islam und menschenrechte - forum.lu · 2015-11-11 · - le harem politique, fatima mernissi, ed....

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Islam und Menschenrechte Einleitung Spätestens seit der Affäre Rushdie ist der Begriff 'Is- lam' in den westlichen Ländern mit Angst verbun- den: Angst vor Gewalt in jeglicher Form (Morddro- hungen, Körperstrafen, Attentate, Intoleranz und Fa- natismus); Angst aber auch, weil vom Islam Prinzipien und rechtliche Bestinnungen in Frage gestellt oder gar abgelehnt werden, die der Westen für allgemein und grundlegend hält, so z.B. die Men- schenrechte (im folgenden mit MR abgekürzt); es ist in dieser Beziehung bekannt, daß 1948 Saudi-Ara- bien die UNO-Menschenrechtserklärung nicht unter- schrieb. Desgleichen weiß man, daß in vielen islami- schen Ländern die MR nicht nur verletzt werden, das ist ja auch lin Westen der Fall, sondern daß einige, wenn nicht alle, grundsätzlich abgelehnt werden, so z.B. die Gleichstellung von Mann und Frau, die Ge- wissens- und Religionsfreiheit, die Grundsätze der Demokratie (im März 1992 erklärte König Fand von Saudi-Arabien: "Islam ist unser soziales, politisches und ökonomisches System und das islamische Ge- setz verfügt über seine eigene vollständige Verfas- sung..., enthält soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Gerechtigkeit, ein System der Rechtsprechung, ein- fach alles. Das demokratische System, das es in der übrigen Welt gibt, paßt nicht in unsere Region." siehe 'ORIENTIERUNG' Nr. 15/16, August 1992, S. 165). Besorgt oder gar verängstigt stellen viele in unsern Ländern sich Fragen: Sind die MR wirklich mit dem Islam unvereinbar? Wenn ja, wie ist dann ein fried- liches Zusammenleben mit islamischen Ländern möglich? Und sind die MR nicht tatsächlich, wie man inuner wieder von Vertretern des Islams hört, ein ty- pisches Produkt der säkularisierten, imperialisti- schen Kultur des Westens? Bringt das ja auch im We- sten anerkannte Recht auf eigene Kultur, "le droit à la différence culturelle" wie die Franzosen sagen, es nicht unweigerlich mit sich, daß diese MR nicht für alle Völker und Religionen gelten können? Ja, kann überhaupt eine Religion, und vor allem eine mono- theistische, auf ihrer absoluten Wahrheit beharrende Religion, mit den MR in Einklang stehen? Lst die schon 1789 proklamierte Universalität der MR am Ende doch nur eine Illusion? Im folgenden wird der Versuch unternonunen, ein wenig Klarheit in das Verhältnis zwischen Islam und MR zu bringen. Dies will und kann nichts anderes sein als ein Versuch, unternommen von jemandem, ^ES DRoiï3 DE...^'NonrrE r 7,15 ERSoNNt Au rIoNDE N t s DEFEN^f 7iEUx QuE NOUS . - , Dessin de l'Algérien Nadjib Berher, paru dans le Middle cast Report, no 179, nov-déc 92. dezember 1993 27

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l'homme moderne à la charge des grandes responsa-bilités que les progrès de la science impliquent néces-sairement.

De nos jours, pour le Inonde musulman comme pourle monde occidental, il ne s'agit donc plus de séparerles valeurs, mais de joindre science et conscience,l'éthique et la technique, la physique et la métaphy-sique afin de réaliser un monde conformément à laloi de ses causes et à l'impératif de ses fins."Science sans conscience n'est que ruine de l'âme."

Roland Schmitz

BIBLIOGRAPHIE:- QORAN, traduction de Jacques Berque ou de André Chouraqui.- Mystische Dimensionen des Islam, Prof. Dr. Annemarie Salim-

mel Qalandar Verlag Lshn 3-922121-7-1- Sufi Aphoprisms by Ihn 'Ata'Illah, translated by Victor DannerE.J. Brill, Leiden, Isbn 90-04-07168-7- Le harem politique, Fatima Mernissi, Ed. Albin Michel, Lsbn2-226-02941-9- Les voilées de l'islam, Hinde Taarji, Ed. Balland, Isbn 2-908801-23-X- Schalom Ben-Chorim, Bruder Jesus, DTV, Isbn 3-423-01253-6

- Gershom Sholem, Die Jüdische Mystik, Suhrkamp Verlag- Malcolm X, autobiographie par Alex Haley, Heyne Verlag- Leon l'Africain, Amin MaaloufD'autres auteurs recommandés: Mohammed Arkoun, Henri COI:-bin, Idries Shah, Martin Lings, Frithjof Schuon, Reynold A. Ni-cholson, Paul Nwyia, Titus Burckhard, Louis Massignon,J.G.Bennett, Sir Richard Burton, Maitre Eckhart, Hafis, OmarKhayyam, Rumi

Islam undMenschenrechte

Einleitung

Spätestens seit der Affäre Rushdie ist der Begriff 'Is-lam' in den westlichen Ländern mit Angst verbun-den: Angst vor Gewalt in jeglicher Form (Morddro-hungen, Körperstrafen, Attentate, Intoleranz und Fa-natismus); Angst aber auch, weil vom IslamPrinzipien und rechtliche Bestinnungen in Fragegestellt oder gar abgelehnt werden, die der Westenfür allgemein und grundlegend hält, so z.B. die Men-schenrechte (im folgenden mit MR abgekürzt); es istin dieser Beziehung bekannt, daß 1948 Saudi-Ara-bien die UNO-Menschenrechtserklärung nicht unter-schrieb. Desgleichen weiß man, daß in vielen islami-schen Ländern die MR nicht nur verletzt werden, dasist ja auch lin Westen der Fall, sondern daß einige,wenn nicht alle, grundsätzlich abgelehnt werden, soz.B. die Gleichstellung von Mann und Frau, die Ge-wissens- und Religionsfreiheit, die Grundsätze derDemokratie (im März 1992 erklärte König Fand vonSaudi-Arabien: "Islam ist unser soziales, politischesund ökonomisches System und das islamische Ge-setz verfügt über seine eigene vollständige Verfas-sung..., enthält soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlicheGerechtigkeit, ein System der Rechtsprechung, ein-fach alles. Das demokratische System, das es in derübrigen Welt gibt, paßt nicht in unsere Region." siehe'ORIENTIERUNG' Nr. 15/16, August 1992, S.165).

Besorgt oder gar verängstigt stellen viele in unsernLändern sich Fragen: Sind die MR wirklich mit demIslam unvereinbar? Wenn ja, wie ist dann ein fried-liches Zusammenleben mit islamischen Ländernmöglich? Und sind die MR nicht tatsächlich, wie maninuner wieder von Vertretern des Islams hört, ein ty-pisches Produkt der säkularisierten, imperialisti-schen Kultur des Westens? Bringt das ja auch im We-sten anerkannte Recht auf eigene Kultur, "le droit à

la différence culturelle" wie die Franzosen sagen, esnicht unweigerlich mit sich, daß diese MR nicht füralle Völker und Religionen gelten können? Ja, kannüberhaupt eine Religion, und vor allem eine mono-theistische, auf ihrer absoluten Wahrheit beharrendeReligion, mit den MR in Einklang stehen? Lst dieschon 1789 proklamierte Universalität der MR amEnde doch nur eine Illusion?

Im folgenden wird der Versuch unternonunen, einwenig Klarheit in das Verhältnis zwischen Islam undMR zu bringen. Dies will und kann nichts anderessein als ein Versuch, unternommen von jemandem,

^ES DRoiï3 DE...^'NonrrEr7,15 ERSoNNt Au rIoNDEN t s DEFEN^f ►7iEUxQuE NOUS . - ,

Dessin de l'Algérien NadjibBerher, paru dans le Middle castReport, no 179, nov-déc 92.

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CeViDEMMENT,AUCL»J 124

CEs er& PASTDANS LE

Diai0ONAiRE !

Dossier

Plantuin: Le Monde

der die besprochene Frage von außerhalb des Islamangeht; das ist in dieser Beziehung natürlich nureinerunter andern möglichen Standpunkten, aber es ist einlegitimer. Zur Stütze dienen zwei Publikationen; eineetwas ältere: das Kapitel 'Islamischer Rechtskodexversus menschenrechtliche Universalität' (Seite 174-194) aus dem Buch von Ludger Kühnhardt, das denbezeichnenden Titel trägt "Die Universalität derMenschenrechte" und 1987 im Olzog Verlag in Mün-chen herauskam (im folgenden wird dieses Buch mit"K" bezeichnet). Seiner eher negativen Einstellungsteht ein rezentes, nuancierteres Buch gegenüber:"Freiheit der Religion. Christentum und Islam unterdem Anspruch der Menschenrechte", herausgegebenvon Johannes Schwartlä nder im Auftrag von "ForumWeltkirche: Entwicklung und Friede", einer wissen-schaftlichen Arbeitsgruppe für weltkirchliche Auf-gaben der Deutschen Bischofskonferenz. DiesesBuch, im folgenden mit "S" bezeichnet, kam 1993 imMatthias Grünewald Verlag in Mainz heraus. Es han-delt sich dabei um die Dokumentation eines christ-lich-islamischen Kolloqiums aus dem Jahre 1986.Ähnliche Gespräche hat es übrigens später, nämlich1992, noch mehrere in Deutschland gegeben, bei de-nen das Thema der MR ebenfalls mehr oder weniger

im Zentrum stand, so z.B. an der Hochschule St.Georgen in Frankfurt, am Orient-Institut in Hamburgund an der Katholischen Theologischen Fakultät derUniversität Münster (siehe dazu 'ORIENTIERUNG'Nr. 57/1993, S.5).

2. Problempunkte

Von der Sache her ist es kein Wunder, daß das The-ma "Islam und MR" sich auf folgende Probleme zu-spitzt:- Religionsfreiheit- Verhältnis Staat - Religion - Kultur - islamische Ge-meinschaft; anders gesagt: das Problem der islami-schen Theokratie- islamisches Gesetz (sharia) und islamische Auffas-sung von MR.

Von den Adressaten her gesehen gestaltet sich dieDiskussion insofern schwierig, als es einmal den Is-lam nicht gibt, sowenig ja auch das Christentum exi-

stiert; dazu stellt sich die Frage der Repräsentativitätder islamischen Gesprächstpartner, denn zumindestim sunnitischen Islam gibt es keine offizielle hierar-chische Institution.

Schließlich muß das Problem Islam und MR in seinergeschichtlichen Entwicklung gesehen werden: derIslam traf auf die MR während der Zeit seiner Kolo-nisierung durch westliche Länder, also unter impe-rialistischen Vorzeichen; andererseits spielt sich seitder Entkolonisierung ein wenn auch zaghafter inner-islamischer Disput über die MR ab.

3. Religionsfreiheit

Von Moslems aller Couleur hört man immer wieder,der Islam sei seit jeher tolerant gewesen und sei esauch heute noch. Dabei wird zu Recht hingewiesenauf die relativ günstige Behandlung z.B. der Judenunter islamischer Herrschaft im Gegensatz zu den Ju-denverfolgungen von seiten des Christentums.

Nun kann aber nicht geleugnet werden, daß diese To-leranz in der Theorie wie vor allem in der Praxisschwerwiegende Grenzen kannte und noch kennt: er-stens gilt sie nur für Andersgläubige, worunter manim Islam die Juden und die Christen versteht, d.h. dieAnhänger der beiden andern von Abraham abstam-menden Religionen. Für die Ungläubigen dagegen,damit sind nicht nur die Atheisten gemeint, sondernalle, die sich zu einer andern Religion bekennen alszu einer abrahamitischen, gibt es keine Gewissens-bzw. Religionsfreiheit. Desgleichen gilt letzterenicht für die Muslime selbst: Abfall vorn Glaubenwird in ihrem Fall mit dem Tod bestraft, auch wennder Koran diesbezüglich nichts Genaues sagt: dieTradition als zweite Rechtsquelle nach dem Koranist hier deutlich.

Adel Khouly sagt es in aller Klarheit: "Für die Mus-lime, die schon gläubig geworden sind, gibt es alsoim Prinzip keine Gewissens- und Religionsfreiheit.Der offizielle Islam erkennt hier die Freiheit des Ge-wissens nicht an. Er billigt dem Muslim die Möglich-keit nicht mehr zu, den einmal angenommenen Glau-ben weiter zu behalten oder aber abzulegen. Ab-schließend ist festzustellen, daß das klassischeRechtssystem des Islam nur dort das Recht auf Ge-wissens- und Religionsfreiheit anerkennt, wo es inden Rahmen seiner Religionstheologie hineinpa-ßt. Gottes Rechte, wie sie diese Religionstheologiebegründen und gestalten, sind absolut, und im Hin-blick auf sie sind alle anderen Rechte, auch diesogenannten Menschenrechte, nur relativ undkommen nur relativiert zur Anwendung." (S 440)

Aber abgesehen von der in der Praxis nur sehr rela-tiven Toleranz, muß man klar sehen, daß Toleranzsowieso etwas ganz anderes ist als das Menschen-recht auf Religionsfreiheit. Es ist interessant festzu-stellen, daß auch islamische Denker diesen Unter-schied machen. So schreibt Mohamed Talbi, Profes-sor für islamische Geschichte des Mittelalters inTunis: "Es ist eine Banalität zu betonen, der Islam seitolerant. Denn dies ist immer wieder gesagt worden.Als Lösung des Problems der Religionsfreiheit undals deren Begründung bietet sich also in meiner Tra-dition die Toleranz gleichsam von selbst an. Soll ichmich damit begnügen? Soll ich hier haltmachen? Of-

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Für dieMuslime, dieschongläubiggewordensind, gibt esim PrinzipkeineGewissens-undReligions-freiheit. DeroffizielleIslam erkennt;hier dieFreiheit desGewissensnicht an.emmetegerm

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fenkundig ist die Toleranz von der Denkweise undder Philosophie des Mittelalters geprägt. Le Robertdefiniert sie folgendermaßen: Toleranz besteht darin,"nicht zu verbieten und nicht zu fordern, obwohlman es könnte". Die Toleranz ist also kein Recht.Kein Recht auf Religionsfreiheit. Sie ist ein Aktbloßer Gütigkeit, gewährt aus der Position derHerrschaft. In ihr sind immer auch stillschwei-gend Erniedrigung und Verurteilung enthalten.Man toleriert den Irrtum, obwohl man das Recht hat,ihn im Namen der Wahrheit zu verbieten. Das Tole-rierte wird als ein Übel angesehen, dessen Ausrot-tung notwendig ein größeres Übel hervorbrächte.Dieses Übel zu tolerieren, heißt sich für eine Weile,widerstrebend und aus bloßer Barmherzigkeit, damitabzufinden, jedoch immer mit einer von wohlwollen-der Überlegenheit diktierten Herablassung.

Die Achtung dagegen ist ein Recht. Sie setzt dievollkommene und absolute Gleichheit der Partnervoraus. Nur die Achtung gewährleistet die Würde ei-nes jeden Menschen. Sie kennt weder Höhere nochNiedrigere. Bei der Toleranz steht der Tolerieren-de auf einer höheren Stufe als derjenige, der tole-riert wird. Diese Ungleichheit wird durch die Ach-tung beseitigt. Sie erlaubt mir, ohne ein Jota vonmeinen Glaubensbindungen, d.h. von meinen Optio-nen und Überzeugungen, abzuweichen, dem anderenmit seinen Optionen und Überzeugungen entgegen-zugehen und meine Beziehung zu ihm auf der Basisvollkommener Gleichheit zu verwirklichen. SeineFreiheit ist die meine und umgekehrt"(S 244).

Lapidar heißt es ähnlich hei Ma rtin Honecker, demprotestantischen Theologen: "Religionsfreiheit istsomit ein Menschenrecht. Toleranz hingegen be-zeichnet eine Grundhaltung" (S 427)

Talbi glaubt nun, das Recht auf Religionfreiheit, imeigentlichen Sinn, lasse sich vom Koran her rechtfer-tigen. In der 2. Sure heißt es da nämlich: "Es gibtkeinen Zwang in der Religion. Der richtige Wandelunterscheidet sich nunmehr klar vom Irrweg. Weralso die Götzen verleugnet und an Gott glaubt, derhält sich an der festesten Handhabe, bei der es keinReißen gibt. Und Gott hört und weiß alles." (S 58)

Es sei aber nicht verschwiegen, daß Kühnhardt dieseStelle umgekehrt so versteht, daß hier "unter Reli-gionsfreiheit nachgerade Zwang zur islamischenRechtgläubigkeit gemeint ist." (K 185, Anm. 53) Tal-bis Interpretation wird allerdings bestärkt durch einanderes Koranzitat, das sich an den Gesandten, d.h.auch an den Propheten selbst richtet: "Wenn deinHerr wollte, würden die, die auf der Erde sind, allezusammen gläubig werden. Bist du es etwa, der dieMenschen zwingen kann, gläubig zu werden?" (Ko-ran 10,99) In seiner Koranübersetzung kommentiertA. Yusuf Ali diesen Vers folgendermaßen:".....DieMenschen, die im Glauben sind, sollen nicht unge-duldig oder zornig werden, wenn sie mit dem Un-glauben konfrontiert werden.Vor allem aber sollensie sich vor der Versuchung hüten, andere zum Glau-ben zu zwingen, sei es durch physischen Zwang oderirgendeine andere Art von Zwang, wie sozialerDruck oder Beeinflussung durch Reichtum, gesell-schaftliche Stellung oder andere zufällige Vorteile.Erzwungener Glaube ist kein Glau be ." Die Sendungdes Apostels - und folglich auch die unsere - ist strikt

darauf beschränkt, zu raten, zu warnen, eine Bot-schaft zu übermitteln und zurechtzuweisen, ohneZwang auszuüben. Er erhält die Weisung: "So er-mahne. Du bist ja ein Mahner. Du hast sie nicht festin der Hand." (Koran 88,21-22) Mit anderen Worten:Gott hat den Menschen als wahrhaft und tragischfreies Wesen geschaffen. Was Er will, ist eine wil-lentliche und ergebene Antwort auf seinen Ruf, diein voller Einsicht und in aller Freiheit gegeben ist;das eben ist der Sinn des arabischen Wortes islam. "(S59)

Die Religionsfreiheit, d.h. die Achtung vor dem an-dern Glauben des andern Menschen, gründet nachTalbi letztlich in der Achtung vor Gott, und in dessenAchtung vor dem Menschen: "Gott hat also daraufverzichtet, den Menschen zum Glauben zu zwingen,und er untersagt es auch seinem Gesandten, aufZwang zurückzugreifen. Er lehrt uns, den Menschenzu achten." (S 250) In diesem Zusammenhang ver-weist Talbi auf zahlreiche andere Koranverse, so z.B.5,105; 10, 108;17,15;34,41;88,21 u.a.m.

Wie ist nun diese Sachlage zu beurteilen, nämlicheinerseits eingeschränkte Toleranz ohne Recht aufReligionsfreiheit in der Praxis und in der Theorie derislamischen Staaten, andererseits aber Plädoyer fürReligionsfreiheit bei islamischen Denkern? Sindletztere nur unrepräsentative Einzelgänger?

Ich persönlich sehe die Dinge so: Erstens erinnertmich das Ganze an die Geschichte der Religionsfrei-heit innerhalb zumindest der katholischen Kirche;auch hier wurde diese Freiheit praktisch wie theore-tisch bis in unser Jahrhundert hinein abgelehnt. Mußdaran erinnert werden, daß Religionsfreiheit offiziellerst in der "Erklärung über die religiöse Freiheit"(Dignitatis humanae) 1965 auf dem 2. VatikanischenKonzil anerkannt wurde? (Siehe hierzu den ausge-zeichneten Artikel von Walter Kasper in S 210-229).Und es kam nicht von ungefähr, daß Bischof Lefèvresein Schisma mit Rom gerade auf diesen Text be-gründete. Wozu nun die Kirche fast 2000 Jahrebrauchte, darf dazu der Islam nicht auch (noch) einegewisse Zeit beanspruchen? Und was der Kircheschließlich doch, und zwar ziemlich unerwartet ge-lang, muß das dem Islam von vorneherein verwehrtbleiben?

In diesem Zusammenhang haben die sich für Reli-gionsfreiheit einsetzenden islamischen Denker, wiez.B. Talbi, eine wichtige Vorreiterrolle, und ihreAussagen lassen sich durchaus als "Ausdruck einesinnerislamischen Ringens" verstehen, "vielleichtauch als Symptom von Orientierungsnot in einerPhase des gesellschaftlichen Übergangs" (H. Biele-feldt in: S 342). Was Udo Steinbach, deutscher Isla-mologe, von den in islamischen Ländern etabliertenMenschenrechtsbewegungen sagt, gilt auch gegen-über diesen islamischen Verfechtern der Religions-freiheit: "Mit - behutsamer! - Unterstützung des We-stens sollte es gelingen, ihren Einfluß auszudehnen."(FAZ vom 5.6.1993, S.7)

Schließlich würde ich vorschlagen, in all diesen Fra-gen folgendes hermeneutisches Prinzip anzuwenden:Der Realislam (ich gebrauche dieses Wort in Anal-goie zu dem bekannten Begriff "Realsozialismus")ist nicht unbedingt identisch mit dem wahren Islam;

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In diesemZusammen-hang habendie sich fürReligions-

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islamischenDenLer eine

wichtigeVorreiterrolle,

und ihreAussagen

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Ausdruckeines inner-islamischen

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Dossier ;13111.31.11nSINNIMIRafflaa.

zumindest ist er nicht die einzige und ewige Form des

Isla ni.

eine Diskussion, die auf mögliche positive Entwick-lungen hoffen läßt.

4. Religion - Staat - Glaubens-[9,,,,c 9 AZIMM' Izeiffli, gerneinschaft

Im allgemeinen wird im Westen, wie übrigens auchvon den meisten Muslims selbst, der islamische Staatals eine Theokratie angesehen, als eine von göttli-chen Gesetzen beherrschte politische Gemeinschaftalso. So schreibt Ramadan Said: "Die Errichtung ei-nes Staates (wird) als unabdingbar angesehen, in demalle Lebensbereiche entsprechend dem islamischenGlaubensgehalt gestaltet sind." (1( 174, Anm. 1)

Die Grundlage der islamischen Staats- und Rechts-ordnung ist der göttliche Wille selbst: "Der Gesetz-geber ist Gott; das Gesetz ist von ihm ein für allemalim Koran gegeben worden und kann von den Men-schen nicht geändert, sondern nur interpretiert wer-den." (Fritz Steppat in: K 176) Kühnhardt faßt denUnterschied zwischen westlicher und islamischerStaatsauffassung folgerdennaßen zusammen: "Derentscheidende Unterschied zwischen westlicher undislamischer Staatsauffassung bleibt im Volkssouve-ränitätsprinzip verankert; während die westlicheStaatsphilosophie den modernen, sä ku lären Staat aufden Volkssouveränitätsgedanken gründet, bleibt inislamischer Vorstellung die Souveränität letztlich inAllah verhaftet und verborgen; die Menschen könnennur als seine Stellvertreter agieren und sind zu unbe-dingtem Gehorsam gegenüber seinen Gesetzen ver-pflichtet. Die westliche Staatsauffassung folgert ausder Volkssouveränität die Autonomie des Volkes beider Gesetzgebung; in islamischer Interpretation ha-ben die Menschen den Gesetzen des Islam kritikloszu folgen und ihre strikte Einhaltung zu gewährlei-sten: 'In one the government undertakes to fullfil the

will of the people, in the other the government andthe people who form it have to fullfil the purpose ofGod.' Dieses hat einschneidende Konsequenzen fürdie Menschenrechtsfrage." (K 189)

Zuerst ist hierzu auf die Türkei hinzuweisen, die einislamisches Land war und geblieben ist, trotz der Ab-schaffung der Theokratie und der Einführung der

Laizität, d.h. der Trennung von Staat und Religion.

Sodann argumentiert z.B. Moha med Charfi da hinge-hend, daß "wenn wir dem Text des Koran folgen,dann ist der Islam eine Religion und kein Staat ...Nirgendwo ist die Rede vom Staat oder von Verfah-rensregeln für die Ausarbeitung der Gesetze und dieAusübung der Macht. Der Koran enthält keinerleiBestimmung des öffentlichen Rechts, er ist auch kei-ne Verfassung." (S 108)

Wie steht es aber mit dem historischen Gegenargu-ment, demzufolge der Prophet ja selbst militärischerBefehlshaber und Staatsoberhaupt gewesen ist. Dar-auf antwortet Charfi: "Das eigentliche Problem istdarin zu sehen, daß das Ferment dieser Reichsgrün-dung der Islam war und daß aus diesem Grund die

Geschichtsschreiber in der Folge dem gesamten Tunund Treiben der Erbauer dieses Reiches eine religiö-se Färbung verliehen. Die Aufgabe der Muslime vonheute muß also gerade darin bestehen, das Religiöseund das Geschichtliche mit größter Sorgfalt wiederzu entwirren. Dies ist indessen keine leichte Aufga-be, denn jahrhundertelang wurde diese Verwirrungaufrechterhalten und Geschichte geschrieben imGeist von Apologie und Triumphalismus.

Was die zeitgenössischen islamistischen Bewegun-gen, vielleicht ohne es selbst zu wissen, suchen, istweit mehr die Wiederbelebung einer schönen, aberauch sehr beschönigten Geschichte als ein vertieftesNachdenken über die Fragen, die sich heute im Hin-blick auf den Glauben und das 'Verhältnis des Men-schen zu seinem Schöpfer stellen, insbesondere an-gesichts der Herausforderung durch die sozialen,wirtschaftlichen und politischen Probleme wie auchdurch die technischen und wissenschaftlichen Ent-deckungen des 20. Jahrhunderts." (S 112)

(Das Zitat stammt von Adul A'la Mawdudi). Konkretzeigt sich die Eigenart der islamischen Staatsordnungz.B. im Falle von Saudi-Arabien, das bisher keineeigene Verfassung hat, denn es ist der Koran, der hierderen Stelle einnimmt.

Unter diesen Umständen ist klar, daß es keinen Un-terschied gibt zwischen dem Staatsvolk und der 'um-ma', d.h. der islamischen Glaubensgemeinschaft.Nun ist es aber so, daß "ein Muslim seine Identitäterst als ein Mitglied der islamischen 'ununa '(ge-winnt), und indem er sich für deren Erhaltung, Pro-sperität und Erweiterung einsetzt." (Udo Steinbachin: K 176) Daraus ergibt sich, daß Nicht-Muslime,die sog. 'dhimmis', nur Bürger 2. Klasse sein kön-nen, nur "die Stellung einer gedulteten Minderheit,die neben der 'ununa' lebt," (Steinbach in: K 176,Anm. 11) haben kann. (siehe hierzu auch Khoury in:S 380 - 384)

Wenn dem so ist, im Islam und in den islamischenStaaten, und vor allem wenn dem wesensnotwendigso ist und bleiben wird, dann haben die MR, vorwie-gend die politischen darunter, im Islam kein Chance.Aber auch auf diesem Gebiet gibt es im Islam selbst

Ob allerdings die von Charfi vorgeschlagene Neude-finition einer mit dem Islam vereinbarten Laizitätsinnvoll und durchführbar ist, bleibe hier dahinge-stellt (siehe dazu S 115 und S 384 -387).

5. Die 'sharia' und dieislamische Auffassung der MR

Wie schon gesehen, wird das göttliche Gesetz, diesharia, von den meisten Muslims als die Grundlagedes Staates betrachtet, ja noch mehr: "Der Islam hatein Gesetz, das in der Welt erfüllt werden muß. Dazumuß die Welt nach den Prinzipien des Islam geordnetwerden." (Steppat in: K 174) Dieses Gesetz hat meh-rere Quellen:"1. Der Koran, das offenbarte heilige Buch;2. Die Sunna (wörtlich: Verfahrensweise), das heißtdie authentische Überlieferung dessen, was Moham-med gesagt, getan und gebilligt hat;3. der Meinungskonsens der Rechtsgelehrten (al-id-schma);4. das Urteil aufgrund des juristischen Analogie-schlusses (al-qijas); als ergänzende Quellen gelten: 978n1n11.111.e, • ,:1n1n11n11111

forum nr 148

QU`EST-CE QUE G EST coMME RELi GiON ?)

Dossier

5. die Abweichung von der Regel zugunsten einesanderen Präzedenzfalles (alistihsan);6. das Urteil aufgrund eines öffentlichen Interessesohne Bezug zu Koran oder Sunna (al-istislah);7. die Sitten und Gebräuche einer Gesellschaft (al-'urf)" (K 75).

Von islamischer Seite wird nun immer wieder be-hauptet, die MR seien, als Idee und in ihren Einzel-heiten, seit jeher in der sharia enthalten: "In dem Be-richt über eine Konferenz der Internationalen Juri-stenkommission unter Teilnahme führenderislamischer Wissenschaftler zum Thema "Men-schenrechte im Islam" konnte es heißen: "Islam wasthe first to recognize basic human rights and almost14 centuries ago it set up guarantees and safeguardsthat have only recently been incorporated in univer-sal declarations of human rights." (K 175-176; sieheauch Anm. 5 in: K 175)

In Wirklichkeit aber gibt es zwischen der führendenislamischen Auffassung und derjenigen der UNO-Deklaration von 1948 erhebliche Unterschiede bzw.sogar Widersprüche:

- Nach traditioneller islamischer Auffassung sind dieMR den Menschen von Gott gegeben "als eine ArtPrivileg Allahs an die Menschen" (Kühnhardt K177). In der Präambel der 'Universellen IslamischenMenschenrechtserklärung' von 1981 heißt es be-zeichnenderweise: "Dieu, Bienfaisant et Miséricor-dieux, Créateur, Soutien, Souverain, seul Guide del'humanité et Source de toute loi" (zitiert in K 188-189). Demgegenüber verankert die UNO-Deklara-tion die MR in der "dignité inhérente ä tous les mem-bres de la famille humaine" (Préambule).

- Aus dem göttlichen Ursprung der MR ergibt sichfür den Islam eine folgenschwere Charakteristik die-ser Rechte: sie sind nicht, wie das der UNO Konzep-tion entspricht, bedingungslose, voraussetzungsloseRechte, die der Natur des Menschen angeboren sind,sondern sie stellen eigentlich Pflichten dar bzw. sindnur gewährt unter Voraussetzung der Einhaltung vonPflichten. Einige Zitate sollen diese Auffassung be-legen: "Nasr schreibt: 'Human rights are, accordingto the Shari'ah, a consequence of human obligationsand not their antecedent. We possess certain obliga-tions towards God, nature, and other humans, all ofwhich are delineated by the Shari'ah. As a result offullfilling these obligations, we gain certain rightsand freedom that are again outlined by the DivineLaw... Islam holds this conception not only for itsown followers but also for the followers of all otherreligions who, therefore, as religious minorities aregiven rights under their own religious codes': Nasr,Seyyed Hossein, The concept and reality of freedomin Islam and Islamic civilization, a.a. O., Seite97." (K178, Anm. 18).

Bei Abdul Aziz Said heißt es: "Human rights existonly in relation of human obligations. Individualspossess certain obligations towards God, fellow hu-mans and nature, all of which are defined by Shariah.Those individuals who do not accept these obliga-tions have no rights. Their Claims of freedom lackjustification." (K 186)

Derselbe Said schreibt: "ne essential characteristicof human rights in Lslam is that they constitute obli-

gations connected with the Devine and derive theirforce from this connection." (K 176)

In der schon genannten Islamischen Menschen-rechtserklärung heißt es, "daß aufgrund der Bestim-mungen unseres Urpaktes mit Gott unsere Pflichtenund Verbindlichkeiten Vorrang haben vor unserenRechten" (zitiert in: S 198). Hier kann also nur nochvon einem Widerspruch gesprochen werden zwi-schen beiden Konzeptionen der MR.

- Eine dritte Schwierigkeit zeigt sich im Falle vonislamischen Menschenrechtserklärungen, deren eseine Reihe gibt (die bekannteste, schon zitierte, wur-de vom 'Islamrat für Europa' unter dem Titel 'Allge-meine islamische Menschenrechtserklärung' am 19.September 1981 in Paris veröffentlicht, und zwargleichzeitig in arabisch (Originalfassung), englischund französisch).

Das Problem liegt darin, daß zwei Begriffe im Titeldieser Erklärung sich gegenseitig einschränken: istdie Deklaration 'islamisch', dann besteht ihr An-spruch auf 'Allgemeinheit' zu Unrecht; ist sie aber'allgemein', dann kann sie nicht eigentlich 'isla-misch' sein.

Noch andere Ungereimtheiten wären an dieser Erklä-rung zu beklagen, wie z.B. die erheblichen Unter-schiede zwischen der arabischen und der französi-schen Ve rs ion des Textes; Ali Merad, Professor fürarabische Literatur in Lyon, tut das mit dem nötigenNachdruck, und es braucht deshalb hier nicht eigensdargestellt zu werden (siehe in: S 443 - 449).

Auch in bezug auf die Idee der MR scheint die Lagealso aussichtslos zu sein. Jedoch gibt es auch hierberechtigte Hoffnung. Zum einen muß wiederumdaran erinnert werden, daß es nicht den Islam gibt,und so auch nicht die islamische Menschenrechts-konzeption. Und es darf auch nicht vergessen wer-den, unter welchen historischen Umständen der Ge-danke der MR den Muslims vorgestellt wurde. Nunhat sich aber laut Ali Merad seit den 60er Jahren dieIslamische Debatte über die MR unter neuen Bedin-gungen entwickelt; diese Bewegung steht zwar erst

Plantuin: Reproche-Orient

dezember 1993 31

JE TE ßiEnlDE VEUiR clIEZ MoiPi p is 3€ uÄi PAS _

I^E PLA C E .'

Dossier

Plantu

in: Reproche-Orient

an ihrem Anfang, aber sie besteht (siehe in: S 347-352).

Das eigentliche Problem im Zusammenhang mit denMR besteht, nach einhelliger Meinung westlicher Is-lamologen und islamischer Denker selbst, im unkri-tischen und unhistorischen Verhältnis des Islams zuseiner Tradition. So schreibt Rtraud Wielandt: "Zueiner dauerhaften Begründung der Freiheit, geradeauch der Freiheit von religiösem Zwang, bedarf esnicht nur exegetischer Bemühungen, dieses Prinzipim Korantext zu verankern, sondern auch - und viel-leicht noch mehr - einer Hermeneutik, die die Be-grenztheit und gesellschaftliche wie geschichtlicheBedingtheit allen menschlichen Verstehens von Of-fenbarung ernst nimmt und damit der Ableitung to-talitärer Ansprüche aus einer einmal verfestigtenDeutung der heiligen Texte den Boden entzieht." (S205, siehe dazu auch Merad in: S 349-350)

Aber wie schwierig auch immer dieses Problem sichanläßt, eine Lösung ist prinzipiell nicht unmöglich:"Solange es in einem Großteil der islamischen Län-der an der Tagesordnung ist, daß die Regierenden ih-

ren Mangel an demokratischer Legitimation, der imZeichen eines sich wandelnden politischen Bewußt-seins durchaus empfunden wird, durch den Appell anein vonnodernes, religiöse Loyalitäten mobilisieren-des Herrschaftsverständnis überspielen, solange dortStaatsoberhäupter und staatlich gelenkte Medien inallen möglichen innen- und außenpolitischen Kon-fliktsituationen und zur Entschärfung sozialer Span-nungen immer wieder den Islam als Einigungs- undHannonisierungsideologie beschwören und damitdie mittelalterliche Vorstellung der Identität vonStaat und Glaubensgemeinschaft bewußt fördern, so-lange Regierungschefs bereit sind, nicht etwa aus re-ligiöser Überzeugung, sondern zur bequemeren Aus-schaltung von Opposition oder zur Erlangung von Fi-nanzhilfe seitens eines fundamentalistischausgerichteten anderen Staates Strafvorschriften dersari'a in ihrer mittelalterlichen Form wieder zum gel-tenden Recht zu machen, kurz: solange der augen-blicklich in zahlreichen islamischen Ländern zu be-obachtende kalkulierte Gebrauch des Islam für poli-tische Zwecke anhält, werden sich die Ideen derMenschenwürde und der Freiheit nur schwer aufbreiterer Front Bahn brechen können. Die vorstehen-de Übersicht hat jedoch gezeigt: es ist nicht etwa eineinnere Logik des Islam als solchen, die der Aneig-nung dieser Konzepte entgegenstünde. Im Gegenteilist durch die vorhandenen und zum Teil durchaus ge-

glückten Versuche, diese Konzepte von der islami-schen Tradition her zu begründen und zu entfalten,in der Realität bereits erwiesen, daß islamischerGlaube sich mit ihnen nicht nur verträgt, sondern zuihrer Fortentwicklung auch etwas beizutragen hat."(Wielandt in: S 208-209)

Erinnert diese Problematik nicht wiederum an dasähnlich gelagerte schwierige Verhältnis des Chri-stentums zu seiner Tradition, insbesondere zur Hei-ligen Schrift?

Es gibt übrigens schon Anzeichen für eine neue Deu-tung der sharia: "Zunächst ist darauf hinzuweisen,daß es im Raum des Islam neben einem authenti-schen Diskurs über die Bedeutung der sari'a nocheinen ganz anderen sari'a-Diskurs gibt, der dem er-sten geradezu entgegengesetzt ist: ein gewalttätigerDiskurs, der häufig die Form heftiger Anschuldigun-gen annimmt, der sich der sari'a wie einer Waffe, jawie einer Bombe bemächtigt. In Wahrheit jedochläßt sich in jenen wenigen koranischen Prinzipien,die die sari'a bilden, nichts finden, was die Errich-tung eines Rechtssystems rechtfertigen könnte, dasNicht-Muslime, ja sogar die Muslime selbst unter-drückt.

Was bedeutet nun aber der Ausdruck 'sarici' wirk-lich? Ihn als 'Gesetz' interpretiert zu sehen, hat fürmich etwas Schmerzliches. Denn hier treffen wir inder Tat auf eine grundsätzliche Zweideutigkeit: Daskoranische Wort bezeichnet den Weg, der zur Tränkeführt, zu denn Wasser, das Quelle des Lebens ist. DerAusdruck hat dynamischen Charakter; denn die sa-ri'a ist ein Weg, eine Methode, die befolgt werdenwill. Ganz im Gegensatz hierzu bedeutet sie in derSprache der Islamisten, etwa der Muslinmbrüder, einerstarrtes Rechtssystem, das zudem häufig mit Ex-plosivstoff geladen ist. In dieser Redeweise sind diewesentlichen koranischen Elemente nicht mehr wie-derzuerkennen. Man hat vielmehr aus einigen Zeilendes Koran, die schmiegsam, leicht, ätherisch und spi-rituell sind, Stahl und Bomben geschmiedet und dannfestgelegt, daß dies das Gesetz Gottes sei. Dabei han-delt es sich doch in Wahrheit gar nicht um ein Gesetz,sondern um einen Weg! Hier geschieht heute eine ArtBetrug, sofern man die Worte Gottes und des kora-nischen Gesetzes mit einem Gesetz umkleidet, das zu90 Prozent Menschenwerk und historisch bedingtist." (Mi Merad in: S 392)

Aus dieser Konzeption der sharia ergeben sich auchKonsequenzen für eine Umdeutung der umma, unddamit die Unterscheidung zwischen Religion und Po-litik: "Ich möchte anregen, ihr (der umma, d. Red.)ihre ursprüngliche Dimension wieder zurückzuge-ben. Denn ist die umma wirklich als komptakte, aufder Erde identifizierbare Größe mit klar bestimmtengeographischen Umrissen zu verstehen? Das hat manlange Zeit angenommen, und viele denken noch heu-te so. Muß sie nicht vielmehr als spirituelle Größe,d.h. gleichsam als Dreiecksbeziehung von Gott,Mensch und Gesellschaft gedacht werden? So gese-hen, ist die umma dann nicht jene starre geographi-sche Größe; sie ist auch nicht mehr als gesellschaft-licher oder kultureller - im übrigen von Verwirrungund Zwietracht erfüllter - Raum zu sehen. Ihre Gren-zen fallen nicht mehr notwendig mit denen der Staa-ten zusanunen und verlaufen somit auch nicht mehr

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auf der Erde, sondern in den Herzen und im Hinunel.Letztlich ist die umma eine Beziehung zu Gott. Sieist eine Gemeinschaft, die die Grenzen der Staatensprengt und die ihre Bestimmung allein im DienstGottes hat." (...)

6. Schlußfolgerung

Wenn man Kühnhardt folgt, und der mehrheitlichenMeinung der islamischen wie westlichen Länder,dann ist es schlecht bestellt um das Verhältnis zwi-schen Islam und MR: letztere scheinen, zumindest inihrer klassischen Form, mit dem Wesen des Islamunvereinbar zu sein. Und sowohl die bisherige Praxisin den meisten Ländern wie auch der aufkommendeislamische Fundamentalismus entsprechen ziemlichgenau diesem pessimistischen Bild. Die Lage scheintaussichtslos.

Aber ist es nicht auffallend, daß die Meinung einesKühnhardt gerade mit derjenigen der islamischen or-thodoxen und Fundamentalisten übereinstimmt? Da -nach ist ja der Islam in seinem Wesen ein für allemalfestgelegt; eine Veränderung ist ausgeschlossen; un-kritischer und unhistorischer Umgang mit Texten,und Traditionen sind selbstverständlich.

Wie schon bemerkt, erinnert dies alles an die Positionder christlichen Kirchen, vor allem der katholischen,bis vor relativ kurzer Zeit, gegenüber ihren eigenenheiligen Schriften und Überlieferungen. Es brauchtedes Drucks von außen, des historisch-kritischen Den-

kens, und es brauchte Menschen mit Zivilcourage,um diese Kirchen in Bewegung zu bringen.

Genau das ist auch im Islam vonnöten, und liegtdurchaus im Bereich der Möglichkeit. Entscheidendist nicht die islamische Lehre als solche, sondern ihreUmsetzung in die Praxis. Wenn sich die nötigenIdeen und Menschen finden, braucht der Islam nichtlänger als ein unbeweglicher, unveränderlicher, star-rer Block angesehen zu werden. Selbst Kühnhardtsieht diesbezüglich von seinem üblichen Pessimis-mus ab wenn er schreibt: "Das Bemühen, ideenge-schichtlich islamische Souveränitätslehre, den Ge-danken der Herrschaftsbegrenzung im Sinne des li-mited government und die Abwehrrechte deseinzelnen auszusöhnen und zu verquicken, kann derPerzeption der Menschenrechtsidee in der islami-schen Welt und durch islamische Interpreten neuenAuftrieb geben." (K 194)

Auf dem Spiel steht vieles, und zwar nicht, wie vieleIslamisten argwöhnen, die Durchsetzung westlichenDenkens in der Verkleidung der MR, sondern dieEntwicklung der MR zu einer wirklich universalenRechtsordnung, die trotz ihrer Allgemeinheit die Ei-genart der verschiedenen Kulturen und insbesondereReligionen nicht verletzt, sondern im Gegenteil för-dert. Daß dies die eigentliche Absicht der MR ist unddaß dies auch möglich ist, lese man nach in dem aus-gezeichneten, wenn auch auf anspruchsvollem Ni-veau argumentierenden Buch des libanesischenTheologen und Philosophen Sélim Abou, Cultures et

droits de l'homrne, Hachette Paris 1992.Hubert Hausemer

L'Intégrisme islamiste enAlgérie

Avec l'Egypte, l'Algèrie est actuellement le pas quiest le plus en proie au terrorisme intégriste. Unevéritable spirale de violence s'est installée dans lepays - ou, plus exactement, dans le nord du pays -depuis que les militaires ont décidé d'annuler ledeuxième tour des élections en décembre 1991.

Un bref rappel des faits. En juin 1990, des électionscommunales ont lieu en Algérie. Le Front Islamiquedu Salut (FIS) obtient 55,4% des voix. Fin décembre1991, les Algériens sont à nouveau appelés auxurnes, cette fois pour élire leurs députés. Il s'agissaitlà des premières élections législatives vraiment libresdepuis l'accession à l'indépendance. Deux toursétaient prévus. Or le deuxième tour n'eût jamais lieu.Constatant, après le premier tour, que les militantsFIS risquaient d'obtenir une majorité absolue dessièges au Parlement algérien, les militaires décidè-rent purement et simplement de suspendre le proces-sus démocratique. Les chars étaient envoyés dans les

rues d'Alger et le couvre-feu était proclamé. Cedernier est d'ailleurs toujours en vigueur à Alger,avec la défense de sortir de 23h30 à 4h30.

La réaction des islamistes à cette annulation fut desplus vives, et secoue encore l'Algérie. Depuis 1991,les attentats n'en finissent pas, prenant surtout pourible des policiers, des soldats, des hommes politiques- du plus insigne au chef de l'Etat, en passant par lesministres-, ou encore des intellectuels. Un attentatparticulièrement sanglant détruisit, il y a 2 ans,l'aéroport national d'Alger, qui ne fut réouvert quecet été, 1993. La répression de la part du pouvoir futtoute aussi violente. Arrestations, tortures, condam-nations à mort, exécutions. Le pays semble au bordde la guerre civile.

Les causes du succès en Algérie de l'intégrisme sontnombreuses. Il y a tout d'abord le chômage et ladésaffection de la jeunesse algérienne. Dans un paysà démographie galopante, les chances de trouver un

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