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Iwan Turgenjew Väter und Söhne Aus dem Russischen von Angelo Pankow Anaconda

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Iwan Turgenjew

VäterundSöhne

Aus dem Russischenvon Angelo Pankow

Anaconda

Turgenjew V ter S hne 23.02.2015 11:24 Seite 3

Titel der russischen Originalausgabe: Otcy i děti (Moskau 1862).Die Übersetzung folgt der Ausgabe Leipzig: Hesse & Becker o. J. [1917].Orthografie und Interpunktion wurden der neuen deutschen Rechtschreibungangepasst.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unterhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 Anaconda Verlag GmbH, KölnAlle Rechte vorbehalten.Umschlagmotiv: Vasilij Dmitrievich Polenov (1844–1927), »A Small Yard inMoscow« (1878), Tretyakov Gallery, Moscow, Russia / Bridgeman ImagesUmschlaggestaltung: www.katjaholst.deSatz und Layout: Andreas Paqué, www.paque.dePrinted in Czech Republic 2015ISBN [email protected]

Turgenjew V ter S hne 23.02.2015 11:24 Seite 4

ErstesKapitel

un, Peter, siehst du noch nichts?«, so fragte – es war am 20.Mai 1859 – auf der Landstraße nach X in Russland ein Mann

von 45 Jahren, der, in einem Paletot und karrierten Beinklei-dern, barhäuptig und staubbedeckt, vor der Tür einer Schenkestand. Der Bediente, an den er diese Frage richtete, war ein jun-ger, blonder Mensch mit vollen Backen und kleinen matten Au-gen, dessen rundes Kinn ein farbloser Flaum bedeckte.

Alles an diesem Bedienten, von den pomadisierten Haarenund den mit Türkisen geschmückten Ohrringen an bis zu seinenstudierten Bewegungen, verriet einen Diener von der neuenFortschrittsgeneration. Aus Rücksicht auf seinen Herrn blickteer herablassend auf die Landstraße und antwortete mit Würde:»Man sieht absolut nichts!«

»Nichts?«, fragte der Herr.»Absolut nichts!«, wiederholte der Diener.Der Herr seufzte und ließ sich auf eine Bank nieder. – Wäh-

rend er so mit übergeschlagenen Beinen dasitzt und seine Augennachdenklich umherschweifen lässt, wollen wir die Gelegenheitbenutzen, den Leser mit ihm bekannt zu machen.

Er heißt Nikolaus Petrowitsch Kirsanow und besitzt, fünfzehnWerst von der Schenke, ein Gut mit 200 Bauern; dort hat er(wie er sich auszudrücken beliebt, seit er sich der neuen Ordnunggemäß mit ihnen arrangierte) eine »Pachtung« errichtet, die2000 Desjatinen* umfasst. Sein Vater, einer unserer Generalevon 1812, ein Mann von wenig Bildung, sogar roh, ein Russe

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* Ein Bodenmaß.

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vom reinsten Wasser, aber ohne einen Schatten von Bösartig-keit, war unter dem Harnisch ergraut. Zum Brigadegeneral undspäter zum Kommandanten einer Division ernannt, bewohnte erdie Provinz, wo er, mit Rücksicht auf seinen Rang, eine ziemlichbedeutende Rolle spielte.

Nikolaus Petrowitsch, sein Sohn, war in Südrussland geboren,ebenso dessen älterer Bruder Paul, auf den wir noch zu sprechenkommen. Er war bis zum Alter von 14 Jahren von Hofmeisternerzogen worden, je billiger, desto besser, umgeben von knechtischwillfährigen Adjutanten und anderen Individuen von der Inten-danz oder dem Generalstab. Seine Mutter, eine geborene Kolja-sin, die unter dem väterlichen Dach Agathe geheißen, hatte, ver-heiratet, den Namen Agathokleja Kusminischna angenommenund verleugnete in nichts das Auftreten, welches die Frauen derhöheren Offiziere charakterisiert; sie trug prachtvolle Hüte undHauben, rauschende seidene Roben, trat in der Kirche immer zu-erst vor, um das Kreuz zu küssen,* sprach viel und sehr laut, reich-te alle Morgen ihren Kindern die Hand zum Kuss und gab ihnenjeden Abend ihren Segen; mit einem Wort – sie war die großeDame der Provinzialhauptstadt. Obwohl Nikolaus Petrowitsch füreine Memme galt, so wurde er doch als der Sohn eines Generals,gleich seinem Bruder Paul, zum Militärdienst bestimmt; allein amselben Tag, an dem er zum Regiment einrücken sollte, brach erein Bein und hinkte von da an sein Leben lang, nachdem er zweiMonate im Bett zugebracht hatte. Somit gezwungen, auf dieWahl der Soldatenkarriere für seinen Sohn zu verzichten, bliebdem Vater nur übrig, ihn in den Zivildienst zu bringen; er führteihn, nach zurückgelegtem achtzehnten Jahr, nach Petersburg, umdort in die Universität einzutreten. Paul erhielt im nämlichenJahr den Offiziersrang in einem Garderegiment. Die beiden jun-gen Leute nahmen eine gemeinschaftliche Wohnung und lebtendort, unter der keineswegs strengen Überwachung eines Oheims

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* In Russland küsst jedermann am Schluss der Messe das Kreuz.

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von mütterlicher Seite, namens Elias Koljasin, eines höheren Be-amten. Ihr Vater war wieder zu seiner Division und seiner Frau zu-rückgekehrt. Von fernher sandte er seinen Söhnen ganze Stößegrauen Papiers zu, bedeckt mit einer Schrift, welche die geübteHand eines Regimentsschreibers verriet. Am Ende jedes Briefeslas man aber in einem sorgfältig ausgezirkelten Namenszug dieWorte: »Peter Kirsanow, Generalmajor.«

Im Jahre 1835 verließ Nikolaus Petrowitsch die Universitätmit dem Titel eines Kandidaten, und in demselben Jahr übersie-delte der General, der nach einer unvorhergesehenen Inspektionin den Ruhestand versetzt worden war, mit seiner Frau dauerndnach Petersburg. Er hatte sich nahe dem Taurischen Garten einHaus gemietet und war im Englischen Klub zugelassen worden,als ihn plötzlich ein Schlaganfall seiner Familie entriss. Agatho-kleja Kusminischna folgte ihm bald nach; sie konnte sich in daszurückgezogene Leben, das sie in der Hauptstadt nun zu führenhatte, nicht finden. Der Verdruss, sozusagen sich nun selbst inden Ruhestand versetzt zu sehen, führte sie rasch dem Grab zu.

Was Nikolaus Petrowitsch anbelangt, so hatte er sich noch beiLebzeiten seiner Eltern und zu ihrem großen Bedauern in dieTochter des Hauseigentümers, eines Subalternbeamten, bei demer wohnte, verliebt. Sie war eine junge Person von angenehmenGesichtszügen und einem nicht ungebildeten Geist; sie las in denZeitschriften die ernsthaftesten Artikel der »wissenschaftlichenAbteilung«. Bald nach beendeter Trauerzeit wurde die Hochzeitgefeiert und der glückliche Nikolaus Petrowitsch zog sich, nach-dem er die ihm durch väterliche Protektion verschaffte Stelle imMinisterium der Domänen quittiert hatte, mit seiner Mascha* inein Landhaus nahe dem Wasserbau- und Forstinstitut zurück; spä-ter mietete er sich in der Stadt eine kleine hübsche Wohnung miteinem etwas kalten Salon und einer wohlgehaltenen Treppe; end-lich zog er sich ganz aufs Land zurück, wo ihn seine Frau bald mit

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* Diminutiv von Marja (Maria).

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einem Sohn beschenkte. Die beiden Gatten führten ein ruhigesund glückliches Leben; sie verließen sich fast nie, spielten vier-händig auf dem Piano und sangen Duette. Die Frau trieb Blu-menzucht und überwachte den Geflügelhof; der Mann beschäftig-te sich mit der Landwirtschaft und ging von Zeit zu Zeit auf dieJagd. Arkad, ihr Sohn, wuchs heran und lebte in gleicher Weiseund Heiterkeit. So gingen zehn Jahre wie ein Traum dahin. Al-lein 1847 starb Frau Kirsanow; ein unerwarteter Schlag, der ihrenMann so schwer traf, dass seine Haare in wenigen Wochen er-grauten. Er wollte sich eben anschicken, zu seiner Zerstreuung insAusland zu reisen, als das Jahr 1848 das Reisen unmöglich mach-te. Gezwungen, auf sein Landgut zurückzukehren, brachte er dorteinige Zeit in vollkommener Untätigkeit zu; dann aber legte erHand daran, Verbesserungen in seiner Verwaltung einzuführen.Zu Anfang des Jahres 1855 führte er Arkad nach Petersburg aufdie Universität und blieb dort drei Winter bei ihm, fast ohne dasHaus zu verlassen und im steten Verkehr mit den jungen Kamera-den seines Sohnes. Während des Winters 1858 hatte er ihn nichtgesehen, und wir begegnen dem Vater jetzt im Monat Mai des fol-genden Jahres mit bereits ganz weiß gewordenem Kopf, etwas ge-dunsen und in gebückter Haltung. Er erwartet seinen Sohn, derjetzt eben die Universität mit dem Titel Kandidat verließ, ganz sowie er selbst es seinerzeit getan.

Der Bediente, mit dem er soeben gesprochen hatte, war mitt-lerweile aus Takt, vielleicht auch, weil er nicht gerade unter denAugen seines Herrn bleiben wollte, ins Hoftor getreten undschickte sich an, seine Pfeife anzuzünden. Kirsanow senkte dasHaupt und heftete die Augen auf die wurmstichigen Stufen derTreppe; ein großes, scheckiges junges Huhn mit langen gelbenBeinen ging dort stark tapsend auf und ab; eine ganz mit Aschegepuderte Katze betrachtete es nicht allzu freundschaftlich vonder Höhe des Geländers, auf dem sie kauerte. Die Sonne brann-te; aus der dunklen Stube, die den Eingang zur Herberge bildete,drang der Geruch von frisch gebackenem Roggenbrot. Kirsanow

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