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Jürgen Golle: Villaneske Lieder für gemischten Chor a cappella (CD 91702) Viele poetische Bilder, die der modernen Massenzivilisation zuneh- mend fremd geworden sind, erlangen in der Chormusik von Jürgen Golle Leben- digkeit. Der Zwickauer Komponist kann noch unverbraucht von Rosen und Nachtigallen singen. Seine Sinne neh- men den natürlichen Reichtum noch wahr, der uns tagtäglich umgibt, Leben erst gestattet und doch zutiefst gefähr- det ist durch die rücksichtslose Gier vieler Menschen, die Welt zu beherr- schen. Nach Worten Hermann Hesses verspricht er in einem seiner villanesken Lieder: „Unsrer Erde Leben mitzufühlen, tu ich alle Sinne festlich auf.“ Golle – Jahrgang 1942 – gehört zu jenen Komponisten, die die Möglichkeiten des Chorgesangs aus eigener praktischer Erfahrung kennen und dabei die biologischen Grenzen der menschlichen Stimme respektieren. Seine Musik vermittelt abseits avantgardistischer Revolten Vertrautes, zugleich nimmt sie von Werk zu Werk neue Farbtöne an. Die charaktervolle Balance von stilistischer Geschlossenheit und Wandlungsfähigkeit lässt sich besonders eindrucksvoll anhand der 40 Villanesken Lieder für gemischten Chor a cappella nachvollziehen. Zwischen 1974 und 1996 entstanden und zu fünf Zyklen geordnet, begleiten die Stücke eine beträchtliche Wegstrecke des Komponisten. Dem Grundsatz seines Lehrers Wilhelm Weismann (1900–1980) folgend, dass mit der Wahl jedes Gedichtes zugleich entsprechende musikalische Mittel vorbestimmt seien, erhält jedes Lied ein aus dem Worttext abgeleitetes besonderes Gesicht. Dieses ist nicht am Reißbrett entworfen, sondern von unverstellten Gefühlen geprägt. 1999 hat das Ensemble Florilegium Portense (Leitung: Kersten Lehmann) aus Schulpforta eine Auswahl von 27 Stücken aus den Villanesken Liedern produziert. Wer die Aufnahmen wiederholt hört, wird einen markanten Zug von Golles Handschrift immer wieder aufs Neue erleben: unverstellte Natürlichkeit. Das Titelbild, eine Szene des idyllischen Schulpforte, ist ein Aquarell des Komponisten, voller poetischer Ausdruckskraft wie die Musik. Susan Bauer: Von der Khupe zum Klezkamp. Klezmer-Musik in New York. Buch + CD (BCD-PIR1362) „Meine erste Begegnung mit Klezmer-Musik war eigentlich rein zufällig“, schreibt die Herausgeberin dieser spannend aufbereiteten und dokumentierten Sammlung von Aufnahmen aus den Jahren 1908 (in Worten neunzehnhundertacht) bis 1999. „Vor zehn Jahren schenkte mein Bruder mir eine CD zum Geburtstag. Sie hieß SHVAYGN = TOYT und stammte von einer Gruppe, die sich THE KLEZMATICS nannte. […] Ich fand Gefallen an der gleichzeitig vertraut und fremdartig klingenden Musik und wollte herausfinden, was sich hinter dem Namen der Band verbarg. […] Ich hatte damals gerade angefangen, Musikethnologie an der FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN zu studieren, und Klezmer- Musik wurde zu einem meiner Hauptforschungsthemen.Zu meiner Überraschung stellte ich zu Beginn meiner Recherchen fest, daß in Deutschland bereits eine rege Klezmer-Szene existierte. Wenn man in Berlin die Veranstaltungskalender durchsieht, findet man bis heute fast täglich ein oder sogar mehrere Konzerte, die unter ‚Klezmer’ angekündigt werden. Eine regelrechte Klezmer-Welle hat Deutschland seit Mitte der achtziger Jahre durchzogen. Der erste Künstler, der bei uns Klezmer-Musik auf die Bühne brachte, war in den frühen achtziger Jahren der Klarinettist GIORA FEIDMAN. Er hat mit seiner besonderen Interpretationsweise durch zahlreiche Konzerte und Workshops die deutsche Klezmer- Szene bei Publikum wie Musikern nachhaltig geprägt. […] Gegen Ende der achtziger Jahre wurden erstmals Klezmer-Gruppen aus den USA, unter ihnen auch THE KLEZMATICS, zu Konzerten und Festivals nach Deutschland eingeladen. Ihre Musik klang anders als die von GIORA FEIDMAN.

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Jürgen Golle: Villaneske Lieder für gemischten Chor a cappella (CD 91702)

Viele poetische Bilder, die der modernen Massenzivilisation zuneh-mend fremd geworden sind, erlangen in der Chormusik von Jürgen Golle Leben-digkeit. Der Zwickauer Komponist kann noch unverbraucht von Rosen und Nachtigallen singen. Seine Sinne neh-men den natürlichen Reichtum noch wahr, der uns tagtäglich umgibt, Leben erst gestattet und doch zutiefst gefähr-det ist durch die rücksichtslose Gier vieler Menschen, die Welt zu beherr-schen. Nach Worten Hermann Hesses verspricht er in einem seiner villanesken Lieder: „Unsrer Erde Leben mitzufühlen, tu ich alle Sinne festlich auf.“ Golle – Jahrgang 1942 – gehört zu jenen Komponisten, die die Möglichkeiten des

Chorgesangs aus eigener praktischer Erfahrung kennen und dabei die biologischen Grenzen der menschlichen Stimme respektieren. Seine Musik vermittelt abseits avantgardistischer Revolten Vertrautes, zugleich nimmt sie von Werk zu Werk neue Farbtöne an. Die charaktervolle Balance von stilistischer Geschlossenheit und Wandlungsfähigkeit lässt sich besonders eindrucksvoll anhand der 40 Villanesken Lieder für gemischten Chor a cappella nachvollziehen. Zwischen 1974 und 1996 entstanden und zu fünf Zyklen geordnet, begleiten die Stücke eine beträchtliche Wegstrecke des Komponisten. Dem Grundsatz seines Lehrers Wilhelm Weismann (1900–1980) folgend, dass mit der Wahl jedes Gedichtes zugleich entsprechende musikalische Mittel vorbestimmt seien, erhält jedes Lied ein aus dem Worttext abgeleitetes besonderes Gesicht. Dieses ist nicht am Reißbrett entworfen, sondern von unverstellten Gefühlen geprägt. 1999 hat das Ensemble Florilegium Portense (Leitung: Kersten Lehmann) aus Schulpforta eine Auswahl von 27 Stücken aus den Villanesken Liedern produziert. Wer die Aufnahmen wiederholt hört, wird einen markanten Zug von Golles Handschrift immer wieder aufs Neue erleben: unverstellte Natürlichkeit. Das Titelbild, eine Szene des idyllischen Schulpforte, ist ein Aquarell des Komponisten, voller poetischer Ausdruckskraft wie die Musik.

Susan Bauer: Von der Khupe zum Klezkamp. Klezmer-Musik in New York. Buch + CD (BCD-PIR1362)

„Meine erste Begegnung mit Klezmer-Musik war eigentlich rein zufällig“, schreibt die Herausgeberin dieser spannend aufbereiteten und dokumentierten Sammlung von Aufnahmen aus den Jahren 1908 (in Worten neunzehnhundertacht) bis 1999. „Vor zehn Jahren schenkte mein Bruder mir eine CD zum Geburtstag. Sie hieß SHVAYGN = TOYT und stammte von einer Gruppe, die sich THE KLEZMATICS nannte. […] Ich fand Gefallen an der gleichzeitig vertraut und fremdartig klingenden Musik und wollte herausfinden, was sich hinter dem Namen der Band verbarg. […] Ich hatte damals gerade angefangen, Musikethnologie an der FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN zu studieren, und Klezmer-Musik wurde zu einem meiner Hauptforschungsthemen.Zu meiner Überraschung stellte ich zu Beginn meiner Recherchen fest, daß in Deutschland bereits eine rege Klezmer-Szene existierte. Wenn man in Berlin die Veranstaltungskalender durchsieht, findet man bis heute fast täglich ein oder sogar mehrere Konzerte, die unter ‚Klezmer’ angekündigt werden. Eine regelrechte Klezmer-Welle hat Deutschland seit Mitte der achtziger Jahre durchzogen. Der erste Künstler, der bei uns Klezmer-Musik auf die Bühne brachte, war in den frühen achtziger Jahren der Klarinettist GIORA FEIDMAN. Er hat mit seiner besonderen Interpretationsweise durch zahlreiche Konzerte und Workshops die deutsche Klezmer-Szene bei Publikum wie Musikern nachhaltig geprägt. […] Gegen Ende der achtziger Jahre wurden erstmals Klezmer-Gruppen aus den USA, unter ihnen auch THE KLEZMATICS, zu Konzerten und Festivals nach Deutschland eingeladen. Ihre Musik klang anders als die von GIORA FEIDMAN.

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Lauter, wilder, frecher kamen sie daher: junge amerikanische Musiker unterschiedlichster Herkunft […] Fasziniert von der Musik besuchte ich jedes Konzert, Seminar und jeden Tanzworkshop, die besonders in Berlin reichlich stattfanden. Mit der Zeit bekam ich immer mehr den Eindruck, daß Klezmer-Musik in den USA etwas anderes bedeutete als in Deutschland. Die Musiker sprachen von einem ‚Revival’ der musikalischen Traditionen aus Osteuropa. Viele von ihnen spielten nicht nur die Musik, sie waren auch mit reger Forschungsarbeit beschäftigt. In Gesprächen mit ihnen begann ich zu erahnen, daß es hier nicht nur darum ging, gute Musik zu spielen. Wie verwoben und vielschichtig die Klezmer-Tradition, ihre Hintergründe und gegenwärtigen Zusammenhänge sind, sollte mich immer wieder überraschen. […] Auf meine vielen Fragen fand ich in Berlin

keine Antworten, und mir wurde klar, daß ich sie in den Vereinigten Staaten selbst suchen mußte. Kurzentschlossen machte ich mich auf den Weg und verbrachte mehrere Monate zur Recherche in New York.“ (Aus dem umfangreichen Buch zur CD).

Darius Milhaud: Le Bœuf sur le toit u.a. (Philips 432 513-2)

Dieses Stück – übersetzt: Der Ochse auf dem Dach – ist ein wahres Feuerwerk. Vor allem in der revidierten Fassung für Violine und Orchester von 1962, zu der der Schweizer Arthur Honegger eine Kadenz beigesteuert hat. Gidon Kremer spielt den Solopart auf der erwähnten Aufnahme. Ich finde, die Musik nutzt sich auch nach mehrmaligem Hören nicht ab, im Gegenteil. Sie ist so witzig, so leidenschaftlich – wie der Karneval von Rio, wie ich ihn mir aus Büchern und Filmen vorstelle. Der Vergleich hinkt keineswegs: Denn Milhaud, einer der sechs Jünger um Erik Satie, war von 1916 bis 1918 französischer Gesandtschaftssekretär in Rio de Janeiro. Kurz nach seiner Rückkehr schrieb er das Werk nieder, spürbar angeregt durch die Eindrücke aus Brasilien. So hat Milhaud, nach eigener Aussage, „ein paar volkstümliche Tangos, Maxixes, Sambas, ja sogar einen portugiesischen Fado zusammengestellt und sie dann mit einem rondoartigen Thema arrangiert […]“. Auch den Titel übernahm er von einem brasilianischen Volkslied. Die Komposition stellte er sich „als Begleitmusik zu einem von Charlie Chaplins Filmen“ vor.

Klaus Renft: Unbequem woll’n wir sein. Raritäten aus den Jahren 1971–1975 (Marktkram BF 01052)

Vor einigen Jahren besorgte ich mir für ein musik-wissenschaftliches Seminar Klaus Renfts Autobiografie Zwischen Liebe und Zorn. Dieses Buch gehört neben der Biografie von Rio Reiser zu jenen, die ich in einem Atemzug gelesen habe: Da wird Musikgeschichte als Zeitgeschichte anhand von Menschen lebendig, die beharrlich ihren eigenen Weg beharrlich gegen den Strom zu verteidigen suchten. Nicht gerne stimme ich in den Kanon jener ein, die Renft eine Legende nennen. Legenden gelangen allzu rasch auf einen Sockel und müssen dort schmoren, zu Zeitzeugen der Vergangenheit abgeschoben. Doch Renfts gesell-schaftskritische Lieder – zu DDR-Zeiten entstanden und aufgenommen – sind für mich vor allem lebendig. Zur CD gibt es auch eine Interview-DVD (Marktkram BF 01059): Die damals Beteiligten erzählen die Geschichten, die sich für sie mit den einzelnen Titeln verbinden.

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James Kok: Jazznocrazy (Edition Café Berlin, Best.-Nr.: 01512) Wenn James Kok und sein Orchester Anfang der 1930er Jahre im Berliner Mokka Efti aufspielten, dann geriet der Saal schnell zum Kochen. Die Musiker waren etwas Besonders in der Weltstadt. Horst H. Lange, Plattensammler und Jazzexperte, beschrieb James Kok als den „Swingklassiker Deutschlands“. Er sei „mit seinen Mannen allen anderen Bands überlegen“ gewesen. Augen- und Ohrenzeugen berichten immer wieder fasziniert von seinen Auftritten, die weit über musikalische Eindrücke hinausgereicht hätten: Sie seien wahre Bühnenshows gewesen, Spektakel aus Musik, Lichteffekten, Gesangseinlagen und schauspielerischen Szenen. 1933 erhielten James Kok und sein Orchester einen Plattenvertrag bei der Deutschen Grammophon. Die Aufnahmen boten ein breites Spektrum an Unterhaltungsmusik. Dass dabei kommerzielle Unterhaltungsmusik einen überaus großen Rahmen einnahmen, haben viele Jazzanhänger bedauert. Viel ist darüber spekuliert worden, ob die bekannte Schallplattenfirma zuallererst an ihren Umsatz dachte oder ob sie Sanktionen wegen zu „heißer Musik“ fürchtete, zumal in den ersten Monaten nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, in denen es immer wieder zu überstürzten Maßnahmen gekommen war.

James Kok sah die Zukunft des Jazz in Deutschland nach 1933 kaum für gefährdet an, im Gegenteil. In einem Zeitungsinterview im Oktober 1934 äußerte er zuversichtlich: „Heute sieht man uns und unsere Musik mit etwas anderen Augen an als noch vor ein paar Augen.“ Kaum zu glauben, dass im gleichen Artikel in einer deutschen Zeitung besonders der völkerverbindende Charakter des Jazz hervorgehoben wurde. James Kok fühlte sich in seiner Zuversicht wohl noch gestärkt, als die Deutsche Grammophon Anfang 1935 eine neue Serie startete mit der Bezeichnung Dunkelrot-Etikett und als erste Aufnahmen On the Alamo und den Tiger Rag mit James Kok produzierte. Im februar und April 1935 folgten zwei weitere Platten mit den Musikern: die eine enthielt die Titel Harlem und Jungle Jazz, die andere Jazznocrazy und White Jazz. (Sie sind auf der genannten CD enthalten.) Doch bald

danach erhielt James Kok, der nach nationalsozialistischen Kategorien als „Halbarier“ galt, Berufsverbot. Sein Bekenntnis zu dem englischen Orchester Jack Hylton hatte ihn zusätzlich in Ungnade fallen lassen. Wenig später wurde er in „Juden-Lexika“ denunziert. Er löste sein Orchester auf und verließ schließlich das Land, sehr wahrscheinlich nach Rumänien, wo er geboren worden war.

Heitor Villa-Lobos: Brasilianische Impressionen (VKJK 0205)

Die Musik des Brasilianers Heitor Villa-Lobos wirkt spontan und unerwartet. Mit entwaffnender Ursprünglichkeit scheint sie den Gesetzen der Zivilisation zu widerstreben, die die Menschheit zu Marionetten ihrer Selbst werden lässt und in wachsende Sprachlosigkeit treibt. Sie zehrt stattdessen von dem unverstellten Lebensgefühl, das der Komponist als Bohemien auf den Straßen und Plätzen, in den Cafés und Kneipen von Rio de Janeiro in vollen Zügen genießt, und nimmt die Spannungen von großstädtischer Atmosphäre und unbeirrter Weite der Amazonaslandschaft in sich auf. Unkonventionell verlief die Entwicklung des 1887 Geborenen: Er war weder ein „Wunderkind“ noch besonders fleißig. Als Kind wurde er zum Lernen sogar von den Eltern am Stuhlbein festgebunden, da ihn die Eindrücke in der Welt draußen stärker reizten als Weisheiten aus Büchern. Gern spazierte er stundenlang durch die Stadt und lauschte fasziniert den „Chôro“-

Spielern. (Die Chôro-Ensembles bestanden zu dieser Zeit noch überwiegend aus zwei Gitarren, Ukulele und gelegentlich einer Flöte. Später kamen, unter dem Einfluss des Jazz, andere Instrumente wie Klarinette, Trompete, Saxophon und Schlagzeug hinzu). Bald mischte sich Villa-Lobos selbst unter

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die Musiker, trat in Gasthäusern und Kinos auf oder tingelte mit einer Wanderbühne durch die Lande. Künstlerische Anregungen und Fertigkeiten, die der dabei sammelte, prägten ihn nachhaltiger als Unterweisungen am Konservatorium, für die ihm Interesse und Ausdauer fehlten. Ein Musikstudium in Rio de Janeiro brach er nach einiger Zeit ab, nachdem er immer wieder durch Examina gefallen war, zuletzt durch die Harmonielehre-Prüfung: Er hatte keine Lust, die geforderten Aufgaben zu lösen. Stattdessen schrieb er das Klausurblatt mit kühnen kompositorischen Einfällen voll. Dass dabei eine ausgesprochene Begabung zutage tritt, machte die verweigerten akademischen Anforderungen bei den Prüfenden nicht wett. Die Zahl der Werke von Villa-Lobos wird meist mit 800 bis 1000 angegeben. Sie dürfte aber letzten Endes geringer ausfallen, da die Werkverzeichnisse des Komponisten auch geplante, jedoch nie ausgeführte Arbeiten enthalten. Dennoch verbleibt eine imponierende Fülle an Stücken in fast allen Gattungen und Besetzungen: Filmmusik, Sinfonien, Lieder, Oratorien, Ballette, Kammermusik, Konzerte sowie Werke, die sich den üblichen Rastern nur schwer zuordnen lassen. Überhaupt versagen tradierte Normen bei der Beschreibung der musikalischen Sprache Villa-Lobos’. Mich berühren immer wieder die Cinq Préludes für Gitarre von 1940, vor allem in der Interpretation von Carola Christoph auf der vorliegenden CD. Im Unterschied zu anderen Interpreten, die vor allem virtuos brillieren, empfindet sie die Stücke als poetische Ausdruckskunst.

Helge Schneider: Hefte raus – Klassenarbeit! (548 094-2)

„Wenn Weihnachten ist, wenn Weihnachten ist, dann kommt zu uns der …“? Richtig, richtig, popichtig: „… Null Null Schneider, Null Null Schneider, Schneider – Schneider ist gut!“ Dieses Lied habe ich in meiner letzten Gehörbil-dungsstunde in diesem Jahr als Notationsübung diktiert, mit pädagogischem Hintergrund, denn die Weise wechselt vom 4/4- zum 3/4-Takt und zudem von Dur zur Pentatonik. Das hat man selten. Aber dieses Lied ist auf der CD Hefte raus – Klassenarbeit! nicht enthalten. Es kann ja nicht alles drauf sein. Aber dennoch ist die CD eine gute CD, denn der Schauspieler, der Helge Schneider auf dieser Scheibe spielt, ist er selbst, so wie auf anderen CDs auch. Sogar, wenn er mit anderen singt, bleibt er immer er selbst, zum Beispiel mit Elvis, mit dem er Casenclow übt und leicht vergeblich an der Aussprache feilt. Oder wenn er über Beethoven nachdenkt. Sie wissen: „tatatataaah“. Die Vorlesung über den berühmten

Musiker, dessen Tod laut Schneider ja auf einem Versicherungsbetrug beruhen soll, höre ich mir immer wieder an. Solche originellen Gedanken liest man in einschlägigen Büchern über den Romantiker sonst nicht. Helge Schneider sollte Ehrendoktor der Universität Leipzig werden, für seinen Brückenschlag zwischen Historischer und Systematischer Musikwissenschaft und überhaupt sein Denken und Fühlen abseits jeglicher Kategorien. Was ist sonst noch drauf auf der CD? Die Vogelhochzeit. Kennen Sie bestimmt. Aber Sie kennen das Lied in der völlig irrsinnigen Version „Ein Vogel wollte Hochzeit machen“. Treffend bemerkt Helge Schneider, dass „ein“ Vogel niemals Hochzeit machen kann: Es müssen wenigstens zwei Vögel sein. Und auch neue Strophen können Sie hören, zum Beispiel über die Alaskaschneegans, die den längsten Weg hat, oder die Amsel oder den Tukan. Fideralala. Auf der zweiten CD gefällt mir besonders das Huhnlied. Es handelt sich dabei um eine klassische Bel-canto-Arie, eingebunden in eine dramatische Handlung, mit Dachlatte 16 und Kartoffelsalat. Besondere Brisanz erlangt die Szenerie durch die Fluchtszene, in der auch ein Frosch auftritt.

T. S., 22.12.2007