justus fetscher schlegel berhard

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  • 7/14/2019 Justus Fetscher Schlegel Berhard

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    Justus Fetscher (Berlin)

    TENDENZ, ZERRISSENHEIT, ZERFALL.

    STATIONEN DER FRAGMENTSTHETIK ZWISCHENFRIEDRICH SCHLEGEL UND THOMAS BERNHARD

    Uns berfllts. Wir ordnens. Es zerfallt.

    Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.

    Rainer Maria Rilke,aus der achten Duineser Elegie

    Das Fragment galt lange als das Andere der Totalitt. Von ihr bezog es seinen Sta

    tus. Zuerst galt es als defizitr gegenber der Ganzheit, dann auch als ex negativo

    reprsentativ fr sie - denn jedes Fragment sollte auf eine Total itt verweisen - ,

    schlielich als ihre berbietung. Indessen scheint im vergangenen Jahrhundert das

    Nichts zum definitorischen Gegenber des Fragments aufgestiegen zu sein. Nicht

    Rckblick oder Vorgriff auf eine Ganzheit wre dann die formsprachl iche Impl ika

    tion des Fragments, vielmehr befindet es sich in einer instabilen Grenzlage zwi

    schen kaum mehr mglicher Produktion und unweigerlich einsetzender Dekom-

    position. Was am Fragment noch als qua Imagination zu reintegrierendes, weil

    erkennbares Moment eines greren Ganzen Signifikanz beanspruchte, schwindet:

    Zersetzung des Zerbrochenen. Die vielleicht lteste Formel dafr ist Lucans Etiam

    periere ruinae (Pbarsalia, IX, 969). Fragment wird demnach dasjenige, das Zerfall

    anzeigt als an sich (am Fragment) wirkend, aber noch nicht ganz zerfallen ist.Womit sich das gegen 1798 von Friedrich Schlegel entworfene fragmentaristische

    Programm nicht vollendet htte, sondern erschpft.

    Fragmentarismus ist ein oft erteiltes Stichwort und Aufbruchssignal der Moder

    ne. Es wird laut, wenn die Vorstellung einer mimetischen Reprsentation der Natur

    im Werk eine Absage erfhrt. Mit dem Ende der Mimesiskonzeption bricht das

    Ende der werkorientierten Produktion an. [...] Wo die althergebrachte Bezugnah

    me der Kunst aufs Werk abbricht, beginnt die Karriere des Fragments als bevorzug

    ter Ausdrucksform.1 Der von der Frh romantik bis zum Poststrukturalismusbegegnende Gedanke einer notwendig fragmentarischen Gestalt des sthetischen

    [...] signalisiert, so sein Historiograf Eberhard Ost er mann , da die Kunst nicht

    mehr auf das Ideal eines anschaulichen und geschlossenen Ganzen, also auf das

    1 Bubner: Gedanken ber das Fragment, S. 296

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    Paradigma der idealistischen Identittssthetik, verpflichtet wird2. Ex negativo hltdieser Gedanke jedoch mit dieser sthetik Verbindung, indem [d]ie Metapher desFragments [...] als verdeckte Totalittskategorie [fungiert], da sie die Vorstellungdes Ganzen auf latente Weise mitreflektiert3.

    Umgekehrt heit das, dass jeder Text signalisiert, ob er sichals

    Teil oder als Ganzes versteht, wie seine Partialitt oder Integritt zu denken und was seiner impliziten Poetik zufolge unter Werk und Fragment zu verstehen sei. Werk heit zunchstNicht-Fragment, Fragment Nicht-Werk. Die andauernde, durch den Lessing desFragmentenstreits in den 1770er Jahren vorbereitete Verunsicherung dieser Opposition durch Friedrich Schlegel und Novalis verschrnkt diese Kategorien: JedesWerk ist wesentlich Fragment, jedes Fragment Werk, nmlich paradoxe Einheitvon Begrenztem und Unbegrenztem, da Unbegrenzbarem. Unbegrenzbar ist allesGeschriebene, weil es nicht alles mitteilen kann, und weil es in einem fortdauernden, umbrechenden und fortinterpretierenden Prozess der Geschichte, der Literatur sowie der Deutung von Literatur und Geschichte steht.

    Jedem knstlerischen Akt haftet etwas Fragmentarisches an: durch die ihnbedingende Spontaneitt (in) seiner Produktion, durch die einem solchen Aktkonstitutive Versenkung, Abschottung, Fokussierung der Aufmerksamkeit, durchdie Antikonventionalitt seiner Verwendung tradierter Zeichencodes, deren dif-ferentielle Wirkungsweise und schlielich durch die Schrfe und Intensittknstlerischer Erinnerungsprozesse. Das Gedchtnis ist der paradigmatische Ortder Fragmentierung, nmlich der Partialisierung, Isolation, Retouchierung, derre-konstellierten und entstellten Wiederbelebung von Eindrcken und Ausdrucksmitteln.

    1. Tendenz

    Typologie und Chronologie des Fragmentbegriffs seit der Frhromantik lassen sich

    beschreiben als Sequenz wie Simultaneitt der Phnomene und Verfahren von Tendenz, Zerrissenheit und Zerfall.

    Die historische Phase des Fragments-als-Tendenz beginnt in den deutschsprachigen Lndern mit der frhesten geschichtsphilosophischen Reflexion auf dieFranzsischen Revolution und terminiert in den ersten beiden Dezennien des19. Jahrhunderts, das auf das eben vergangene von Aufklrung und Revolutionzurckblickt und sich in der Dynamik des 1789 akzelerierten Prozesses zu situie-

    2 Ebd. Vgl. Volker Roloffs Bemerkung zu den knstlerischen Verfahren des Surrealismus:Fragmentierung und Montage [sind] als Mittel der Dekonstruktion vor allem illusionistischer, mimetischer Darstellungsweisen eng verbunden. (RolofT: Fragmentierung, S. 242) ImFolgenden gehe ich passagenweise auch auf meinen Artikel Fragment zurck.

    3 Ostermann: Begriff des Fragments, S. 190. Auch Manfred Frank nennt das Fragment eine verdeckte Totalittskategorie (vgl. Frank: Das 'fragmentarische Universum

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    TENDENZ. ZERRISSENHEIT, ZERFALL 13

    ren versucht. Medien dieser Auffassung und Verwendung des Fragments sind dieZeitschrift (Rezension, Kritik) und die publizistisch-philosophische Zeitdiagnostik.

    Die Zeitschrift ist das korrelative Medium der Publikation von Fragmenten.

    Schon Lavater hatte seine Physiognomischen Fragmente (1775-1778) zuerst inder Form eines Wochenblatts4 herausgeben wollen. Das Wort Fragment ist inden Jahrzehnten um 1800 ein viel verwendeter Titel oder Untertitel von Zeitschriftenbeitrgen. Zumeist bezeichnet er entweder einen Briefauszug oder einenVorabdruck aus einem aktuellen Buch: Genres, die den frhromantischen desGesprchs und der Kritik korrespondieren. Reichardts Lyceum derschnen Knsteund das Athenum der Brder Schlegel werden zu den Programmzeitschriften desfrhromantischen Fragmentpublizierens. Das hatte den publikationspraktischenGrund, dass sich durch kurz entschlossenes Einschalten oder Wegstreichen vonFragmenten der vorgegebene Umfang der einzelnen Hefte genau fllen lie. Vorallem aber entspricht die Zeitschrift-Fragmentaristik dem SchlegelschenAnspruch auf eingreifende Gegenwartsdiagnose, Niederschrift (dadurch Konstitution und Verstrkung) der Tendenzen der Zeit. Ihrer Form wie Publikationsadresse nach taugen die in Zeitschriften verffentlichten Fragmente als flchtige,schnelle, transitorische Impulse, immer schon angelegt auf ihr berholtwerdenim nchsten Heft. Was Schlegel fordert und erhofft: Das Publikum in Motion,Agilitt\ Aktion zu versetzen, sollen Fragmente leisten, die ihrerseits, so Novalis,

    nur einen transitorischen Werth haben und sich eben dadurch zu erschttertenund erschtternden Seismographen der Gegenwart eignen.6 Das Avantgardistische der frhromantischen Fragmente liegt daher in ihrer Bestimmung zu einerArt schnellen Eingreiftruppe. Sofort und berall behaupten sie Schlegels diktatorischen Anspruch, seine Zeit zu deuten und zu bestimmen. Sie sollen, so Friedrich Schlegel, in Rcksicht der litterarischen Beziehungen on the top of the fa-shion sein.

    Die Eignung des Fragments als aktuelle literarische Form der Literaturkritikmusste Friedrich Schlegel an den Revisionen seiner Goethe-Lektre erfahren. Inseiner Schrift ber das Studium dergriechischen Poesie (1795; gedr. 1797) hat Schlegel sein Lob Goethes noch klassizistisch eingeschrnkt: Ja wenn der FAUST vollendet wre, so wrde er wahrscheinlich den HAMLET [...] weit bertreffen.8 WenigeJahre spter wird er hingegen ber den Fausturteilen, da dieses groe Bruchstck

    4 Lavater: Physiognomische Fragmente, I, unpag. (Zugabc zur Vorrede).5 Schlegel: Kritische Ausgabe, XVIII (Philosophische Lehrjahre. 1796-1806), S. 221 (Aes-

    thet/ischej Skizzen).

    6 Vgl. Novalis: Schriften, IV, S. 270f. (Brief vom 26. 10. 1798).7 Schlegel: Kritische Ausgabe, XXIV (Die Periode des Athenums. 25. Juli 1797-Ende August

    1799), S. 113 (Fr. Schlegel an A. W Schlegel, 25. Mrz 1798).8 F.bd., I (Studien des klassischen Altertums), S. 260 (ber das Studium der Griechischen Poesie.

    1795-97. Weitere Fntgegenstellung des Interessanten mit dem Schnen).

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    [...] den ganzen Geist des Dichters offenbart wie seitdem nicht wieder9. Aus dem

    Manko ist ein Inbegriff geworden, eine kunstphilosophische Qualitt, mit der das

    Werk sich selbst bertrifft, jedenfalls zeigt, wie es zu bertreffen ist in Rich tung auf

    den ganzen Geist des Dichters10 - und auch in Richtung auf den Geist der Zeit.

    Der Dichter mag hier nicht nur Goethe sein, sondern das Schlegelsche Ideal desDichters berhaupt. Das CEuvre eines einzelnen Schriftstellers ist nmlich dem

    Kritiker immer nur Teil der Literatur. Das Ganze aber ist noch nicht abgeschlos

    sen; und also bleibt alle Kenntnis dieser Art nur Annherung und Stckwerk. 11 Im

    hier zitierten Versuch ber den Styl in Goethes frheren und spteren Werken (1800)

    erhebt Schlegel das noch nicht abgeschlossene Lebenswerk Goethes zum Paradig

    ma fr diese notwendige Unvollstndigkeit12 allen Dichtens wie Kritisierens.

    Auergewhnlich sei schon das bisherige Werk Goethes darin, dass er sich darin

    zu einer Hhe der Kunst heraufgearbeitet, welche [...] den Keim eines ewigen

    Fortschreitens enthlt13 . Es ist Fragment, weil es die Tendenz und Anleitung ent

    hlt, wie es zu berbieten sei - nmlich nach dem Muster der umb ildenden Steige

    rungen, die Shakespeare am Stoffseiner Dramen, der Dichter des Don Quixote am

    darin parodierten Vorbild der Ritterromane, Goethe selbst an der Prosa und den

    falschen Tendenzen14 seiner Zeit geleistet habe. Genialitt und Kritik, Bearbei

    tung und Rezension des schon geschrieben Vorliegenden konvergieren. In diesem

    Sinne will Schlegel selbst das Goethesche Werk literarisch bertreffen, indem er es

    als zu ergnzendes Bruchstck erklrt. Schlegels Kritik versteht sich dabei als

    potenzierende Fortschreibung der Tendenzenkorrektur, die das Werk, von dem sie,

    die Kritik, ausgeht, schon angebahnt hat.

    Zu sich und zu seinem Forum und Medium kam dieser Fragmentbegriff im

    Athenum (1798-1800). Der Altphilologe Schlegel, der den Titel seiner 1797 im

    Lyceum verffentlichen Kritischen Fragmente zu Fragmenten tout court reduziert,

    denkt hier systematisch wie etymologisch. Das Fragment sei sowohl abgebrochen,

    also fragmentum, wie, an seinen Bruchstellen, offen zum Weitergedachtwerden,

    also philosophisch. Es ist ein Gedanke, der sich Eintrag tut. Dieser Eintrag ist das

    Fragment. Den das Fragment hervorbringenden Abbruch leistet die interpreta-

    torische Unterscheidung: das kritein des Kritikers und die recensio der Editors,

    der Implizites von Explizitem, zu Sagendes von Unsglichem, Konstitutives von

    9 Ebd., II {Charakteristiken undKritiken I. 1796-1801), S. 342 (Versuch ber den Styl in Goe

    thesfrherenundspteren Werken). Dazwischen liegt Schlegels theoriebildender Nachvollzug

    von Goethes jngster Entwicklung. Der aus Italien zurckgekehrte Weimarer hatte 1790

    Faust. Ein Fragmentverffentlicht. Der eben (unter Funote 8) zitierte Abschnitt des Studium-Aufsatzes trug, als er 1796 separat vorabgedruckt wurde, den an den Faustvon 1790

    angelehnten Titel Goethe. Ein Fragment(Schlegel: Kritische Ausgabe, I, S. 204).

    10 Ebd.

    11 Ebd., II, S. 340.

    12 Ebd.

    13 Ebd., II, S. 347.

    14 Ebd., S. 346 u. 347.

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    TENDENZ. ZERRISSENHEIT, ZERFALL 15

    Korruptem trennt. Die dem Fragment inharierende Provokation zur Antwort, das

    heit zur Weiterfhrung des Gesagten im Symphilosophieren, in Gesprch, Brief,

    folgenden Fragmenten befrdert das philosophische Denken.

    Die anderen Mitarbeiter dieser Zeitschrift sind vorsichtig oder zgerlich, sich

    den Schlegelschen Fragmentbegriff anzueignen. Im Modus der Distanzierung

    berichtet Schleiermacher am 15. 1. 1798 an August Wilhelm Schlegel: Was den

    Titel der Fragmente betrift, so meint er [Friedrich Schlegel] kritische und philoso

    phische sei eine Tautologie, ja sogar kritische Fragmente sei schon eine, denn jedes

    Fragment sei kritisch.'1 Die Bedenken seines Bruders beschwichtigte Friedrich

    Schlegel mit dem Satz: Ich schriebe Dir gern eine recht umstndliche Theorie der

    Fragmente, um Dir wenigstens den Begriff des Ganzen zu geben16 .

    Dieses vor Erscheinen des ersten Athenum-Heftes gegebene Versprechen hat er

    erst im letzten Heft dieser Zeitschrift ersatzweise eingelst. Friedrich Schlegels

    ber die Unverstndlichkeit (1800) ist Parodie einer Selbstauslegung und bietet

    statt einer Theorie des Fragments eine allenfalls semi-diskursive Fortschreibung des

    zuvor in derselben Zeitschrift Publizierten. Fragmentarisches Sprechen, so Schle

    gels Selbstzitat aus einem seiner Lyceums-Fragmente, erstehe aus der Unmglich

    keit und Notwendigkeit einer vollstndigen Mitteilung1 . Mit der Bindung des

    Flchtigen, Mitteilung des Nicht-Mitteilbaren beauftragt Schlegel hier weniger die

    Form des Fragments als das Medium der Ironie.18

    Beide allerdings, Fragment wie

    Ironie, sollen expandieren in Richtung Zukunft. Beide haben die Kraft der Prolife

    ration und Potenzierung, provozieren Fragmente ber Fragmente, Ironien der Iro

    nie.

    Im Rckblick erscheint hier der Schlegelsche Fragmentarismus als historischer,

    nmlich geschichtsphilosophischer und zeitdiagnostischer Diskurs. Zu seinem fan-

    farenhaften Wort, die Franzsische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und

    Goethes Wilhelm Meister seien die grten Tendenzen des Zeitalters1'' erklrt

    Schlegel nun, in ber die Unverstndlichkeit, gerade heraus das Wort [seil. Ten

    denz] bedeute in dem Dialekt der FRAGMENTE, alles sei nur noch Tendenz, das

    Zeitalter sei das Zeitalter der Tendenzen20 . Die enge Verschrnkung der Kategori

    en Tendenz und Zeitalter verkndet expost den Anspruch der Fragmente, die ihre

    Zeit bestimmenden Momente (gleichsam als Vektoren, die in die Zukunft weisen)

    15 Ebd., XXIV (Die Periode des Athenums. 25. Juli - Ende August 1799), S. 79 (Schleiermacher

    undFr. Schlegel an A. W Schlegel: Berlin, 15. Januar 1798). Siehe Mennemeier: Fragment und

    Ironie, S. 12.

    16 Ebd.. S. 97 (Fr. Schlegel an A. W.Schlegel: Berlin, 6. Mrz 1798).

    17 Ebd., II, S. 368 (berdie Unverstndlichkeit).

    18 Siehe hierzu zuletzt Schumacher: Die Ironie der Unverstndlichkeit, bes. S. 159-255.

    19 Schlegel: Kritische Ausgabe, II, S. 366 (ber die Unverstndlichkeit). Vgl. ebd., S. 198 (216.

    Athenums-Fragment); XVIII, S. 85 ([II] Philosophische Fragmente. Erste Episode. II: Zur Phi

    losophie. 1787: 662).

    20 Ebd., S. 367 (berdie Unverstndlichkeit).

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    zu isolieren, dadurch allererst als solche zu konstituieren, zu bndeln und zu ver

    strken. Mit solchem Blick und Willen zum Einfluss auf das, was Schlegel zu glei

    cher Zeit (1800) den Genius des Zeitalters21 nennt, erscheint der Frhromanti

    ker als Vorlufer und Konkurrent der vielen zeitdiagnostischen Unternehmen, die

    insbesondere ab 1806 die deutsche Debatte bestimmen.22

    Die Korrelation der Rede vom Fragment einerseits, vom Zeitgeist andererseits

    geht zurck auf Schiller, dessen sthetische und geschichtsphilosophische Schriften

    in enger Nachbarschaft zum Studium-Aufsatz stehen. Die neuzeitliche Beschleuni

    gung der Geschichte, zumal nach der Franzsischen Revolution, hatte in der deut

    schen Debatte der 1790er Jahre die Querelle des andern et des modernes in einer

    Weise wieder belebt, dass weniger die Historizitt der Antike als die ungewisse

    Zukunftstendenz der Gegenwart ins Zentrum der Auseinandersetzung rckte. 23 In

    seiner Schrift ber die sthetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen

    (1795) erklrt Schiller den verirrten Geist der Zeit, den Zeitcharakter24 der hi

    storischen Stunde anhand eines Vergleichs des antiken mit dem gegenwrtigen

    Menschen. Anstelle der erhebenden Hypostasierung des antiken Menschen ins

    Gttliche der Mythologie herrsche bey uns Neuern Zerstckelung vor:

    Auch bey uns ist das Bild der Gattung in den Individuen auseinander geworfen -aber in Bruchstcken, nicht in vernderten Mischungen, da man von Individuum zu Individuum herumfragen mu, um die Totalitt der Gattung zusammen

    zu lesen.25

    Bekanntlich benennt Schiller in diesem sechsten Brief neuere geschichtliche Ent

    wicklungen: die Ausdifferenzierung der Wissenschaften, den bergang von einem

    stratifikatorisch zu einem funktional strukturierten Staat, die Arbeitsteilung und

    21 Ebd., S. 270 (Athenum: Ideen: 139). In seiner spten Schrift Signatur des Zeitalters (1823)zhlt Schlegel das Chaotische und Revolutionre - durchaus l'rogrammparolen des Athenums - nunmehr zu den Gefahren der Zeit. Selbst seine Wiederverwendung von Terminiwie Tendenz und Kritik berschreibt er mit dem Diskurs einer nicht lnger fragmentaristi-schen Zeitdiagnostik, die der Gegenwart einigermaen autoritr ihre Krankheit diktiert.Dass man unser Zeitalter [...] ein kritisches genannt habe, mge sich aus Mangel an Selbsterkenntnis erklren, weshalb jenes Prdikat unserm Zeitalter auch wohl wegen seiner ausjenem Mangel selbst hervorgehenden Tendenz und Neigung zur Kritik gegeben werdenknne (Kritische Ausgabe, VII, S. 488). Aber noch ungleich mehr gebhre diese Bezeichnungdem gegenwrtigen Zeitalter wegen seines unstreitig sehr kritischen Zustandes, und der vielen Krisen!,J durch die es zu gehen hat. (Ebd.) Zerstrung, Entzweiung ist jetzt kein

    Zukunftsrume ffnender Zustand, sondern das zu tilgende bel der Zeit: Parteiungherrscht, "Seit die Menschheit in ihre Elemente zerfallen will (ebd., S. 492). Diesem Degra-dierungsprozess will Schlegel mit einer Restauration des Stndestaats begegnen.

    22 Zur Konjunktur des Zeitgeistbegriffs in den deutschsprachigen Lndern um 1800 siehe Mller: 'Zeitgeist'-, Kempter: Herder, Hlderlin und der Zeitgeist.

    23 Vgl. Jau: Schlegels undSchillers Replik; Winkler: La dinstinction entre les modernes etles andern.24 Schiller: Nationalausgabe, XX/I, S. 321.25 Ebd.

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    Mechanisierung der Arbeitsablufe.26

    Er unterstellt sie der Metapher des Risses. In

    der Gegenwart zerri auch der innere Bund der menschlichen Natur, und ein ver

    derblicher Streit entzweyte ihre harmonischen Krfte27

    . Die Zerrttung des

    inneren Menschen durch Kunst und Wissenschaft findet ihre politische Form im

    Mechanismus der modernen Gesellschaft mit ihrer Kompartimentierung der Brger und ihrer Regungen:

    Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die

    Sitten; der Genu wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung

    von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein kleines Bruchstckdes Ganzen

    gefesselt, bildet der Mensch sich selbst nur als Bruchstckaus.

    Dem Ganzen seines Menschseins entfremdet, wird der Einzelne zu einem Abdru

    cke seines Geschfts, und selbst der karge fragmentarische Antheil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knpft, [...] wird ihnen durch ein Formular vorge

    schrieben, in welchem man ihre freye Einsicht gebunden hlt28

    .

    Was Schlegels Zeitdiagnostik bald von der Schillerschen trennt, ist eine in der

    Form sedimentierte frhromantische Erkenntnis: Dass das Bruchstckhafte der

    gegenwrtigen Zeit nicht nur zu bemerken, sondern anzuerkennen und nur in dem

    ihm analogen Medium fragmentarischen Schreibens zu fassen und in Bewegung zu

    setzen sei, nmlich als Fragment-Tendenz. Indem Schlegel seine Fragmente und

    Fragmenterkenntnisse als Vorboten, als Fragmente aus der Zukunft versteht, kehrt

    er die an den Torsi und Ruinen der Antike geschulte retrospektive Betrachtungs

    weise um und feit sich gegen die Verlockungen konservativer Kulturkritik. Auf-

    gtund dieser futurischen Wendung knnen seine Fragmente keine Zerfallsproduk

    te sein, da jeder Zerfall einen aus der Vergangenheit herabgesunkenen, allenfalls

    den Pressionen auch der Gegenwart geschuldeten Prozess darstellt. In Schlegels

    Fragment-Tendenz-Diagnostik herrscht stattdessen eine selbstbewusste Einheit der

    antiklassizistischen Disharmonien. Die Gegenwart ist eine der Tendenzen, jede

    Tendenz ist, qua Tendenz, nur Fragment, Anbruchszeichen einer ausstehenden

    Zukunft, und der spezifische Charakter der seinerzeit (gegen 1800) auszumachen

    den Tendenzen lautet: Zerrissenheit, Fragmentierung.

    Diese Analogie: eingreifend-aktuelle, zeit-schriftliche Fragment-Rede von den

    Tendenzen des fragmentarischen Zeitalters, verflchtigte sich allerdings bald und

    wich systematischen und/oder essayistischen Darstellungsimpulsen; so in August

    Wilhelm Schlegels Vortrgen ber Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters (1803),

    in Fichtes Grundzgen des gegenwrtigen Zeitalters (1804), in der Phnomenologie

    des Geistes (1807) und in dem Hegeischen Programm, Philosophie sei ihre Zeit in

    Gedanken gefasst. Noch der selbstsichersten Zeitgeistdiagnose blieb allerdings das

    Bewusstsein ihres Ungedeckt-Prognostischen eingeschrieben. Sie konnte nicht ver-

    26 Vgl. ebd., S. 323f. u. 324.

    27 Ebd., S. 323; dort auch die beiden folgenden Zitate

    28 Ebd., S. 323f.

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    leugnen, dass ihre Befunde momentane, partiale sind, der Fortfhrung durch die

    von ihr bewegte Leserschaft und also der Einlsung durch die Zukunft bedrfen.

    In der Vorrede zum letzten Band seines fortlaufenden Pamphlets Geist der Zeit

    schtzt sich Ernst Moritz Arndt vor solchem Unstimmigkeitsverdacht, indem er

    einen antiken Mythos der Konstruktion beruft. Man hat, so Arndt 1818, im vier

    zehnten Jahr seiner zeitdiagnostischen Publikationsttigkeit,

    oft geklagt, meine Sprache renne zu sehr ohne Athem fort. Hier sind nun

    Abschnitte und Ueberschriften genug, zum Theil nur Anspielungen und Bruch

    stcke, wie die rthselhafte Zeit anspielig und bruchstckig ist. Doch wem ich

    ein lebendiges Saitenspiel im Herz erregen kann, der wird wohl der Amphion

    werden, der die einzelnen Steine zu Einem Bau zusammenspielt.29

    Die in der Frhromantik aufgekommene Korrelation von Intention auf Zeitgeist-Diagose und Wahl der Fragmentform erhielt sich fortan in fortwhrendem Me

    dienwechsel. Zeitdiagnostik fand ihre Ausdrucksform, etwa bei Heine, in Genres

    der literarischen Momentaufnahmen (Reisebild, Feuilleton etc.), Genres, mit de

    nen das 19. Jahrhunder t das Verfahren der Mercierschen Tableaux de Paris dynami

    sierte. Schlielich entwickelte sie ab etwa 1900 einige am Impressionismus, spter

    auch am Surrealismus geschulte Formen der diskursiv-epochenphysiognomischen

    Darstellung einer Kritik an der gegenwrtigen Gesellschaft, an ihrem Bewusstsein

    und an den unbewussten Implikationen ihrer kulturellen Manifestationen. Diese

    Implikationen treten in den Essays Georg Simmeis, in den Filmkritiken Kracauers

    und in Benjamins Passagenwerk30, aber auch in Blochs Erbschaft dieser Zeit an die

    Stelle, die in der Schlegelschen und nach-Schlegelschen Zeitdiagnostik die Tenden

    zen innegehabt hatten.

    In den Anstzen dieser Autoren scheint die nachromantische Zeitdiagnostik zu

    terminieren. Durch die Literatur des 19. und die Gesellschaftskritik des 20. Jahr

    hunderts ging das Gebot der Anverwandlung des schreibenden Subjekts an die

    Fragmentarizitt seiner Gegenwart. Die Zeichen dieser zerbrochenen Zeit erkennt

    und erfasst nur derjenige, der die Diskontinuitt, die Flchtigkeit, die tglichen

    Zerstrungen, die von ihrer Dynamik hervorgebracht, von ihren beschleunigen

    den, die Wahrnehmun g partialisierenden Transport- und Kommunikationsmedien

    bedingt, vom Wechsel ihrer Moden produziert und von ihrer Konsumtion ver

    braucht werden, mithilfe einer aufs Transitorische, Kontingente, Ephemere, kultu

    rell Verworfene fokussierten Aufmerksamkeit aufnimmt: seis wie ein impressionis

    tisch Wahrnehmender, seis mit einem Kracauerschen Blick auf die populre Unter

    haltungskultur, seis als ein Benjaminscher Spurenleser in dem Mll, den Zeit als

    unerhebliches Verworfenes hinter sich lsst.

    29 Arndt: Geist derZeit, IV, S. 5. Vgl. S. 232, 319 u. 459.

    30 Frisby: Fragments ofModermty. Zum fragmentaristischen Stil Walter Benjamins, seiner Nei

    gung /.um lapidaren Wort und zu einer Strukturierung seiner Texte als Konstruktionen re-

    kombinierbarer kleiner Blcke vgl. Schttker: KonstruktiverFragmentarismus.

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    TENDENZ. ZERRISSENHEIT, ZERFALL 19

    Im Rckblick scheint die Entsprechung von Zeitkritik und Fragment zwingend.

    Eine Gegenwart, die sich selbst problematisch geworden ist und sich ihren Ort in

    der Geschichte neu erfindet und zuschreibt, statt ihn aus einem transhistorischen

    Schema der Heilsgeschichte anzunehmen, muss sich als Sptzeit begreifen, als Epo

    che zwischen einem Nicht-mehr, zu dem die Brcken abgebrochen, und einemNoch-nicht, dessen Tage gerade erst angebrochen sind. Ihre Selbstbeschreibung

    sucht daher das Pathologische wie das Projektive.31

    Die Insuffizienzen der skulari

    sierten Gegenwart wie die Offenheit des Zukunftshorizonts haben die moderne

    Zeitdiagnostik zur Fragmentarizitt ihrer Befunde verurteilt wie berechtigt. Schle

    gels Generation hat das als erste zu Ende gedacht.

    2. Zerrissenheit

    Der emphatische Begriff des Fragments, den die Frhromantik propagiert hatte,

    rettete sich ins 19. Jahrhunder t in die Form des notwendigen, daher trstlichen

    Scheiterns am groen Wurf. Die monumentalen Fragment-Werke Hlderlins und

    Coleridges entstehen.32

    Zunehmend versteht die Nachromantik ihre Fragmen-

    tiertheit indes als Verlusterfahrung. Die von den Frhromant ikern forcierte

    Emphati sierung des Zeittypisch-Bruchstckhaften verliert an Ausstrahlung. Die

    Zeit und ihre avanciertesten Autoren verstehen sich als zerrissene - ein Topos , derseinen frhen spektakulren Auftritt in Kleists Penthesilea gehabt hat. Nun domi

    niert er eine Hauptstrmung in der europischen Literatur der 1820er bis 1840er

    Jahre. Bis zu Nietzsche berufen sich Autoren des 19. Jahrhunder ts auf die Zerrei

    ungs-Szenerien der griechischen Antike: auf die Schicksale von Adonis, Pentheus

    und Orpheus, auf die Taten der Medea oder auf die Zeuxis-Anekdote. (Arndts

    Delegation seines Projekts an einen knftigen Amphion, der seine, Arndts, bruch

    stckhaften Befunde zu einem Theoriegebude fgen werden, besttigt diese Ver

    weise ex negativo.) Dass die Texte eines Autors Fragmente sein sollen, entspricht

    nun weniger der Schnelligkeit der Welt ordnenden Ideen als vielmehr der Flch

    tigkeit der Eindrcke, die dem Schriftsteller in der gesellschaftlichen Realitt, dem

    Leser bei der zerstreuten Lektre begegnen. Das frhromantische Programm einer

    extrem-elastischen Individuation qua fragmentarisches Sprechen schlgt um ins

    Bewusstsein von der Fragmentiertheit des eigenen - individuell sein sollenden -

    Selbst.

    Stillschweigend widerruft derweil der spte Schlegel sein frhromantisches Kon

    zept des Fragments. 1820 begrt er Lamartines religise Gedichte. Obwohl er an

    diesen rhapsodischen Ergieungen33

    bemngeln wird, dass ihre abgerissenen

    31 Vgl. Fahnders: Projekt Avantgarde.

    32 Vgl. Bahti: Coleridges 'Kubla Khan- u. Ngele: Die F(V)erse des Achilles.

    33 Schlegel: Kritische Ausgabe, III (Charakteristiken und Kritiken II. 1802-1829), S. 310 (VI.

    Aufstze aus der Zeit der Concordia (1820): ber Lamartines religise Gedichte).

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    schnen Anklnge[ ] noch nicht von der Befhigung zur Komposition im Groen34 zeugen, nutzt er sein Pldoyer fr diesen Lyriker, um die franzsische Literatur vorteilhaft von der deutschen abzuheben. In dieser nmlich finde sich einGefhl und ein Streben, was im Unendlichen verschwebt, oder mehrenteils nur in

    Fragmenten und halbvollendeten Gebilden sich rtselhaft kundgibt

    35

    . Mit dieserhalbdistanzierten, ja halb tadelnden Charakteristik rckt Schlegel vom fragmenta-ristischen Projekt der Atbenums-Zeit ab und erklrt es zur aufzuhebenden Antithese der franzsischen Dichtung.

    Zur gleichen Zeit dringt Schlegels frhere Einsicht, moderne Kunst msse, uman der Zeit zu sein, fragmentarisch strukturiert sein, ein in die Faktur der Erzhlweise der Romane und Erzhlungen E. T. A. Hoffmanns, der autobiographisch-zeitdiagnostisch-narrativ angelegten ReisebilderHeinrich Heines und des Goethe-

    schen Sptwerks. Zumal Heine kann - neben Byron - als der reprsentative Autorder neuen Zerrissenheit gelten.36 Vieler seiner Texte sind Momentaufnahmen diskontinuierlicher Impressionen, Bruchstcke autobiographischer Bekenntnisse.Explizit wird das bei seinen Reisebildern, von der Harzreise (geschrieben 1824,erschienen 1826) bis zu den Englischen Fragmenten (1831). Die >HarzreiseReisebilder., S. 718.

    37 Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe, VI (hg. v. Jost Hermand), S. 134.38 Ebd.,S. 135.39 Ebd., S. 137.

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    sich selbst ins Fleisch, denn, indem sie den Autor zwingt, seine Texte zu zensieren,

    verleiht sie ihnen eine schnittige, scharf gezackte Form, an der sich verletzt, wer

    ihr zu nahe tritt. Durc h ihre fragmentierenden Eingriffe glttet die Zensur die

    Texte nicht, sondern raut sie auf zu satirischer Schrfe. Zugleich wusste der von

    der Romantik tangiette Heine um den Erkenntniswert der Einsicht in die eigeneFragmentarizitt: Wir begreifen die Ruinen nicht eher als bis wir selbst Ruinen

    sind - 40.

    3. Kurzer Exkurs zu Diderots Ruinen

    Das Verbot, morphologisch heterogene Glieder zusammenzusetzen, mit dem Ho-

    razens Arspoetica einsetzt, findet sich in der frhen Neuzeit zwar nicht aufgehoben,aber in seiner Wi rkung gebrochen. sthetisch ist dieser Bruch dadurch bes timmt,

    dass Humanismus und Renaissance die Antike nur bruchstckhaft wieder ent

    decken konnten: in den Fragmenten von Textcorpora und in den Torsi von Statuen

    - etwa des kurz vor 1432 entdeckten Apoll vom Belvedere, den zu vollenden

    Michelangelo sich fr unwrdig erklrte. Der hier ansetzenden, bei Leonardo da

    Vinci entfalteten sthetik des non-finito konvergiert die neuzeitliche Anatomie, an

    der sich die Portraitmaler der Renaissance zu schulen beginnen. 41 Im 18. Jahrhun

    dert materialisierte sich die sthetik des non-finito in knstlichen Ruinen. Die nun

    Mode werdenden Ruinenbauten verwischen die Grenze zwischen natrlicher (dem

    Verfall geschuldeter) und artistisch ins Werk gesetzter Fragment-S truktur. Begriff

    und Dimension einer solchen poetique des ruines42 entfalten sich in Diderots

    theoriebildendem Blick auf die Pariser Ausstellungs-Salons. Angesichts der im

    Salon von 1767 gezeigten Bilder Hubert Roberts entdeckt Diderot im Genre der

    Ruinenmalerei einen mimetischen Imperativ, dem zufolge der Betrachter die Zer

    strung, die er auf der Leinwand dargestellt sieht, in sich nachzuvollziehen habe.

    Die Implikationen des gemalten Motivs erweisen sich hierbei als strker als die

    Malkunst, mit der es ausgefhrt wurde.43 In seinen schwcheren Werken beschw-

    40 Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe, X (hg. v. Jan-Chr istoph Hauschild), S. 320.41 Vgl. Rosand: CompositionlDecompositionlRecompositton. Zur Kunstgeschichte des non-finito

    vgl. auch die Beitrge in Das Unvollendete als knstlerische Form; zu seiner Konzeptualisierung

    im 18. Jahrhunde rt vgl. Rothstein: 'Ideal Presence< and the Non-Finito- in Eighteenth-Century

    Aesthetics.

    42 Diderot: Salons, III, S. 227; vgl. S. 228. Zu Diderots Versuch, den Maler Robert zur knstlerischen Erfllung seiner (der Diderotschen) Ruinenpoetik zu bewegen, vgl. den Ausstellungskatalog Diderot & l'Artde Boucher David, S. 342ff.; zum geschichtsphilosophischen Dyna-mismus, dem antizipietend verwandelnden Blick seiner Ruinenpoetik vgl. dort Jean Staro-binski: Diderot dans iespace despeintres, bes. S. 3639.

    43 Unter Berufung auf Diderots Konzeption der Imagination und des Gedchtnisses entdeckteChristina Vogels semiotische Mikroanalyse an diesem Text eine Erweiterung der sthetik desnon-finito (Vogel: Diderot, S. 11-37).

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    re der bildende Knstler ravages du temps44, die er indes nur unvollkommen und

    nur im Resultat festhalten konnte . Nicht nur wird in der Ruinenlandschafts-Male

    rei der Bildaufbau zu einem Areal, das von Bruchlinien strukturiert ist (un [...]

    pont de pierre qui coupe la profondeur, heit es in Diderots Beschreibung), son

    dern gerade auch im Nachzeichnen dieser Bruchlinien erfhrt der Betrachter einehypostasierende, Reflexionen auslsende Erhabenheit: les belies, les sublimes

    ruines!45

    Effekt der Konfrontation mit der gemalten Ruinenlandschaft ist, wiederum proto-

    Kantisch erhaben, die Rckwendung des Menschen auf sich selbst. [N]ous revenons

    sur nous-memes, konstatiert Diderot. Was diese Bilder zu denken geben, ist ideell,

    l'idee de la puissance eclipsee des peuples46, eine groe Idee, die das menschliche

    Bewusstsein weitet. Gre denkt Diderot als zeitliche Unendlichkeit. Der Raum, den

    das Ruinengemlde zeigt, entgrenzt und verwandelt sich in Richtung auf ein Historisches, in dem das Universal- vom Naturgeschichtlichen umfasst wird. [N]ous,

    spricht Diderot im Namen der Betrachter solcher Gemlde, anticipons sur les ra

    vages du temps; et notre imagination disperse sur la terre les edifices memes que

    nous habitons.4. Das formuliert nicht nur einen Indikativ, sondern auch einen

    Imperativ, nmlich den, das von dem Bild Gezeigte imaginr in die bestehenden

    Erscheinungen der Gegenwart zu versetzen: II faut ruiner un palais pour en faire

    un objet d'interet.48 Den Betrachtern ist nicht nur aufgegeben, jedem Werk der

    Kultur, im Vorgriff auf seine Verwitterung und Dekomposition, seinen Zerfall zu

    Natur einzufgen, sondern sie haben gerade auch die Gebilde institutioneller Herr

    schaft auf ihre Vorlufigkeit und Endlichkeit hin anzusehen - noch whrend sie

    intakt sind. Am Palast belegt diese sthetik in der Gre des Zerstrungswerks

    von Geschichte die Hinflligkeit der Monarchie. Hubert Robert hat dieses Pro

    gramm selbst exekutiert, als er la grande galerie du Louvre reduite en etat de ruines

    malte.49

    Die Frhromantiker bernehmen von der Ruinensthetik die Akzentuierung

    des Zukunftsoffenen, Zukunftsweisenden an den gebrochenen Formen sowie dieEntdeckung, dass diese ein Potenzial der Proliferation haben. Wie derjenige, der

    angefangen hat, den Bau der Welt als Ruine zu sehen, in allen Bauten nur noch

    Ruinen erblickt, so liest der, der einmal den Text der Welt als Fragment gelesen hat,

    in allen Texten der Welt nur noch Fragmente. Solche Affinitt begrndet sich aber

    nicht nur in einer Verwandtschaft der Vorstellungen, sondern auch in einer der

    44 Diderot:Salons,

    III, S. 226.45 Ebd., S. 227; dort auch die beiden folgenden Zitate.

    46 Ebd., S. 226.47 Ebd., S. 227.48 Ebd., S. 235; dort auch das folgende Zitat.49 Siehe Monier: La poetique des ruines, S. 92; vgl. S. 168. Zur Ruinenpoetik Diderots bes

    S. 90-99. Vgl. Harries: The Unfinished Manner, S. 84fF. Aus Mangel an Platz und Kompetenz vernachlssige ich hier die kunsthistorischen Kontexte der Robertschen Bilder und verweise hierzu auf den im selben Band erscheinenden Beitrag Victor Stoichitas.

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    Denkstile , Sensibili tten und Reflexionsformen Diderots einerseits, Friedrich

    Schlegels andererseits. Zumal in Diderots Pensees detachees sur la peinture, la sculp-

    ture, l'architecture et la poe'sie (17761781) sah Jean Starobinski s'annoncer le gen-

    re du fragment o le Romantisme, particulierement en Allemagne, exprimera son

    sentiment de l'impossibilite, pour la conscience libre, de s'asservir une forme

    determinee, fermee sur elle-meme.50

    Die Pensees versuchen, die aphoristische Ausdrucksweise der Moralistik ber die

    Vermittlung einer wirkungspsychologisch ansetzenden anthropologischen sthetik

    ins Gebiet der Kunstkritik und Kunsttheorie zu tragen. Starobinski rechnete sie zu

    jenen Schriften Diderots, die sich durch eine ecriture rompue auszeichneten:

    Ainsi, dans les textes sur l'art [...] Ton voit poindre ce pouvoir de liberte negatrice

    qui sera designe, par la suite, sous le nom d'ironie romantique. Mit der kritischen

    Haltung des frhromantischen Fragmentarismus berhrt sich die uerste

    Beobachtungsgenauigkeit des Kritikers Diderot. Die Pensees zeigen, dass bei gestei

    gerten Ansprchen der Kritik die Vollendung des abgeschlossenen Werks fragwr

    dig, bei gesteigerter Aufmerksamkeit ihrer Betrachtungsweise seine Geschlossen

    heit gesprengt wird. Der von Starobinski beschriebenen extreme attention des

    Kunstkritikers Diderot ist eine Fragilitt der intensivierten Aufmerksamkeit

    geschuldet. Solche Aufmerksamkeit hat Mhe, sich auf der Hhe ihres Ideals intel

    lektueller und sthetischer Geistesgegenwart zu halten, und lsst zweifeln, ob das

    Betrachtete in allen Details ihr ebenbrtig und stimmig ist: Eine Mhe, die

    schlielich abbrechen und scheitern muss, ein Zweifel, der konsequent zur Frag

    mentierung des Bildes und zur Erkenntnis der Fieterogenitt seiner Teile fhrt.

    Von der (Einsicht in die) Fragilitt zum (Primat der Form) Fragment - der Weg

    Diderots wie spter Schlegels. Beider Fragmentarismus, Fragmenterkenntnis, bei

    der kritisch vorangetriebene Fragmentierungen resultieren aus einem intellektualen

    Vorgriff, der einen Eingriff ins Werk lizenziert, antizipieren Prozesse des Herunter

    brechens, die mit der Zeit an dem jetzt als vollstndig Vorgestellten stattfinden

    werden. Dieses instabile Vollstndige ist bei Diderot das Gebude, sodann das als

    Ruine gemalte Gebude , das am geschichtsphilosophisch-sthetischen Inbegriff

    einer noch nie realisierten Ruinenpoetik gemessen wird, bei Schlegel das Textcor-

    pus der Gegenwart.

    Ex eventu stellt sich Diderots Ruinenpoetik als Vorahnung derjenigen Zerst

    rungen dar, die das Ancien Regime niederwerfen werden. Seine Reprsentations

    bauten nivelliert die Franzsische Revolution. Mercier, der das in L'an deux mille

    quatre cent quarante (1770) vorausgesagt hatte, konstatiert es angesichts des revolu

    tionren Musee des monuments francais mit einer Mischung von Befriedigung und

    Melancholie, die auch Volneys berhmte Ruines ou Meditations sur la revolution des

    empires (1791) auszeichnen sollte. Gleichheit ist hier Gleichheit der Zerstrung,

    Dekomposition sthetisch und symbolisch behaupteter Herrschafts- und Sinnge

    bote. Die Zeitgenossen der Franzsischen Revolution erlebten Geschichte als von

    50 Starobinski: Diderot dans l'espace despeintres, S. 40; dort auch die folgenden Zitate

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    einem abrupten Bruch bestimmte. Die Revolutionre fhrten sich ihr Tun vor

    Augen an ha nd einer Visual rhetoric, als deren founding tropes [fj ragmentati-

    on, mutilation and destruction gelten knnen.51 Im Gestus des Denkmalssturzes,

    des kultur revolutionren Vandalismus, des erhabenen pat riotischen Selbstopfers

    und vor allem der Guillotinierung trennte sich die Epoche euphorisch von der bis

    dato verbindlichen Traditionsmacht des Ancien Regime. Diese Bildwelt der Zer

    strung obsediert im frhen 19. Jahrh under t den Blick, die Darstellungsmittel und

    das imaginre szenische Repertoire zumal der franzsischen bildenden Knstler,

    zum Beispiel Gericaults. Sie findet zu neuen Umsetzungen in der Malerei des

    Impressionismus. Ihn erklrt die amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin

    als Ausdruck von that sense of social, psychological, even metaphysical fragmenta-

    tion that seems to mark modern experience - a loss of wholeness, a shat tering of

    connection, a destruction or disintegration of permanent value.

    4. Quasi una armonia: Fragment und Zerfall bei Adorno

    Die Rekurrenz, mit der sich sptestens seit den 1820er Jahren jede europische

    Generation als zerrissene beschrieben hat, lenkt den Blick auf das Generationen

    bergreifende (allerdings spezifisch moderne) Vorstellungsmodell Fragmentarizi-

    tt. Nochlin favorisiert Verbmetaphern, welche die kriegerisch-revolutionre

    Gewalt des historischen Prozesses und den Schock beschleunigt-disruptiver Wahr

    nehmung in der grostdtischen und industriellen Lebenswelt ausdrcken. Zu die

    sen Vorstellungen hinzu tritt die Erfahrung des unweigerlich schleichenden Verfalls

    (disintegration). Er ist nun Naturgesetz der zweiten Natur.

    Bei Adorno wird er, als Zerlall, zum Formgesetz moderner Kunst. Diese negati

    ve Herkunft begrndet ein ambivalentes Verhltnis zum Fragment, das Adorno

    gleichermaen noch einmal als Residuum sthetischer Behauptung restituiert und

    als Mimesis ans Zerstrerische fr defizient durchgebildet erklrt. Der sthetischen

    Theorie zufolge heit Zeitgenossenschaft fr die Knstler, sptestens seit Beetho

    ven: Konditionierung durch die mrderisch geschichtliche Kraft der Moderne"13

    ,

    Unverbindlichkeit derTradit ion . Seitdem sie nichts mehr [...] [haben], woran sie

    sich ohne Ideologie halten knnten54, finde der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke

    am Gebot det Integration zum Ganzen kein Genge. Wenn Ganzheit der Makel

    erpresster Vershnung beeintrchtigt, verschlinge sich [i]ntegrale Form [...] mi t

    Herrschaft55 . An der Schuld ttiumphalistischer Einheits-Gre lasse sich daher

    51 Nochlin: The Body in Pieces, S. 9; das Folgende nach Nochlin, S. 8-15. Zu den Schnitten undBrchen der Sehgewohnheiten in der impressionistischen Kunst vgl. Drost: FragmentarischeStrukturen.

    52 Ebd., S. 23

    53 Adorno: sthetische Theorie, S. 58.54 Ebd., S. 229.

    55 Ebd., S. 279; dort auch das folgende Zitat.

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    [d]er Vorrang bedeutender Fragmente, und des fragmentarischen Charakters

    anderer, fertiggestellter, vor den runden Werken ermessen.

    Dennoch hat Adorno unter Berufung auf Valery, dem zufolge kein Kunstwerk

    dem Ideal seiner Klassizitt entgehen kann56, an der Einheitlichkeit der Werke

    festgehalten. Um das Ideal der Geschlossenheit des Kunstwerks zu retten, unter

    scheidet er die unabdingbare Ntigung zur Kohrenz, die [..,] zerbrechliche Uto

    pie der Vershnung im Bilde von der Sehnsucht des objektiv geschwchten Sub

    jekts nach heteronomer Ordnung57. Als Monaden stellen die Kunstwerke doch

    in ihrer Verschlossenheit vor, was drauen ist58. Indem sie sich gegen die empiri

    sche Wirklichkeit abdichten, sich ausbilden nach den Gesetzen der Vernunft, die

    den Kunstwerken noch wo sie Zerfall meint, Einheit erwirkt59, partizipieren sie an

    der Auszeichnung dieser Vernunft, welche dadurch, dass sie auf reale Herrschaft

    verzichtet, [...] etwas Schuldloses [gewinnt]60. Ihre Zwecklosigkeit verleiht der

    Kunst Unabhngigkeit, weil sie mit der Nutzlosigkeit der Theorie korrespondiert.

    Logizitt und Konsequenz des Aufbaus, die in einem Kunstwerk herrschen, unter

    scheiden sich von denen des rationalen Urteils jedoch darin, dass sie Folgerungen

    ohne Begriff und Urteil61 sind. Die subjektive Totalitt der Kunstwerke62 ver

    steht Adorno anti-hegelisch: Die sthetische Ganzheit ist die Antithesis des

    unwahren Ganzen.63 Durch gewaltlose Synthesis des Zerstreuten64 vereinigten

    die Kunstwerke immanent das quasi fragmentarische Material, mit dem sie in

    ihrem Innenraum umzugehen haben65. Am Ende der oszillierenden Denkbewe

    gungen, mit denen die sthetische Theorie vom Fragment spricht, scheint doch derAdornosche Klassizismus sich durchzusetzen.

    56 Ebd., S. 441.

    57 Ebd., S. 239.

    58 Ebd., S. 268. Vgl. S. 15, 71, 289, 454, 476 u. .

    59 Ebd., S. 202.

    60 Ebd.

    61 Ebd., S. 208. Vgl. S. 453.

    62 Ebd., S. 428.

    63 Ebd., S. 429.

    64 Ebd., S. 216.

    65 Ebd., S. 453.

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    5. Thetische Zusammenfassung:Erfolg und Pyrrhussieg des Fragments

    Mit der frhromantis chen Programma tik beginnt der Siegeszug des Fragmenta-

    rismus. Das Fragment wird zum Strukturgesetz und bestimmt zunehmend auch

    die mikrostrukturel le Faktur der Werke. Deren fragmentarische Verfasstheit

    uert sich seit der Sptromantik, sptestens seit Mallarme, als Emanzipation der

    sprachlichen Elemente und Partikel gegen den Bedeutungszusammenhang, dem

    diese konventionel l unter stehen . Abtragen der Gattungen, Aufklaffen der Spa-

    tien, Auflsung von Syntax und Grammatik, Verselbstndigung der Silben, des

    Lautwerts oder der Bildgestalt der Buchstaben gegen die kohsiv-differentiell

    erstellte Einheit des Worts: Im Zeitalter der wie zufllig erwirkten, aber mit desto

    grerer Przision vorgenommenen Schnitte der technischen Medien ist die

    Spannung und Schrecken steigernde - Unterbrechung zum Stilprinzip geworden.

    Ob sie die atomisierenden Krfte im gesellschaftlichen Gefge und die (den

    beschleunigten medialen Sprachen, Arbeits- und Bewegungsrhythmen geschul

    dete) Verkrzung der Wahrnehmungstakte begleitet, abbildet oder forciert, ist

    nicht zu entscheiden.

    Fr die sthetik der Gegenwart knnte das heien, dass die Nike des Tri

    umphs, den der Fragmentarismus davongetragen hat, gebrochene Flgel hat, die

    Totalisierung des Fragmentarischen einen Pyrrhus-Sieg darstellt. Sie ist nicht iden

    tisch mit jener unendlich-approximativen Reintegration der Fragmente zur Ganz

    heit, die als klassizistisches Erbe der Schlegelschen Fragment-Poetik eingesenkt

    blieb. Zwar hatte sich Schlegel schon bald verabschiedet von dem Appell, mit dem

    er 1795/96 seine Leserschaft aufgefordert hatte, in der Konfrontation mit der

    Antike wieder freie Flle, rege Kraft, Einfalt, Ebenma, Eintracht, Vollstndig

    keit zu schpfen, Tugenden und Formen, welche die noch rohe Kunst der

    modernen Bildung beschrnkte, verstmmelte, verwirrte, verrckte, zerri und

    zerrttete!66 Aber nicht erst wieder dem aufs Positive-Integrative setzenden Schle

    gel der Wiener Vorlesungen von 1812 knnte die leere Geste des Fragments 67

    missfallen haben, die Benjamin als Signatur eines zeitgemen Fragmentarismus

    erkannte. Eines Fragmentarismus, der heute seinerseits mit der Gebtheit der Tra

    dition auftritt und sich allgemeiner Zustimmung sicher sein darf. Das Pathos, mit

    dem sich auch die heutige Gegenwart als zerrissene Zeit betrachtet, ist leer. Mit

    dem Ende des Klassischen und Kanonischen hat das Fragment sein Provokations

    potenzial verbraucht; mit der Erschpfung der in es investierten progressiven und

    utopischen Hoffnungen ist auch seine geschichtsphi losophische Emphase unter

    gegangen. Es hat nun (mehr als nur) dazu angesetzt, sich auf sich selbst anzuwenden, das Fragmentierte zu fragmentieren. Ein Wort fr diesen Vorgang wre Zer-

    66 Schlegel: Kritische Ausgabe I (Studien des klassischen Altertums), S. 639 (Beilagen: Vom Wert desStudiums der Griechen und der Rmer. 1795-96).

    67 Siehe Ostermann: Das Fragment, S. 153.

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    TENDENZ, ZERRISSENHEIT. ZERFALLr

    fall. In ihm zerfllt, mit der thetischen Kraft des Aphorismus, auch der Begriff des

    Fragments selbst.

    6. Gegenprobe begrifflich: Verfall und ZerfallDer Sprachgebrauch lokalisiert Verfall in dem Gebiet, mit dem sich die Biologie

    befasst, Zerfall in demjenigen der Mikrophysik, der Mineralogie und der Soziolo

    gie. Tatschlich sprechen wir, fast topisch, von Verfall-und-Tod einerseits, vom

    Atomzerfall, Zerfall qua Kristallisation und Zerfall von historischen Reichen und

    Gesellschaftsformationen, auch des Individuums andererseits. Verfall scheint

    einen Prozess der vegetativen Natur, Zerfall einen der nullten (elementaren und

    subelementaren) wie der zweiten (gesellschaftlich-geschichtlichen) Natu r zu

    bezeichnen. In Fribourg hat Otto Karl Werckmeister auf einen merkwrdigen

    Befund hingewiesen, der diese Opposition aufzulsen scheint. Emile M. Ciorans

    Pre'cis de decomposition (1949) erschien in der deutschen bersetzung Paul Celans

    unter dem Titel Lehre vom Zerfall (1953). Beide Autoren, vermute ich, denken

    hier vom Rumnischen aus, wo Zerfall unter anderem mit descomopunere aus

    gedrckt wird. Insofern ist Celans bersetzung dieses Titels genauer als die engli

    sche {A Short History of Decay. New York: Viking 1975) und zumal die spanische

    {Breviario de podredumbre. Madrid: Taurus 1972). Der Begriff decomposition

    knnte also bei Cioran (und Celan) terminologisch-technischer gedacht und verwendet worden sein, als es seine Verwandtschaft mit einer Dekomposition im Sin

    ne des Verfaulens, Vermoderns (spanisch: podredumbre) suggeriert. Demnach

    bezeichnete Dekomposition, in abstracto, jedwede Rcknahme von Zusammen

    setzung, Komposition - Komposition auch im Sinne der Kunst, das heit der

    Malerei und der Musik. Celans Begriff ist aber zugleich auch, wie jede berset

    zung, Interpretation, gefrbt durch des bersetzers Sichtweise, die Leben als von

    der Macht der Geschichte pervertiert, Geschichte als Verwerfung, Sediment ie-

    rung, also als geologisch zu lesendes Areal und damit auch als Gelnde mineralogischer Kristallisationen verstand.68

    Zerfall ist Verfall, der in Klften und Stufen verluft: diskontinuierlich, spekta

    kulr, nicht oder wenigstens noch nicht alles pulverisierend. Er ist daher sthetisch

    dankbarer, vielleicht auch ethisch ansehnlicher, leichter zu konfrontieren und ins

    Bewusstsein aufzunehmen als der Verfall, der nach dem Muster eines bio-chemi-

    schen Dekompositionsprozesses gedacht wird. Im Unterschied zu solchem Prozess

    ist der Zerfallsvorgang nicht nur entstaltend, sondern auch gestaltend, nicht nur

    dekomprimierend, sondern auch komprimierend. Die Schwundstufen, auf denender Zerfall sich abspielt, sind breit, fest, phasenweise stabil genug, um als Bhnen

    sthetischer Prsentation zu dienen. Zerfall, gedacht nach dem Muster Kristallisati-

    68 Siehe Werner: Textgrber.

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    on, lsst sich daher begreifen als Analogon mineralischer oder gesellschaftlicher

    Natur zur Kunstproduktion. Traditionelles bildhauerisches Schaffen gestaltete sich

    als Dekonstruktion einer (in der Perspektive der ausstehenden Formgebung) unge-

    stalten Masse, aus der die (neue) Gestalt herausgeschlagen wird. Lucans Etiam

    periere ruinae meinte dann den Verfall eines Zerfallenen, das als Ruine noch sta

    bile und distinkte Konturen aufgewiesen hatte. Erst dort, wo der bergang vom

    Ver- zum Zerfall flieend wird, mndet auch die Singularitt und Signifikanz bis

    dato zerfallsproduzierter Gebilde in den alles zermalmenden Strom biologischer

    Zeitlichkeit. Gesellschaftliches, das zur zweiten Natur geworden ist, ist eben damit

    der ersten schon verfallen.

    7. Gegenprobe literarisch: Zerfall und Fragmentbei Thomas Bernhard

    Fr das Widrige, Unweigerliche, Fatale dieser zweiten Natur verwendet Thomas

    Bernhard ein Adverb, das ob der grimmigen Einprgsamkeit und komischen Ver

    zweiflung, mit der er es verwendet, zu einer bekannten Kurzformel seines Werkes

    geworden ist: naturgem. Was bei diesem Autor nicht natrlich verfllt (das

    meiste, man knnte sagen: alles69), zerfllt naturgem. Schon Bernhards Lyrik

    der 1950er Jahre - sie macht den Hauptteil seines frhen CEuvre aus ist durch

    setzt mit Bildern und Formeln einer Vergnglichkeit, die Natur und Geschichte

    umgreift. Unberhrbar ist der Traklsche Ton dieser Gedichte, aber auch ihr

    Anklang an Kirchenlied und Psalm, mithin ans christlich-katholische Erbe. Dass

    sie gleichwohl nicht einfach barocke Vergngl ichkeitsbeschwrungen nachstellen,

    erweist sich an einem Kennwort dieser Lyrik: dem Zerfall. In seinem Zeichen

    wendet sich dieser Prospekt umfassender Hinflligkeit gegen die Instanzen, die

    Gegenmacht, Trost und Triumph ber die todverfallene Natur-Geschichte ver

    sprechen. Verehrung kippt um in Blasphemie, ist jedenfalls von ihr nicht zu unter

    scheiden. Der zweite Abschnitt von Bernhards Gedichtband In hora mortis (1958)beginnt mit den vorstzlich interpunktionslosen Zeilen: Zerfall mein Gott / der

    meine Qual zu Staub stt / vor den Tempeln . Dass der Mensch Staub ist, zu

    Staub wird, vom unsterblichen Gott berlebt und bermchtigt, ist sicher eine

    topische Vorstellung, undogmatisch dagegen, dass dieser Gott zerfallen soll oder

    gar der Zerfall selbst ist, also entweder selbst nichtig oder die Gttlichkeit des

    Nichts. In dem gleichzeitig erschienenen Gedichtband Unter dem Eisen des Mon-

    des (1958) dominiert das Verb zerfallen. Es bezeichnet den Tod des Lebendigen

    (zerfallene! ] Rehe; Wlder zerfielen zu Asche71), aber auch, als konkretisierende Verbmetapher, das Vergehen der Zeit schlechthin (Die Nacht zerfiel an Toren

    69 In meinen Bchern ist alles knstlich, erklrte Bernhard 1970 (Bernhard: DerItaliener, S. 82).70 Bernhard: Gesammelte Gedichte, S. 133.71 Ebd.,S. 171 u. 179.

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    alter Mauern; Den Abend la mich zerfallen sehen; wenn die Sonne mit

    einem Seufzer zerfllt72).

    Naturgem kennt Bernhard auch die Klage um die Vergnglichkeit des Ruh

    mes: wenn wir von unseren Toten sprechen, die ihren Ruhm in der Erde / zerfallen

    sehen."3 Fr seine Schreibweise und Poetik wichtiger ist indes, dass er den ubiqui-

    tren Zerfall in einer Sprache aufzufangen sucht, die ihterseits keine Ruhm verkn

    dende oder Ruhm sichernde, sondern eine zerfallende ist. Sie ist es sowohl aus krea-

    trlich-geschichtlicher Geschlagenheit wie aus Pflicht zur Mimesis an ihren

    Gegenstand. Einem unbestimmt bleibenden Du (Gott?, die Geliebte?, das lyrische

    Ich?, seine Sprache?) befiehlt die Schlusszeile eines Gedichts: und zerfalle im

    Mund meiner Wunde74. Die Konventionen heilender lyrischer Harmonie bedient

    diese Zeile nur, indem sie sie im unreinen Binnenreim Mund(e) - Wund(e) sowohl

    anklingen lsst wie verweigert.

    Im Sinne einer christologischen Krperrhetorik knnte man hier ein Sprechen

    der Wu nd en angerufen finden. Bernhard suggeriert aber strker noch eine Rck

    bertragung dieser Metapher: Der Mund wird zur klaffenden Wunde. Seine Worte

    sind schmerzgeboren, verletzt, zerfallend und zerfallen. Die Silben, heit es in

    einem anderen Gedicht, [...] / zerfallen ber dem Wasser des Flusses^. Sie stehen

    also im Sog der verflieenden Zeit. [B]ald, prophezeit Bernhard an anderer Stel

    le, werden wir vergessen sein / und die Verse zerfallen wie Schnee vor dem H a u s .

    Sie unterstehen dem gleichen Gesetz, nach dem die Schuhe verwittern und Stdte,

    Pferde und Menschen untergehen in einem Strom.77 Ausdrucks- und formmime-

    tisch zur zerfallenden Natur verhalten sich Bernhards Gedichte dadurch, dass sie

    die prekre Einheit ihrer materialen Bausteine betonen. Ihre Worte, Stze und Zei

    len wirken isoliert. Als vereinzelte tendieren sie zu einer Zusammenhanglosigkeit,

    die weder durch sprachliche Logik noch durch Rhythmus, Reim oder Versschema

    gekit tet werden kann. Versgrenze, (freilich am wenigsten noch) Interpunktion un d

    Spatien markieren die Zerfallenheit dieser Sprache, sichern aber zugleich die kris

    tallartige Einheitlichkeit, Kompression, Distinktheit der einzelnen Vokabeln. Diese

    sind noch nicht ganz zerfallene Zerfallsprodukte.

    Es mag auch die in diesem Gedicht begegnende insistente Rede vom Zerfall

    sein, die Cioran den Titel eines franzsischen Thomas Bernhard 78 eingetragen

    72 Ebd., S. 170, 186 u. 193. Vgl. in einem separat publizierten Gedicht von 1956: an dem zer-

    fallnen Gesicht des Sommers (ebd., S. 296).

    73 Ebd. , S. 86 (aus: Auf der Erde und in der Hlle, 1957); vgl. ebd., S. 301.

    74 Ebd.,S. 157.

    75 Ebd., S. 20 3.

    76 Ebd., S. 153 . Zit iert wird hier aus dem F.rfTnungsgedicht von Unter dem Eisen des Mondes,

    dem aufgrund dieser Position eine programmatische Bedeutung zugesprochen werden darf.

    Vgl. die Variante S. 297.

    77 Vgl. ebd., S. 153.

    78 Reschika: E. M. Cioran, S. 7. Und vice versa: Zunchst lsst sich Thomas Bernhards Werk im

    ganzen als eine negative Komposition beschreiben, als eine Art prkis de decompositwn im Sin

    ne Ciorans (Stieg: Bernardus Silvestris, S. 147).

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    hat. Am markantesten erscheint sie im Untertitel seines letzten Romans Ausl

    schung. Ein Zerfall (1986). Natrlich hat die Kritik sogleich bemerkt, dass Thomas

    Bernhard hier, das Ende des 20. Jahrhunderts im Blick, eine Kontrafaktur des

    berhmtesten deutschen Romans vom Anfang dieses Jahrhunderts im Sinn hatte:Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901). Was Thomas Mann unter der

    Observanz zeitgenssischer Deszendenztheorien vorfhrte, allerdings auch sthe

    tisch aufwertete: den quasi-natrlichen Verfallsprozess dreier Generationen, wird

    bei Th omas Bernhard zum von historischen Eingriffen und oppor tunis tischem

    Versagen skalierten naturgemen Zerfall einer erst mit dem Nationalsozialismus,

    dann mit der katholischen Restauration paktierenden Familie. Sie zerfllt weniger

    vor den Augen des Ich-Erzhlers Franz-Josef Murau (dessen Aufzeichnungen ein

    anonymer Herausgeber redigiert) als vielmehr in ihm. Wie in den Bernhardschen

    Gedichten wenden sich Zerfallsprozess und -befund von der Welt ins Innere des

    Sprechenden, sind immer schon in ihm. Auslschung der zu schreibenden und

    bereits geschriebenen Schrift, Zerfall des Schreibenden und seines Gegenstands,

    weil Herkunftskomplexes79 ergnzen sich zur umfassenden, von A wie Ausl

    schung bis Z wie Zerfall grndlichen Abschenkung einer leiden und sprechen

    machenden Tradition (konkret des Familiengutes Wolfsegg, das Franz Josef testa

    mentarisch der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens vermacht).

    Die beiden Zerstrungsprozesse konvergieren als gegenstrebige: Schrift, die

    Familiengeschichte auslscht, dabei freilich auch, gegen den Strich, nachzeichnet;

    Zerfall, der selbstlaufig abbaut , was der Auslschende federfhrend tilgen will. Der

    Roman entsteht aus der Konfrontation dieser im Ziel bereinstimmenden, in der

    Gestaltungsrichtung antagonistischen Vorgnge. [E]in guter Titel, ausgezeich

    net80 , hat Bernhard dazu gesagt: Einer lscht alles aus, und drum herum zerfallt

    sowieso alles, also ist es eigentlich ein Bldsinn, da er alles auslscht, weil eh alles

    zerfallt.81 Indem Bernhard sein Schreiben als eine Formfindungsgeste quia absur

    dum, als Be-, Nach- und berschreiben von Desintegrationsprozessen darstellt,

    knpft er an eine starke Filiation sterreichischer Zerfallsdichtung an. Sie reicht

    von Hofmannsthal so genanntem Chandos-Brief(1902) ber Brochs Wertezerfall-theorie in den Schlafwandlern (1931/32) bis zu Joseph Roths Romanen und Robert

    Musils monumentalem Romanfragment vom Auseinanderbrechen der Donaumo

    narchie. Zerfall der perzipierten Welt, Zerfall des Erinnerten, Zerfall des Mediums

    Sprache und Zerfall des staatlich-kulturellen Gefges spiegeln einander.

    Dass der zerfalls-fixierte Bernhard zugleich, von dem Gedichtband Ave Vergil

    (1959/60) ber die Erzhlung Amras (1964) bis zu seinem Roman Alte Meister(1985), ein Autor des Verweises und der Reflexion auf das Fragmentarische der

    (seiner) Kunst war, steht auf der Rckseite desselben Blatts. Gewendet wird es vombergang des Zerfallens zum Zerfllen. Steht das Geschehen des Zerfalls im

    79 Bernhard: Auslschung, S. 20 1.

    80 Thomas Bernhard- Eine Begegnung, S. 252 (Bernhard im Juni 1986 in einem Interview)

    81 Ebd.

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    Modus des Passivischen, allenfalls Reflexiven, so die Tat des Zerfallens in dem der

    Aktivitt. Fragmentieren ist das Verfahren, mit dem der Schriftsteller Bernhard auf

    die Zerfallenheit seiner Gegenstnde, Wahrnehmungen, Weltmodelle und Aus

    drucksmittel sich einstellte wie antwortete. Sein episches Werk prsentiert und

    praktiziert mindestens drei Effekte des Abbruchs: Abbruch als Scheitern, Abbruch

    als Rettung und Abbruch als (Anti-)Pointe. Im Sinne dieser beiden letzten

    Abbruchstechniken mochte zerfallen fr den Erzhler Bernhard heien: die Zer

    fallsprozesse dirigieren, ihnen das Tempo und damit die Gestalt aufprgen. Es ist

    der Gestus, mit dem Bernhard dem Kanon begegnet. Sowohl dem Kanon religis-

    heimatseliger Bekundungen, in deren Bann der junge salzburgische Lyriker anfangs

    gestanden hatte, wie auch dem Kanon der in den Rang einschchternder Klassizi

    tt gehobenen Kunstwerke. Die Konfrontation mit den Alten Meistern ertrgt in

    dem nach ihnen benannten Roman Reger, der nachgeborene Knstler und Kritiker

    (Musikkritiker), der regelmig ins Wiener Kunsthistorische Museum geht, nur,indem er deren Vollkommenheit als Schein versteht und so lange den allerstrengs-

    ten Mastab an sie anlegt, bis sie ihren gravierenden Fehler82 preisgeben und sich

    damit als Fragment herausstellen. Dieser Vorgang hnelt den rhetorischen Verfah

    ren, die Harold Bloom als rettende Wendungen, Entstellungen und berschrei

    bungen der Texttradition durch die belatedstrongpoets beschrieben hat.83

    Thomas Bernhard selbst hat solche Entstellung des anerkannten Perfekten in

    der Kunst unverblmt als ein Frei- und Gestaltungsrume schaffendes schpferi

    sches Zertrmmern beschrieben. In einer Auskunft zum eigenen Werk nennt er

    erst groe Autoren, die er bewundert: Musil, Pavese, Ezra Pound, Valery, Lermon-

    tov, Dostojewski, Turgenjew, Henry James, und beschreibt dann seine Haltung zu

    ihnen:

    Es ist ein ununterbrochenes zur-Wehr-setzten, gerade gegen die, denen man einfach restlos verfallen ist. [...] Meistens kommt man sich lcherlich vor gegen dieseLeute, dann darf man aber nicht arbeiten ... Aber nach und nach bekommt man

    Gewalt, auch ber ganz Groe [...]. Es darf nichts Ganzes geben, man mu eszerhauen. F.rwas Gelungenes, Schnes wird immer mehr verdchtig. Man mu jaauch einen Weg mglichst an einer unvorhergesehenen Stelle abbrechen .. .8

    Womit Bernhard noch einmal, in einer gewaltigen Anstrengung, den von Schlegel

    aus- un d ber die frhromantischen Postulate hinweggegangen Prozess umzukeh

    ren strebt. Durch Zerfllen des Zerfallenen, aber noch Geltung, Autoritt, Ganz-

    heitlichkeit Beanspruchenden soll ein kritisch-knstlerisches Fragment entstehen,

    das dem Zerfall sowohl nachgebildet wie abgerungen ist.

    82 Bernhard: Alte Meister, z. B. S. 41 .83 Vgl. die Bezugsetzungen Bernhards mit Bloom bei Hoesterey: Verschlungene Schriftzeichen,

    S. 175-179, Fuest: Kunstwahnsinn irreparabler, S. 328-335, und den Schlussabschnitt meines Artikels Fragment, S. 585-587.

    84 Bernhard: DerItaliener, S. 87f.