der ein Christ mit gutem Gewissen brauchen mag. ...

• Denn das Evangelium zureißet nicht weltlich Regiment, Haushaltung, Käufen, Verkäufen und ander weltliche Polizei, sondern bestätiget Oberkeit und Regiment,

• und befiehlt, denselbigen gehorsam zu sein als Gottes Ordnung, nicht allein um der Strafe willen, sondern auch um des Gewissens willen.

Melanchthon, Apologie (1531) Art. XVI. Von weltlichem Regiment

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2.3 Das vierte Gebot nach dem Kleinen und der Grossen Katechismus Martin Luthers, 1529

• Du sollst Deinen Vater und Dein Mutter ehren.• Was ist das? Antwort.• Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unser

Eltern und Herrn nicht verachten noch erzürnen, sondern sie in Ehren halten, ihn dienen, gehorchen, lieb und wert halten.

Desgleichen ist auch zu reden von Gehorsam weltlicher Oberkeit, welche ...alle in den Vaterstand gehöret ... Darümb, weil sie solchen Namen und Titel [Landesvater] als ihren hohisten Preis mit allen Ehren führen, sind wir auch schuldig, daß wir sie ehren und groß achten fur den teuersten Schatz und köstlichste Kleinod auf Erden. (BSLK, 6. Aufl., 598f)

Kleiner Katechismus

Großer Katechismus

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2.4 Religion als Gehorsamsdisziplinierung

• Die Religion ist von solcher zwingender Kraft für die Regierungen, dass ohne sie jegliches Fundament des Staates ins Wanken gerät ...

• Denn von allen Gesetzen gibt es keine, die dem Fürsten günstiger wären, als das christliche; denn dieses unterwirft ihnen nicht nur den Leib und die Arbeitskraft der Untertanen, wo es nötig ist, sondern auch die Seelen und die Gewissen;

• und es [das christliche Gesetz] bindet nicht nur die Hände, sondern auch die Affekte und die Gedanken;

• und es will, dass man den Fürsten gehorcht, auch den dreisten, nicht nur den moderaten; und das man alles erduldet, um nicht den Frieden zu gefährden.

Giovanni Botero, Della Ragione di Stato, 1589

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2.5 Widerstandsrecht bei Luther: Gehorsamsverweigerung

Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit ..., Teil II, 1523

Lucas Cranach d. Ä., Bildnis Georgs des Bärtigen, Herzog von Sachsen, 1534

Wenn nun dein Fürst oder weltlicher Herr dir gebeut, mit dem Papst zu halten, so oder so zu glauben, oder gebeut dir, Bücher von dir zu tun, so sollst du also sagen: «Es gebürt Lucifer nicht, neben Gott zu sitzen. Lieber Herr, ich bin euch schuldig zu gehorchen mit Leib und Gut, gebietet mir nach eurer Gewalt Maß auf Erden, so will ich folgen. Heißt ihr aber mich glauben und Bücher von mir tun¹, so will ich nicht gehorchen. Denn da seid ihr ein Tyrann und greift zu hoch, ... »

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2.6 Widerstandsrecht bei Calvin

• Wir aber sollen uns unterdessen nachdrücklich hüten, diese Autorität der Obrigkeit, die ... Gott durch die ernstesten Gebote bekräftigt hat, zu verachten oder zu schänden - selbst wenn sie bei ganz unwürdigen Menschen liegt ... Denn wenn auch die Züchtigung einer zügellosen Herrschaft Gottes Rache ist, so sollen wir deshalb doch nicht gleich meinen, solch göttliche Rache sei uns aufgetragen ... Dabei rede ich aber stets von amtlosen Leuten.¹ Anders steht nun die Sache, wo Volksbehörden eingesetzt sind ...

• Wo das also so ist [wo es populares magistratus (Amtsleute) gibt], da verbiete ich diesen Männern nicht etwa, der wilden Ungebundenheit der Könige entgegenzutreten, nein ich behaupte geradezu: wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen, so ist solch ihr absichtliches Übersehen immerhin nicht frei von schändlicher Treulosigkeit; denn sie verraten in schnödem Betrug die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie, wie sie wohl wissen, durch Gottes Anordnung eingesetzt sind.

Jean Calvin, Institutio religionis Christianae, IV, 20,31

ebd.

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2.7 Widerstandsrecht und Widerstandspflicht im Calvinismus

Jean Calvin (1609-1664), Reformator von Genf, Vater des westeuropäischen Protestantismus

Gaspard de Coligny, Seigneur de Châtillion, Admiral von Frankreich (1552), Gouverneur der Picardie (1557)

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2.8 Widerstandspflicht

• Können Sie wirklich mit gutem Gewissen den Gebrauch dieser Gaben [eines Heerführers] seinen Kindern [Gottes Kindern = Calvinisten] vorenthalten? ...

• Tragen Sie den Degen eines Edelmannes, um die Bekümmerten zu unterdrücken, oder um sie den Krallen der Tyrannen zu entreißen? ...

• Mein Herr Gemahl, so viel vergossenes Blut der Unseren lastet auf meinem Herzen; all' dieses Blut und Ihre Gemahlin schreien gen Himmel zu Gott empor und auf diesem Lager gegen Sie, dass Sie der Mörder derer sein werden, die Sie nicht davor erretteten, gemordet zu werden.

Frau von Cologny zu ihrem Gemahl, Admiral Gaspard de Coligny (1562), nach einem zeitgenössischen protestantischen Geschichtsschreiber, zit. nach: Joseph Chambon, Der französische Protestantismus, München 1938, S. 62f

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Übersicht

1. Vom advocatus ecclesiae zum landesherrlichen Kirchenregiment

2. Obrigkeitsgehorsam und Widerstandsrecht

3. Nationalkirchliche Bewegungen

Page 24: Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit Modul 2: Das Christentum in seiner Geschichte Universität Duisburg-Essen, Winter-Semester 2006/07 Kirche und Staat

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3.1 Bossuet (1627-1704)

• Theologe• Kanzelredner• Geschichtsphilosoph• Prinzenerzieher• Bischof von Meaux

Dekor eines Repräsentationsbildes:Säule und Vorhang vor einer Hintergrundslandschaft.Hand ruht auf dem Buch wie auf einem Szepterder unordentliche Haufen von Büchern und Manuskripten auf dem Boden verweist auf die rastlose intellektuelle Tätigkeit des Helden

Hyacinthe RIGAUD, Jacques Bénigne Bossuet, Bischof von Meaux, Öl auf Leinen. Musée du Louvre, Paris.

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3.2 die Gallikanischen Artikel, 1682

• 1. Dem hl. Petrus und seinen Nachfolgern .. ist von Gott übergeben die Gewalt über geistliche und auf das ewige Heil bezügliche Dinge, nicht aber über die bürgerlichen und zeitlichen... Die Könige und Fürsten sind also nach göttlicher Anordnung in weltlichen Dingen keiner kirchlichen Gewalt unterworfen, sie können durch die kirchliche Schlüsselgewalt weder unmittelbar noch mittelbar abgesetzt werden, ihre Untertanen können nicht von Treue und Gehorsam und dem geleisteten Treueeid entbunden werden

• 2. Dem apostolischen Stuhl und den Nachfolgern Petri als Christi Stellvertreter steht volle Gewalt über geistliche Dinge zu in der Weise, dass zugleich gelten und unerschüttert bleiben die vom hl. ökumenisch Konzil von Konstanz ... über die Autorität der allgemeinen Konzilien erlassenen Dekrete,*...

• 4. Auch in Fragen des Glaubens hat der Papst den Hauptanteil, und seine Dekrete betreffen .. sämtliche .. Kirchen, aber sein Urteil ist nicht unabänderlich, wenn nicht die Zustimmung der Kirche hinzugetreten ist

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3.3 die Emser Punktation

• Der römische Papst ist und bleibt zwar immer der Oberaufseher und Primas der ganzen Kirche, der Mittelpunkt der Einigkeit, ..

• Allein alle anderen Vorzüge und Reservationen, die mit diesem Primate in den ersten Jahrhunderten nicht verbunden, sondern aus den nachherigen Isidorischen Dekretalen¹ zum offenbaren Nachteil der Bischöfe geflossen sind,

• können jetzt, wo die Unterschiebung und Falschheit derselben .. allgemein anerkannt ist, in den Umfang dieser [päpstl.] Iurisdiktion nicht gezogen werden

Emser Punktation (1786)

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat27

3.4 nationalkirchliche Bewegungen in Deutschland und Frankreich

• Febronianismus– nationalkirchliche Richtung in Deutschland

nach dem Pseudonym Justinus Febronius (Johann Nikolaus von Hontheim)¹: "De statu ecclesiae et legitima potestate Romani Pontificis“²; Episkopalismus als Basis für Wiedervereinigung der Kirchen; von den Metropoliten (Erzbischöfe von Mainz, Köln, Trier, Salzburg), nicht jedoch von den Bischöfen gefördert

• Gallikanismus– nationalkirchliche Bewegung in Frankreich

französische Form des Episkopalismus; Eigenständigkeit gegenüber Rom, seit «Pragmatischer Sanktion von Bourges (1438) bis zur frz. Revolution verbindlich; kirchenrechtlich dem Konziliarismus verplichtet, Höhepunkt: «Vier gallikanischen Artikel» (1682)

• Gallikanische Artikel, 1682– formuliert die Freiheiten der frz. Nationalkirche

a) die kirchliche Gewalt erstreckt sich nur auf den geistlichen Bereich;

b) die Dekrete des Konstanzer Konzils über die Oberhoheit des Konzils sind verbindlich;

c) die Gewohnheiten des französischen Königreichs und der gallikanischen Kirche müssen in Kraft bleiben;

d) die Entscheidungen des Papstes bedürfen der Zustimmung der Gesamtkirche.

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3.5 Episkopalismus, Konziliarismus, Papalismus

• Konziliarismus– Konzil als oberste Autorität in der Christenheit

klassisch formuliert auf dem Konzil von Konstanz (1414-18); Dekret »Haec sancta synodus« (1415): das Konzil steht über dem Papst; Dekret »Frequens«: Verpflichtung zu regelmäßigen Konzilsversammlungen.

• Episkopalismus– Leitung der Gesamtkirche beim Kollegium der Bischöfe

nach dem kirchengeschichtlichen Vorbild der ersten Jahrhunderte, auf Cyprian von Karthago zurückgehend: Einbindung des päpstlichen Primates in das Kollegialsystem

• Papalismus oder Papalsystem– System der päpstlichen Kirchenhoheit

im Gegensatz zum Episkopalismus. Nach dem Zusammenbruch nationalkirchlicher Tendenzen in der napoleonischen Ära in der römischen Kirche vorherrschend

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KG der Frühen Neuzeit - WS 2006/07 - Kirche und Staat29

3.6 Joseph II.

Josephinismus

unterstellt die katholische Kirche staatlicher Hoheit

1781 Toleranzpatent: bürgerliche Rechte und private Religionsausübung für Andersgläubige (Lutheraner, Reformierte, Orthodoxe, Juden); Säkularisierung von Klöstern und Stiften zugunsten des Bildungssystems, Theologiestudium unter staatlicher Kontrolle, Reduzierung der Feiertage und Wallfahrten

1741-1790; seit 1765 Kaiser, tritt 1780 die Nachfolge seiner Mutter Maria Theresia an