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Forschungsinstitut zur Zukunft der ArbeitInstitute for the Study of Labor
IZA Standpunkte Nr. 85
Digitalisierung und Arbeitsmarkt:Aktuelle Entwicklungen undsozialpolitische Herausforderungen
Werner EichhorstHolger HinteUlf RinneVerena Tobsch
Juli 2016
Digitalisierung und Arbeitsmarkt:
Aktuelle Entwicklungen und sozialpolitische Herausforderungen
Werner Eichhorst
IZA
Holger Hinte
IZA
Ulf Rinne
IZA
Verena Tobsch
INES Berlin
IZA Standpunkte Nr. 85 Juli 2016
IZA
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Die Schriftenreihe „IZA Standpunkte” veröffentlicht politikrelevante Forschungsarbeiten und Diskussionsbeiträge von IZA-Wissenschaftlern, Fellows und Affiliates in deutscher Sprache. Die Autoren sind für den Inhalt der publizierten Arbeiten verantwortlich. Im Interesse einer einheitlichen Textzirkulation werden Aktualisierungen einmal publizierter Arbeiten nicht an dieser Stelle vorgenommen, sondern sind gegebenenfalls nur über die Autoren selbst erhältlich. Das IZA ist ein privates, unabhängiges Wirtschaftsforschungsinstitut, das als gemeinnützige GmbH durch die Deutsche Post-Stiftung gefördert wird. Zentrale Tätigkeitsfelder sind die intensive For-schungstätigkeit auf allen Gebieten der Arbeitsökonomie und die darauf gründende evidenzbasierte Politikberatung zu Arbeitsmarktfragen. Die Mitglieder des weltweiten IZA-Forschernetzwerks sind den „IZA Guiding Principles of Research Integrity“ verpflichtet.
IZA Standpunkte Nr. 85 Juli 2016
ZUSAMMENFASSUNG
Digitalisierung und Arbeitsmarkt: Aktuelle Entwicklungen und sozialpolitische Herausforderungen
Der vorliegende Beitrag setzt sich mit den Auswirkungen der fortschreitenden Digitalisierung auf unsere Arbeitswelt auseinander. Nach einer Diskussion möglicher Folgen dokumentiert eine empirische Bestandsaufnahme den bereits einsetzenden Wandel der Berufe und Erwerbsformen sowie die Rolle der Plattform‐Ökonomie (u.a. mit dem Phänomen der „Solo‐Selbständigkeit“). Aus diesen Überlegungen werden aktuelle und künftige sozialpolitische Herausforderungen abgeleitet und Lösungsansätze diskutiert, um den Wandel gesellschaft-lich fair zu gestalten. JEL-Codes: J08, J24, O33, O38 Schlagworte: Digitalisierung, Roboter, Automatisierung, Zukunft der Arbeit, Industrie 4.0,
technischer Wandel, Sharing Economy, Plattform-Ökonomie, Arbeitsmarkt, Sozialstaat
Kontaktadresse: Werner Eichhorst Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) Schaumburg‐Lippe‐Straße 5‐9 53113 Bonn Deutschland E-mail: [email protected]
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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1 Einleitung
Die fortschreitende Digitalisierung von Prozessen und Arbeitsabläufen beeinflusst bereits
heute unser tägliches Handeln – so etwa die Art unserer Kommunikation und unseres sozialen
Umgangs, insbesondere aber auch die Funktionsweise unseres Wirtschaftens und Arbeitens.
Wie wird dies erst künftig sein? Spekuliert und diskutiert wird in diesem Zusammenhang über
zahlreiche mögliche, kurz- wie langfristige Folgen. Ein zentraler Aspekt sind wachsende
Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt, welche sich unter anderem in der Lohnspreizung
sowohl am unteren als auch am oberen Rand der Lohnverteilung ausdrücken – aber auch in
der Dualisierung des Arbeitsmarktes via atypischer oder „prekärer“ Beschäftigung, in der
Ersetzbarkeit menschlicher Arbeit durch Roboter und Maschinen sowie in neu entstehenden
Arbeitsformen in der sogenannten Plattform-Ökonomie.
In der einschlägigen Literatur werden hauptsächlich vier Erklärungsfaktoren für die Zunahme
der (wahrgenommenen oder tatsächlichen) Unsicherheiten und Ungleichheiten in der
Arbeitswelt angeführt. Neben dem technischen Fortschritt mit den Phänomenen der
Digitalisierung und Automatisierung sind dies vor allem die Globalisierung mit den Tendenzen
zum Outsourcing und Offshoring (vgl. u.a. Autor et al., 2016), die Flexibilisierung bzw.
Deregulierung mit einem Rückgang der Tarifbindung und einer Liberalisierung flexibler
Erwerbsformen (vgl. u.a. Eichhorst/Tobsch, 2015) sowie das Aufkeimen zahlreicher neuer
Internetplattformen, die virtuelle Marktplätze von Privatanbietern oder Gruppen erschaffen
und so Ausgangspunkte für ein neuartiges Angebot von Dienstleistungen aller Art sind, das
Marktlücken ausfüllt und so auch die Nachfrage stimuliert (vgl. u.a. Eichhorst/Spermann,
2015). Obgleich unser Augenmerk im Folgenden in erster Linie auf dem Zusammenspiel von
Digitalisierung und Erwerbsformen liegt, sollte beachtet werden, dass die oben genannten
Faktoren in Wechselbeziehungen zueinander stehen und dass sich ihre Folgen in der Regel
gegenseitig verstärken.
Die öffentliche Debatte bewegte sich jüngst sehr stark im Umfeld möglicher Negativfolgen des
technischen Fortschritts, etwa in Form einer zunehmenden sozialen Ungleichheit, eines
massenhaften Verlustes von automatisierbaren Arbeitsplätzen oder einer wachsenden
Dominanz von Kapitaleinkommen gegenüber den Erlösen aus menschlicher Arbeit. In diesem
Zusammenhang stellt die Automatisierung nicht zuletzt auch die Frage nach der Kapital- und
Gewinnbeteiligung von Beschäftigten völlig neu (vgl. Freeman, 2015). Durch die weitere
Integration industrieller Produktion und neuester Kommunikationstechnologien im Zuge einer
„Industrie 4.0“ (vgl. BMWi, 2015; Hirsch-Kreinsen, 2016) gewinnen die bereits heute zu
beobachtenden Veränderungen für fast jeden Beschäftigten eine noch größere Relevanz.
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass die rapide Digitalisierung verschiedener
Arbeitsbereiche eine bedeutende strukturelle Veränderung der Beschäftigungsmöglichkeiten
zur Folge haben wird (vgl. Brynjolfsson/McAfee, 2011), erscheint es ratsam, insgesamt
Vorsicht bei der Einschätzung der Geschwindigkeit von signifikanten Änderungen in der
Arbeitswelt walten zu lassen (vgl. Eichhorst et al., 2015). Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts
sorgten sich englische Textilarbeiter („Ludditen“) um die Auswirkungen der industriellen
Revolution, was in der gezielten Zerstörung von Maschinen gipfelte (vgl. Hobsbawm, 1952).
Auch Keynes warnte in den 1930er Jahren vor „technologischer Arbeitslosigkeit“, die sich
infolge des beschleunigten technischen Fortschritts weit verbreiten werde (vgl. Keynes, 1930).
Und vor rund 20 Jahren war die Vorhersage einer raschen Dominanz der digitalen Welt so
populär, dass bereits von einem „Ende der Arbeit“ gesprochen wurde (vgl. Rifkin, 1995) – ohne
dass sich dies in der Folge bewahrheitet hätte.
Die bisherigen Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT)
haben jedoch bereits heute eine enorme Bedeutung für das tägliche soziale und berufliche
Leben und lassen weitere substanzielle Veränderungen erwarten. Eine viel beachtete Studie
unterstellt beispielsweise, dass rund 47% der gesamten Beschäftigung in den Vereinigten
Staaten zumindest mittelfristig (d.h. in den nächsten 10 bis 20 Jahren) davon bedroht ist,
durch Maschinen, Roboter und Computerprogramme ersetzt zu werden (vgl. Frey/Osborne,
2013). Andere Untersuchungen deuten allerdings eher darauf hin, dass weder der
technologische Fortschritt im Allgemeinen, noch die Digitalisierung im Speziellen menschliche
Arbeitskraft in massivem Umfang ersetzen werden, sondern – wie in anderen Epochen auch –
die nicht mehr zeitgemäßen Arbeitsformen durch neue ersetzt werden (vgl. u.a. Eichhorst et
al., 2013; Eichhorst/Buhlmann, 2015; Rinne/Zimmermann, 2016).
Die vor uns liegende, noch nicht in allen Aspekten genau abschätzbare technologische
Neuorganisation der Arbeitswelt wird in jedem Fall erhebliche Auswirkungen auf
Produktionsfaktoren, Berufe und Erwerbsformen haben. Im Ergebnis entstehen neue Risiken
für einzelne Arbeitsmarktsegmente, aber es eröffnen sich auch vielfältige Chancen und
Potenziale, die im günstigsten Fall sogar für eine Überkompensation der wegfallenden
Arbeitsplätze sorgen könnten. Allein für Deutschland wird das Wachstumspotential durch
Industrie 4.0 in einem positiven Szenario bis zum Jahr 2025 auf 425 Milliarden Euro geschätzt
(vgl. Roland Berger, 2015). Es stellt sich in diesem Zusammenhang jedoch die Frage, inwieweit
diese mutmaßlich erzielbaren Wohlfahrtsgewinne ohne politische Maßnahmen (z.B. zur
Stärkung der Mitarbeiterbeteiligung) zu ungleich verteilt werden und einzelne Gruppen einem
erhöhten Risiko ausgesetzt sein werden, Leidtragende einer immer stärkeren Polarisierung
des Arbeitsmarktes zu sein. Mit anderen Worten: Über die Gestaltung der digitalen
Arbeitswelt hinaus werden wir wohl vor erheblichen sozialpolitischen Herausforderungen
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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stehen, um die gesellschaftliche Chancengleichheit ebenso wie die steigenden
Beschäftigungsrisiken bestmöglich abzusichern.
Der vorliegende Betrag skizziert zunächst die Dynamik der Digitalisierungsprozesse und nimmt
eine empirische Bestandsaufnahme zum Wandel der Erwerbsarbeit im Verlauf der letzten
beiden Jahrzehnte vor. Dabei wird auch die Rolle der neuen Plattform-Ökonomie diskutiert.
Im Anschluss werden die zentralen sozialpolitischen Handlungsfelder benannt.
2 Mögliche Auswirkungen der Digitalisierung
Die Digitalisierung der Arbeitswelt lässt sich als ein tiefgreifender Prozess der Durchdringung
von Wertschöpfungs- und Dienstleistungsprozessen durch vor allem internetbasierte
Technologien begreifen. Er führt unter anderem dazu, dass sich ganze Arbeitsfelder in
Teilmodule zerlegen, automatisieren und flexibel miteinander vernetzen lassen. Auf diese
Weise können sowohl lokale als auch weltumspannende Produktionsketten leichter
zueinander kompatibel gemacht und somit weit effizienter organisiert werden; Routinen
lassen sich in die Hand intelligenter Maschinen legen und auf diese Weise optimieren. An
anderer Stelle schafft die Digitalisierung anspruchsvolle Aufgabenfelder der Prozesskontrolle,
Koordination und kreativen Gestaltung.1
Über die möglichen Auswirkungen der Digitalisierung mit Blick auf die Beschäftigung herrscht
noch erhebliche Ungewissheit. Es gibt international sowohl empirische Belege für die
Annahme, der flächendeckende Einsatz von Robotern führe zu einer Aufwertung aller
Qualifikationsstufen („Upgrading“) als auch für die These, das mittlere Qualifikationssegment
werde zum eigentlichen Opfer der digitalen Arbeitswelt, indem es auf das Niveau einfacher
Tätigkeiten herabgedrängt werde, während hohe Qualifikationsebenen in noch stärkerem
Maße die Gewinner darstellten (Polarisierung; vgl. Rinne/Zimmermann, 2016).
Bei näherer Betrachtung – die im nachfolgenden Abschnitt noch vertieft werden soll –
erscheint es tatsächlich eher naheliegend, dass vor allem mittlere Qualifikationsstufen von der
Digitalisierung negativ betroffen sein werden, als dass angesichts der ohnehin schon sehr
weitreichenden Rationalisierung einfacher Tätigkeiten nochmals geringer qualifizierte
Arbeitsplätze in massivem Umfang wegbrechen werden. Dessen ungeachtet stellt der Prozess
der Digitalisierung insbesondere die Weiterbildungswirtschaft vor eine immense
Herausforderung. Denn das „Upgrading“ von Qualifikationen – hier gemeint die Befähigung
zum Einsatz komplexer Technologien – setzt die entsprechenden betrieblichen wie
außerbetrieblichen Qualifizierungsangebote voraus. Dabei kann sich die Branche allerdings
1 Brynjolfsson/McAffee (2014) benennen drei maßgebliche Merkmale des technischen Fortschritts in der Ära digitaler Hardware, Software und Netzwerke: Er sei „exponentiell, digital und kombinatorisch“.
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just auch die Vorteile der Digitalisierung zunutze machen. Smartphone- und Tablet-basierte
Weiterbildungsmodule können einen wertvollen Beitrag zur Organisation des dringend
erforderlichen kontinuierlichen Lernens leisten.
In jedem Fall werden mit der Digitalisierung auch Trends auf dem Arbeitsmarkt ihre
beschleunigte Fortsetzung finden, die bereits für die jüngere Vergangenheit prägend waren.
Gemeint ist hier vor allem die Flexibilisierung in Form von individuell zugeschnittenen Werk-
oder Zeitarbeitsverträgen, Solo-Selbstständigkeit und multiplen Jobs. Im Verlauf der
Digitalisierung neu entstehende Arbeitsplätze dürften mit nur unter bestimmten
Voraussetzungen als klassische Normalarbeitsverhältnisse mit langfristiger
Beschäftigungsperspektive, tarifvertraglicher Eingruppierung und voller sozialer Absicherung
konzipiert werden. Denn die Unternehmen werden durch den Einsatz neuer Technologien
leichter denn je in die Lage versetzt, Arbeitsmodule bei Bedarf auch kurzfristig extern
zuzukaufen, generell stärker in Kategorien von befristeter Projektarbeit in temporär
agierenden Netzwerken zu denken und ihre Kernbelegschaft in denjenigen Segmenten, wo
kein Fachkräftemangel herrscht, auf ein gewünschtes Mindestmaß zu konzentrieren.
Die digital ermöglichte Zergliederung von Aufgaben und Tätigkeitsprofilen schafft zugleich
einen unmittelbaren Anreiz zum Aufbau einer dezentralen Plattform-Ökonomie:
Einzelanbieter offerieren ihre Dienstleistungen im Rahmen eines professionell organisierten
Internet-Portals und erzeugen auf diese Weise einen intensiven Wettbewerb. Die Vermittlung
der angebotenen Dienstleistungen erfolgt online und über Smartphone-Apps, kann also
jederzeit nahezu barrierefrei erfolgen. Angebote wie Uber als Vermittler für
Fahrdienstleistungen oder auch TaskRabbit oder Helpling als Vermittler für
(nachbarschaftliche) Dienstleistungen aller Art und handwerkliche Tätigkeiten zeigen, wie
schnell und wie erfolgreich solche Geschäftsmodelle ihren Aufstieg nehmen können. Ein
weiteres Beispiel ist Airbnb als virtueller Marktplatz für die Buchung und Vermietung von
Unterkünften. Die Auswirkungen dieses neuen Angebotes spüren dann nicht nur
Wettbewerber in der Hotelbranche, sondern Effekte zeigen sich auch im Immobilienmarkt.
Die Plattform-Ökonomie findet ihre Grenze also keineswegs bei einfachen Dienstleistungen.
Hochwertige Beratungstätigkeiten und Arbeitsmodule von hochgradig spezialisierten
Experten zählen prinzipiell ebenso zum Katalog der Möglichkeiten. Deshalb ist auch
keineswegs bereits ausgemacht, dass die digitale Arbeitswelt von morgen verstärkt
„Lohndumping“ betreiben wird und die Unternehmen nur noch Niedriglöhne für gute Arbeit
anzubieten bereit sein werden. Im Gegenteil: Es dürften sich sehr bald Fragen wie diejenige
nach einer systematischen Mitarbeiter-Kapitalbeteiligung anders und drängender stellen als
je zuvor. „Who owns the robots rules the world“ (Freeman, 2015) – ist es dann nicht nur
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folgerichtig, wenn die Beschäftigten in und um das Unternehmen herum vom Einsatz der
Roboter auch durch innovative Kapitalbeteiligungsmodelle profitieren?
Es liegt auf der Hand, dass all dies unmittelbare Konsequenzen auch für die Reichweite und
Tragfähigkeit von Tarifverträgen haben wird. Ebenso leuchtet ein, wie sehr solche digital
unterstützten Arbeitsformen den gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der Industrie
unterminieren könnten (vgl. Eichhorst et al., 2015). Nicht zuletzt wird an dieser Stelle deutlich,
dass sich damit Fragen der sozialen Absicherung ganz neu stellen. Es ist nicht
unwahrscheinlich, dass am „Ende“ des Digitalisierungsprozesses auch eine neue
„(Sozial-)Versicherungslandschaft 4.0“ entstanden sein wird, die elementare Merkmale einer
Bürgerversicherung aufweist und jede Beschäftigungsform – vom Selbstständigen und
Beamten bis hin zum Plattform-Unternehmer in eigener Sache – einschließt. Dieser Schritt
erscheint naheliegend, wenn sich die Grenzen zwischen den Erwerbsformen zunehmend
auflösen. Für viele Erwerbstätige sind die traditionellen Klassifikationen als „abhängig
Beschäftigte“ oder „Selbstständige“ schon heute nicht mehr richtig passend. Abschnitt 4 geht
hierauf näher ein.
3 Eine empirische Bestandsaufnahme
Welche Auswirkungen der Digitalisierung sind bereits heute zu beobachten? Welche weiteren
Folgen zeichnen sich schon jetzt ab? Auf Grundlage aktueller Daten und Forschungsergebnisse
gibt die folgende kurze Bestandsaufnahme Antworten auf diese Fragen. Es zeigt sich, dass die
digitalisierte Arbeitswelt längst keine Utopie mehr ist, sondern schon seit Jahren Einzug in den
Alltag von immer mehr Berufsfeldern hält. Insofern ist die Digitalisierung eher als ein
langfristig voranschreitender Prozess denn als eine kurzfristig bevorstehende Umwälzung zu
verstehen. Ihre Effekte lassen sich dennoch bereits heute klar empirisch belegen – allerdings
fallen diese häufig (zumindest bislang) weit weniger dramatisch aus als gemeinhin vermutet.
3.1 Wandel der Berufe und Berufsbilder
Bisherige Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen der Entwicklungen in der IKT zeigen
bereits konkret den Wandel traditioneller Berufe und Berufsbilder. Formale Qualifikationen
erscheinen nicht mehr als das entscheidende Kriterium für eine zukunftssichere Karriere.
Global betrachtet führt eine zunehmende Automatisierung von Arbeitsprozessen tendenziell
zu einer Polarisierung der Arbeitsmärkte und einer Verdrängung von Arbeitnehmern aus dem
mittleren Qualifikationsniveau (vgl. etwa Autor et al., 1998; Acemoglu/Autor, 2011).
Es ist zudem absehbar, dass die fortschreitende Integration von Produktionsprozessen und
Kommunikationstechnologien im Rahmen einer Industrie 4.0 weitere bedeutende
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Umstrukturierungen nach sich ziehen wird (vgl. Graetz/Michaels, 2015). Von zukünftigen
Rationalisierungsmaßnahmen werden wohl vor allem Berufe bedroht sein, die sich durch hohe
Anforderungen in den Bereichen Präzision und insbesondere Routine auszeichnen (vgl. Goos
et al., 2014). Hier sind Maschinen den Menschen überlegen. Zukunftssichere
Beschäftigungsfelder zeichnen sich dagegen wohl vor allem durch hohe Anforderungen in den
Bereichen Kreativität, soziale Intelligenz und unternehmerisches Denken aus.
Eine Übertragung der oben erwähnten Studie von Frey/Osborne (2013) auf den deutschen
Kontext liefert – zumindest vordergründig – ähnliche Resultate für das
Automatisierungspotenzial von Arbeitsplätzen wie in den Vereinigten Staaten (vgl. Bonin et
al., 2015). So wird bei einem analogen Vorgehen anhand von Experteneinschätzungen
ermittelt, dass der mittelfristig von Maschinen, Robotern und Computerprogrammen
bedrohte Anteil der Beschäftigung mit 42% nur unwesentlich geringer ausfällt als in den USA.
Ein alternativer, tätigkeitsbasierter Ansatz zeichnet jedoch ein weniger dramatisches Bild:
Demnach weisen nur 12% der Arbeitsplätze in Deutschland ein relativ hohes
Automatisierungsrisiko auf (und 9% der Arbeitsplätze in den Vereinigten Staaten; vgl. Bonin
et al., 2015).2 Ähnlich lautet das Ergebnis der Berechnungen von Dengler/Matthes (2015),
wonach 15% der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2013 in einem Beruf
arbeiteten, der in hohem Maße durch Computer substituiert werden kann. Auch wenn dieser
Prozentsatz in seiner Dimension nicht gering geachtet werden darf, ist doch eine gewisse
Vorsicht bei der Beurteilung des technischen Automatisierungspotenzials angemessen – seine
negativen Arbeitsmarkteffekte werden bisweilen stark überschätzt.
Die Veränderungen in der quantitativen Bedeutung von Berufen in Deutschland folgen
unbestreitbar einem langfristigen Trend (vgl. auch Eichhorst/Buhlmann, 2015; Eichhorst et al.,
2015). So zeigt Abbildung 1, dass sich das Wachstum der Erwerbstätigkeit im Zeitraum von
1996 bis 2011 auf vergleichsweise wenige Berufsgruppen konzentriert hat. Zu den
Berufsgruppen mit einer relativ starken Zuwachsrate von mehr als 20% gehören die folgenden
Berufsgruppen: personenbezogene Dienstleistungsberufe und Sicherheitsbedienstete (in
Abbildung 1 die Berufsgruppe 51), Hilfsarbeitskräfte im Verkauf und bei Dienstleistungen (91),
biowissenschaftliche und Gesundheitsfachkräfte (32), nicht-wissenschaftliche Lehrkräfte (33),
sonstige Wissenschaftler (24), sonstige Fachkräfte mittlerer Qualifikation (34), Geschäftsleiter
(12), Physiker, Mathematiker und Ingenieurwissenschaftler (21) sowie Biowissenschaftler und
Mediziner (22). Umgekehrt weisen im selben Beobachtungszeitraum folgende Berufsgruppen
2 Ähnliche Ergebnisse liefert eine Analyse für 21 OECD-Länder (vgl. Arntz et al., 2016). Demnach sind im Schnitt (nur) 9% der Jobs in diesen Ländern nach einem tätigkeitsbasierten Ansatz automatisierbar. Allerdings existieren relativ große Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. So führen Deutschland und Österreich die Liste mit einem Automatisierungsrisiko von 12% an, während dieser Wert in Korea, Estland oder Finnland nur etwa halb so hoch ausfällt.
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eine vergleichsweise starke negative Wachstumsrate von 10% und mehr auf: Hilfskräfte in der
Landwirtschaft und Fischerei (92), Fachkräfte in der Landwirtschaft und Fischerei (61), diverse
handwerkliche Berufsgruppen (71, 73, 74), Bediener stationärer und verwandter Anlagen (81)
sowie angehörige gesetzgebender Körperschaften und leitende Verwaltungsbedienstete (11).
In diesen Zahlen kommt einerseits der fortschreitende Strukturwandel von
landwirtschaftlichen und handwerklichen Berufen hin zu Berufen im tertiären Sektor zum
Ausdruck. Deutschlands Wandel zu einer Dienstleistungsgesellschaft hat sich in dem
betrachteten Zeitraum dynamisch fortgesetzt. Andererseits wird deutlich, dass gleichzeitig vor
allem Berufsgruppen mit bestimmten Anforderungen – hauptsächlich im tertiären Sektor –
erheblich an Bedeutung gewonnen haben. Zu diesen Anforderungen zählen wie bereits
erwähnt Kreativität (z.B. Wissenschaftler), soziale Intelligenz (z.B. Lehrer) und
unternehmerisches Denken (z.B. Geschäftsleiter).
Abbildung 1: Erwerbstätigkeit in Berufsgruppen (Veränderung in %, 1996-2011).
Quelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen; Berufsgruppen nach ISCO-88 (vgl. Tabelle im Anhang) sortiert nach Medianlöhnen 2010 aus SIAB.
Wie Abbildung 2 veranschaulicht, gehen diese Entwicklungen in der Tat mit einer gewissen
Tendenz zur Polarisierung des deutschen Arbeitsmarktes einher, durch die Arbeitnehmer aus
dem mittleren Lohn- und Qualifikationssegment tendenziell verdrängt werden. Allerdings ist
diese Entwicklung in der Vergangenheit in Deutschland weniger dramatisch verlaufen als in
anderen europäischen Ländern (vgl. Goos et al., 2014; Eurofound, 2015). Gleichwohl ist die
Beschäftigungsentwicklung zwischen 1995 und 2010 für Berufsgruppen am oberen und
unteren Ende der Bruttolohnverteilung stärker positiv ausgefallen, während Berufsgruppen
mit einem mittleren Lohnniveau ein eher schwaches Beschäftigungswachstum zu verzeichnen
-40%
-30%
-20%
-10%
0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
92 51 91 93 52 61 42 74 83 71 73 82 32 33 72 41 81 24 34 11 23 31 12 22 21
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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hatten. Exemplarisch für diese Entwicklungen stehen auf der einen Seite die Berufsgruppen
der Wissenschaftler (in Abbildung 2 die Berufsgruppen 21 und 22) mit einem hohen
Lohnniveau und einem sehr hohem Beschäftigungswachstum, auf der anderen Seite
handwerkliche Berufsgruppen (71 und 74) mit mittlerem Lohnniveau und einem recht starken
Rückgang der Beschäftigung im Beobachtungszeitraum. Demgegenüber hatte die
Berufsgruppe der landwirtschaftlichen Hilfsarbeitskräfte (92), obgleich sie am unteren Ende
der Bruttolohnverteilung positioniert ist, ebenfalls einen vergleichsweise starken
Beschäftigungszuwachs zu verzeichnen.
Abbildung 2: Bruttolöhne 1995 und Beschäftigungsentwicklung (1995=100) für einzelne Berufsgruppen, Vollzeitbeschäftigte in Deutschland (1995–2010).
Quelle: SIAB, eigene Berechnungen; Berufsgruppen nach ISCO-88 (vgl. Tabelle im Anhang).
Insofern lässt sich konstatieren, dass sich wichtige Befunde und Prognosen der internationalen
Literatur auch zu einem gewissen Grad in deutschen Daten widerspiegeln. Deutlich wird, dass
vor allem kreative Berufe, Berufe in der Unternehmensleitung und -beratung sowie
Gesundheits-, Sozial- und Erziehungsberufe in den letzten 20 Jahre starke Wachstumsraten
der Beschäftigung zu verzeichnen hatten. Bei einer gleichzeitigen, moderaten Polarisierung
ergibt sich damit das Bild eines Arbeitsmarktes, der durch eine tendenziell rückläufige
Bedeutung von Routinetätigkeiten insbesondere im mittleren Lohn- und Qualifikationsniveau
gekennzeichnet ist.
Allerdings ist an dieser Stelle ebenfalls festzuhalten, dass bislang insgesamt kein Einbruch der
Erwerbstätigkeit festgestellt werden kann – weder in der Gesamtzahl der Erwerbstätigen noch
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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im Arbeitsvolumen.3 Bezahlte Erwerbsarbeit ist also entgegen manchen Vorhersagen nicht auf
dem Rückzug, sondern ihr Ausmaß ist bemerkenswert robust. Insbesondere höher
qualifizierte und komplexere, interaktive Tätigkeiten gewinnen an Bedeutung im Hinblick auf
Erwerbstätigkeit und haben zugleich eine positive Entlohnungstendenz.
3.2 Wandel der Erwerbsformen
Unsere Arbeitswelt ist mehr denn je in Bewegung; sie wird immer vielschichtiger und auch
flexibler. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf Berufe und Berufsbilder, sondern auch auf
unsere Erwerbs- und Arbeitsformen (vgl. Rinne/Zimmermann, 2016). So zählen neben der
verstärkten Projektarbeit auch das vernetzte Arbeiten, Denken und Handeln zu den
bestimmenden Merkmalen der Erwerbsgesellschaft von morgen. Deshalb werden flexible
Arbeitszeitmodelle mit Gleitzeit, Arbeitszeitguthaben, Heimarbeit und variablen
Zeitplanungen eher zum Standard als zur Ausnahme. Die zunehmende Knappheit des
Angebots an (qualifizierten) Arbeitskräften bei gleichzeitig wachsendem Wettbewerbs- und
Innovationsdruck wird weitere Innovationen bei den Arbeitsstrukturen nach sich ziehen.
Flexibilität in der Einteilung der Arbeitszeit oder bei der Wahl des Arbeitsortes wird auch die
Grenze zwischen Privat- und Arbeitsleben in ihrer bislang bekannten Form noch weiter
auflösen – mit wünschenswerten Effekten wie einer besseren Vereinbarkeit von Familie und
Beruf, aber auch mit möglichen negativen Auswirkungen (vgl. etwa Eichhorst et al., 2016).
Im Ergebnis wird das tradierte gesellschaftspolitische Leitbild des
„Normalarbeitsverhältnisses“ im Sinne eines unbefristeten Vollzeitarbeitsplatzes immer
stärker von anderen Erwerbsformen ergänzt. Wie Abbildung 3 zeigt, resultiert dies allerdings
weniger aus einem absoluten Rückgang des Anteils von Normalarbeitsverhältnissen. Zwar ist
dieser Anteil im Beobachtungszeitraum um insgesamt 5 Prozentpunkte zurückgegangen (von
45% im Jahr 1992 auf 40% im Jahr 2014), doch lag dieser Wert bereits seit Mitte der 1990er
Jahre nahezu konstant bei 40%. Bemerkenswert ist vielmehr der recht deutliche Rückgang
des Anteils der inaktiven erwerbsfähigen Bevölkerung um 8 Prozentpunkte (von 26% im Jahr
1992 auf 18% im Jahr 2014) sowie der gleichzeitige Anstieg der Bedeutung anderer, nach
herkömmlicher Lesart „atypischer“ Erwerbsformen wie etwa Teilzeittätigkeiten, befristete
Tätigkeiten, Zeitarbeit und Minijobs. Der Anteil der Arbeitslosen ist dagegen im
Beobachtungszeitraum mit Werten von 6% bis 8% relativ konstant geblieben.
3 So erreichte die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland im Jahr 2015 einen neuen Höchststand seit der Wiedervereinigung mit durchschnittlich rund 43 Millionen Personen (Statistisches Bundesamt, 2016). Das Arbeitsvolumen der in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer stieg zuletzt ebenfalls auf knapp 50 Milliarden Stunden an und hat damit wieder ein Niveau erreicht, welches zuletzt zu Beginn der 1990er Jahre gemessen wurde (IAB, 2015).
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Abbildung 3: Erwerbsfähige Bevölkerung nach Haupterwerbsstatus (1992-2014).
Abbildung 4 beleuchtet die Zunahme der atypischen Beschäftigung in verschiedenen
Berufsgruppen im Zeitraum von 1996 bis 2011 näher. Eine Zunahme dieser
Beschäftigungsformen erfolgte demnach fast durchgängig und in nahezu allen Berufsgruppen.
Ein klarer Zusammenhang zum Lohn- oder Qualifikationsniveau lässt sich nicht ausmachen,
doch es fällt sowohl die überdurchschnittlich hohe Zunahme in einfacher qualifizierten
Segmenten wie auch der besonders hohe Umfang atypischer Beschäftigung in Verkauf und
Verwaltung auf (91: Hilfsarbeitskräfte im Verkauf und bei Dienstleistungen, 11:
Verwaltungsbedienstete). Von einem ausgeprägten Effekt der Digitalisierung kann hier
jedenfalls nicht gesprochen werden.
Wohl aber zeigt sich anhand dieser Daten, wie groß inzwischen in Deutschland die Vielfalt an
Erwerbsformen und Flexibilitätsmustern in einzelnen Berufen und Wirtschaftszweigen geworden
ist. Flexible oder atypische Beschäftigungsverhältnisse sind bislang unverändert vor allem in
Bereichen anzutreffen, in denen Arbeitskräfte leicht verfügbar bzw. ersetzbar sind, aber längst
auch darüber hinaus fester Bestandteil unserer Arbeitswelt. Da dieser Wandel allerdings schon
vor mehr als zwei Jahrzehnten eingesetzt hat und auch stark von institutionellen Reformen
beeinflusst wurde, spielen hier Digitalisierungseffekte allenfalls eine untergeordnete Rolle.
45% 45% 45% 43% 43% 41% 41% 41% 41% 41% 39% 39% 38% 38% 37% 39% 40% 41% 40% 40% 41% 40% 40%
8% 8% 7% 8% 8%8% 8% 8% 9% 9% 10% 10% 10% 10% 10%
11%10% 10% 11% 11% 11% 11% 11%
4% 4% 3% 3% 3%3% 3% 3% 3% 3% 4% 3% 3% 3% 3%
3%3% 3% 3% 3% 3% 3% 3%
5% 4%4% 4% 4%
5% 5% 5% 5% 4% 4%4% 4% 4% 4%
5%6% 6% 6% 6% 7% 7% 7%1% 1% 2% 2% 2% 2%
2%2% 2% 2% 2% 2% 2% 2%1% 1%
2% 2% 2%2% 1% 3% 3% 3% 3% 3% 3% 4% 4%
4%5% 5% 5% 4% 5% 5% 5%6% 6%
6% 6% 6%6% 6%
7% 7% 7% 6% 6% 7% 6% 7%7%
6% 7% 7% 7% 7% 7% 7%
0% 0%1% 1% 1%
1% 1%1% 1% 1% 1% 1% 1% 1% 1%
1%1% 1% 1% 1% 1% 1% 1%
6% 6% 7% 7% 7% 8% 7%6% 5% 6% 7% 7% 8% 8% 8%
7%6% 7% 7% 6% 6% 6% 6%
26% 25% 26% 26% 26% 27% 27% 26% 26% 25% 25% 24% 24% 23% 23% 21% 20% 20% 19% 20% 19% 19% 18%
1 9 9 2 1 9 9 4 1 9 9 6 1 9 9 8 2 0 0 0 2 0 0 2 2 0 0 4 2 0 0 6 2 0 0 8 2 0 1 0 2 0 1 2 2 0 1 4
Vollzeit unbefristet Teilzeit unbefristet Ausbildung BefristetZeitarbeit Minijob Selbständig Arbeitslos und erwerbstätigArbeitslos Inaktiv
Quelle: Eichhorst et al. (2016). Dort anhand von SOEP 1992-2014 (Querschnittsgewichtung für Personen) und eigenen Berechnungen.
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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Abbildung 4: Anteil der atypischen Beschäftigung (Minijob, Befristung, Zeitarbeit, Selbständigkeit; 1996-2011).
Quelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen; Berufsgruppen nach ISCO-88 (vgl. Tabelle im Anhang) sortiert nach Medianlöhnen 2010 aus SIAB.
Umgekehrt scheint die Bereitschaft zu einer auf Dauer angelegten Beschäftigung stark vom
jeweiligen betrieblichen Produktionsmodell und von der Verfügbarkeit spezifischer
Qualifikationen abhängig zu sein. Im Ergebnis ist der Anteil von Normalarbeitsverhältnissen
zumindest seit der Jahrtausendwende bemerkenswert stabil geblieben. Neben einer Zunahme
der atypischen Beschäftigung ist als herausragende Entwicklung auf dem deutschen
Arbeitsmarkt daher nicht etwa ein Rückzug des tradierten gesellschaftspolitischen Leitbildes
zu nennen. Wirklich beachtlich ist wohl eher die Aktivierung eines erheblichen Anteils der
erwerbsfähigen Bevölkerung durch neue Flexibilisierungsangebote: Die Zahl der inaktiven
Personen ist in den letzten 20 Jahren stark zurückgegangen (vgl. dazu auch Arnold et al., 2016).
3.3 Rolle der Plattform-Ökonomie
Es zeichnet sich ein weiterer Wandel mit möglicherweise bedeutenden Auswirkungen ab. So
sprechen verschiedene Indizien für eine größere Rolle der sogenannten Plattform-Ökonomie.
Das Beispiel der Firma Uber zeigt, wie auf einem „virtuellen Marktplatz“ Gelegenheitsfahrer
und Fahrgäste zusammengebracht werden und so das Taxi-Gewerbe erheblich unter Druck
gesetzt wird (vgl. für die Vereinigten Staaten etwa Hall/Krueger, 2015). Das grundlegende
Prinzip lässt sich zudem auf viele andere Branchen übertragen – einschließlich solcher, in
denen vorwiegend Fach- und Wissensarbeiter tätig sind. Entsprechende Plattformen
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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existieren auch bereits: Hier werden zum Beispiel Aufträge für Werbetexter, Programmierer
oder Designer einzeln ausgeschrieben und auch abgewickelt. Interessierte Unternehmen
richten gewissermaßen einen Aufruf an eine „Crowd“ von mehr oder minder professionell via
Plattformen organsierten Anbietern und aquirieren auf diese Weise Zulieferdienste, für die sie
im Betrieb keine Ressourcen an Humankapital oder Maschinen mehr vorhalten müssen (vgl.
zum Phänomen des Crowdsourcing u.a. Leimeister/Zogaj, 2013; Leimeister et al., 2016). Für
die Anbieter der entsprechenden Dienstleistungen bietet sich auf diese Weise vielfach die
gern genutzte Gelegenheit, ihre Arbeitsleistung in einem Format anzubieten, das ihren
Bedürfnissen entspricht. Andere unterwerfen sich notgedrungen solchen Regularien, um mit
ihrem Angebot weiter auf dem Markt bestehen zu können. In jedem Fall sorgt die steigende
Nachfrage von Unternehmen nach Crowdworkern dafür, dass mehr Privatpersonen über
diesen digitalen Weg ihre Dienstleistungen anbieten und damit klassischen
Geschäftsmodellen Konkurrenz machen. Zugleich gerät das Preisgefüge für diese
Dienstleistungen tendenziell unter Druck.
Darüber hinaus erfolgt auch eine Verlagerung von Risiken der Arbeitgeber auf die
Beschäftigten, genauer gesagt auf die meist (formal) selbstständigen Auftragnehmer (vgl.
Eichhorst/Spermann, 2015, 2016). Denn Plattformen wie Uber verstehen sich nicht als
Arbeitgeber, sondern lediglich als Vermittler. Beschäftigte der Plattform-Anbieter sind mithin
keine klassischen Arbeitnehmer, sondern Selbstständige, die sämtliche Risiken – zum Beispiel
bei Unfall oder Krankheit – sowie Leistungen für Altersvorsorge, Arbeitslosigkeit oder Pflege
selbst tragen müssen. Damit ergeben sich neue Herausforderungen für die sozialen
Sicherungssysteme.
Eine Verlagerung unternehmerischer Risiken auf Arbeitnehmer ist jedoch auch innerhalb von
Unternehmen zu beobachten. An die Stelle von Handlungsanweisungen treten zunehmend
Zielvereinbarungen im Rahmen von Projekten oder projektartiger Aufgabenstellungen, die
weitgehend eigenverantwortlich umzusetzen sind; strenge Hierarchien lösen sich auf und
erfolgsabhängige Entlohnungen gewinnen an Bedeutung (Schneider, 2011). Arbeitnehmer
werden auf diese Weise zu Unternehmern im Unternehmen. Dementsprechend wird auch
unternehmerisches Denken immer mehr zu einer Schlüsselkompetenz in der Arbeitswelt von
abhängig Beschäftigten.
Welches Ausmaß hat die Plattform-Ökonomie heute in Deutschland? Eine genaue Antwort auf
diese Frage fällt zugegebenermaßen schwer, auch weil die Verfügbarkeit geeigneter Daten der
tatsächlichen Entwicklung und Realität und auf dem Arbeitsmarkt mit einiger zeitlicher
Verzögerung folgt und bestimmte Phänomene kaum angemessen abgebildet werden.
Abbildung 5 stellt den Versuch dar, das Ausmaß der Plattform-Ökonomie mithilfe von Solo-
Selbstständigkeit und Selbstständigkeit zu messen. Demnach war bei den Solo-
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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Selbstständigen ein starker Anstieg von Mitte der 1990er bis etwa Mitte der 2000er Jahre zu
verzeichnen, insbesondere bei Qualifizierten, Frauen und Teilzeitkräften. Hingegen sind die
Veränderungen der Anzahl und des Anteils von Selbständigen vergleichsweise unauffällig.
Abbildung 5: Entwicklung der Zahl der Solo-Selbständigen, der Selbständigen mit Beschäftigten und Anteil der Selbständigen an allen Erwerbstätigen (1991-2014).
Quelle: Brenke/Beznoska (2016). Dort unter Verwendung von Eurostat-Daten.
Darüber hinaus können im Zeitraum zwischen 2002 und 2005 viele Neugründungen in Form
von Solo-Selbstständigkeit durch die Förderung der „Ich-AG“ und durch die Lockerung des
Handwerksrechts im Jahr 2004 erklärt werden. Neben der kaum identifizierbaren Rolle der
Plattform-Ökonomie in den letzten Jahren kommen in den betrachteten Zahlen daher auch
die Auswirkungen von geänderten institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen zum
Ausdruck. Umgekehrt ist jedoch auch ein Rückgang der Zahl der Solo-Selbständigen seit dem
Jahr 2012 zu verzeichnen – übrigens auch bei denjenigen, die nicht von der Bundesagentur für
Arbeit gefördert werden. Im Ergebnis lassen sich somit – zumindest bislang – keine Hinweise
auf ein (massives) Anwachsen der Solo-Selbstständigkeit anhand der vorliegenden Daten
nachweisen. Der bisherige, eher überschaubare Anstieg scheint eher mit anderen Faktoren als
mit einem Anwachsen der Plattform-Ökonomie zusammenzuhängen und wirkt derzeit nicht
dramatisch.
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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Studien zur Einkommenssituation von Solo-Selbstständigen weisen jedoch auf eine
vergleichsweise hohe Spreizung der Verdienste und eine nur gering ausgeprägte Fähigkeit
oder Bereitschaft zur Altersvorsorge hin (vgl. etwa Brenke 2013, 2015; Brenke/Beznoska,
2016). Eine ähnliche Entwicklung lässt sich im Übrigen bei den Erwerbstätigen beobachten,
die in repräsentativen Befragungen wie dem SOEP angeben, gelegentlich oder regelmäßig
eine Nebentätigkeit auszuüben. Seit den frühen 2000er Jahren gehen nach unseren
Auswertungen des SOEP stabil etwa 2,5 bis 3,0% der Erwerbsfähigen gelegentlich oder
regelmäßig einer Nebentätigkeit nach. Hier werden jedoch vermutlich eher abhängige
Beschäftigungsverhältnisse angegeben, d.h. Minijobs, deren Verbreitung nach ihrer Reform
seit dem Jahr 2003 zugenommen hat.
Bislang steht die Plattform-Ökonomie (als eine Form der Sharing Economy) erst am Anfang
ihrer Entwicklung. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass ihre tatsächliche Bedeutung nicht
nur in Deutschland bislang noch sehr überschaubar ist. So wird selbst in den USA, die in dieser
Hinsicht eine Vorreiterrolle einnehmen, der Anteil der Erwerbstätigen, die ihre
Dienstleistungen über Online-Plattformen wie Uber oder TaskRabbit anbieten, zuletzt auf
lediglich 0,4% bis 0,5% geschätzt (vgl. Katz/Kruger, 2016; Farrell/Greig, 2016; Harris/Krueger,
2015). Gleichzeitig weisen Befragungen von so genannten „Crowdworkern“ darauf hin, dass
in den allermeisten Fällen lediglich Nebentätigkeiten ausgeübt werden, wobei die hieraus
generierten Einkünfte andere Einkommensarten im Haushalt ergänzen. Als zusätzlicher
Nutzen wird der Austausch im Netzwerk vergleichbar qualifizierter und interessierter
virtueller „Kollegen“, der Kontakt zu Unternehmen und der Zugewinn an Erfahrung durch die
Crowd-Projektarbeit angesehen (Leimeister/Zogaj, 2013).
Es ist aber davon auszugehen, dass gerade dieses neue Arbeitsmarktsegment eine sehr
dynamische Entwicklung nehmen und sich zusehends auch auf höherwertigere
Dienstleistungen erstrecken wird. Aufgabe der Sozialpolitik wird es sein, sich frühzeitig genug
auf die damit einhergehenden Herausforderungen einzustellen.
4 Sozialpolitische Herausforderungen
Wenngleich sich derzeit noch kein massives Wachstum der Solo-Selbstständigkeit beobachten
lässt, stellen sich potenziell sozialpolitische Herausforderungen, auf die rechtzeitig Antworten
gefunden werden müssen. Hierbei sind zwei Hauptmotive zu beachten: Zum einen fehlt es
vielen (Solo)Selbstständigen an einer angemessenen Alterssicherung, so dass sie im Fall einer
auf längere Zeit ausgeübten selbstständigen Tätigkeit nicht mit existenzsichernden Renten
rechnen können. Damit würden sie auf die steuerfinanzierte Grundsicherung verwiesen. Eine
angemessene Vorsorge erscheint vor diesem Hintergrund notwendig. Zum anderen besteht
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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eine potenzielle Konkurrenzsituation zwischen Unternehmen mit regulär Beschäftigten, für
die auch Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung abgeführt werden, und Plattformen, die
formal Selbstständige einsetzen und dabei die soziale Absicherung auf diese Personen
abwälzen, aber sich selbst nicht als Arbeitgeber sehen. Damit kann eine denkbare Ausweitung
formal selbstständiger Tätigkeiten das soziale Absicherungsmodell prinzipiell unterminieren.
Ein erster Ansatzpunkt ist die Abgrenzung zwischen abhängiger und selbstständiger Tätigkeit.
Zweifellos verschwimmen die Grenzen zwischen den Erwerbsformen zunehmend. Das
impliziert, dass traditionelle Klassifikationen und Schemata nicht mehr zutreffend sind. Eine
klare Grenze zwischen abhängig Beschäftigten und Selbstständigen zu ziehen, fällt immer
öfter schwer. Im US-amerikanischen Raum, aber auch in Deutschland, wird gleichwohl
aufgrund der sozialpolitischen Implikationen über die Abgrenzung von Solo- oder
Scheinselbstständigen und abhängig Beschäftigten und damit die Rolle der Arbeitgeber
diskutiert. In vielen Fällen gibt es Anzeichen für eine Arbeitgeberfunktion der Plattformen für
die von ihnen ökonomisch abhängigen Dienstleister. Auch deshalb wird z.B. für den US-
amerikanischen Kontext die Einführung einer neuen (gesetzlichen) Kategorie des
„Independent Worker“ diskutiert, um insbesondere die sozialen Sicherungssysteme mit den
Anforderungen der Plattform-Ökonomie in Einklang zu bringen und in die digitale Arbeitswelt
zu überführen (vgl. Harris/Krueger, 2015). Österreich hat das Konstrukt eines „freien
Dienstvertrags“ eingeführt, um den klassischen Werkverträgen eine auf stundengenauer
Entgeltabrechnung basierende und vollwertige Sozialversicherungsabgaben beinhaltende
Beschäftigungsform zur Seite zu stellen. Besondere Schwierigkeiten stellen sich jedoch bei
Privilegien und Leistungen, die an die Arbeitszeit bzw. an Stundenlöhne geknüpft sind (wie
etwa Überstundenregelungen oder Mindestlohnvorgaben), da Erwerbstätige in der Plattform-
Ökonomie nicht mehr nur für einen „Arbeitgeber“ tätig sind.
Eine ähnliche Diskussion wird in Deutschland unter dem Aspekt der Werkverträge und der
Scheinselbstständigkeit geführt. Je strikter die Anforderungen an eine „echte“ und legale
selbstständige Tätigkeit gefasst werden, umso eher lass sich formal Selbstständige, die jedoch
ökonomisch abhängig sind, als abhängig Beschäftigte klassifizieren, für die Arbeitgeber
Beiträge zu leisten haben. Es steht jedoch immer die Frage der Kontrolle und
Rechtsdurchsetzung im Raum.
Ein zweiter Ansatzpunkt ist die Ausweitung des Kreises der von der Sozialversicherung
erfassten Erwerbsformen bzw. Personengruppen. Dies gilt insbesondere für die Absicherung
bei Alter und Berufsunfähigkeit, daneben aber auch für den Fall der Arbeitslosigkeit. Etwas
mehr als die Hälfte der Solo-Selbständigen verfügt über keine Alterssicherung in Form von
Einzahlungen in Renten- oder Lebensversicherung (vgl. Brenke/Beznoska, 2016, S. 53). In
Deutschland sind nach dem derzeit geltenden und historisch gewachsenen Recht nur einzelne
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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Gruppen von arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen nach § 2 SGB VI verpflichtend in die
gesetzliche Rentenversicherung einbezogen, z.B. Lehrer und Erzieher, Pflegekräfte und
Hebammen, Seelotsen und Küstenschiffer, Hausgewerbetreibende, Handwerker, sowie
Selbstständige mit nur einem Auftraggeber. Bei den meisten dieser Gruppen besteht keine
Versicherungspflicht, wenn Arbeitnehmer beschäftigt werden. Künstler und Publizisten haben
Zugang zur Künstlersozialversicherung, die Landwirte zu einer eigenen Alterssicherung.
Andere Gruppen von Selbstständigen, gerade in etablierten Professionen wie etwa Ärzte,
Architekten, Steuerberater, Notare oder Anwälte, sind im Rahmen berufsständischer
Sicherungssysteme abgesichert, während für andere Gruppen Vorsorge nur auf freiwilliger
Basis besteht.
Freiwilliger Natur ist bislang im Grundsatz auch die Absicherung in der
Arbeitslosenversicherung. Seit 2003 besteht zwar die wenig bekannte Möglichkeit einer
freiwilligen Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung durch ein sogenanntes
„Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag“ (§ 28a SGB III). Diese Option besteht aber nur,
sofern innerhalb der letzten 24 Monate unmittelbar vor der Aufnahme der selbstständigen
Tätigkeit mindestens zwölf Monate eine versicherungspflichtige abhängige Beschäftigung
ausgeübt oder Arbeitslosengeld I bezogen worden ist. Wird dann vom versicherten
Selbstständigen mehr als zwei Mal Arbeitslosengeld I in Anspruch genommen, ist keine
Weiterversicherung mehr möglich, sofern nicht eine neue Grundlage aus einem
Versicherungspflichtverhältnis erworben wird.
Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, wenn nicht gar unvermeidlich, Selbstständige
in allen „Spielarten“ generell in die Sozialversicherung einzubeziehen und ihnen auch im Falle
einer angemessenen und existenzsichernden privaten oder berufsständischen Vorsorge keine
pauschale Möglichkeit zum „Opt-out“ zu gewähren. Im Gegenteil sollte auch in diesem Fall –
bis zu einer zu bestimmenden Beitragsgrenze – ein Mindestmaß an Beiträge zur
Sozialversicherung von diesem Personenkreis geleistet werden. Die Beiträge der
Selbstständigen selbst wären dann durch obligatorische Beiträge der Auftraggeber bzw. der
Vermittler/Plattformen (als Arbeitgeber-Äquivalent) zu ergänzen. Sie könten von diesen
unmittelbar entrichtet oder aber von den (Solo-)Selbständigen bei der Abrechnung ihrer
Dienstleistungen eingefordert und dann weitergeleitet werden. Als Vorbild bietet sich hier das
Modell der Künstlersozialkasse mit einer Abgabepflicht der Verwerter an. Daneben kommt
auch ein gewisser Anteil an Steuerfinanzierung in Betracht, wie wir ihn bereits derzeit in der
gesetzlichen Rentenversicherung und der Künstlersozialversicherung kennen. Hier würden
natürlich auch Steuereinnahmen aus unternehmerischen Tätigkeiten einfließen.
Eine weitere Herausforderung wird sein, in der Plattform-Ökonomie eine Steuer- oder
Beitragspflicht zu realisieren. Transaktionen über Plattformen, bei denen ein Auftrag mit
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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einem territorialen Bezug zu Deutschland abgewickelt wird – wenn etwa Vermittler,
Auftraggeber oder Auftragnehmer in Deutschland ansässig sind – können mit einer
entsprechenden „Sozialabgabe“ belastet werden, vergleichbar der Umsatzsteuer. Klar ist,
dass dann Anreize zu formal selbstständigen Tätigkeiten verringert werden, weil die
Beitragspflicht zu höheren Preisen bzw. Arbeitskosten führen wird. Dies wäre der Preis für
einen universellen Einbezug in den Sozialstaat und die Vermeidung eines „unfairen“
Wettbewerbs zulasten der Sozialkassen bzw. der Steuerzahler.
Der Vorteil einer universelleren Sozialversicherung liegt sicher darin, dass die Problematik der
Abgrenzung von selbstständiger, scheinselbstständiger und abhängiger Beschäftigung, die
derzeit auch in Deutschland erneut im Kontext von Werkverträgen diskutiert wird, in ihrer
Substanz entschärft wird. Eine Vision für die Zukunft ist dann eine „Bürgerversicherung 4.0“
unter gleichberechtigtem, also auch privilegienfreien Einschluss aller Beschäftigten. Ein
solches Solidarmodell, dem sich niemand entziehen kann, erhält durch die sich abzeichnenden
Beschäftigungstrends und durch den daraus resultierenden veränderten Absicherungsbedarf
jedenfalls neue Argumente.4
Darüber hinaus bietet die Digitalisierung der Arbeitswelt und der Einzug intelligenter
Maschinen in den Arbeitsalltag von immer mehr Beschäftigtengruppen Anlass genug, Modelle
der Mitarbeiter-Kapitalbeteiligung neu – auch im Sinne der Altersvorsorge – zu konzipieren
und flächendeckender als bisher bereitzustellen. Unterstrichen wird diese Notwendigkeit
nicht zuletzt durch die lang anhaltende Phase ausbleibender Renditen klassischer
Anlageformen und Altersvorsorgemodule.
5 Zusammenfassung und Fazit
Die verbreiteten Spekulationen über die rasante Veränderung unserer Arbeitswelt infolge
ungeahnter technologischer Neuerungen sind Ausdruck einer beträchtlichen Ungewissheit
über das Ausmaß der Anpassungsnotwendigkeiten in Wirtschaft und Gesellschaft. Die
Digitalisierung ist für viele von uns zu einem Synonym für unkontrollierbare technische
Entwicklungen in der Arbeitswelt geworden, denen die Individuen schutzlos ausgeliefert sind
und die vermeintlich in massive Arbeitsplatzverluste und gravierende soziale Ungleichheit
münden werden. Auf der anderen Seite werden oft hochfliegende Erwartungen formuliert,
die darauf setzen, dass sich die Erfahrungen mit dem technischen Fortschritt auch künftig
unverändert fortsetzen und somit nach einer Übergangsphase von Beschäftigungsabbau und
4 So verfolgt z.B. Österreich in seiner Gesundheitspolitik schon seit geraumer Zeit den Ansatz einer „Bürgerversicherung“ (vgl. etwa Opielka, 2004).
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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Rationalisierung neue, kreative Arbeitsplätze in hinreichender Zahl entstehen werden und der
gesellschaftliche Wohlstand gesichert oder gar weiter ausgebaut werden könne.
Die empirische Bestandsaufnahme im vorliegenden Beitrag zeichnet das Bild eines
Arbeitsmarktes, der einen tiefgreifenden Wandel vollzieht. Zumindest in der Vergangenheit
waren jedoch viele andere Faktoren (z.B. institutionelle und demografische) dafür sehr
prägend und bestimmend. Am Beispiel der vieldiskutierten Plattform-Ökonomie lässt sich
zeigen, dass ihr derzeitiges Ausmaß insgesamt noch sehr überschaubar ist. In Deutschland ist
die Anzahl der Solo-Selbständigen seit dem Jahr 2012 sogar rückläufig und der Anteil der
Erwerbstätigen in der Plattform-Ökonomie ist selbst in den USA noch sehr gering. Außerdem
zeigt sich zumindest bislang, dass Digitalisierung nicht Massenarbeitslosigkeit bedeutet. Im
Gegenteil: Das Ausmaß der Erwerbstätigkeit war den letzten Jahren in Deutschland
bemerkenswert robust – bezogen sowohl auf die Anzahl der Erwerbstätigen als auch auf das
Arbeitsvolumen in Stunden.
Doch das Potenzial des durch die Digitalisierung ausgelösten Wandels ist enorm, und
einschneidende Entwicklungen stehen uns womöglich noch bevor. Schon in der
Vergangenheit konnten (zumindest nach herkömmlichen Maßstäben) „kleinere“ Anbieter
ganze Märkte und Branchen unter Druck setzen und auf den Kopf stellen. Insofern ist jetzt die
Zeit gekommen, neue sozialpolitische Herausforderungen durch die Digitalisierung zu
identifizieren, geeignete Maßnahmen zu ergreifen und entsprechende Rahmenbedingungen
zu schaffen. Denn beim Übergang in die digitale Arbeitswelt wird es zweifellos ganz
entscheidend darauf ankommen, das Verhältnis von Gewinnern und Verlierern genau im Blick
zu behalten. Aus diesem Grund gewinnt auch unter sozialpolitischen Aspekten der Ausbau von
Mitarbeiterbeteiligungsformaten weiter an Bedeutung.
Insbesondere jedoch gilt es die Frage zu beantworten, inwieweit das Konzept der
Sozialversicherung, welches an einer prinzipiell langfristigen abhängigen Beschäftigung
anknüpft, systematisch für andere Erwerbsformen – und letztlich für alle Erwerbsformen –
geöffnet werden soll. Eine beitragsfinanzierte Absicherung für das Alter, aber auch für
Berufsunfähigkeit und Arbeitslosigkeit unabhängig vom formalen Erwerbsstatus würde
Sicherungslücken schließen, den Wechsel und Kombinationen von Erwerbsformen erleichtern
und den Wettbewerb der Arbeitskosten zwischen abhängig und selbstständig tätigen
Personen entschärfen.
Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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Eichhorst/Hinte/Rinne/Tobsch: Digitalisierung und Arbeitsmarkt
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Anhang – Berufsklassifikation nach ISCO-88
1 Angehörige gesetzgebender Körperschaften, leitende Verwaltungsbedienstete und
Führungskräfte in der Privatwirtschaft
11 Angehörige gesetzgebender Körperschaften und leitende Verwaltungsbedienstete
12 Geschäftsleiter
13 Betriebsleiter
2 Wissenschaftler
21 Physiker, Mathematiker und Ingenieurwissenschaftler
22 Biowissenschaftler und Mediziner
23 Wissenschaftliche Lehrkräfte
24 Sonstige Wissenschaftler
3 Techniker und gleichrangige nichttechnische Berufe
31 Fachkräfte in der Physik und den Ingenieurwissenschaften
32 Biowissenschaftliche und Gesundheitsfachkräfte
33 Nicht-wissenschaftliche Lehrkräfte
34 Sonstige Fachkräfte (mittlere Qualifikationsebene)
4 Bürokräfte, kaufmännische Angestellte
41 Büroangestellte ohne Kundenkontakt
42 Büroangestellte mit Kundenkontakt
5 Dienstleistungsberufe, Verkäufer in Geschäften und auf Märkten
51 Personenbezogene Dienstleistungsberufe und Sicherheitsbedienstete
52 Modelle, Verkäufer und Vorführer
6 Fachkräfte in der Landwirtschaft und Fischerei
61 Fachkräfte in der Landwirtschaft und Fischerei
62 Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und Fischerei (Eigenbedarfsproduktion)
7 Handwerks- und verwandte Berufe
71 Mineralgewinnungs- und Bauberufe
72 Metallarbeiter, Mechaniker und verwandte Berufe
73 Präzisionsarbeiter, Kunsthandwerker, Drucker und verwandte Berufe
74 Sonstige Handwerks- und verwandte Berufe
8 Anlagen- und Maschinenbediener sowie Montierer
81 Bediener stationärer und verwandter Anlagen
82 Maschinenbediener und Montierer
83 Fahrzeugführer und Bediener mobiler Anlagen
9 Hilfsarbeitskräfte
91 Verkaufs- und Dienstleistungskräfte
92 Landwirtschaftliche, Fischerei- und verwandte Hilfsarbeiter
93 Hilfsarbeiter im Bergbau, Baugewerbe, verarbeitenden Gewerbe und Transportwesen
0 Streitkräfte
01 Streitkräfte
Quelle: http://www.gesis.org/fileadmin/upload/dienstleistung/methoden/spezielle_dienste/inhaltsanalyse_berufsklass/isco88_1_.pdf
(zuletzt aufgerufen am 9.6.2016)