im gefängnis des glaubens · going clear. scientology, hollywood, & the prison of belief bei...

42
Lawrence Wright Im Gefängnis des Glaubens

Upload: others

Post on 16-Jul-2020

1 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Lawrence Wright

Im Gefängnis des Glaubens

Page 2: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe
Page 3: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Lawrence Wright

Im Gefängnis des Glaubens

Scientology, Hollywood und die Innenansicht einer

modernen Kirche

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Deutsche Verlags-Anstalt

Page 4: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York.

Rechtlicher HinweisDie in diesem Buch geschilderten Abläufe und Geschehnisse beziehen sich aus-schließlich auf die Church-of-Scientology-Organisation in den USA und nicht auf die rechtlich selbstständigen deutschen Niederlassungen der Church of Scientology.Die Church-of-Scientology-Organisation hat unter http://www.scientologynews.org/statements/scientology-statement-wright-book.html eine Stellungnahme zur US-Ausgabe des vorliegenden Buches abgegeben und unter http://www. lawrencewrightgoingclear.com/ ausführlich ihre Sicht der Dinge dargelegt.

Verlagsgruppe Random House FSC® N001967Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte Papier EOSliefert Salzer, St. Pölten.

Copyright © 2013 Lawrence WrightCopyright © 2013 der deutschsprachigen AusgabeDeutsche Verlags-Anstalt, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenTypografie und Satz: DVA/Brigitte MüllerRedaktion: Manuela Knetsch, MünchenGesetzt aus der GaramondDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in GermanyISBN 978-3-421-04535-5

www.dva.de

Page 5: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Für meine Kollegen beim

New Yorker

Page 6: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe
Page 7: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

7

Inhalt

Einleitung 9

TeIl I

Scientology

1 Der Bekehrte 19 2 Die Quelle 43 3 Über Bord 125

TeIl II

Hollywood

4 Die Glaubensfabrik 205 5 Die Befreiung vom Körper 241 6 Im Dienst der Stars 285 7 Die Zukunft gehört uns 318 8 Bohemian Rhapsody 357 9 TC und COB 394

TeIl III

Im Gefängnis des Glaubens

10 Auf der Suche nach der Wahrheit 443 11 Tommy 477

Page 8: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Nachwort 510

Dank und Hinweise zu den Quellen 527 Abkürzungsverzeichnis 536 Kleines Glossar 537 Anmerkungen 539 Bibliografie 600 Register 606 Bildnachweis 624

Page 9: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

9

Einleitung

Unter den neuen religiösen Bewegungen, die im 20. Jahrhundert entstanden und die Jahrtausendwende überlebt haben, nimmt Scien tology einen prominenten Platz ein. Die Kirche* nennt keine Mitgliederzahlen, gibt die Zahl ihrer Angehörigen inoffiziell jedoch mit weltweit acht Millionen an; so hoch ist laut Scientology die Zahl der Personen, die der Organisation Geld gespendet haben.1 Vor Kurzem behauptete Scientology in einem Werbespot, jedes Jahr 4,4 Millionen neue Mitglieder zu gewinnen.2 Aber nach Aussage eines ehemaligen Sprechers der Organisation hat die International Association of Scientologists, in die jeder Scientologe eintreten muss, nur etwa 30 000 Mitglieder.3 Die größte Scientology-Gemeinde ist jene von Los Angeles: Sie hat rund 5000 Mitglieder. Aus dem von der amerikanischen Volkszählungsbehörde herausgegebenen Statis-tikjahrbuch Statistical Abstract of the United States geht hervor, dass sich nur rund 25 000 Amerikaner als Scientologen bezeichnen. Die Rastafari-Bewegung hat doppelt so viele Anhänger.

Obwohl ihre Mitgliederzahl seit Jahrzehnten schrumpft und die Organisation immer wieder von Skandalen erschüttert wird, die andere Glaubensgemeinschaften kaum überlebt hätten, erfreut sich Scientology mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des geheimnisvollen Religionsstifters L. Ron Hubbard weiterhin guter Gesundheit. Zum Teil verdankt die Organisation ihr Über-

* Anm. d. Ü.: Die Organisation ist in den Vereinigten Staaten als Religions-gemeinschaft anerkannt.

Page 10: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Einleitung

10

leben ihrem fantastischen Reichtum: Nach Aussage gut informier-ter ehemaliger Mitglieder besitzt sie liquide Mittel von etwa einer Milliarde Dollar. Gemessen an den Barreserven gibt es auf der Welt kaum eine religiöse Organisation, die so reich ist wie Scientology.4 Dieses Vermögen verdankt die Scientology-Kirche dem Wohlstand ihrer Mitglieder, den unablässigen und aggressiven Spendensamm-lungen und den Urheberrechten an Tausenden Büchern und Arti-keln, die Hubbard hinterlassen hat.

Scientology hat ein Immobilienimperium aufgebaut, das sich über eine Fläche von rund einer Million Quadratmeter erstreckt.5 Das Zentrum dieses Imperiums ist Hollywood, wo die Organisation 26 Liegenschaften mit einem Gesamtwert von 400 Millionen Dollar besitzt. Zuletzt hat Scientology für einen eigenen Fernsehsender ein Studiogebäude am Sunset Boulevard erworben.6 In Clearwater in Florida, wo die Organisation ihr spirituelles Hauptquartier hat, besitzt sie 68 überwiegend steuerbefreite Immobilien mit einem Wert von insgesamt 168 Millionen Dollar, darunter Wohnhäuser, Hotels und Motels, Lagerhäuser, Schulen, Bürogebäude, eine Bank und Baugrundstücke.7 Scientology konzentriert sich auf architekto-nische Wahrzeichen an prominenter Stelle, etwa im Viertel Music Row in Nashville, am Dupont Circle in der Hauptstadt Washington und am Times Square in New York. Eine ähnliche Strategie verfolgt die Organisation bei der Wahl ihrer Standorte in anderen Ländern. Liebevoll restaurierte Architekturschätze werden verschwenderisch eingerichtet, selbst wenn die örtliche Scientology-Niederlassung kaum Mitglieder hat. Die Organisation besitzt ein 200 Hektar gro-ßes Anwesen in Südkalifornien und ein Kreuzfahrtschiff namens Freewinds, dessen Heimathafen sich in der Karibik befindet. Die Church of Spiritual Technology, jener Zweig der Organisation, der die Marken- und Urheberrechte an allen Scientology-Materialien einschließlich der zahlreichen Romane Hubbards besitzt, unterhält in mindestens drei amerikanischen Bundesstaaten an abgelegenen Orten geheime Stützpunkte. Dort werden die Werke des Religi-

Page 11: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Einleitung

11

onsstifters in atombombensicheren Höhlen in Titanbehältern auf-bewahrt. Eine dieser Lagerstätten befindet sich in Trementina in New Mexico. Die Anlage hat ein eigenes Flugfeld, und in den Wüs-tenboden wurden zwei riesige, miteinander verschlungene Ringe gemeißelt – manche meinen, es handle sich um ein Signal für UFOs, andere glauben, das Zeichen solle Hubbards Reinkarnation die Orientierung erleichtern, wenn er sich eines Tages zur Rückkehr auf die Erde entschließt.

Es gibt drei Gruppen von Scientologen. Die »öffentlichen Scien-tologen« stellen die Mehrheit der Mitglieder. Viele von ihnen sind in einer U-Bahn-Station oder einem Einkaufszentrum erstmals in Berührung mit Scientology gekommen. Ihnen wurde ein kos-tenloser »Stresstest« oder ein Persönlichkeitstest namens »Oxford Capacity Analysis« angeboten (die Universität Oxford hat nichts mit Scientology zu tun). Potenziellen Klienten wird zumeist erklärt, sie hätten Probleme, die Scientology lösen könne. Die Anwerber bieten ihnen an, in einer Niederlassung der Organisation an einem Kurs teilzunehmen oder sich einer Therapie zu unterziehen, die im Scientology-Jargon als »Auditing« bezeichnet wird. Die meis-ten Leute lassen es dabei bewenden. Aber einige beginnen einen langwierigen und kostspieligen Aufstieg auf der spirituellen Leiter von Scientology.

Dass diese religiöse Bewegung einen gewissen geheimnisvollen Reiz ausübt, liegt vor allem daran, dass unter ihren Mitgliedern auch einige Hollywood-Schauspieler und andere Prominente sind. Um die Welt davon zu überzeugen, dass Scientology ein einzig artiger Zufluchtsort für Filmstars mit spirituellen Bedürfnissen und ein Sprungbrett zum Ruhm ist, betreibt die Organisation in Hollywood und anderen Zentren der Unterhaltungsindustrie Treffpunkte für Prominente, sogenannte »Celebrity Centres«. Jeder Scientologe hat Zugang zu den Celebrity Centres: Scientology verdankt ihre Attrak-tivität zum Teil der Tatsache, dass man als gewöhnliches Mitglied in einem dieser Kurse neben einem bekannten Schauspieler oder Musi-

Page 12: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Einleitung

12

ker sitzen kann. In der Praxis haben die wirklichen Berühmtheiten jedoch eigene Eingänge und Räume, in denen sie unter sich sind. Sie mischen sich nur selten mit den gewöhnlichen Mitgliedern – nur besonders großzügige Spender, die ebenfalls einen höheren Status genießen, kommen in Kontakt mit Filmstars. Es ist unmöglich fest-zustellen, wie viele Prominente tatsächlich Scientology angehören. Das hat nicht nur damit zu tun, dass der Begriff Prominenter sehr dehnbar ist, sondern liegt auch daran, dass einige bekannte Per-sönlichkeiten, die Kurse oder ein Auditing absolviert haben, nicht wünschen, dass ihre Mitgliedschaft publik gemacht wird.

Ein gewöhnlicher »öffentlicher Scientologe« fällt nicht auf. Niemand muss seine Überzeugungen kennen. Wenden sich solche Mitglieder wieder von Scientology ab, so hängen sie das nur selten an die große Glocke. Sie ziehen sich in aller Stille zurück und werden von der Scientologen-Gemeinde ausgegrenzt (obwohl sie vermutlich für den Rest ihres Lebens mit Post und telefonischen Spendenaufrufen verfolgt werden). Die prominenten Mitglieder hingegen werden unablässig gedrängt, Petitionen zu unterschreiben, in Workshops und bei Galaveranstaltungen aufzutreten oder ihr Foto samt dem Bekenntnis »Ich bin Scientologe« veröffentlichen zu lassen. Ihre Berühmtheit verschafft Scientology größeren Einfluss. Sie werden eingesetzt, um die gesellschaftlichen Anliegen der Orga-nisation in der Öffentlichkeit zu vertreten: Sie sollen die Psychiatrie und die Pharmaindustrie angreifen und die umstrittenen Theorien Hubbards über Erziehung und Drogenentzug verbreiten. Da ihre Namen mit Scientology verknüpft werden, fällt es enttäuschten Prominenten schwerer, sich wieder von der Organisation zu lösen.

Hätte Scientology nur die öffentlichen und prominenten Mit-glieder, so wäre die Organisation nicht lebensfähig. Um funktio-nieren zu können, braucht sie eine dritte Gruppe. Diese Schicht, die dem Klerus der christlichen Kirchen vergleichbar ist, stellt die Belegschaft der Sea Organization, die im Scientology-Jargon nur »Sea Org« heißt. Hervorgegangen ist diese Einheit aus der priva-

Page 13: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Einleitung

13

ten Marine, die Hubbard ein Jahrzehnt lang kommandierte, als er sich auf den Weltmeeren der Kontrolle staatlicher Behörden zu entziehen versuchte. Scientology gibt die Zahl der weltweiten Sea-Org-Mitglieder abwechselnd mit 5000, 6000 oder 10 000 an.8 Ehemalige Sea-Org-Mitglieder schätzen die tatsächliche Zahl auf 3000 bis 5000. Der Großteil dieser Arbeitskräfte ist in Clearwater (Florida) und in Los Angeles stationiert.9 Viele von ihnen gehören der Organisation seit ihrer Kindheit an. Sie haben fast keine Schul-bildung erhalten und sind vollkommen mittellos, da sie für ihre Arbeit nur einen sehr geringen Lohn erhalten. Um ihr unerschüt-terliches Bekenntnis zur Verbreitung von Hubbards Lehren auszu-drücken, haben sie einen »Ewigkeitsvertrag« mit einer Laufzeit von einer Milliarde Jahre unterschrieben – ein sehr kurzer Zeitraum im ewigen Weltenplan, denn laut Scientology ist das Universum vier Billiarden Jahre alt.

Scientology bestreitet die Aussagen vieler der Personen, die ich für dieses Buch interviewt habe, insbesondere die Berichte zahl-reicher ehemaliger Mitglieder der Sea Org, die in den Augen der Organisation »Apostaten« und »Abtrünnige« sind. Einige dieser Personen lehnen die Lehren L. Ron Hubbards mittlerweile tat-sächlich ab, aber viele von ihnen bezeichnen sich weiterhin als gläubige Scientologen und werfen der Scientology-Kirche vor, von der wahren Lehre abgewichen zu sein. Einige dieser »Abtrünnigen« bekleideten Positionen in der Führungsspitze der Organisation.

Kaum einer der neuen religiösen Bewegungen haftet ein ähnlich negatives Image an wie Scientology. Die Gründe dafür sind ihre verschrobene Kosmologie, ihre Rachsucht gegenüber Kritikern und Abtrünnigen und der Schaden, den sie ungezählten Familien zugefügt hat, die zerrissen wurden durch die Politik der »Discon-nection« – Scientology zwingt ihre Mitglieder, die Verbindung zu allen Menschen abzubrechen, die nach Ansicht der Organisation dem spirituellen Fortschritt der Scientologen im Weg stehen. In den Vereinigten Staaten steht Scientology als anerkannte Religions-

Page 14: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Einleitung

14

gemeinschaft unter dem Schutz der Verfassung, weshalb sie unge-straft Praktiken nachgehen kann, die eigentlich gegen die Gesetze über Menschenhandel und gegen das Arbeitsrecht verstoßen.

Viele dieser Praktiken sind allgemein bekannt. Trotzdem lockt Scientology weiterhin neugierige Menschen an – obwohl die von der Organisation genannten Zahlen deutlich übertrieben sein dürf-ten. Es tauchen weiterhin Prominente in den VIP-Zentren von Scientology auf, und es verpflichten sich weiterhin junge Menschen für die nächste Milliarde Jahre ihres Daseins zum Dienst in einer Organisation, die ihnen gnadenlose Ausbeutung bei nahezu völli-gem Lohnverzicht verspricht. Obwohl die allgemeine Einschätzung lautet, dass Scientology eine Sekte und ein Schwindel ist, gelingt es dieser Organisation nach wie vor, Menschen anzuwerben.

Ich habe einen großen Teil meines Berufslebens damit verbracht, die Auswirkungen religiöser Überzeugungen auf das Leben der Menschen zu untersuchen. Die Religion hat die Gesellschaft im Lauf der Geschichte sehr viel nachhaltiger geprägt als die Poli-tik, die der Untersuchungsgegenstand so vieler Journalisten ist. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich Antworten auf Fragen suche, die sich viele Menschen stellen: Was macht die Attraktivität von Scientology aus? Welchen Nutzen ziehen die Scientologen aus ihrer Mitgliedschaft? Wie können scheinbar vernünftige Menschen Vorstellungen übernehmen, die vollkommen abwegig scheinen? Warum bekennen sich populäre Persönlichkeiten zur Scientology-Kirche, obwohl das mit einiger Wahrscheinlichkeit ihrem Ansehen schaden wird? Diese Fragen betreffen nicht nur Scientology, aber sie müssen zweifellos gestellt werden, wenn man sich mit dieser Organisation beschäftigt. In diesem Buch versuche ich sie zu beant-worten. Ich hoffe, aus der Untersuchung können wir etwas über ein Phänomen lernen, das ich als »Prozess des Glaubens« bezeichnen möchte. Nur wenige Scientologen haben ein Bekehrungserlebnis gehabt und ihrem Leben plötzlich eine vollkommen andere Rich-tung gegeben. Zumeist werden sie Schritt für Schritt dazu gebracht,

Page 15: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Einleitung

Lehren zu akzeptieren, die sie inakzeptabel oder absurd gefunden hätten, hätte man sie bei ihrem Eintritt in diese Organisation damit konfrontiert. Für das Versprechen außergewöhnlicher Fähigkeiten und großer Macht geben sie im Lauf der Zeit ihren freien Willen auf. Anhand dieses Beispiels können wir veranschaulichen, wie der Motor funktioniert, der alle großen gesellschaftlichen Bewegungen unabhängig von ihrem Nutzen für die Menschheit antreibt.

Lawrence WrightAustin, Texas

Page 16: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe
Page 17: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

TeIl I

Scientology

Page 18: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe
Page 19: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

19

1 Der Bekehrte

London in Ontario, eine mittelgroße Stadt auf halbem Weg zwi-schen Toronto und Detroit, war früher für Zigarren und Bier bekannt. Wie ihre berühmte Namenspatronin hat auch diese Stadt London einen Covent Garden, eine Piccadilly Street und sogar eine Themse, die sich hier teilt und die nicht allzu beeindruckende, vom wirtschaftlichen Niedergang gezeichnete Innenstadt des kana-dischen London umfließt. Die Stadt liegt in einem Becken, das für sein unangenehm feuchtes Klima bekannt ist. Die Sommer sind außergewöhnlich schwül, die Winter bitterkalt, Frühling und Herbst angenehm, aber sehr kurz. Der bekannteste Sohn der Stadt war bis in die achtziger Jahre der Bandleader Guy Lombardo, zu dessen Ehren ein Museum errichtet wurde, das jedoch wegen Besu-chermangel bald wieder geschlossen werden musste. Dieses London war ein hartes Pflaster für einen Künstler, der auf der Suche nach sich selbst war.

Paul Haggis war 21 Jahre alt, als er an einem Tag im Jahr 1975 auf dem Weg zu einem Plattenladen an der Ecke Dundas und Waterloo Street im Stadtzentrum einem langhaarigen jungen Mann mit durchdringendem Blick und einem sonderbar eindringlichen Auftreten begegnete. Der Mann sprach schnell und leidenschaftlich. Sein Name war Jim Logan. Er drückte Haggis ein Buch in die Hand und sagte: »Du hast Verstand. Hier hast du das Benutzerhandbuch für deinen Kopf.« Dann forderte er: »Gib mir zwei Dollar.«1

Der Titel des Buchs lautete Dianetics: The Modern Science of Men-tal Health (dt. Titel: Dianetik: Der Leitfaden für den mensch lichen

Page 20: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

20

Verstand). Der Autor war L. Ron Hubbard. Als sich Haggis ein Exemplar des 1950 erschienenen Buchs aufschwatzen ließ, waren weltweit bereits mehr als zwei Millionen davon verkauft worden. Haggis schlug das Buch auf und sah einen Stempel mit den Worten »Church of Scientology«.

»Bring mich dorthin«, sagte er zu Logan.Zu jener Zeit gab es in der Provinz Ontario nur eine Handvoll

Scientologen. Aber Haggis hörte nicht zum ersten Mal von dieser Organisation. Ein Freund hatte ihm von Scientology erzählt und sie als Sekte bezeichnet. Das hatte Haggis’ Interesse geweckt. Er war auf die Idee gekommen, einen Dokumentarfilm über diese Glau-bensgemeinschaft zu drehen. Die Niederlassung von Scientology in London sah nicht wie eine religiöse Kultstätte aus: Sie bestand aus einem schäbigen Büro über einem Woolworth. Dort warteten zwei junge Männer auf Besucher.

Haggis war Atheist und wollte nicht in ein Glaubenssystem hinein gezogen werden. Um seine Zweifel zu zerstreuen, zeigte Logan ihm eine Passage aus Hubbards Buch: »Wahr ist das, was für Sie wahr ist. Niemand hat das Recht, Ihnen Informationen auf-zuzwingen und Ihnen unter Drohung zu befehlen, sie zu glauben. Wenn es für Sie nicht wahr ist, ist es nicht wahr.«2 Damit konnte sich Haggis identifizieren.

Paul Haggis ahnte nicht, dass er einem vierstufigen »Dissemi-nation Drill« (»Verbreitungs-Drill«) unterzogen wurde, um ihn in Scien tology hineinzuziehen. Die Anwerber halten sich strikt an diese Methode. Der erste Schritt ist die Kontaktaufnahme; in Hag-gis’ Fall war dies Jim Logans Aufgabe. Der zweite Schritt besteht darin, alle Vorbehalte des potenziellen Rekruten gegenüber Scien-tology zu beseitigen. Ist das geschafft, besteht die nächste Aufgabe darin, »den Ruin zu finden«.3 Damit ist jenes Problem gemeint, das dem potenziellen neuen Rekruten am meisten zu schaffen macht. Pauls »Ruin« war eine turbulente Romanze. Im vierten Schritt wird der Rekrut davon überzeugt, dass Scientology die Antwort hat. »Ist

Page 21: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

21

sich die Person einmal ihres Ruins bewusst, so muss sie davon über-zeugt werden, dass Scientology das Problem lösen kann«, schreibt Hubbard. »Im richtigen Moment bei diesem Schritt wird sie […] zu dem Dienst gelenkt, der das Problem am besten bewältigen kann.«4 Damit hat man den Rekruten tatsächlich in einen Scien-tologen verwandelt.

Paul Haggis zeigte in jeder Phase auf fast schon perfekte Weise die gewünschte Reaktion. Gemeinsam mit seiner Freundin absol-vierte er einen Kurs, und schon nach kurzer Zeit waren die beiden »Hubbard Qualified Scientologists«, qualifizierte Scientologen: Nun hatten sie den ersten Schritt auf der »Brücke zur völligen Freiheit« getan.

Paul Haggis wurde im Jahr 1953 geboren. Er war das älteste von drei Kindern. Sein Vater Ted führte eine Baufirma, die Straßen asphaltierte und Gehwege, Randsteine und Rinnsteine anlegte. Das Unternehmen trug den Namen »Global«, weil es nicht nur in Lon-don, sondern auch in Paris tätig war – dieses Paris lag 80 Kilometer östlich von London ebenfalls in der Provinz Ontario. Als Ted sein Unternehmen gründete, lebte seine Familie in einem kleinen Haus. Die fast ausschließlich weiße Bevölkerung der Stadt war ethnisch homogen, aber zwischen den Konfessionen klaffte ein tiefer Gra-ben. Die Haggis zählten zu den wenigen katholischen Familien in ihrem protestantischen Viertel. Die konfessionellen Spannungen entluden sich gelegentlich gewaltsam, und einmal erlitt Paul bei einer Prügelei auf dem Schulhof einen Nasenbeinbruch. Obwohl er nicht religiös war, fühlte er sich als Mitglied einer Minderheit. Seine Mutter Mary war gläubig und bestand darauf, dass Paul und seine beiden jüngeren Schwestern Kathy und Jo jeden Sonntag zur Messe gingen. Eines Tages sah Mary den Priester in einem teuren Auto vorbeifahren. Darauf angesprochen, erklärte der Kirchen-mann: »Gott will, dass ich einen Cadillac fahre.« Mary antwortete: »Also will Gott, dass wir nicht mehr in Ihre Kirche gehen.« Paul

Page 22: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

22

bewunderte seine Mutter dafür, dass sie trotz ihrer Religiosität mit der Kirche brach. Die Familie nahm nicht mehr an der Messe teil, aber die Kinder besuchten weiterhin katholische Schulen.

Das Bauunternehmen von Ted Haggis wuchs, und bald konnte er sich ein sehr viel größeres Haus mit sieben Hektar Grund in den Hügeln außerhalb der Stadt leisten. Er kaufte sich ein paar Pferde und hatte einen Kombi in der Garage stehen. Im Hof standen riesige Baufahrzeuge, die auf Paul wie äsende Dinosaurier wirkten. Der Junge war oft allein. Wenn er zu Fuß zur eineinhalb Kilo-meter entfernten Haltestelle des Schulbusses ging, begegnete er oft keinem einzigen Menschen. Zu seinen Pflichten gehörte es, den Pferdestall und den Hundeauslauf zu säubern. (Sein Vater züch-tete Cockerspaniels, die er bei Wettbewerben präsentierte.) In der Familie stand Paul im Mittelpunkt: Sein Vater erinnert sich, dass er »der Liebling seiner Mutter war«. Aber er war ein Lausbube, der sich unentwegt Streiche ausdachte. »Er machte Bekanntschaft mit dem Gürtel, als er fünf Jahre alt war«, erzählt sein Vater.

Im Alter von 13 Jahren stand Paul am Sterbebett seines Groß-vaters. Der alte Mann war Hausmeister in einem Bowlingcenter gewesen. Er hatte wegen eines Skandals, über den er sein Leben lang schwieg, aus seinem Heimatland England fliehen müssen. Offenbar erkannte er sich in Paul wieder. Zum Abschied sagte er zu seinem Enkel: »Ich habe mein Leben vergeudet. Mach nicht denselben Fehler.«

In der Highschool geriet Paul bald in Schwierigkeiten. Seine Eltern begannen sich Sorgen zu machen und schickten ihn aufs Ridley College in St. Catharines (die Stadt liegt in der Nähe der Niagarafälle). In diesem Internat musste er in das Kadettenkorps des kanadischen Heers eintreten. Doch Paul hatte eine Abneigung gegen das Marschieren und gegen strenge Regeln und drückte sich um die verpflichtende Ausbildung. Er blieb lieber in seinem Zimmer und las im radikalen Magazin Ramparts Artikel über die gesellschaftliche Revolution in den Vereinigten Staaten. Paul

Page 23: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

23

wollte dabei sein. Im Internat wurde er ein ums andere Mal für Regelverstöße bestraft. Schließlich lernte er, Schlösser zu knacken, und schlich sich regelmäßig ins Büro des Schuldirektors, um seine Strafpunkte zu löschen. So entwickelte er sein Talent zur Subversion.

Nach einem Jahr nahmen ihn seine Eltern wieder aus dem Inter-nat und schickten ihn auf das Muskoka Lakes College im Norden von Ontario, eine Jungenschule, in der progressive pädagogische Methoden angewandt wurden. Dort gab es kaum Regeln, die Paul umgehen konnte. Das Muskoka war eigentlich eine Schule zur Vorbereitung auf die Universität: Die Schüler durften sich mit dem beschäftigten, was sie am meisten interessierte. Paul fand einen Mentor in seinem homosexuellen Kunstlehrer Max Allen. Allen, der radikale politische Standpunkte vertrat, produzierte für den öffentlichen Rundfunk eine Interviewsendung mit dem Titel As It Happens. Im Jahr 1973 saß Paul neben seinem Lehrer im CBC-Stu-dio, als Allen die Aussage des Nixon-Beraters John Deans über die Watergate-Affäre vor dem Kongressausschuss für das Radio bear-beitete. Später eröffnete Allen in Toronto ein kleines Kino, in dem Filme gespielt wurden, die von der strengen Zensurbehörde von Ontario nicht freigegeben worden waren. Paul arbeitete als Frei-williger an der Kasse. Sie zeigten Ken Russells The Devils (dt. Titel: Die Teufel) und Bernardo Bertoluccis Ultimo Tango a Parigi (Der letzte Tango in Paris). Ted Haggis war überzeugt, sein Sohn arbeite in einem Pornokino. »Ich tat einfach so, als wüsste ich von nichts«, sagt er.

Paul musste die Schule verlassen, nachdem er beim Scheckfäl-schen ertappt worden war. Er besuchte kurze Zeit eine Kunsthoch-schule und belegte einen Filmkurs am Community College, den er jedoch ebenfalls abbrach. Er trug jetzt einen schulterlangen blon-den Lockenschopf. Sein Vater gab ihm Arbeit in seiner Baufirma, aber Paul steuerte auf einen Abgrund zu. In den siebziger Jahren erhielt das kanadische London den Spitznamen »Speed City«, weil

Page 24: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

24

dort zahlreiche illegale Laboratorien eine wachsende Halbwelt mit Methamphetamin versorgten.5 In dieser Stadt war es leicht, sich harte Drogen zu beschaffen. Zwei Freunde von Paul Haggis starben an einer Überdosis, und er selbst wurde mehr als einmal mit einer Pistole bedroht. »Ich war ein übler Bursche«, gesteht er. »Ich tötete niemanden. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte.«

Er betätigte sich auch als Inspizient in einem 99-Plätze-Theater, das sein Vater in einer verlassenen Kirche für eine von Pauls Schwes-tern eingerichtet hatte, die von einer Theaterkarriere träumte. Jeden Sonntag baute er die Kulissen ab und hängte eine Kinoleinwand auf, um die kleine Cineastengemeinde Londons mit den Werken Bergmans, Hitchcocks und der Nouvelle Vague bekannt zu machen. Michelangelo Antonionis Blow-Up machte so großen Eindruck auf ihn, dass er sich 1974 entschloss, wie der Held des Films Mode-fotograf zu werden und nach England zu gehen. Das Abenteuer war nach weniger als einem Jahr beendet, aber bei seiner Rückkehr hing eine Leica über seiner Schulter.

Zurück im kanadischen London, verliebte er sich in eine Kran-kenschwester namens Diane Gettas. Die beiden teilten sich eine Einzimmerwohnung, in der sich Pauls Bücher über Filmkunst türmten. Er hielt sich »für einen einsamen Wolf, für einen Künst-ler und Bilderstürmer«. Seine Noten waren so schlecht, dass er keine Chance auf einen Studienplatz hatte. Er begriff, dass er in eine Sackgasse geraten war. Er wollte seinem Leben eine andere Richtung geben. Er wusste nur nicht, wie.

In dieser Verfassung befand sich Paul Haggis, als er in die Scien-tology-Kirche eintrat.

Wie jeder neue Scientologe tauchte Haggis in die Gedanken-welt L. Ron Hubbards ein. Er las über Hubbards abenteuerliches Leben und erfuhr, wie dieser Mann die Welt bereist, gefährliche Expeditio nen angeführt und sich mithilfe selbst entwickelter Tech-niken, aus denen die Dianetik hervorging, von furchtbaren Kriegs-

Page 25: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

25

verletzungen geheilt hatte. Hubbard war weder ein Prophet wie Mohammed noch göttlich wie Jesus. Er war auch nicht wie Joseph Smith, der Gründer der Mormonenkirche, von einem Engel mit göttlichen Offenbarungen aufgesucht worden. Die Scientologen glauben, dass Hubbard die existenziellen Wahrheiten, die ihre Doktrin bilden, durch gründliche Forschung entdeckte – daher halten sie ihre Lehre für eine »Wissenschaft«. Dieser Anschein des Realismus wirkte verlockend auf Haggis. Der Glaube, mit dem er aufgewachsen war, bedeutete ihm schon lange nichts mehr, aber seinen Idealismus hatte er nicht verloren. Es war wichtig für ihn, dass Scientology nicht verlangte, dass man an einen Gott glaubte. Dabei thronte die Figur von L. Ron Hubbard über der Religion. Er wurde nicht direkt angebetet, aber Gesicht und Name des Man-nes waren überall, so als wäre er der absolute Herrscher über ein kleines Königreich.

L. Ron Hubbard in den sechziger Jahren

Page 26: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

26

Es schien in dieser Kirche zwei Hubbards zu geben: die gottglei-che Autorität, deren Worte als heilig betrachtet wurden, und den zugänglichen Mann, den Haggis in den Schulungsvideos sah, eine onkelhafte Figur, die bescheiden und selbstironisch wirkte. Diese Eigenschaften besaß Haggis ebenfalls, und sie weckten Vertrauen zu dem Mann, den er bald als seinen spirituellen Führer anerkannte. Doch dann war da der Mangel an Ironie bei seinen Glaubensbrü-dern: Ihre Unfähigkeit, über sich selbst zu lachen, schien Haggis mit dem Charakter des Religionsstifters unvereinbar. Hubbard schien sich selbst nicht allzu wichtig zu nehmen und wirkte keines-wegs bigott, sondern eher wie der schneidige Held eines B-Movies, der viel gesehen hatte, immer eine witzige Bemerkung auf den Lippen und einfach den Dreh heraus hatte. Als Haggis begann, an der Religion zu zweifeln, dachte er an die 16-mm-Filme von Hubbards Vorträgen aus den fünfziger und sechziger Jahren, die zur Indoktrinierung neuer Adepten verwendet wurden. In den Filmen war ein Hubbard zu sehen, der unentwegt kicherte, einem Gedan-ken nachhing, der ihm gerade zufällig gekommen war, und den Zuschauern mit einem Augenzwinkern bedeutete, dass sie ihn nicht allzu ernst nehmen sollten. Wann immer er den Mund aufmachte, brach ein Schwall neuer Ideen aus ihm heraus, die mit einander um die Aufmerksamkeit des Publikums buhlten. Oft waren es unbe-deutende, zusammenhanglose Äußerungen, die sich mit schwer ver-ständlichen Verweisen und originellen, anscheinend mit Bedeutung befrachteten Gedanken mischten. »Eines Tages kommst du daher und sagst: ›Ich bin ein Truchsess‹«, erklärte Hubbard in einer der für ihn typischen Einlagen,

und da steht dieser Ritter mit den Acht-Zoll-Sporen – ähäm – und du sagst: »Ich soll das Tor dieser Burg öffnen, ich tue das seit langer Zeit, und ich genieße großes Vertrauen als Bediensteter.« […] Er beharrt darauf, dass er der Truchsess ist, aber niemand zahlt ihm seinen Lohn und so weiter. […]

Page 27: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

27

Er war jemand, bevor er Truchsess wurde. Dann wurde er Truchsess und ein Niemand – bis er eines Tages losging und sich mit einer Almosenschale auf die Straße setzte und sie den Leuten hinhielt. […] Jetzt sagt er: »Ich bin etwas, ich bin ein Bettler.« Das ist zumindest etwas. Dann kommt die New Yorker Staatspolizei oder irgendwer daher, und sie sagen zu ihm – jetzt habe ich die Zeitalter ein wenig durcheinander-gebracht, aber sie sagen zu ihm – »Wissen Sie nicht, dass Sie ohne die Lizenz Nummer 603-F nicht auf einer öffentlichen Straße betteln dürfen?« […] Also verhungert er und gibt den Löffel ab, und da liegt er jetzt. […] Jetzt ist er jemand, jetzt ist er eine Leiche, aber er ist nicht tot, er ist nur eine Leiche. […] Verstehen Sie? Aber er absolviert die Stadien, er wird niemand, jemand, niemand, jemand, niemand, jemand, niemand, nicht unbedingt in einer sich verjüngenden Spirale. Manche Men-schen werden glücklich. Sie kennen die alte Geschichte vom glücklichen Mann – ich werde sie hier nicht erzählen – er hatte kein Hemd. […]

Als sich diese nebulöse Parabel in völliger Sinnlosigkeit zu verlieren droht, kommt Hubbard auf den Punkt: Ein Wesen ist nicht mit seiner Tätigkeit oder auch nur mit dem Körper gleichzusetzen, den es gerade bewohnt. Die zentrale Botschaft der Scientology lau-tet, dass das Wesen unsterblich ist – Hubbard bezeichnet dies als einen »Thetan«: »Mit anderen Worten, dieser Bursche war jemand, bevor er begann, sein Seiendheit mit einem Ding gleichzusetzen. […] Keine dieser Seiendheiten ist die Person. Die Person ist der Thetan.«6

»Er hatte eine mitreißende Beschwingtheit an sich«, erinnert sich Haggis. »Er besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor und strahlte etwas aus, das dir sagte: ›Es ist mir vollkommen klar, dass ich möglicherweise verrückt bin, aber es könnte auch sein, dass ich etwas entdeckt habe.‹«

Page 28: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

28

Der religiöse Eifer vieler Mitglieder der Kirche entsprang der Überzeugung, dass sie in einem Kampf, in dem es um nicht weniger als die Rettung der Menschheit ging, an vorderster Front standen. »Eine Zivilisation ohne Wahnsinn, ohne Verbrecher und ohne Krieg, in der fähige Wesen erfolgreich sein und ehrliche Leute Rechte haben können und in der der Mensch die Freiheit hat, zu größeren Höhen aufzusteigen – das sind die Ziele der Scientology«, schreibt Hubbard.7 Diese großen Ziele bewegten junge Idealisten wie Haggis dazu, sich der Kirche anzuschließen.

Um seine hehren Ziele zu erreichen, entwickelte Hubbard eine »Technologie«, die es dem Menschen erlauben sollte, spirituelle Freiheit zu finden und sich als unsterbliches Wesen zu entdecken. »Scientology erreicht die erwarteten Resultate in 100 Prozent der Fälle, wenn sie korrekt von einem Mitglied ausgeübt wird, das den ernsthaften Wunsch hat, sein Leben zu verbessern«, heißt es in einer Publikation der Organisation.8

Die Scientologen glauben, diese Garantie geben zu können, weil sie annehmen, Hubbard habe die menschliche Natur gründlich studiert und vollkommen verstanden. Sie sind überzeugt: Man darf nicht von dem Weg abweichen, den Hubbard gefunden hat, man darf seine Methoden nicht in Zweifel ziehen. Die Scientology ist eine exakte Wissenschaft. Sie liefert Gewissheiten. Der Scientologe kann Schritt für Schritt zu Klarheit und Selbstvervollkommnung aufsteigen, er kann er selbst werden – wobei er paradoxerweise jedoch auch Hubbard ähnlicher wird. Die Scientology ist die Geo-grafie von Hubbards Geist. Möglicherweise hat nie zuvor in der Geschichte ein einzelner Mensch eine so reichhaltige Beschreibung seines Seelenlebens geliefert und derart logisch und detailliert die Funktionsweise seines Verstandes analysiert. Die von Hubbard ent-wickelte Methode ist ein Fahrplan zu seinem idealen Selbst. Hub-bards Gewohnheiten, seine Fantasie, seine Ziele und Wünsche, mit anderen Worten: sein Charakter ist die Grundlage und das Ziel von Scientology.

Page 29: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

29

Paul Haggis hielt nicht viel von dem Autor Hubbard. Beispiels-weise gelang es ihm nicht, Dianetik bis zum Ende zu lesen. Er hatte gerade einmal dreißig Seiten geschafft, als er das Buch weglegte. Doch die Arbeit in den Schulungskursen von Scientology gab ihm das Gefühl, etwas zu leisten. Im Jahr 1976 reiste er nach Los Angeles, ins Zentrum des scientologischen Universums. Er quartierte sich im alten Château Élysée an der Franklin Avenue ein, dem Hotel, in dem einst Clark Gable, Katharine Hepburn und viele andere Stars residiert hatten. Aber als Haggis dort eintraf, war von dem alten Ruhm des Hauses nichts mehr übrig. Es hieß jetzt Manor Hotel und war eine heruntergekommene Absteige für Mitglieder seiner Glaubensgemeinschaft.* Haggis fand dort ein kleines Apartment mit Kochnische und begann zu schreiben.

Zu jener Zeit gab es in den Vereinigten Staaten etwa 30 000 Scien tologen. Die meisten von ihnen gehörten der weißen städti-schen Mittelschicht an und waren zwischen zwanzig und dreißig Jahren alt. In Los Angeles waren viele Scientologen in der bilden-den und darstellenden Kunst tätig.9 Mit anderen Worten, es waren Leute wie Paul Haggis. So fand er in einer Stadt, in der man leicht vereinsamen konnte, auf Anhieb Aufnahme in einer Gemeinschaft. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich den Menschen in seiner Umgebung zugehörig. Diese Leute waren wie er – »lauter Atheisten, die nach etwas suchten, an das sie glauben konnten, lauter Wanderer, die nach einer Gemeinschaft suchten, der sie sich anschließen konnten«.

Im Jahr 1977 kehrte Haggis nach Kanada zurück und begann wieder im väterlichen Unternehmen zu arbeiten. Aber Ted Haggis konnte sehen, dass sein Sohn nicht glücklich war. Er fragte ihn, was er im Leben tun wolle. Paul antwortete, er wolle schreiben. Sein Vater sagte: »In Ordnung. Es gibt nur zwei Orte, an denen

* Seitdem ist das Hotel mit großem Aufwand renoviert worden. Heute beher-bergt es das wichtigste Celebrity Centre von Scientology.

Page 30: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

30

du das tun kannst: New York und Los Angeles. Such dir eine der beiden Städte aus, und ich werde dir ein Jahr lang dein Gehalt bezahlen.« Paul entschied sich für Los Angeles, weil es dort wär-mer war. Kurze Zeit später heiratete er Diane Gettas. Zwei Monate später packten sie ihre Siebensachen und brachen in Pauls brau-nem Ranchero nach Los Angeles auf. Dort angekommen, zogen sie bei Dianes Bruder Gregg ein, der sich mit drei weiteren Per-sonen eine Wohnung teilte. Paul fand einen Job als Möbelpacker. Am Wochenende machte er Fotos für Jahrbücher. Nachts saß er an einem gebraucht gekauften Zeichentisch und schrieb auf gut Glück Drehbücher. Im Jahr darauf brachte Diane ihr erstes Kind Alissa zur Welt.

Paul Haggis im Antigua-Urlaub 1975, dem Jahr, in dem er in die Church of Scientology eintrat

Page 31: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

31

Mitte der siebziger Jahre, als Paul Haggis in Los Angeles eintraf, galt Scientology als verspielte und nicht allzu ernste religiöse Bewegung, als modische Nischenreligion, die insbesondere Künstler und Leute aus der Unterhaltungsindustrie ansprach. Scientology war sowohl ein Teil als auch eine Randerscheinung der Gegenkultur, die in den siebziger Jahren noch sehr lebendig war. Es hieß: »Nach den Drogen kommt Scientology.« Tatsächlich hatten viele Menschen, die sich von dieser Religion angezogen fühlten, in der Vergangen-heit mit halluzinogenen Drogen experimentiert und waren offen für die Begegnung mit alternativen Wirklichkeiten.10 Die neuen Adepten hofften auf ganz neue Möglichkeiten: Sie wurden von dem Versprechen mystischer Kräfte und außerkörperlicher Erfahrungen angelockt und freuten sich auf die Offenbarung der Geheimnisse des Universums.

Paul Haggis freundete sich mit anderen Scientologen an, die wie er hofften, sich in Hollywood durchzusetzen. Einer seiner Bekann-ten war Skip Press, ein Autor und Musiker, der im Celebrity Centre arbeitete, dem Brückenkopf der Kirche in der Unterhaltungsindus-trie. Wie viele junge Adepten glaubte Press, Scientology verleihe ihm übermenschliche Kräfte: Er war überzeugt, er könne im rich-tigen geistigen Zustand nur mit seinem Willen die Verkehrsampeln auf Grün schalten.11 Press, Haggis und andere angehende Autoren bildeten eine improvisierte Selbsthilfegruppe, die sich in einem Scientologen-Treff namens Two Dollar Bill’s gegenüber dem Cele-brity Centre versammelte. Die Teilnehmer beurteilten gegenseitig ihre Arbeiten und schmiedeten Pläne für ihren beruflichen Aufstieg.

Schließlich wurde Yvonne Gillham, die charismatische und ener-gische Gründerin des Celebrity Centre, auf diese informelle Auto-rengemeinschaft aufmerksam. Gillham strahlte große Wärme aus und war genau die Richtige, um jene Art von Künstlern und Mei-nungsführern einzuwickeln, die Hubbard als Aushängeschilder für seine Religionsgemeinschaft gewinnen wollte. Früher hatte Gillham einen Kindergarten geleitet. Jetzt veranstaltete sie Partys, Dichter-

Page 32: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

32

lesungen, Workshops und Tänze. Bei vielen dieser Veranstaltungen traten Chick Corea und andere Musiker auf, die Scientology ange-hörten. Gillham überzeugte Haggis und seinen Kreis, ihre Treffen ebenfalls ins Celebrity Centre zu verlegen, und flocht sie in ihr Netz ein.

Haggis und ein Freund aus der Autorengruppe wurden schließ-lich von Ruby-Spears Productions unter Vertrag genommen und begannen, Texte für Zeichentrickfilme zu schreiben, darunter eine kurzlebige Serie namens Dingbat and the Creeps sowie Heath-cliff. Anschließend schrieb Haggis für Hanna-Barbera Richie Rich und Scooby-Doo. Er kaufte sich eine gebrauchte Selectric-Schreib-maschine von IBM. Seine Karriere kam stotternd in Gang.

Eines Tages trat im Celebrity Centre ein wohlhabender Erdbeer-bauer aus Vancouver an Haggis und Skip Press heran. Er wollte einen Film über die Lebensgeschichte von L. Ron Hubbard pro-duzieren und bot den beiden 15 000 Dollar für ein Drehbuch an. Press lehnte ab, aber Haggis nahm das Geld in der Hoffung, der Erdbeerbauer werde auch Interesse an einem Horrorfilm zeigen, den er geschrieben hatte. Das Drehbuch für den Hubbard-Film schrieb er nie, und schließlich gab er das Geld zurück. Dennoch ist Press überzeugt, dass dieses Projekt Haggis’ Karriere einen Schub gab. »Dank des Geldes konnte sich Paul frei bewegen und seine Karriere vorantreiben. Bald hatte er einen Agenten.« Seine Beziehungen in der Scientology-Gemeinde begannen sich bezahlt zu machen.

Haggis investierte einen Großteil seiner Zeit und seines Geldes in Kurse für Fortgeschrittene und in »Audits«, eine Art von sci-entologischer Psychotherapie, bei der ein »Elektropsychometer« zum Einsatz kam. Mit diesem Gerät, das die Scientologen nur als »E-Meter« bezeichnen, werden die Veränderungen der elektri-schen Spannung auf der Haut gemessen, während die Testperson die Fragen eines »Auditors« beantwortet. Hubbard verglich das

Page 33: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

33

E-Meter mit einem Lügendetektor.12 Dieses Gerät sollte beweisen, dass die Scientology ein wissenschaftlicher Weg zur spirituellen Entdeckung sei. »Das E-Meter ermöglicht dem Menschen zum ersten Mal einen exakten Blick in sich selbst«,13 erklärte Hub-bard und fügte hinzu, eine Auditing-Stunde erhöhe bei manchen Menschen den Intelligenzquotienten um einen Punkt. »Den spek-takulärsten Erfolg feierten wir bei einem Jungen, dessen IQ wir von 83 auf 212 erhöhten«, brüstete er sich einmal gegenüber der Saturday Evening Post.14

Laut scientologischer Theorie ist das Auditing geeignet, mentale »Massen« zu lokalisieren und zu beseitigen, die den Energiefluss blockieren: Ideen und Fantasien sind nicht immateriell, sondern haben Gewicht und Körper. Sie können sich als Phobien und Zwänge im Geist einnisten. Das Auditing bricht jene Massean-sammlungen auf, die Hubbard als »reaktiven Verstand« bezeich-nete, das heißt die Orte, an denen Ängste und Phobien ange-siedelt sind. Das E-Meter misst angeblich Veränderungen dieser Masseansammlungen.15 Schlägt die Nadel nach rechts aus, steigt der Widerstand, schlägt sie nach links aus, sinkt er. Der Auditor sucht mit Fragen systematisch nach Quellen von »spiritueller Belas-tung«, zum Beispiel nach beruflichen oder Beziehungsproblemen. Wann immer der Befragte – der »Preclear« – eine Antwort gibt, bei der die Nadel ausschlägt, beschäftigt sich der Auditor so lange mit dem angesprochenen Thema, bis er sicher ist, dass die emo-tionalen Folgen der verstörenden Erfahrung beseitigt sind. Auch bestimmte Bewegungsmuster der Nadel – plötzliche Ausschläge, lange oder kurze Spannungsabfälle und so weiter – haben etwas zu bedeuten. Der Auditor versucht den Preclear zur »Erkenntnis« des behandelten Themas zu führen. Gelingt dies, beginnt die Nadel zu »schweben«. Das bedeutet nicht, dass sie stillsteht. »Die Nadel bewegt sich träge und gähnt über die Fragen«, erklärt Hubbard.16 Gleichzeitig sollte die untersuchte Person ein Gefühl der Befreiung empfinden. Schließlich wird der reaktive Verstand von seinen fixen

Page 34: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

34

Ideen, Ängsten und irrationalen Zwängen befreit. Der Preclear wird zum »Clear«.*

Paul Haggis war beeindruckt von der Reaktionsfähigkeit des E-Meters. Er nahm eine zylindrische Elektrode in jede Hand. (Als er zu Scientology gekommen war, waren die Elektroden noch leere Suppendosen gewesen, deren Etiketten entfernt worden waren.) Eine nicht wahrnehmbare elektrische Ladung strömte aus dem E-Meter in seinen Körper. Anscheinend konnte das Gerät erken-nen, was für Gedanken ihm gerade durch den Kopf gingen: ob er ängstlich oder fröhlich war oder ob er etwas verbarg. Es war ein wenig unheimlich. Der Auditor suchte oft nach dem, was die

* Hubbard äußerte sich wiederholt abschätzig über den Begriff »Lügendetek-tor«: »Erstens stellt er keine Lügen fest, zweitens weiß die Polizei zu wenig über den menschlichen Verstand, um zu erkennen, dass ihr Instrument tatsächlich verblüffend genau ist. Diese Instrumente sollten als ›Emotio-nendetektoren‹ bezeichnet werden.« (Hubbard, Electropsychometric Auditing Operator’s Manual, 1952) David S. Touretsky, ein Computerwissenschaftler an der Carnegie Mellon University (und prominenter Kritiker von Scien-tology), erklärt, was wir als »Gedanken« bezeichnen, seien in Wahrheit »flüchtige Muster chemischer und elektrischer Aktivität im Gehirn«, die keine Masse hätten. »Das E-Meter ist eher ein Requisit oder Talisman als ein Messinstrument. Die Interpretation der Ausschläge einer Nadel kann mit dem Lesen aus Teeblättern verglichen werden. Ein guter Wahrsager erkennt eine Vielzahl subtiler Hinweise, die es ihm erlauben, das Leben seines Gegenübers zu ›lesen‹, während sich diese Person auf die Teeblät-ter konzentriert. Und der Ratsuchende hat großes Interesse zu glauben, dass der Auditor und das E-Meter effektiv sind. Es handelt sich also um ein System, dessen Bestandteile sich gegenseitig verstärken.« Das E-Meter misst wie ein Lügendetektor die elektrische Spannung der Haut. »Starke emotionale Reaktionen wirken sich tatsächlich auf die Muskelspannung aus, und ein unmerklicher Tremor der Finger wird den Stromfluss zum E-Meter verändern, weshalb er nicht einfach wie ein echter Lügendetek-tor die physiologischen Veränderungen der Leitfähigkeit der Haut misst. (Und echte Lügendetektoren messen auch andere Variablen wie Puls und Atemfrequenz.)« (David Touretsky, persönliche Korrespondenz.)

Page 35: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

35

Scientologen als »Früheres Ähnliches« (»earlier similars«) bezeich-nen. Wenn Paul wieder einmal einen Streit mit Diane hatte, fragte ihn der Auditor: »Können Sie sich an eine frühere Gelegenheit erinnern, bei der so etwas geschah?« Jede weitere Erinnerung führte ihn tiefer und tiefer in die Vergangenheit. So sollten die emotio-nalen Erinnerungen, die Pauls Verhalten belasteten, aufgedeckt und neutralisiert werden.

Oft erinnern sich die Personen in dieser Übung an ein früheres Leben. Paul Haggis machte diese Erfahrung nicht, aber er benei-dete die Scientologen, die sich lebhaft an frühere Zeiten und ferne Zivilisationen erinnern konnten. Er fragte sich: »Wäre es nicht großartig, schon viele Leben hinter sich zu haben? Wäre es dann nicht leichter, den Tod zu verkraften?«

Die Scientology ist nicht einfach eine Frage des Glaubens, wird neuen Mitgliedern ein ums andere Mal eingeschärft. Sie ist ein wissenschaftlicher Prozess, der es ihnen ermöglichen wird, ihre Grenzen zu überwinden und ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen, um Großes zu vollbringen. Nur die Scientology kann dem Men-schen die beglückende Gewissheit vermitteln, dass er unsterblich ist. Nur die Scientology kann die Menschheit vor dem ansonsten unvermeidlichen Untergang bewahren. Neue Mitglieder tauchen in eine Welt faszinierender Geheimnisse ein. Das Leben in der scientologischen Gemeinschaft ist viel verlockender als das Leben in der Welt da draußen.

Die Preclears geraten manchmal in mystische Trancezustände, in denen sie ein Gefühl der Wonne genießen oder mit dem Uni-versum zu verschmelzen scheinen. Sie gewöhnen sich an derartige Phänomene und vermissen diese Erfahrungen, wenn sie ausbleiben. Scientologen berichten immer wieder über die »Exteriorisierung«, über das Gefühl, aus dem eigenen physischen Wesen herauszutreten. Was bedeutet es für die Sterblichkeit, wenn sich das Bewusstsein tatsächlich vom Körper lösen und nach Belieben umherschweifen kann? Es bedeutet, dass wir mehr und etwas anderes als eine phy-

Page 36: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

36

sische Inkarnation sind: Wir sind Thetane, um Hubbards Begriff zu verwenden, unsterbliche spirituelle Wesen, die in immer neuen physischen Inkarnationen auftauchen. Hubbard meinte, etwa bei der Hälfte der Preclears könne die Exteriorisierung bewerkstelligt werden, einfach indem der Auditor folgende Anweisung gebe: »Seien Sie einen Meter hinter Ihrem Kopf.«17 Von den Fesseln der Körper-lichkeit befreit, kann der Thetan im Universum umherschweifen, Sterne umkreisen, auf dem Mars spazieren gehen oder auch vollkom-men neue Universen schaffen.18 Die Wirklichkeit erstreckt sich sehr viel weiter, als der Mensch bis dahin geahnt hat. Das Endziel des Auditing ist nicht einfach, einen Menschen von destruktiven geisti-gen Phänomenen zu befreien: Er soll von den Gesetzen der Materie, der Energie, des Raums und der Zeit unabhängig werden. Hubbard verwendete dafür den Begriff »MEST« für »Matter, Energy, Space and Time«.19 Materie, Energie, Raum und Zeit existieren ohnehin nur in der Vorstellung der Thetanen. Aus Langeweile schufen die Thetanen materielle Universen, in denen sie umhertollen konnten. Schließlich gingen sie derart in ihren Ablenkungen auf, dass sie ihre eigentliche unsterbliche Natur vergaßen. Sie identifizierten sich mit den Körpern, die sie vorübergehend bewohnten und benutzten, um sich in einem Universum zu bewegen, das sie zu ihrem Vergnügen erschaffen hatten. Ziel von Scientology ist es, dem Thetanen seine Unsterblichkeit in Erinnerung zu rufen und ihm zu helfen, die selbst auferlegten Beschränkungen zu überwinden.20

Bei einer Gelegenheit glaubte Haggis eine außerkörper liche Erfahrung gemacht zu haben: Er lag auf einer Couch, als er bemerkte, dass er sich auf der anderen Seite des Raums befand und sich selbst daliegen sah. Doch er empfand es nicht als sonderlich erhebend, außerhalb seines Körpers zu sein, und später fragte er sich, ob er sich die Szene möglicherweise eingebildet hatte. Jedenfalls mangelte es ihm an der Gewissheit, mit der andere Scientologen berichteten, Objekte in ihrem Rücken, an fernen Orten oder in anderen Zeiten gesehen zu haben.

Page 37: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

37

Im Jahr 1976 wurde Haggis zum »Clear«. Dies ist der Ausgangs-punkt für all jene, die hoffen, die höheren Stufen der Scientology zu erreichen. Das Konzept stammt aus Dianetik: Ein Mensch, der ein Clear wird, »kann sich an seine Umwelt anpassen und sie verän-dern«, schreibt Hubbard. »Seine ethischen und moralischen Maß-stäbe sind hochstehend, seine Fähigkeit, Vergnügen anzustreben und zu erleben, ist groß. Seine Persönlichkeit ist gestärkt und er ist schöpferisch und konstruktiv.« Neben anderen Vorzügen besitzt ein Clear ein fehlerfreies Gedächtnis und hat die Fähigkeit, geis-tige Aufgaben mit beispielloser Geschwindigkeit auszuführen; er ist weniger anfällig für Krankheiten und frei von Neurosen, Zwängen, Hemmungen und psychosomatischen Störungen.21 Hubbard fasst zusammen: »Der Dianetik Clear ist im Verhältnis zu einer derzeit normalen Person wie eine derzeit normale Person zu einem schwer Geisteskranken.«22

Haggis war der Clear Nr. 5925. »Nicht, dass es mein Leben ver-ändert hätte«, gesteht er. »Nicht, dass ich gesagt hätte: ›Oh Gott, ich kann fliegen!‹« Jedes Mal, wenn er eine höhere Stufe erreichte, wurde er aufgefordert, eine »Erfolgsgeschichte« zu schreiben, in der er berichten sollte, wie wirksam das Training gewesen war. Er hatte viele solche Berichte von anderen Scientologen gelesen: Sie wirkten oft ein wenig zu überschwänglich, so als ginge es den Schülern vor allem darum, von den Torwächtern durchgelassen zu werden und die nächste Ebene zu erreichen.

Die Brücke zur völligen Freiheit bezeichnet eine nie endende Reise. (Das von Scientology verwendete Bild ist ein wenig unklar, da die Gläubigen »höher und höher« steigen: Sie besteigen also die Brücke, anstatt sie zu überqueren.) Paul Haggis stieg rasch auf. Er wurde zum »Operierenden Thetan« (»OT«), der »Dinge bewältigen kann, ohne dass er einen Körper oder materielle Hilfsmittel einsetzen muss«.23 In einem Leitartikel der Scientologen-Zeitschrift Ability (Fähigkeit/Qualifikation) hieß es im Jahr 1958, dass »ausgehend von

Page 38: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

38

den Belegen weder Buddha noch Jesus Christus OTs« waren. Sie standen lediglich »ein kleines Stück über dem Clear«.24

Als Paul Haggis in die Scientology-Kirche eintrat, gab es sieben Niveaus von Operierenden Thetanen. In durchgesickerten Doku-menten, die im Internet verbreitet wurden, finden sich Hubbards handschriftliche Anweisungen für den »Operierenden Thetan der Stufe I«. Darin sind 13 mentale Übungen aufgelistet, die dem Gläu-bigen helfen sollen, seine Beziehungen zu anderen zu gestalten. Die Richtlinien für OT I sind so vage, dass es schwer festzustellen sein dürfte, ob jemand die Anforderungen erfüllt. Zum Beispiel diese: »Nehmen Sie mehrere große und mehrere kleine männliche Körper wahr, bis Sie eine Erkenntnis haben.« Oder: »Setzen Sie sich unauffällig an einem Ort hin, wo Sie mehrere Menschen beobach-ten können. Nehmen Sie Dinge und Personen wahr, die Sie nicht sind. Erkennen Sie.« Das Ziel besteht darin zu lernen, die Umwelt mit den Augen eines Clears wahrzunehmen.25

Auf der zweiten Stufe (OT II) versucht der Scientologe, »Implan-tate« aus früheren Leben loszuwerden, die ihn in seinem gegen-wärtigen Dasein am Fortschritt hindern. Das erreicht er durch Übungen und Visualisierungen, mit denen die Gegenkräfte her-ausgearbeitet werden sollen. »Gelächter kommt aus der hinteren Hälfte, Ruhe gleichzeitig aus der vorderen Hälfte. Dann kehren sie sich um. Das gibt einem ein Gefühl der völligen Unstimmigkeit. Der Trick besteht darin, beide gleichzeitig zu erfahren. So wird eines von beiden ausgeschaltet.«26

Stufe für Stufe werden die Scientologen in eine exklusive spi-rituelle Bruderschaft integriert. Haggis reagierte nicht allzu stark auf das Material, aber er hatte auch nichts Tiefgründiges erwartet. Es war allgemein bekannt, dass die großen Offenbarungen erst auf der Stufe OT III kamen.

Hubbard bezeichnete diese Stufe als die »Feuerwand«.»Das Material in diesem Sektor ist so gefährlich, dass es sorgfältig

arrangiert ist, um jeden zu töten, der die Wahrheit darin entdeckt«,

Page 39: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

39

schrieb er 1967. »Daher wurde ich im Januar und Februar dieses Jahres schwer krank, verlor beinahe diesen Körper, überwand es irgendwie, gelangte an das Material und blieb am Leben. Ich bin vollkommen sicher, dass ich der Erste bin, dem es je gelungen ist, den Versuch zur Erkenntnis dieses Materials zu überleben.«27

Ende der siebziger Jahre waren die OT-Mysterien noch ein Geheimnis, nur die Auserwählten kannten sie. Es gab kein Inter-net, und die vertraulichen Schriften von Scientology waren nie veröffentlicht oder in einem Gerichtsverfahren vorgelegt worden. Die Scientologen blickten dem Augenblick, in dem sie in OT III eingeweiht würden, erwartungsvoll entgegen. Der Kandidat musste warten, bis er aufgefordert wurde, sich auf diese Ebene zu begeben. Die Scientologen wurden vor dem Material gewarnt: Für Unvor-bereitete könne es schädlich sein – oder sogar tödlich. Die Geheim-niskrämerei erhöhte den mystischen Reiz und den Nervenkitzel.

Was bewegte Paul Haggis an diesem Scheideweg dazu, in Scien-tology zu bleiben? Was sprach für, was gegen einen Verbleib in die-ser Kirche? Er ließ sich nicht davon abhalten, dass die Leute oft die Nase rümpften, wenn sie von Scientology hörten – im Gegenteil, er genoss es, einer stigmatisierten Minderheit anzugehören, denn das gab ihm ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen Randgrup-pen. Aber er war ein skeptischer Mensch und schreckte vor dem Eintritt in eine Glaubensgemeinschaft zurück: Er war ein stolzer Querdenker, dem es nie in den Sinn gekommen wäre, sich den Bap-tisten anzuschließen oder zum Katholizismus zurückzukehren – an den traditionellen Religionen hatte er einfach kein Interesse. Der Glaube sprach ihn intellektuell nicht an. Scientology hingegen war exotisch und faszinierend. Einige ihrer sonderbaren Lehren waren sehr schwer nachzuvollziehen, aber das Auditing empfand Haggis als bereichernd, und er hatte das Gefühl, dass sich seine Kommu-nikationsfähigkeiten in den Schulungskursen verbessert hatten. Das machte ihn noch nicht zum »Gläubigen«, aber er hatte in einigen Bereichen, die ihm wichtig waren, von Scientology profitiert. Er

Page 40: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Scientology

40

wurde Schritt für Schritt in den Glauben eingeweiht, weshalb er sich langsam an Lehrsätze gewöhnte, die ursprünglich inakzeptabel für ihn gewesen wären. Wann immer er auf seinem Weg über die Brücke zur völligen Freiheit auf etwas stieß, das ihm widersinnig schien, sagte er sich, auf der nächsten Stufe werde es verständlich werden.

Die Scientology war mittlerweile auch ein fester Bestandteil seines Umfelds. So wie er selbst hatte auch diese Kirche in Holly-wood Fuß gefasst. Seine ersten Drehbuchaufträge hatte er dank seiner Verbindungen bei Scientology erhalten. Seine Frau und seine Schwester engagierten sich in der Organisation. Diese Glaubens-gemeinschaft war der Mittelpunkt seines Freundeskreises. Haggis war mittlerweile so fest an Scientology gebunden, dass ein Austritt sein soziales Netz zerrissen hätte. Außerdem hatte er einen Gut-teil seines Einkommens in das Programm investiert. Er hatte gute Gründe, weiter zu glauben.

Und er wollte gerne die außergewöhnlichen Fähigkeiten erwerben, von denen seine Glaubensbrüder unentwegt sprachen. Zwar hatte Hubbard die Operierenden Thetanen ausdrücklich ermahnt, ihre Kräfte nicht für »Zaubertricks« zu nutzen,28 aber Advance!, eine Zeit-schrift für fortgeschrittene Scientologen, veröffentlichte unter der Rubrik »OT-Phänomene« Berichte von Mitgliedern, die paranor-male Erfahrungen gemacht hatten oder hellseherische Fähigkeiten entwickelten: Parkplätze wurden auf wundersame Weise frei, und kaum hatte sich ein Thetan im Restaurant niedergelassen, da stand schon ein Kellner an seinem Tisch. Eine Scientologin hatte beobach-tet, dass ihr Goldfisch ganz rot und geschwollen war: »Mein Mann Rick hatte das schon bei anderen Fischen gesehen und sagte mir, dass sie sich nie erholten.« Doch die Autorin setzte ihre Fähigkeiten ein, um »Energie in den Fisch fließen zu lassen«, bis »eine große Eiter-blase platzte«. An diesem Punkt brach sie die Behandlung ab. Als sie am Abend nach Hause kam, war der Fisch vollkommen geheilt. Daraus schloss sie Folgendes: »Es war ein großer Gewinn für mich

Page 41: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

Der Bekehrte

41

und für den Fisch. Ohne die Technologie von L. Ron Hubbard wäre das nicht möglich gewesen.«29 Selbst wenn solche Ergebnisse zufällig auftraten und schwer zu wieder holen waren, eröffneten sich jenen, die solche Erfahrungen gemacht hatten, ungeahnte Möglichkeiten. Die Leute hatten das Gefühl, in eine Sphäre der Transzendenz ein-getreten zu sein. Dort konnten sie über große Entfernungen mit einem anderen Geist kommunizieren. Sie konnten ihre Wünsche und Absichten auf Dingliches übertragen und andere Menschen veranlassen, unbewusst tele pathisch erteilte Anweisungen auszu-führen. Sie konnten Geistern aus anderen Zeitaltern oder sogar aus anderen Welten begegnen.

»Ein Thetan kann einen beträchtlichen elektronischen Strom freisetzen«, schreibt Hubbard, »genug, um jemandem einen schwe-ren Schock zu versetzen, ihn erblinden zu lassen oder in der Mitte zu teilen.«30 Selbst alltägliche Handlungen können einen OT mit einem unerwarteten Dilemma konfrontieren, warnt er. »Wie ver-hält man sich als OT am Telefon?«, fragt er in einem seiner Vorträge. »Nehmen wir an, Sie werden wütend auf die Person am anderen Ende der Leitung. Sie sind in einer schlimmen Klemme! Das ist das Ende des Bakelits. Das Gerät zerfällt in der Luft zu Staub oder zerrinnt auf dem Fußboden.«31 Um nicht mit seiner unvorstell-baren Kraft ein Telefon zu zerstören, löst der Thetan einen auto-matischen Vorgang aus und muss nicht selbst zum Hörer greifen. »Das Telefon klingelt, es springt in die Luft, und er spricht. Mit anderen Worten, durch die ungewollte Absicht steht das Telefon dort in der Luft.«32 Das Versprechen, sich solcher Kräfte bedienen zu können, war sehr verlockend.

Paul Haggis machte sich mit einer leeren Aktentasche auf den Weg zum Sitz der Advanced Organization in Los Angeles, wo das OT-III-Material aufbewahrt wurde. Ein Betreuer drückte ihm einen braunen Briefumschlag in die Hand. Haggis steckte ihn in seine Aktentasche, die er sich am Handgelenk festgebunden hatte. Er zog sich in einen sicheren Studienraum zurück und schloss die Tür

Page 42: Im Gefängnis des Glaubens · Going Clear. Scientology, Hollywood, & the Prison of Belief bei Alfred A. Knopf, New York. Rechtlicher Hinweis Die in diesem Buch geschilderten Abläufe

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Lawrence Wright

Im Gefängnis des GlaubensScientology, Hollywood und die Innenansicht einer modernenKirche

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 624 Seiten, 13,5 x 21,5 cmISBN: 978-3-421-04535-5

DVA Sachbuch

Erscheinungstermin: September 2013

Die Sekte der Stars: Was Scientology so attraktiv und gefährlich macht Scientology ist eine der umstrittensten sogenannten neuen religiösen Bewegungen. InDeutschland wird die Organisation vom Verfassungsschutz beobachtet. Was aber machtScientology immer wieder attraktiv für Menschen auch in Deutschland? Warum hat Scientologyso große Anziehungskraft gerade auf Hollywood? In seinem neuen Buch begibt sich der Pulitzer-Preisträger Lawrence Wright (»Der Tod wird euchfinden« über Al-Qaida) in das Herz von Scientology. Nach jahrelangen Recherchen im Umfeldder Organisation schildert er ihre Gründung durch den Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard,die bisweilen bizarr anmutenden Glaubensinhalte und die aggressiven Praktiken gegenüberMitgliedern, Abtrünnigen und Kritikern. Seine Gespräche mit dem Filmregisseur und Ex-MitgliedPaul Haggis verschafften Wright tiefe Einblicke in die auffällig enge Beziehung gerade vonFilmschaffenden – unter ihnen etwa Tom Cruise und John Travolta – zu Scientology.