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Erscheint am7. September

www.isabelallende.de

Isabel Allende

Der japanische LiebhaberRoman

Aus dem Spanischen vonSvenja Becker

Suhrkamp Verlag

Für meine Eltern, Panchita und Ramón,zwei weise Greise.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelEl amante japonés bei Plaza & Janés, Barcelona.

Erste Auflage 2015© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Isabel Allende, 2015Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das des öffentlichen Vortragssowie der Übertragung durch Rundfunk und

Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 978-3-518-42496-4

Der unsichtbare Mann

Irina arbeitete seit einem Jahr für Alma Belasco, als ihr zumersten Mal der Verdacht kam, die Frau könnte einen Ge-

liebten haben, doch wagte sie es nicht, der Vermutung nach-zugehen, bis sie einige Zeit später Seth davon berichtenmuss-te. Ehe Seth den Kitzel der Neugier in ihr weckte, hatte sieniemals die Absicht gehabt, Alma auszuspionieren. Nachund nach war sie tief in deren Privatleben vorgedrungen, aberdas hatte keine der beiden Frauen wahrgenommen. Auf dieIdee mit dem Liebhaber kam Irina, als sie den Inhalt der Kis-ten aus Sea Cliff ordnete und sich den Mann auf dem Fotonäher ansah, das in einem silbernen Rahmen in Almas Schlaf-zimmer stand und von ihr selbst regelmäßig abgestaubt wur-de. Außer einem noch kleineren Foto von Almas Familie,das im Wohnzimmer hing, war es das einzige in ihrem Apart-ment, was Irina wunderte, denn die anderen Bewohner inLark House umgaben sich mit Fotos, um Gesellschaft zu ha-ben. Über den Mann auf dem Bild hatte Alma lediglich ge-sagt, er sei ein Freund aus Kindertagen. Die seltenen Male,wenn Irina nachzufragen wagte, war Alma ausgewichen undhatte sich nur entlocken lassen, dass der Mann Ichimei Fu-kuda hieß, ein japanischer Name, und dass das Gemälde imWohnzimmer von ihm stammte, eine trostlose Landschaftmit dunklen, eingeschossigen Gebäuden, Strommasten undKabeln im Schnee, darüber ein grauer Himmel und, als ein-ziges Anzeichen von Leben, ein schwarzer Vogel im Flug.Irina verstand nicht, wieso Alma von den zahlreichen Kunst-

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werken im Besitz der Belascos ausgerechnet dieses bedrü-ckende Bild für ihre Wohnung ausgewählt hatte. Auf demPorträtfoto war Ichimei Fukuda ein Mann unbestimmtenAlters, er hielt den Kopf leicht schräg, wie fragend, und dieAugen halb geschlossen, weil ihm die Sonne ins Gesichtschien, doch war sein Blick offen und unverstellt; seine vol-len, sinnlichen Lippen deuteten ein Lächeln an, sein Haarwar kräftig und dicht. Irina fühlte sich unwiderstehlich zudiesem Gesicht hingezogen, als riefe der Mann nach ihr oderversuchte ihr etwas Wichtiges zu sagen. Oft betrachtete sieihn, wenn sie allein in der Wohnung war, stellte sich vor, wieer wohl ansonsten aussah, erfand Charakterzüge für ihn undeine Biografie: Ichimei Fukuda hatte breite Schultern undwar ein Einzelgänger, er wusste seine Gefühle zu kontrollie-ren und hatte viel durchgemacht. Almas Weigerung, überihn zu reden, befeuerte Irinas Wunsch, ihn kennenzulernen.In einer der Kisten fand sie ein weiteres Foto von ihm zusam-men mit Alma am Strand, beide mit hochgekrempelten Ho-sen, die Sandalen in der Hand, die Füße im Wasser, lachend,einander schubsend. Die Neckerei der beiden da im Sandsah nach Liebe aus, nach körperlicher Nähe. Bestimmt wa-ren sie allein gewesen und hatten jemand, der zufällig vorbei-kam, gebeten, das Foto zu machen. Wenn Ichimei in AlmasAlter war, dann musste er die achtzig überschritten haben,aber Irina zweifelte keinen Moment daran, dass sie ihn er-kennen würde, wenn sie ihn träfe. Nur Ichimei konnte derGrund für Almas wiederholtes Verschwinden sein.

Irina wusste inzwischen vorherzusagen,wann es wieder soweit sein würde, weil ihre Chefin Tage vorher in ein verson-nenes, melancholisches Schweigen verfiel, das unvermitteltin kaum verhohlene Euphorie umschlug, sobald sie zum Auf-bruch entschlossen war. Offenbar wartete sie auf etwas, undwenn es eintrat, ging ihr das Herz über; sie warf ein paar Sa-

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chen in eine kleine Reisetasche, sagte Kirsten Bescheid, dasssie nicht ins Atelier kommen würde, und bat Irina, sich umNeko zu kümmern. Der Kater war schon alt und litt an einerReihe von Überempfindlichkeiten und Gebrechen; die lan-ge Liste der Futterempfehlungen und Medikamente hing ander Kühlschranktür. Er war der vierte in einer Abfolge vonähnlich aussehenden Katern, die alle denselben Namen ge-tragen und Alma durch verschiedene Abschnitte ihres Le-bens begleitet hatten. Alma brach mit der Eile einer Frisch-verliebten auf, ohne jemandem zu sagen, wohin sie fuhr oderwann sie zurückkommen würde. Zwei oder drei Tage ließ sienichts von sich hören und war dann unversehens, strahlendund ohne Sprit in ihrem Spielzeugauto wieder da. Irina küm-merte sich um ihre Rechnungen und hatte die Hotelbelegegesehen, außerdem war ihr aufgefallen, dass Alma zu diesenAusflügen ihre einzigenbeidenSeidennachthemdenmitnahmund nicht ihre üblichen Flanellpyjamas. Sie fragte sich, wa-rum Alma sich davonstahl, als täte sie etwas Verbotenes; siewar doch frei und konnte in ihrer Wohnung in Lark Houseempfangen, wen sie wollte.

Zwangsläufig wurde Seth von Irinas Spekulationen überden Mann auf dem Foto angesteckt. Sie hatte sich zwar ge-hütet, ihre Vermutungen ihm gegenüber zu erwähnen, aberweil er sohäufig zu Besuch kam, konnten ihm die Eskapadenseiner Großmutter nicht verborgen bleiben. Auf seine Nach-fragen behauptete Alma in dem spöttischen Ton, der zwi-schen den beiden herrschte, sie trainiere in einem Terrorcampoder sie experimentiere mit Ayahuasca oder was ihr sonst anHaarsträubendem in den Sinn kam. Seth war klar, dass er dasGeheimnis ohne Irinas Unterstützung nicht lüften konnte,nur würde er die so leicht nicht bekommen, denn Irina warAlma gegenüber unbedingt loyal. Er musste sie davon über-zeugen, dass Alma in Gefahr war. Sie wirke zwar kräftig für

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ihr Alter, sagte er, doch das täusche, sie habe hohen Blut-druck, ein schwaches Herz und Parkinson im Anfangsstadi-um, deshalb zitterten ihre Hände so. Er könne Irina nichtsNäheres darüber sagen, weil Alma sich geweigert habe, dieentsprechenden Untersuchungen machen zu lassen, aber siemüssten sie im Auge behalten und auf sie aufpassen.

»Für die Menschen, die einem lieb sind, möchte man Si-cherheit, Seth. Aber für sich selbst möchte man Unabhängig-keit. Deine Großmutter würde es niemals dulden, dass wiruns in ihre Privatangelegenheiten einmischen, und sei es, umsie zu beschützen.«

»Deshalb darf sie nichts davon mitkriegen«, sagte Seth.

Seth erzählte, etwas habe zu Beginn des Jahres 2010 plötz-lich, binnen zwei Stunden, aus seiner Großmutter eine ande-re Person gemacht. Eben noch eine erfolgreiche Künstlerinund ein Inbegriff an Pflichtbewusstsein, wandte sie sich abvon der Welt, von ihrer Familie und ihren Freunden, zog sichin ein Altenheim zurück, das nicht zu ihr passte,und kleidetesich wie eine tibetische Flüchtlingsfrau. Jedenfalls nach Mei-nung ihrer Schwiegertochter Doris, die einen Kurzschlussim Kopf vermutete, was auch sonst. Die alte Alma hatten siezum letzten Mal gesehen, als sie nach einem normalen Mit-tagessen sagte, sie werde sich noch ein bisschen hinlegen.Nachmittags um fünf hatte Doris dann an ihre Schlafzim-mertür geklopft, um sie an die abendliche Gala zu erinnern;sie fand Alma barfuß und in Unterwäsche am Fenster ste-hend und versunken in den Nebel blickend. Über einem Stuhllag wie ohnmächtig ihr prächtiges Abendkleid. »Sag Larry,dass ich nicht zur Gala komme und er für den Rest meinesLebens nicht mehr auf mich zählen kann.« Die Entschlossen-

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heit in ihrer Stimme duldete keine Nachfragen. Doris drück-te leise die Tür zu und überbrachte ihrem Mann die Nach-richt. Es war der Abend der Spendengala für die Belasco-Stif-tung, der wichtigste Abend im Jahr, an dem die Familie ihreÜberzeugungskraft unter Beweis stellen musste. Die Kellnerwaren schon mit dem Eindecken der Tische fertig, in der Kü-che liefen die Vorbereitungen für das Bankett auf Hochtou-ren, und das Kammerorchester war dabei, sich einzuspielen.Alma hielt jedes Jahr eine kurze Rede, immer mehr oder we-niger die gleiche, ließ sich mit den großzügigsten Spendernfotografieren und sprach mit der Presse; mehr wurde nichtvon ihr erwartet, alles andere übernahm ihr Sohn Larry. Dies-mal musste ganz auf sie verzichtet werden.

Am Tag darauf begannen die endgültigen Änderungen.Alma machte sich daran, Koffer zu packen, und entschied,dass ihr sehr wenig von dem, was sie besaß, in ihrem neuenLeben nützlich sein würde. Alles musste schlichter werden.Erst ging sie einkaufen, dann traf sie sich mit ihrem Steuer-berater und mit ihrem Anwalt. Sie legte eine umsichtig be-messene Rente für sich fest, übertrug ansonsten alles aufLarry, ohne Anweisungen, wie er es zu verwenden hätte, undkündigte an, sie werde nach Lark House ziehen. Die Warte-liste ersparte sie sich, indem sie einer Anthropologin denPlatz abkaufte, die für die gebotene Summe gern noch einpaar Jahre wartete. Von den Belascos hatte noch nie jemandetwas von dieser Einrichtung gehört.

»Das ist eine Residenz in Berkeley«, sagte Alma vage.»Ein Altenheim?« Larry sah sie entgeistert an.»Etwas in der Art. Ich werde die Jahre, die mir bleiben,

ohne Umstände und Ballast verbringen.«»Ballast? Damit kannst du doch nicht uns meinen!«»Was sollen wir den Leuten sagen!«, brach es aus Doris

heraus.

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»Dass ich alt und verrückt bin. Damit würdet ihr nicht lü-gen.«

Der Chauffeur brachte sie mit dem Kater und zwei Kof-fern hin. Eine Woche später ließ sich Alma einen neuen Füh-rerschein ausstellen, weil sie ihren alten seit Jahrzehnten nichtbenutzt hatte, und kaufte einen quietschgrünen Smart, derso klein und leicht war, dass ihn einmal, als er auf der Straßegeparkt war, drei übermütige Jungs hochhohen und auf denKopf stellten und sie ihn mit den Rädern in der Luft fand wieeine auf dem Panzer liegende Schildkröte. Nach eigenem Be-kunden hatte Alma diesen Wagen gewählt,weil die grelle Far-be von anderen Verkehrsteilnehmern gesehen und die Größedafür sorgen würde, dass sie, wenn sie aus Versehen jeman-den anfuhr, ihn jedenfalls nicht umbrachte. Das Auto fuhrsich wie eine Kreuzung aus Fahrrad und Rollstuhl.

»Wenn du mich fragst, Irina, hat meine Großmutter ernst-hafte gesundheitliche Probleme«, sagte Seth, »und hat sichaus Stolz in Lark House eingeschlossen, damit es niemandmitbekommt.«

»Dann wäre sie schon tot, Seth. Außerdem schließt sichniemand in Lark House ein, das hier ist eine offene Einrich-tung, in der die Leute ein- und ausgehen. Deswegen werdenja auch keine Alzheimerpatienten aufgenommen, weil diesich leicht verlaufen.«

»Das ist genau meine Befürchtung. Dass meine Großmut-ter bei einem ihrer Ausflüge nicht zurückfindet.«

»Bisher ist sie immer wiedergekommen. Sie weiß, wo siehinfährt, und ich glaube nicht, dass sie allein ist.«

»Aber wer ist denn bei ihr? Ein Verehrer? Du denkst dochwohl nicht, dass meine Großmutter mit einem Liebhaber insHotel geht!« Seth’ Lachen verebbte, als er sah, dass Irina kei-ne Miene verzog.

»Warum nicht?«

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»Sie ist steinalt!«»Wie man’s nimmt. Sie ist alt, nicht steinalt. In Lark House

gehört Alma zu den jungen. Außerdem gibt es in jedem AlterLiebe. Hans Voigt meint, es sei ratsam, sich im Alter zu ver-lieben; ist gut für die Gesundheit und hilft gegen Schwermut.«

»Wie machen es die Alten wohl? Ich meine, im Bett.«»Ohne Eile wahrscheinlich. Das müsstest du deine Groß-

mutter fragen.«Seth gelang es, Irina als seine Verbündete zu gewinnen,

und gemeinsam sammelten sie Indizien. Einmal in der Wo-che bekam Alma ein Kistchen mit drei Gardenien, das einBote für sie an der Rezeption abgab. Es trug weder den Na-men des Absenders noch den des Blumengeschäfts, aber Almazeigte sichnicht überrascht oder neugierig. Außerdem trafenin Lark House hin und wieder gelbe Umschläge ohne Ab-sender für sie ein, die sie wegwarf, nachdem sie ihnen einenkleineren Umschlag entnommen hatte, der ebenfalls an sieadressiert war, aber von Hand an ihre Adresse in Sea Cliff.Niemand von der Familie Belasco oder von den Hausange-stellten hatte diese Briefe angenommen und in den gelbenUmschlägen weiter nach Lark House geschickt. Man wusstedort nichts von ihnen, bevor Seth sie erwähnte. Irina undSeth konnten nicht herausfinden, wer der Absender war, wa-rum zwei Umschläge und zwei Adressen für ein und densel-ben Brief nötig waren und was mit dieser ungewöhnlichenKorrespondenz geschah. Da Irina keine Spur der Briefe inder Wohnung und Seth nichts in Sea Cliff fand, stellten siesich vor, dass Alma die Briefe in einem Bankschließfach ver-wahrte.

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12. April 1996

Wieder eine unvergessliche Hochzeitsreise mit Dir, Alma! Ichhabe Dich lange nicht so glücklich und gelöst gesehen. In Wa-shington hat uns das Schauspiel von eintausendsechshundertblühenden Kirschbäumen empfangen. Etwas Vergleichbares sahich einmal vor vielen Jahren in Kyoto. Blüht der Kirschbaum,den mein Vater in Sea Cliff gepflanzt hat, noch so?

Du hast die Namen in dem dunklen Stein des Vietnam Me-morials gestreichelt und zu mir gesagt, dass die Steine sprechen,dass man ihre Stimmen hören kann, dass die Toten in dieserMauer gefangen sind und uns rufen, dass sie empört sind überihr Opfer. Ich habe darüber nachgedacht. Geister gibt es über-all, Alma, aber ich glaube, sie sind frei und ohne Groll.

Ichi

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Das polnische Mädchen

Weil Irina und Seth nicht aufhörten zu fragen, erzählteihnen Alma schließlich doch in all den Einzelheiten,

die einem von den entscheidenden Momenten im Leben imGedächtnis bleiben, von ihrer ersten Begegnung mit IchimeiFukuda, und dann auch nach und nach von ihrem weiterenLeben. Sie lernte ihn im Frühling 1939 in dem prächtigenGarten des Hauses in Sea Cliff kennen. Damals war sie einkleines Mädchen, das weniger aß als ein Kanarienvogel, tags-über schwieg und die Nacht hindurch weinte, verborgen inden Tiefen eines Kleiderschranks mit drei Spiegeltüren, derin dem Zimmer stand, das Tante und Onkel für sie als eineSymphonie in Blau hergerichtet hatten: blau die Vorhängeund der Baldachin an ihrem Bett, der belgische Teppich, diekleinen Vögel auf der Tapete und die Kunstdrucke von Re-noir in ihren Goldrahmen; blau der Blick aus dem Fensterauf Meer und Himmel, wenn der Nebel sich aufgelöst hatte.Alma Mendel weinte um alles,was sie für immer verloren hat-te, auch wenn Tante und Onkel so nachdrücklich erklärten,ihre Trennung von den Eltern und von ihrem Bruder sei nurvorübergehend, dass ein weniger hellsichtiges Kind ihnen ge-wiss geglaubt hätte. Das letzte Foto von ihren Eltern, dassie aufbewahrt hatte, zeigte einen älteren Herrn, bärtig undernst, in einem langen schwarzen Mantel und mit Hut, undeine viel jüngere Frau, gebeugt von Kummer, die an der Molein Danzig standen und ihr mit weißen Taschentüchern nach-winkten. Sie wurden kleiner und kleiner und verschwam-

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men immer mehr, während der Dampfer mit einem klagen-den Tuten ablegte und Kurs nahm auf London und Alma, andie Reling geklammert, unfähig war, zurückzuwinken. In ih-rem Reisekleid bibbernd und verloren zwischen den ande-ren Passagieren, die sich am Heck drängten, um einen letz-ten Blick auf ihr Land zu werfen, versuchte Alma Haltung zuwahren, wie man ihr das von klein auf beigebracht hatte.Über die wachsende Wasserfläche hinweg spürte sie die Ver-zweiflung ihrer Eltern, und das bestärkte sie in ihrer Vorah-nung, dass dies ein Abschied für immer war. Ihr Vater hatte,was er sonst nie tat, seinen Arm um die Schulter der Muttergelegt, als wollte er sie abhalten, sich ins Wasser zu stürzen,während die Mutter mit einer Hand ihren Hut gegen denWind verteidigte und mit der anderen heftig das Taschen-tuch schwenkte.

Drei Monate zuvor hatte Alma zusammen mit ihnen aneben dieser Mole ihren zehn Jahre älteren Bruder Samuel ver-abschiedet. Ihre Mutter hatte viele Tränen vergossen über dieEntscheidung des Vaters, ihn nach England zu schicken, eineVorsichtsmaßnahme für den unwahrscheinlichen Fall, dasssich die Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg bewahr-heiteten. In England wäre der Junge davor gefeit, in die Ar-mee einberufen zu werden oder die Torheit zu begehen, sichfreiwillig zu melden. Die Mendels hätten sich nicht träumenlassen, dass Samuel zwei Jahre später in der Royal Air Forcegegen die Deutschen kämpfen würde. Alma sah ihn großspu-rig grinsend an Bord gehen, als bräche er zum großen Aben-teuer seines Lebens auf, und witterte zum ersten Mal die Ge-fahr, in der ihre Familie schwebte. Ihr Bruder war immer ihrLeitstern gewesen, er hatte ihre düsteren Momente aufge-hellt und mit seinem sieghaften Lachen, seinen Späßen undseinen Liedern am Klavier ihre Ängste vertrieben. Samuel wie-derum hatte sein Herz an Alma verloren, kaum dass er sie als

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Neugeborene zum ersten Mal in den Armen hielt, ein kleinesrosa Bündel, das nach Puder roch und maunzte wie ein Kätz-chen, und seine Begeisterung für die kleine Schwester war inden sieben Jahren bis zu ihrem Abschied stetig gewachsen.Als sie hörte, dass sie sich von Samuel trennenmusste, bekamAlma den einzigen Tobsuchtsanfall ihres Lebens. Erst weintesie nur und schrie, dann warf sie sich strampelnd auf den Bo-den, und schließlich landete sie in der Wanne mit eiskaltemWasser, in die ihre Mutter und ihre Hauslehrerin sie ohne Er-barmen eintauchten. Nach dem Abschied von Samuel warsie niedergeschlagen und unruhig, ahnte sie doch, dass dasnur der Auftakt war zu noch tiefgreifenderen Veränderun-gen. Sie hatte ihre Eltern über Lillian sprechen hören, eineSchwester ihrer Mutter, die in den USA lebte und mit IsaacBelasco verheiratet war, einem bedeutenden Mann, was je-des Mal dazugesagt wurde, wenn sein Name fiel. Bis vor kur-zem hatte Alma von dieser fernen Tante und dem bedeuten-den Mann nie gehört, und plötzlich sollte sie ihnen in ihrerschönsten Schrift Postkarten schreiben. Auch weckte es ih-ren Argwohn, dass ihre Hauslehrerin seit Neuestem im Ge-schichts- und Geografieunterricht wiederholt auf Kalifornienzu sprechen kam, einen orangen Fleck auf der anderen Seiteder Weltkugel. Ihre Eltern warteten bis nach dem Neujahrs-fest und eröffneten ihr dann, auch sie werde eine Weile imAusland zur Schule gehen, jedoch anders als ihr Bruder inder Obhut der Familie bleiben, nämlich bei ihrem OnkelIsaac und ihrer Tante Lillian und deren drei Kindern in SanFrancisco.

Die Fahrt von Danzig nach London und von dort weitermit dem Überseedampfer nach San Francisco dauerte sieb-zehn Tage. Die Mendels betrauten Miss Honeycomb, die eng-lische Hauslehrerin, damit, Alma wohlbehalten im HauseBelasco abzuliefern. Miss Honeycomb war eine alleinstehen-

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de Frau mit affektierter Aussprache, gezierten Manieren undverschnupftem Gesichtsausdruck, behandelte jeden, den siefür gesellschaftlich unterlegen hielt, mit Verachtung und leg-te gegenüber ihren Arbeitgebern eine schmierige Servilitätan den Tag, aber in den anderthalb Jahren, seit sie für dieMendels arbeitete, hatte sie deren Vertrauen gewonnen. Nie-mand mochte sie wirklich, und am wenigsten Alma, die je-doch bei der Auswahl der Erzieherinnen und Hauslehrer, diesich in ihren ersten Lebensjahren um sie kümmerten, nichtmitzureden hatte. Um Miss Honeycomb die Reise zu versü-ßen, versprach man ihr eine ansehnliche Gratifikation, dieihr ausgezahlt würde, sobald Alma bei den Belascos ange-kommen wäre. Miss Honeycomb und Alma reisten in einerder besten Kabinen an Bord, seekrank zunächst und spätergelangweilt. Die Engländerin war für die Passagiere der ers-ten Klasse kein Umgang, wäre aber lieber von Bord gesprun-gen, als sich unter ihresgleichen zu mischen, und redete folg-lich zwei Wochen mit niemandem, außer mit ihrer jungenSchülerin. Auf dem Schiff gab es noch andere Kinder, dochAlma wollte an keiner der angebotenen Vergnügungen teil-nehmen und schloss keine Freundschaften; sie war bockiggegenüber ihrer Hauslehrerin, weinte im Verborgenen, weilsie zum ersten Mal von ihrer Mutter getrennt war, las inihrem Märchenbuch und schrieb melodramatische Briefe,die sie persönlich zum Kapitän brachte, damit der sie imnächsten Hafen in die Post gab, weil sie fürchtete, dass MissHoneycomb mit den Briefen die Fische gefüttert hätte. Dieeinzigen denkwürdigen Ereignisse auf der zähen Überfahrtwaren die Durchquerung des Panama-Kanals und ein Mas-kenball, bei dem die mit Hilfe eines Betttuchs in eine grie-chische Vestalin verwandelte Miss Honeycomb von einemApachen in den Pool geschubst wurde.

Tante, Onkel, Cousinen und Cousin erwarteten Alma im

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belebten Hafen von San Francisco,wo sich so viele asiatischePacker um die Schiffe drängten, dass Miss Honeycombfürchtete, sie seien irrtümlich in Shanghai gelandet. TanteLillian, die einen grauen Persianer und einen türkischen Tur-ban trug, schnürte ihrer Nichte zur Begrüßung mit ihrerUmarmung die Luft ab, während sich Isaac Belasco und seinChauffeur darum bemühten, die vierzehn Truhen und sons-tigen Gepäckstücke der beiden Reisenden einzusammeln.Die zwei Cousinen, Martha und Sarah, begrüßten Alma miteinem kühlen Küsschen auf die Wange und vergaßen siedann umgehend, nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil sieim Alter waren, nach einem Bräutigam Ausschau zu halten,was sie blind machte gegenüber dem Rest der Welt. Obwohldie Familie Belasco sehr wohlhabend und angesehen war,sollte es ihnen nicht leichtfallen, die ersehnten Ehemännerzu finden, denn beide hatten die Nase des Vaters und diePummeligkeit der Mutter geerbt, hingegen nichts von seinerIntelligenz und ihrer Warmherzigkeit abbekommen. CousinNathaniel, einziger männlicher Spross der Familie,war sechsJahre jünger als seine Schwester Sarah und näherte sich tas-tend der Pubertät. Er war bleich, dünn und lang wie ein Rei-her, fühlte sich augenscheinlich unwohl in einem Körpermit zu vielen Ellbogen und Knien, besaß aber die nachdenk-lichen Augen eines großen Hundes. Er hielt Alma die Handhin, starrte dabei zu Boden und nuschelte den Begrüßungs-satz, den seine Eltern ihm aufgetragen hatten. Alma griff nachseiner Hand wie nach einem Rettungsring,und alle Versuchedes Jungen, sie wieder loszuwerden, waren vergebens.

So begann Almas Leben in dem großen Haus in Sea Cliff,in dem sie, von wenigen Unterbrechungen abgesehen, ihrenächsten siebzig Jahre verbringen sollte. In den ersten Mo-naten des Jahres 1939 brauchte sie fast ihren gesamten Vorratan Tränen auf und weinte danach nur noch sehr selten. Sie

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lernte, ihren Kummer allein und mit Würde zu tragen, in derÜberzeugung, dass die Probleme anderer niemanden küm-mern und dass der Schmerz, den man verschweigt, sich amEnde auflöst. Sie hatte die Maximen ihres Vaters übernom-men, eines Mannes von starren, unverrückbaren Grundsät-zen, der sich rühmte, alles aus eigener Kraft erreicht zu ha-ben und niemandem etwas schuldig zu sein, was nicht ganzstimmte. Vereinfacht lautete das Erfolgsrezept, das Mendelseinen Kindern von klein auf eingetrichtert hatte, sich nie-mals zu beklagen, um nichts zu bitten, zu versuchen, bei al-lem am besten zu sein, und keinem zu vertrauen. Alma sollteJahrzehnte an diesem Packen Steine schleppen, bis die Liebeihr half, wenigstens ein paar von den Brocken loszuwerden.Ihr stoisches Verhalten trug zu der geheimnisvollen Ausstrah-lung bei, die sie schon als Kind besaß, lange bevor es Geheim-nisse gab, die es zu hüten galt.

In der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre hatte Isaac Belas-co die schwierigsten Klippen umschiffen können, und seinVermögen war sogar gewachsen. Während andere alles ver-loren, arbeitete er bis zu achtzehn Stunden am Tag in seinerAnwaltskanzlei und investierte Geld in abenteuerliche Un-ternehmungen, die auf den ersten Blick halsbrecherisch wirk-ten, sich auf lange Sicht jedoch als sehr profitabel erwiesen.Er war förmlich,wortkarg und weichherzig.Weil diese Weich-herzigkeit für ihn an Charakterschwäche grenzte, war er be-müht, als unnachgiebige Autorität aufzutreten, doch mussteman nicht lange mit ihm zu tun haben, um seine Herzens-güte zu erahnen. Dass ihm der Ruf vorauseilte, ein mitfüh-lender Mensch zu sein, war seiner Karriere als Anwalt nichtförderlich. Als er später für einen Posten als Richter am ka-

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lifornischen Supreme Court kandidierte, verlor er die Wahl,weil seine Gegner ihm vorwarfen, seine Milde schade der Ge-rechtigkeit und der öffentlichen Sicherheit.

Isaac empfing Alma mit dem größten Wohlwollen in sei-nem Haus, aber es dauerte nicht lange, da begann das nächt-liche Weinen des Mädchens an seinen Nerven zu zerren. DasSchluchzen war erstickt, unterdrückt, durch die dicken, ver-zierten Schranktüren aus Mahagoniholz kaum zu hören,drang aber doch in sein Schlafzimmer auf der gegenüber-liegenden Seite des Flurs, wo er zu lesen versuchte. Er unter-stellte Kindern – wie Tieren – eine natürliche Anpassungs-fähigkeit und hoffte, das Mädchen werde sich bald überdie Trennung von den Eltern trösten oder die würden sichendlich entschließen, ebenfalls nach Amerika zu kommen.Gehemmt durch die Scham, die alle weiblichen Angelegen-heiten ihm einflößten, fühlte er sich außerstande, ihr zu hel-fen.Wo er schon das Verhalten seiner Frau und seiner Töchterfür gewöhnlich nicht verstand, schien ihm dieses polnischeMädchen, das noch keine acht Jahre alt war,vollkommen un-begreiflich. In ihm wuchs der abergläubische Verdacht, dieTränen seiner Nichte seien Vorboten einer schrecklichen Ka-tastrophe. In Europa waren die Narben des letzten großenKrieges noch sichtbar; die Erinnerung war frisch an die vonSchützengräben geschändete Erde, an die Millionen von To-ten, die Witwen und Waisen, den Gestank der verwesendenPferde, an das Giftgas, das Ungeziefer und den Hunger. Nie-mand wollte noch einmal einen solchen Flächenbrand erle-ben, aber Hitler hatte sich Österreich bereits einverleibt, kon-trollierte Teile der Tschechoslowakei, und seine Hetzredenzum Aufbau eines Reichs unter Führung einer Herrenrassekonnte man nicht als das Gefasel eines Wahnsinnigen abtun.Ende Januar hatte Hitler sein Vorhaben verkündet, die Weltvon der jüdischen Bedrohung zu befreien; es genügte ihm

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nicht mehr, die Juden aus dem Land zu jagen, sie sollten ver-nichtet werden. Manche Kinder haben seherische Fähigkei-ten, dachte Isaac Belasco, und womöglich ahnte Alma inihren schlimmen Träumen etwas Grauenvolles voraus unddurchlitt schon jetzt eine schreckliche Trauer.Worauf warte-ten seine Schwägerin und ihr Mann? Wieso verließen sie Po-len nicht? Seit einem Jahr schon drängte er sie vergeblich zudiesem Schritt, den bereits viele Juden aus Europa getan hat-ten. Er hatte ihnen seine Gastfreundschaft angeboten, ob-wohl die Mendels selbst über ausreichend Mittel verfügtenund seiner Hilfe nicht bedurften. Baruj Mendel behaupteteihm gegenüber eisern, die Grenzen Polens würden von Eng-land und Frankreich garantiert. Er wähnte sich in Sicherheit,beschützt durch sein Geld und seine wirtschaftlichen Ver-bindungen; unter dem Druck der Nazipropaganda schick-te er als einziges Zugeständnis seine Kinder außer Landes.Isaac Belasco war Mendel nie begegnet, hatte indes durchdie Briefe und Telegramme den Eindruck gewonnen, dassder Mann seiner Schwägerin so arrogant und unsympathischwie halsstarrig war.

Fast ein Monat sollte vergehen, ehe Isaac sich entschloss,in Almas Drama einzugreifen, doch da er noch immer nichtwusste, wie das zu bewerkstelligen wäre, schien ihm, seineFrau müsse sich der Sache annehmen. Die Eheleute trenntenachts nur eine Tür, die immer halb offen stand, weil Lillianaber etwas schwerhörig war und zum Schlafen Opiumtink-tur benutzte, hätte sie ohne den Hinweis ihres Mannes nieetwas von dem Weinen im Schrank erfahren. Zu dieser Zeitwar Miss Honeycomb schon wieder abgereist. Nach ihrerAnkunft in San Francisco hatte sie die versprochene Grati-fikation erhalten und war zwölf Tage später in ihre Heimatzurückgefahren, da ihr die rüden Manieren, der unverständ-liche Zungenschlag und die Demokratie der Amerikaner zu-

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wider waren, wie sie sagte, ohne sich im geringsten darüberGedanken zu machen,wie verletzend dieser Kommentar aufdie Belascos wirken musste, die gebildete Leute waren undsie mit ausgesuchter Höflichkeit empfangen hatten. Als Lil-lian auf einen Brief ihrer Schwester hin das Futter von AlmasReisemantel auftrennte, in dem die Mendels einige Diaman-ten eingenäht hatten – mehr um der Tradition willen, da dieSteine, um ihre Tochter abzusichern, nicht wertvoll genugwaren –, wurde sie nicht fündig. Der Verdacht fiel unverzüg-lich auf Miss Honeycomb, und Lillian forderte ihren Mannauf, einen der Ermittler seiner Anwaltskanzlei hinter derEngländerin herzuschicken, sie zu stellen und das Diebesgutvon ihr zurückzufordern, aber Isaac war der Meinung, derAufwand lohne nicht. Die Welt und die Familie seien schongenug in Aufruhr, als dass man noch Erzieherinnen über dieOzeane und durch die Kontinente verfolgen müsse; ein paarEdelsteine mehr oder weniger würden in Almas Leben kei-nen Unterschied machen.

»Meine Bridgefreundinnen haben mir von einem hervor-ragenden Kinderpsychologen in San Francisco erzählt«, sag-te Lillian zu ihrem Mann, als der ihr vom Weinen der Nichteberichtet hatte.

»Was ist das?« Der Patriarch blickte kurz von seiner Zei-tung auf.

»Was der Name schon sagt, Isaac, du musst dich nichtdumm stellen.«

»Kennt etwa eine von deinen Freundinnen jemand miteinem so unausgeglichenen Kind, dass man es in die Händeeines Psychologen geben müsste?«

»Bestimmt, Isaac, aber eher würden sie sterben, als das zu-zugeben.«

»Die Kindheit ist ihrer Natur nach eine unglückliche Pha-se im Leben, Lillian. Dieses Märchen, dass Kinder es ver-

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dient hätten, glücklich zu sein, hat Walt Disney erfunden, umGeld zu verdienen.«

»Du bist ein Sturkopf ! Wir können doch Alma nicht ewigso weiterweinen lassen. Man muss doch etwas tun.«

»Gut, Lillian. Wir können zu diesem letzten Mittel grei-fen, wenn alles andere versagt. Fürs Erste könntest du ihr einpaar von deinen Nachttropfen geben.«

»Ich weiß nicht, Isaac, das scheint mir eine zweischneidi-ge Sache. Wir sollten das Kind vielleicht nicht zu früh schonzur Opiumsucht verleiten.«

Noch waren sie in ihrem Gespräch über das Für und Wi-der von Kinderpsychologen und Opiumtropfen nicht zueiner Einigung gelangt, da fiel ihnen auf, dass im Kleider-schrank seit drei Nächten Ruhe herrschte. Zwei weitereNächte lauschten sie angestrengt, aber das Mädchen hattesich offenbar auf unerklärliche Weise beruhigt und schliefjetzt nicht nur durch, sondern begann auch wie jedes norma-le Kind zu essen. Alma hatte ihre Eltern und ihren Brudernicht vergessen und wünschte sich weiter, dass sie bald wie-der zusammen wären, doch ihr Tränenvorrat war langsamaufgebraucht,und sie wurde abgelenkt von der beginnendenFreundschaft zu den beiden Menschen, die die einzigen Lie-ben ihres Lebens werden sollten: Nathaniel Belasco, balddreizehn Jahre alt, war der jüngste Sohn der Belascos, undIchimei Fukuda, der wie sie bald acht würde,war der jüngsteSohn des Gärtners.

Martha und Sarah, die Töchter der Belascos, lebten in einerWelt, die mit Alma wenig zu tun hatte, und waren mit Mode,mit Partys und mit möglichen Ehemännern so sehr beschäf-tigt, dass sie, wenn sie ihr in irgendeinem Winkel des gro-

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ßen Hauses in Sea Cliff oder bei einem der seltenen steifenAbendessen im Speisesaal begegneten, jedes Mal stutztenund erst überlegen mussten, wer die Kleine war und wassie hier tat. Nathaniel dagegen konnte sie unmöglich über-sehen, weil sie ihm vom ersten Tag an nicht von der Seitewich und entschlossen schien, ihren geliebten Bruder Samu-el durch den schüchternen Cousin zu ersetzen. Auch wennfünf Jahre sie trennten, war er ihr von allen Belascos alters-mäßig amnächsten und mit seinem scheuen und sanften Na-turell außerdem der zugänglichste. Das Mädchen rief beiNathaniel eine Mischung aus Faszination und Angst hervor.Sie schien einer Daguerreotypie entstiegen, sprach mit die-sem lupenreinen englischen Akzent, den sie von ihrer lang-fingrigen Hauslehrerin gelernt hatte, besaß diesen Totengrä-berernst, war steif und eckig wie ein Brett, roch nach denMottenkugeln in ihren Reisetruhen und hatte diese weißeHaarsträhne in der Stirn, die sich keck von dem Tiefschwarzihrer Haare und ihrem olivfarbenen Teint abhob. Zuerst ver-suchte Nathaniel, vor ihr zu flüchten, aber Alma ließ sichin ihren unbeholfenen Bemühungen um seine Freundschaftnicht entmutigen,und er gab schließlich nach, denn er besaßdas gute Herz seines Vaters. Längst ahnte er den stillen Kum-mer seiner Cousine, der sich hinter ihrem Stolz verbarg, ret-tete sich jedoch in allerlei Ausreden, um ihr nicht helfen zumüssen. Alma war ein kleines Kind, sie hatten nichts gemein-sam als diese dünnen Blutsbande, sie war bloß vorüberge-hend in San Francisco und folglich wäre es verschwendeteLiebesmüh, eine Freundschaft mit ihr zu beginnen. Als nachdrei Wochen noch immer nichts darauf hinwies, dass derBesuch der Cousine bald enden würde, erschöpfte sich die-se Ausrede, und er ging seine Mutter fragen, ob sie womög-lich vorhatten, Alma zu adoptieren. »Ich hoffe, so weit wirdes nicht kommen«, antwortete ihm Lillian mit einem Schau-

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dern. Die Nachrichten aus Europa waren sehr beunruhigend,und die Möglichkeit, dass ihre Nichte zur Waise würde,drängte in ihre Vorstellung. Aus dem Tonfall der Antwortschloss Nathaniel, dass Alma auf unbestimmte Zeit blei-ben würde und es ratsam wäre, sie zu mögen. Er schliefim anderen Flügel des Hauses, und niemand sagte ihm, dassAlma im Schrank weinte, aber irgendwie erfuhr er davonund schlich jetzt häufig nachts zu ihr, um ihr Gesellschaftzu leisten.

Nathaniel war es auch, der Alma mit den Fukudas bekanntmachte. Sie hatte sie schon durch die Fenster gesehen, gingaber erst hinaus in den Garten, als der Frühling kam und dasWetter sich besserte. An einem Samstagmorgen versprach ihrNathaniel eine Überraschung, verband ihr die Augen undführte sie an der Hand durch Küche und Waschküche inden Garten. Als er die Binde abnahm und sie hochschaute,blickte sie in die Krone eines prachtvoll blühenden Kirsch-baums, in eine Wolke aus rosa Watte. Neben dem Baumstand, auf einen Spaten gestützt, ein asiatisch aussehenderMann in Overall und Strohhut, mit sonnengegerbter Haut,nicht groß, aber breitschultrig. In abgehacktem, schwer zuverstehendem Englisch sagte er zu Alma, dieser Moment seisehr schön, werde aber nur wenige Tage anhalten und baldwürden die Blüten auf die Erde fallen wie Regen; besser seidie Erinnerung an den blühenden Kirschbaum, denn die hal-te das ganze Jahr bis zum kommenden Frühling. Der Mannwar Takao Fukuda, der japanische Gärtner, seit vielen Jahrenin Isaac Belascos Diensten und der einzige Mensch, vor demder Hausherr aus Respekt seinen Hut abnahm.

Nathaniel ging zurück ins Haus und ließ seine Cousinebei Takao, der ihr den gesamten Garten zeigte. Er führte sieüber die verschiedenen am Hang angelegten Terrassen, vonder Kuppe des Hügels, wo das Haus stand, bis hinunter zum

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Strand. Auf schmalen Pfaden kamen sie an von der Feuchtig-keit grün gewordenen Marmorskulpturen vorbei, an Brun-nen, an exotischen Bäumen und Sukkulenten, und Takao er-klärte ihr, woher die Pflanzen stammten und welche Pflegesie benötigten, bis sie einen mit Kletterrosen bewachsenenLaubengang erreichten, von dem aus man einen Panorama-blick über das Meer hatte, den Eingang zur Bucht zur Lin-ken und die zwei Jahre zuvor eröffnete Golden Gate Bridgezur Rechten. Von hier konnte man Kolonien von Seelöwensehen, die sich auf den Felsen sonnten, und mit Geduldund etwas Glück ließen sich am Horizont manchmal Waleerspähen, die aus dem Norden in die Gewässer vor Kalifor-nien zogen, um ihre Kälber zu gebären.Vom Aussichtspunktführte Takao Alma ins Gewächshaus, die Miniaturausgabeeines viktorianischen Bahnhofs aus Schmiedeeisen und Glas.Dort keimten im gedämpften Licht und der von Heizungund Sprinkleranlage erzeugten feuchten Wärme die erstenzarten Pflanzen in Töpfen, auf denen jeweils der Name standund die Zeit, zu der sie ausgepflanzt werden sollten. Zwi-schen zwei langen, groben Holztischen entdeckte Alma ei-nen Jungen, der mit ein paar Setzlingen beschäftigt war, aberdie Schere sinken ließ, als er sie kommen hörte, und stramm-stand wie ein Soldat. Takao trat zu ihm, flüsterte ihm etwaszu in einer Sprache, die Alma nicht verstand, und verwu-schelte ihm das Haar. »Mein jüngster Sohn«, sagte er. Almabetrachtete Vater und Sohn unverhohlen, wie Wesen eineranderen Spezies; die beiden sahen nicht aus wie die Orien-talen auf den Illustrationen der Encyclopædia Britannica.

Der Junge grüßte sie mit einer Verbeugung des Oberkör-pers und hielt den Kopf gesenkt, während er sich vorstellte:

»Ich bin Ichimei, das vierte Kind von Takao und HeidekoFukuda, es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen,junge Dame.«

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»Ich bin Alma, die Nichte von Isaac und Lillian Belasco,es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, meinHerr«, entgegnete Alma überrascht und amüsiert.

Diese anfängliche Förmlichkeit, die später durch Zunei-gung eine humorvolle Note bekommen sollte, gab den Tonihrer langen Beziehung vor. Alma, die größer war und stäm-miger, wirkte älter als Ichimei. Doch dessen zierliche Staturtrog, er hob mühelos die schweren Säcken mit Erde undschob die beladene Schubkarre den Hügel hinauf. Sein Kopfwirkte groß im Verhältnis zu seinem Körper, seine Haut warhonigfarben, die schwarzen Augen standen weit auseinan-der, und sein Haar war fest und störrisch. Noch waren ihmnicht alle bleibenden Zähne gewachsen, und wenn er lachte,wurden seine Augen zu Strichen.

Den Rest des Vormittags blieb Alma bei ihm, während erdie Setzlinge in die von seinem Vater vorbereiteten Löcherpflanzte und ihr die Geheimnisse des Gartens zeigte, das Ge-flecht der Wurzeln im Boden, die unscheinbaren Insekten,die noch kaum aus der Erde ragenden Sprosse, die schonin einer Woche eine Handbreit hoch sein würden. Er erklärteihr, dass die Chrysanthemen, die er jetzt aus dem Gewächs-haus holte, im Frühling ausgepflanzt wurden, damit sie imFrühherbst, wenn die Sommerblumen vergangen wären, Blü-ten trieben und den Garten mit Farbe und Fröhlichkeit füll-ten. Er zeigte ihr die Rosenbüsche mit den vielen Triebansät-zen, die man bis auf ein paar wenige entfernen musste, damitdie Blüten groß und gesund wurden. Er erklärte ihr den Un-terschied zwischen Zwiebelgewächsen und solchen, die manaus Samen vermehrte, zwischen Schattenpflanzen und ande-ren, die Sonne brauchten, zwischen den einheimischen unddenen, die von weit her kamen. Takao, der die beiden ausdem Augenwinkel verfolgte, kam irgendwann zu ihnen undsagte zu Alma, die Aufgaben, die Fingerspitzengefühl erfor-

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derten, überlasse er Ichimei, denn der besitze eine angebore-ne Begabung dafür. Der Junge errötete über das Lob.

Von diesem Tag an wartete Alma mit Ungeduld auf dieGärtner, die zuverlässig jedes Wochenende eintrafen. TakaoFukuda nahm Ichimei stets mit und ließ sich manchmal,wenn viel zu tun war, auch von seinen älteren Söhnen Charlesund James begleiten oder von Megumi, seiner einzigen Toch-ter, die etliche Jahre älter war als Ichimei, sich nur für Natur-wissenschaften interessierte und sich höchst ungern die Hän-de mit Erde schmutzig machte. Geduldig und disziplinierterledigte Ichimei seine Aufgaben, ohne sich durch Almas An-wesenheit ablenken zu lassen,und vertraute darauf, dass seinVater ihm am Ende des Tages eine halbe Stunde freigebenwürde, um mit ihr zu spielen.

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