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1 Heinrich Heine

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Heinrich Heine

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Hanskarl Kölsch

Heinrich Heine

seine Zeit – sein Leben – sein Werk

Ein Wintermärchen

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Der Gedanke geht der Tat voraus – wie der Blitz dem Donner Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http//dnb.ddb.de abrufbar. Copyright © 2010 bei Hanskarl Kölsch www.hk-koelsch.de Titelbild: Idee Hanskarl Kölsch, Gestaltung H. Weidner Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-8391-6650-5

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Inhalt Heine – eine deutsche Verwirrung Europa um die Jahrhundertwende Schulzeit und Jugend Der gescheiterte Buchhalter Studium und Dichter Der Journalist Wieder Student … Loreley … Harzreise Die Harzreise Ein neuer Verleger: Campe Reisebilder Der Platen-Skandal Das Buch der Lieder Die Pariser Juli-Revolution Paris Eine neue Geschichtsschreibung Der Salon Das Hambacher Fest Vorrede Die erste Börne-Krise Die Saint-Simonisten De l’Allemagne depuis Luther „Junges Deutschland“ – Veröffentlichungsverbot Der Börne-Skandal Französische Revolutionsgeschichte Nach dem Duell Zeitgeschichte gegen Tendenzpoesie Bei des Nachtwächters Ankunft in Paris Atta Troll. Ein Sommernachtstraum Lobgesänge auf König Ludwig (1843) Denk ich an Deutschland in der Nacht Nachtgedanken (1843) Biedermeier, Junges Deutschland, Vormärz Weberlied – Die aktuelle Situation Die schlesischen Weber

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Erste Rückkehr nach Deutschland Deutschland. Ein Wintermärchen. Vorwort Die Wintermärchenstrophe Caput I: An der deutschen Grenze Caput II: Zollkontrolle Caput III: Zu Aachen Caput IV: Zu Cöllen Caput V: Gespräch mit Vater Rhein Caput VI: Der Doppelgänger Caput VII: Schwere Träume. Die Heiligen Drei Könige Caput VIII: Mühlheim. Erinnerungen an alte Hoffnungen Caput IX: Hagen. Lob der altgermanischen Küche Caput X: Lob der wackeren Westfalen Caput XI: Im Teutoburger Wald Caput XII: „Mitwölfe“ – Heine und die Tendenzdichtung Caput XIII: Der Gekreuzigte Caput XIV: Kyffhäuser Caput XV: Der Barbarossa-Traum … Caput XVI: … Der Barbarossa-Traum Caput XVII: Der Traum wird zum Albtraum Caput XVIII: Minden. Ein preußischer Fiebertraum Caput XIX: Hannover. Despektierliche Dichtermeinung Caput XX: Hamburg. Die Mutter Caput XXI: Hamburg: der große Brand Caput XXII: Hamburg nach dem großen Brand Caput XXIII: Hamburg: Gesellschaft und Schutzgöttin Caput XXIV: Hamburg: Hammonia Caput XXV: Hammonias Bewirtung – Der Schwur Caput XXVI: Hammonia: Der Blick in die Zukunft Caput XXVII: Vision vom neuen Deutschland „Der Erbschaftsstreit“ Ballettszenarien: Die Göttin Diana und Der Doktor Faust Faust bei Heine und Goethe Die Pariser Februar-Revolution 1848 Die deutsche März-Revolution 1848

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Romanzero Der kranke Heine, 1851, fünf Jahre vor seinem Tod Die Matratzengruft Geständnisse Lutèce Der Leidensweg Für die Mouche Balaam (Bileam) und der sprechende Esel Heines „letzte Worte“ Das Ende

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Heine – eine deutsche Verwirrung Er ist einer der größten Dichter der deutschen Literaturgeschichte. Aber gleichzeitig ist er ein deutsches Problem. Seine Lyrik erfreut sich bis heute großer Popularität1, aber die gesellschaftskritische Satire und politische Konfrontation des frankophilen Rheinländers und Napoleon-Verehrers mit der Preußenpolitik einer Vereinigung der deutschen Fürstenstaaten unter preußischer Führung haben ihn für viele, die in seiner Dichtung die Sehnsucht nach einem liberalen, fortschrittlichen, nicht von der preußischen Pickelhaube geführten Deutschland ignorieren, zum „Landesverräter“ stilisiert.

Heinrich Heine spaltet die Nation: Theodor Storm überliefert Edu-ard Mörikes Bemerkung über Heine von der „Lüge seines ganzen Wesens“; der scharfzüngige Kritiker Karl Kraus urteilte mysteriös: „So war er: ein Talent weil kein Charakter“2. Theodor W. Adorno sprach im Zusammenhang mit der „Lüge“ der ‚deutschmythischen’ Loreley von „präparierter Sprache“ und von der „Wunde Heine“ in der deutschen Literatur. Düsseldorfer Bürger erregten sich über die Namensgebung ihrer Universität nach dem berühmtesten Sohn der Stadt – die Errichtung jedes Heine-Denkmals führt zu Kontroversen. Auch die gescheiterte Verleihung des Heine-Preises an Peter Hand-ke zeigte nicht nur absurdes politisches Fingerspitzengefühl der Jury – niemand wäre wohl auf die Idee gekommen, Handke wäh-rend seines persönlichen Engagements für den gerade vor dem Den Haager Gerichtshof angeklagten Kriegsverbrecher Milosevic einen Lessing-, Kleist- oder Goethe-Preis zu verleihen. Im Umfeld des Skandals wurde die Hilflosigkeit von Kommunalpolitikern und Medien deutlich, mit dem Reizthema Heine umzugehen.

1 Es gibt annähernd 10.000 Vertonungen von Heines lyrischen Gedichten; von Schubert, Schumann, Brahms und Mendelssohn-Bartholdy bis zu Liszt, Wagner und Tschaikowskis Lehrer Anton Rubinstein.

2 Karl Kraus stellt ein Zitat auf den Kopf: In Atta Troll heißt es in der In-schrift auf der Büste, die für den Bären in der Walhalla aufgestellt wird: Kein Talent, doch ein Charakter! (� Seite 70).

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Die äußersten Flügel der Linken und Rechten sind sich in einem immer einig gewesen: in ihrer Kritik an Heine. Diese Kritiker von ganz außen formierten sich wieder im Jahre 2009, als Heines Büste Einzug hielt in der Walhalla.3 Denn das Heine-Problem zeigte sich auch in dem Jahre langen Streit, ihn unter den dreihundert großen Deutschen im Ruhmestempel Walhalla zu verewigen. Selbst im Heine-Jahr 2006 schien die Aussicht hoffnungslos, als am 8. August 2006 die sensationelle Nachricht kam: Heines Büste wird in der „marmornen Schädelstätte“ (Heines „Lobgesänge auf König Ludwig“) aufgestellt werden.

3 Walhalla: Nachahmung eines griechischen Tempels in Donaustauf (Land-kreis Regensburg); Entwurf von Leo von Klenze für König Ludwig I. von Bayern; Ruhmeshalle mit Büsten berühmter Deutscher; 1842 eingeweiht.

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Europa um die Jahrhundertwende Am 13. Dezember 1797 wird Heinrich Heine in Düsseldorf geboren. Aber Heinrich wird er erst ab 1825 heißen – nach der protestanti-schen Taufe. Das Kind erhält den Namen Harry, entsprechend dem jüdischen Brauch, dass der Name mit dem gleichen Buchstaben be-ginnen muss wie der Name des Großvaters: Heymann (jiddisch: Chajjim).

Düsseldorf hat damals 16.000 Einwohner (heute etwa 600.000). Die etwa 300 Mitglieder der jüdischen Gemeinde leben zwar nicht wie in anderen deutschen Großstädten in einem Ghetto, aber sie tragen eine besonders hohe Steuerbelastung. Heines Eltern benötigen als Juden eine spezielle behördliche Heiratserlaubnis und sein Vater Samson eine Zuzugsgenehmigung. Gleichzeitig ist Heines Onkel Salomon der einflussreichste Bankier Hamburgs4. Nach der Hoch-zeit eröffnet Samson Heine in Düsseldorf ein zunächst prosperie-rendes Modewarengeschäft, und die Familie kann 1809 (Heinrich ist 11 Jahre alt) ein eigenes Haus beziehen.

Um die Jahrhundertwende erlebt Europa umwälzende Verände-rungen, die Heines Biographie entscheidend prägen; es sind wirt-schaftliche und politische Veränderungen von einschneidender Wirkung für alle Völker Europas – an der geistigen, der literarischen Umwälzung, dem Übergang von Goethes ästhetischer Hochklassik zur politischen Dichtung des Vormärz, wird Heine selbst entschei-denden Anteil haben. Die Erfindung der Lokomotive führt zu einem gewaltigen ökonomi-schen Aufschwung und konfrontiert die Menschen mit dem Über-gang von einer idyllischen Agrargesellschaft zur kapitalistischen Industriegesellschaft. Ein Netz von Eisenbahnlinien überzieht die europäische Landkarte und wird zur Voraussetzung für modernen

4 Salomon Heine, genannt „Hamburger Rothschild“ wird 30 Millionen Francs (100 Millionen Euro) als Erbe hinterlassen, wovon Heinrich nur eine klägliche Monatsrente erhalten wird.

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Handel und Industrie: Rohstoffe werden zur Verarbeitung transpor-tiert und die fertigen Waren sternförmig verteilt. Der Adel verliert an Macht, das Bürgertum gewinnt an Einfluss. Gleichzeitig mit der Industrialisierung entwickelt sich eine starke Arbeiterbewegung. – Das Industriezeitalter hat begonnen. –

Auf dem Erfurter Fürstentag 1808 demonstriert Napoleon den Gip-fel seiner Macht, nachdem er Österreich bei Austerlitz und Preußen bei Jena und Auerstedt geschlagen und mit dem unter seinem Pro-tektorat gegründeten Rheinbund die Auflösung des Heiligen Römi-schen Reiches Deutscher Nation vollzogen hat. Die Wende der napole-onischen Herrschaft in Europa bringt dann der russische Feldzug, von dem ein geschlagener Feldherr mit den Resten der Grand Armée nach Paris zurückkehrt. Es beginnen die Koalitionskriege, ein Auf-stand der alten europäischen Monarchien gegen Napoleon, und die Völkerschlacht bei Leipzig beendet 1813 die französische Vorherr-schaft. Der Deutsche Bund formiert 1815 eine Vereinigung der souve-ränen deutschen Fürsten und freien Städte.

Heinrich Heine ist 16 Jahre alt, als auf dem Wiener Kongress die poli-tische Ordnung Europas auf Jahrzehnte neu festgelegt wird.

Als Heine 8 Jahre nach der Französischen Revolution geboren wird, ist Düsseldorf von französischen Truppen besetzt; nach drei Jahren ziehen sie ab, die Stadt wird (wieder) bayerisch. Nach weiteren drei Jahren muss Bayern das Herzogtum Berg (Düsseldorf) an Frank-reich zurückgeben und das napoleonische Gesetzbuch Code Civil wird einführt: es bringt die Abschaffung der Leibeigenschaft und Gleichstellung der Juden. In der Folge des verlorenen russischen Krieges müssen die Franzosen aber 1813 aus Düsseldorf abziehen. Die Stadt wird jetzt von Russen besetzt und zwei Jahre später vom Wiener Kongress Preußen zugeschlagen.

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Schulzeit und Jugend Heines Schulzeit und Jugend ist geprägt von französischem Leben und französischem Geist. Die Ideale der Französischen Revolution von 1789: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit werden zur Grundlage seiner Vorliebe für Frankreich gegenüber dem preußischen Autori-tätsstaat. Die Schulausbildung beginnt in einer israelitischen Privatschule.

Ab 1804 ist es dann jüdischen Kindern erlaubt, christliche Schulen zu besuchen und Harry wechselt in eine städtische Grundschule, dann nach einer Vorbereitungsklasse auf ein Düsseldorfer Gymna-sium, das Lyzeum. Vier Jahre lang besucht er diese in den dumpfen Mauern eines ehemaligen Franziskanerklosters aus einem Jesuiten-gymnasium hervorgegangene Schule und empfängt prägende Ein-drücke von zwei Lehrern: sein Französischlehrer widmet sich neben Grammatik und Vokabular vor allem Rhetorik und Verslehre, sein Philosophielehrer gehört als Kantianer zum Kreis der „Rheinischen Aufklärer“. Dieser gleichzeitige Einfluss verschiedener kultureller Strömungen wird zum Fundament für den kosmopolitischen Dich-ter, für den Patriotismus niemals Nationalismus bedeutet. Als Kna-be einer jüdischen Gemeinde wird er von einem französischen Leh-rer in die Verskunst eingeführt, und ein katholischer Lehrer vermit-telt den freiheitlichen Geist der Revolution, der mit der französi-schen Besatzung in Düsseldorf eingezogen ist. Dieser Fünfzehnjäh-rige wird Zeit seines Lebens keinem Dogmatismus zugänglich sein. Schon als junger Mensch wird er zum europäischen Weltbürger, der später „Orthodoxen“ auf „Ochsen“5 reimt und von sich sagt: Ich bin des freien Rheins noch weit freierer Sohn.6 Im Düsseldorfer Lyzeum wird der Keim gelegt für diese Weltsicht. Harrys Erziehung konnte in der Schule nicht liberaler sein.

5 Heines letztes Gedicht: Für Mouche 6 Vorwort zu: Deutschland. Ein Wintermärchen.

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Zu Hause hat seine Mutter die Oberleitung meines Lebens übernommen …und: schon vor meiner Geburt begannen die Erziehungspläne.7 Die industrielle Revolution formiert eine neue – eine leistungsorientierte Erfolgs-Gesellschaft, die in der jüdischen Gemeinde als Verweltli-chung der überkommenen orthodoxen Formen gefürchtet wird. Nicht so von Heines Mutter. Ihre Kinder sollen Karriere machen, und die beiden Söhne sind zunächst die einzigen jüdischen Schüler des Lyzeums. Zwar sind Juden nach dem Code civil den deutschen Bürgern gleichgestellt – aber die Emanzipation steht nur auf dem Papier. Es gilt sich in die Gesellschaft zu integrieren und sich ihr anzupassen. Genau das ist das Ziel von Mutter Heine, und es ge-lingt ihr bei drei ihrer vier Kinder: Charlotte heiratet einen Ham-burger Kaufmann, Gustav wird österreichischer Offizier, Maximi-lian wird Militärarzt beim russischen Zaren. Die Schwester wird reich, die beiden Brüder außerdem auch noch geadelt. Mutter Heine hat ihr Ziel erreicht – aber nur teilweise. Heinrich muss später sa-gen: Es ist nichts aus mir geworden, nichts als ein Dichter. Er hat die ärgsten Befürchtungen seiner Mutter erfüllt: Sie hatte nämlich damals die größte Angst, dass ich ein Dichter werden möchte; das wäre das Schlimmste, sagte sie immer, was mir passieren könnte. Ein „Rothschild“ soll er werden. Aber der junge Harry hat andere Träume. Vorbild ist Großonkel

Simon. Der Lebenskünstler ohne bürgerlichen Beruf hatte abenteu-erliche Reisen in den Orient unternommen. Das schwarze Schaf ist ein Glücksritter …der die morschen Schranken einer morschen Gesell-schaft übersprungen hat. Das zweite Schlüsselerlebnis ist die Liebe des Sechzehnjährigen

zu der zwölfjährigen Scharfrichtertochter Josepha. Seine Küsse für das Mädchen aus einer Familie der „Unberührbaren“ versteht er als Hohn gegen die alte Gesellschaft und ihre Vorurteile. Die beiden Außen-seiter Simon und Josepha symbolisieren Harrys Befreiungsprozess.

7 Alle Zitate aus dieser Zeit in den Memoiren.

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Der gescheiterte Buchhalter Mit 17 Jahren verlässt Harry Heine das Lyzeum ein Jahr vor der Reifeprüfung. Er soll eine kaufmännische Lehre absolvieren und die Eltern im Tuchgeschäft unterstützen, das durch die europäische Wirtschaftskrise ins Trudeln geraten ist. Die von Napoleon verhäng-te „Kontinentalsperre“ hat den Handel mit England zum Erliegen gebracht, und der kleine Laden kann den Preiskampf gegen frühka-pitalistische Großbetriebe nicht durchhalten. Statt Philosophie und Latein lernt Harry jetzt auf der Handelsschule Schönschrift und Buchführung. Mit 18 Jahren beginnt er eine kaufmännische Lehre – zuerst in einem Bankhaus, danach bei einem Gewürzhändler mit ebenso wenig Erfolg. Immerhin hat er gelernt wie man einen Wechsel ausstellt und wie Muskatnüsse aussehen. Die Mutter hat ihre Vision nicht aufgegeben: Harry soll „eine

Geldmacht werden.“. Als Vorbild bietet sich Onkel Salomon an. Er hatte in Harrys Geburtsjahr ein Bankhaus in Hamburg eröffnet und es inzwischen durch hanseatisch seriösen Geschäftssinn und groß-zügige Stiftungen zum wichtigsten Mann an der Börse und zum beliebten Bürger gebracht. Harry zieht um nach Hamburg, und die Oberleitung seines Lebens übernimmt der angesehene „Hamburger Rothschild“. Wie sich später in den Memoiren zeigt, war das Ver-hältnis nicht problemlos, aber voll gegenseitiger Achtung. Wir haben auch in Wesen und Charakter viel Ähnlichkeit. Dieselbe störrische Keck-heit, bodenlose Gemütsweichheit, und unberechenbare Verrücktheit. Nur dass Fortuna ihn zum Millionär und mich zum Gegenteil, das heißt zum Dichter gemacht und uns dadurch äußerlich in Gesinnung und Lebens-weise höchst verschieden ausgebildet hat.

Harry verliebt sich in Salomons Tochter Amalie. Aber die Gefühle sind einseitig. Vielen Heine-Forschern gilt diese Enttäuschung als Ursache dafür, dass der gescheiterte Buchhalter Heine zum Dichter wurde. Es ist zwar auch die Zeit der Romantik, aber dies wäre doch zu romantisch. Erste Gedichte hatte Harry zwei Jahre vorher ge-schrieben, doch ohne Andeutung dichterischer Ambitionen.

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Die Antipathie des Banklehrlings gegen das hanseatische Leben entspringt nicht einer unglücklichen Jugendliebe. Wahr ist es, es ist ein verludertes Kaufmannsnest hier. Huren genug, aber keine Musen. Mancher deutsche Sänger hat sich hier schon die Schwindsucht am Halse gesungen. Im gleichen Brief8 wird Heines Ambition erkennbar, das bürgerliche Leben aufzugeben und als Außenseiter zu leben: Als ich ging nach Ottensen hin / Auf Klopstocks Grab gewesen ich bin. / Viel schmucke und stattliche Menschen dort standen, / Und den Leichenstein mit Blumen umwanden. / Sie lächelten sich einander an / Und glaubten Wunders was sie getan. – / Ich aber stand beim heiligen Ort, / Und stand so still und sprach kein Wort, / Meine Seele war da unten tief / Wo der heilige deutsche Sänger schlief. Klopstock ist vor etwa 10 Jahren ge-storben9. Der Friedhof, auf dem er bestattet wurde, liegt in der Nähe von Onkel Salomons Landhaus, und sein Grab ist für die literarische Szene eine Wallfahrtsstätte geworden. Die gutsituierte Gesellschaft absolviert kulturelle Pflichtübungen am prächtigen Grabstein mit dem Odentext und dem Bild der Muse, aber der angehende Dichter steht stumm ergriffen vor der Erinnerung an den „heiligen deut-schen Sänger“. Eine Kaufmanns-Karriere ist für den jetztZweiundzwanzigjähri-

gen undenkbar. Trotzdem eröffnet Onkel Salomon für ihn ein Ma-nufakturwarengeschäft,10 das aber nach einem Jahr liquidiert wer-den muss – gleichzeitig mit dem elterlichen Betrieb. Harry schreibt inzwischen Gedichte. Die Befürchtung der Mutter ist eingetroffen. Aber zunächst stellt Onkel Salomon den „damals üblichen Wechsel von 400 Taler“ im Jahr für ein Jura-Studium aus.

8 Brief an Christian Sethe, 6.7.1816 (HSA 20, S. 18) 9 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724-1803); einer der bedeutendsten Dichter der frühen Klassik; Wegbereiter für Sturm und Drang; Oden, „Die Früh-lingsfeier”.

10Manufakturwarengeschäft: modernste Betriebsform des 18. Jh.; frühkapita-listischer Vorläufer des Fabriksystems; Arbeiter produzierten arbeitsteilig und spezialisiert, aber noch weitgehend ohne Einsatz von Maschinen. „Manufakturperiode” des 18. Jh.

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Studium und Dichter … Ein Jahr vor Heines Studienbeginn wurde 1818 die Preußische Rhein-Universität in Bonn gegründet. Zu den ersten Professoren gehören Ernst Moritz Arndt11 und August Wilhelm von Schlegel12. Harry besteht (wegen des fehlenden Abgangszeugnisses) eine Aufnahme-prüfung und beginnt das Jura-Studium.

Seit Napoleons Niederlage in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 sind die Universitäten der Schmelztiegel nationalen Aufbruchs; die Burschenschaften begeistern die Jungintellektuellen für nationale Einheit; der Bonner Professor und Dichter Ernst Moritz Arndt wird ihre Galionsfigur für die Mischung von Hass auf Frankreich und deutschnationaler Erneuerung mit Verfassung, Rede- und Presse-freiheit. Bei Heines Studienbeginn ist die Atmosphäre zum Kochen aufgeheizt. Der Burschenschaftler Ludwig Sand ermordet den Dich-ter August von Kotzebue; willkommener Anlass für die Karlsbader Beschlüsse: liberale Gesinnung wird in allen Erscheinungen verfolgt, ein polizeiliches Spitzelsystem aufgebaut, die Universitäten streng überwacht. Justizwillkür und Despotismus sind schlimmer als zu-vor. Die Burschenschaften werden verboten und Professor Arndt suspendiert.

11 Arndt, Ernst Moritz (1769-1860), Schriftsteller, Publizist, Professor; sein „Versuch einer Geschichte der Leibeigenschaft in Pommern und Rügen“ trug entscheidend zu deren Aufhebung bei; patriotische Lieder; „Was ist des Teutschen Vaterland? … Das ganze Teutschland soll es sein.“ Flug-schrift „Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Grenze“. Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung.

12 Schlegel, August Wilhelm von (1767-1845), Literaturkritiker, Übersetzer, Gelehrter. Mit Bruder Friedrich Wegbereiter der deutschen Romantik. Übersetzungen von Shakespeare (mit Tieck) und Cervantes. Beiträge für Schillers Zeitschrift Die Horen und Musenalmanach. Sekretär und Reise-begleiter von Madame de Staël; Professur für Literatur und Kunstge-schichte in Jena und Bonn (Geschichte der Deutschen Sprache und Poesie).

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Harry Heine geht in die Opposition; er tritt der Studentenverbin-dung Allgemeinheit bei. Nach einer Gedenkfeier für die Leipziger Völkerschlacht wird auch er vor dem Universitätsgericht verhört. Der erwachte Patriotismus ist für die absolutistische Obrigkeit ge-fährlich geworden, denn er trägt auch revolutionäre Züge. Aber Heine distanziert sich von der Nationalselbstsucht – für ihn bedeutet Patriotismus: Solidarität mit den Unterdrückten. Er wird ein leiden-schaftlicher Verfechter der französischen Form des Patriotismus, der das ganze Land (die Welt) der Zivilisation mit seiner Liebe umfasst, wäh-rend der „deutsche Patriot“ das Fremdländische hasst, so dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur enger Deutscher sein will.

Heine distanziert sich von der Opposition, er wird zum Ironiker und Spötter, seine Umgebung nennt ihn „Mephistopheles“. Zu den Freunden der Bonner Studienzeit gehören der spätere Dichter Hoffmann von Fallersleben, der spätere Chemiker Justus Liebig, der spätere Übertrager des Nibelungenliedes Karl Simrock, und ein kleiner Kreis dichterisch ambitionierter Studenten. Goethe ist über 70 Jahre alt und wird noch länger als zehn Jahre als Dichterfürst der Hochklassik den Durchbruch einer neuen Dichtung blockieren – aber es ist längst die große Zeit der Romantik.

Beim wichtigsten Lehrmeister der romantischen Schule hört Heine literarische Vorlesungen: August Wilhelm von Schlegel. Später, wenn Heine längst gebrochen hat mit dem Bewahrer der romanti-schen Poesie, erinnert er sich immer noch an den Schauer, der durch meine Seele zog, wenn ich vor seinem Katheder stand und ihn sprechen hörte. In Glacéhandschuhen, nach der neuesten französischen Mode gekleidet und parfümiert predigte Schlegel vor seinen staunenden Jüngern, während ein Bedienter in der Schlegelschen Hauslivrée die Kerzen hütete, die in den silbernen Leuchtern auf dem Katheder brannten. Ein Glas Zuckerwasser stand zur Atzung bereit. Der Stu-dent Heine dichtete drei Oden auf den verehrten Mann.

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Heine nennt Schlegel Chef der Romantiker und seinen Lehrmeister. Er wird sogar in seine Wohnung eingeladen, wo er bei der rauchenden Kaffeetasse stundenlang mit ihm plauderte. Der große Gelehrte liest die poetischen Versuche seines Besuchers und kritisiert die kleinen Män-gel …mit einer Strenge, fast Unbarmherzigkeit, die ohne Gleichen war; stundenlang arbeitet der Schüler an Verbesserungen. Unter den Gedichten dieser „Zusammenarbeit“ entstehen frühe Meisterwerke: Belsatzar und Die Grenadiere13.

Die Trennung vom Meister erfolgt mit Heinescher Konsequenz. „In den Wäldern der nordamerikanischen Wilden werden die Väter von den Söhnen totgeschlagen, sobald sie alt und schwach geworden (sind)“14. Das heißt: Der vornehme, von vornehmen Gönnern beschützte, renovierte, baronisierte, bebänderte Ritter August Wilhelm von Schlegel, einer Gegenwarts-Kunst unzugänglich und nur der Poesie der Ver-gangenheit verpflichtet, erscheint jetzt als hölzerne Nichtigkeit der ro-mantischen Kunst. Durch die Lehre des einseitigen Idealismus habe er „Hundedemut und Engelsgeduld, die erprobteste Stütze des Despotismus“ gefördert. Die Pariser Juli-Revolution von 183015 und Hegels Geschichtsphi-

losophie werden 10 Jahre später Heines Romantik-Kritik schärfen: Eine neue Zeit müsse eine „neue Kunst gebären“ – „wahre Roman-tik“ werde verfälscht durch Modeliteratur – die deutsche Muse soll wieder ein freies, blühendes, unaffektiertes ehrlich deutsches Mädchen sein, und kein schmachtendes Nönnchen – die mystisch verworrene Kunst müsse wieder „klar und bestimmt“ werden.

13 Die Grenadiere wurden später von Richard Wagner vertont. 14Goethe lässt etwa zur gleichen Zeit in Faust II den Baccalaureus mit seinen Lehrern abrechnen (6.707 f): Hat einer dreißig Jahr vorüber, / so ist er schon so gut wie tot. / Am besten wärs, euch zeitig tot zu schlagen. Und: Die Welt, sie war nicht, eh ich sie erschuf.

15 Auf die Französische Revolution 1789 folgte die Restauration der Bour-bonen: die Königskrönung Ludwig XVIII.. 1824 wurde sein Bruder als Karl X. König. Seine restaurative Politik löste 1830 die Juli-Revolution aus. Karl musste abdanken und ging nach Großbritannien ins Exil.

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Harry studiert Jura, aber er besucht in den ersten beiden Bonner Semestern nur jeweils eine Pflichtvorlesung. Danach strebt er ernst-haft einen Jura-Abschluss an und wechselt im dritten Semester „des Ochsen halber“16 nach Göttingen17 an die angesehenste deutsche Universität – von der rauchenden Kaffeetasse des „Privatlehrers“ in den routinierten Betrieb der Examensprozedur. Den Freundeskreis der Gelegenheitspoeten tauscht er gegen patente Pomadenhengste, Prachtausgaben wässriger Prosaiker, plastisch ennuyante Gesichter … Die Professoren sind hier erst recht viel lederner als in Bonn. Erklärtes Ziel sei es, neue Ideen „unter Quarantäne zu halten“. In Bonn herrschte ein schöngeistiger Umkreis – die Göttinger Streber pauken brav für ihre Examina, aber im „Kollegium über altdeutsche Sprache“, mit dem ein Schlegel in Bonn einen Hörsaal füllt, gibt es in Göttingen nur 9 (sage neun) …unter 1.300 Studenten … nur 9, die für die Sprache, für das innere Leben und für die geistigen Reliquien ihrer Väter Interesse haben. O Deutschland! Land der Eichen und des Stumpfsinns!18 –

„O Deutschland! Land der Eichen und des Stumpfsinns“ – gehört zu den böswillig zitierten Äußerungen Heines, mit denen er als der „Vaterlandverräter“ entlarvt werden soll. Der Zusammenhang zeigt die genau kontroverse Bedeutung: Heines Liebe zu Deutschland und seine Trauer über den Stumpfsinn der Gesellschaft, insbeson-dere der Jugend, die im Aufbruch in die Industrielle Revolution Karriere und materielle Güter mit Leidenschaft und Fleiß erstreben, und gleichzeitig die ideellen und kulturellen Werte der Nation (die geistigen Reliquien der Väter) nicht mehr wahrnehmen wollen. In der Streberuniversität Göttingen fehlt Heine die liberale, kulturell engagierte Studentenatmosphäre von Bonn. Hannoveraner Adel und alteingesessene Landsmannschaften prägen das Leben auf dem Campus. Studenten, die hordenweis und geschieden durch Farben der Mützen und der Pfeifenquäste…sich ewig unter einander herumschlagen,

16„des Ochsen halber“: Ochsentour bzw. büffeln. 17Georg-August-Universität; 1734 gegründet von Georg II. August (König von Großbritannien und Irland); heute ca. 25.000 Studenten.

18 Brief an Friedrich von Beughem, 1820 (HSA 20, S. 33).

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in Sitten und Gebräuchen noch immer wie zur Zeit der Völkerwanderung dahinleben. In einer öffentlichen Auseinandersetzung vertritt Heine den Codex der Studentenverbindungen gegenüber Landsmann-schaften, und als der Streit eskaliert, fordert er einen Kommilitonen zum Duell. Der Vorgang wird gerichtskundig und Heine wird im Januar 1821 für ein halbes Jahr von der Universität relegiert („Consi-lium abeundi“).

Heine muss die Stadt verlassen – das Studium in Göttingen hat nur 4 Monate gedauert. Eine andere Suspendierung trifft ihn härter: seine Studentenverbindung schließt ihn aus wegen „Vergehen ge-gen die Keuschheit“. Am Ernst der Begründung sind Zweifel er-laubt, denn wenige Monate vorher war auf dem Dresdner Bur-schentag beschlossen worden, Juden aus der „christlich-teutschen“ Burschenschaft auszuschließen.

Heine reist zur Familie nach Hamburg, wo ihn wenig Tröstliches erwartet: Mein Vater leidet noch immer an seiner Gemüthskrankheit, meine Mutter laboriert an Migräne, meine Schwester hat den Catarrh und meine beiden Brüder machen schlechte Verse. Dieses letztere zerreißt mir das Herz. Außerdem verlobt sich seine Jugendliebe Amalie.

Der Familienrat beschließt, dass Harry das Jura-Studium mit finan-zieller Unterstützung von Onkel Salomon an der vor einem Jahr-zehnt gegründeten Universität in Berlin fortsetzen soll.

Berlin hat damals 200.000 Einwohner und ist die größte deutsche Stadt. Und obwohl Goethe noch 10 Jahre lang in Weimar Hof halten wird, ist Berlin bereits das geistige und kulturelle Zentrum Deutsch-lands. Hier gewinnt der dreiundzwanzigjährige Heine Zugang zu den maßgeblichen literarischen Zirkeln in den berühmten Salons und beginnt zu publizieren. Bereits in Göttingen hatte er eine Sammlung lyrischer Gedichte zusammengestellt und dem Leipziger Brockhaus-Verlag angeboten, der das Manuskript nicht annahm. In Berlin erhält er nun Gelegenheit, in der angesehenen Zeitschrift „Der Gesellschafter“ drei Jahre lang Gedichte zu veröffentlichen.

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Die Gedichte erscheinen in den Poetische Ausstellungen, in denen die verstaubten Konventionen der Berliner Gesellschaft in ganz neuer Form reflektiert werden: mit Ironie19.

Heine scheint die traditionellen (romantischen) Erwartungen der Leser zu erfüllen, um dann mit überraschenden Effekten die aufge-bauten Illusionen durch Widersprüche wieder zu zerstören. Später wird man ihn deshalb „den ersten lyrischen Realisten“ nennen. In einem Brief an den Juristen und Dramatiker Immermann nennt er seine Gedichte die Quelle meiner dunklen Schmerzen… in diesem heili-gen Kampfe gegen Unrecht und Torheit. Er ist zum Störenfried der konservativen Gesellschaft geworden, ehe diese es erkannt hat.

Berlin ist das Herz Preußens. Hier gebietet die Pickelhaube. Die Studenten werden überwacht, Burschenschaftler verhaftet, in allen Bereichen herrscht die Zensur. Der kranke E.T.A. Hoffmann muss sich einer Gerichtsprozedur unterziehen, weil sein Roman Meister Floh als Verspottung der Staatsmacht verstanden wird. Die strengen Karlsbader Beschlüsse haben das Freiheitsdrama Wilhelm Tell von den Spielplänen gefegt, Aufführungen von Goethes Egmont werden ver-boten. Heine schreibt: Wir Deutschen sind das größte und stärkste Volk …wir haben das Pulver erfunden und die Buchdruckerei. Aber wenn man annoncieren will, die Gattin habe ein Töchterlein (geboren), schön wie die Freiheit, dann streicht der Zensor die Freiheit.

19Ironie (von griechisch: Verstellung) wird meist fälschlich als eine Art Hu-mor oder kabarettistische Satire verstanden; korrekt ist es die rhetorische Verstellungskunst, bei welcher der Redner mit dem Ziel, den Zuhörer bewusst zu täuschen oder einen heiteren Überraschungseffekt zu erzie-len, das Gegenteil von dem vorgibt, was er eigentlich aussagen will. Phi-losophisch bediente sich Sokrates in den Dialogen Platons der Ironie, um durch scheinbar naive Fragen seine Gesprächspartner in Begründungsnot zu bringen; er stellte sich unwissend und verwickelte seine Gegner durch logische Schlussfolgerungen zu deren Behauptungen in Widersprüche, um das Eingeständnis zu erwirken, im Grunde unwissend zu sein: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Ironische Dichtung spielt eine wichtige Rolle in der Romantik.

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Leseprobe

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Der Journalist Neben seinem jetzt ernsthaft betriebenen Jura-Studium beginnt Heine für den Westfälischen Anzeiger als Journalist zu arbeiten. Ein halbes Jahr lang vermitteln seine „Briefe aus Berlin“ in das preußi-sche Rheinland die hinter unterhaltsamer Ironie versteckten Spiege-lungen einer unter Despotismus erstarrten verlogenen Gesellschaft; dann durchschaut die Zensur die Gefahr diese „Briefe“ und sie werden verboten. Mit einem Studienfreund unternimmt der Fünfundzwanzigjähri-

ge 1822 eine Reise durch Polen und veröffentlicht seine Eindrücke in einer Schrift „Über Polen“. Der politische Hintergrund ist für die Zensur nicht schwer zu erkennen: den Staat Polen gibt es überhaupt nicht mehr. Preußen hat ihn mit Russland und Österreich aufgeteilt und vereinnahmt.

Der junge Heine ist ein Störenfried der Berliner Gesellschaft und der preußischen Politik. Es gelingt ihm immer wieder, etwas zu publi-zieren. Seine Bücher werden zwar kaum verkauft, aber von allen politischen und literarischen Richtungen rezensiert. Der ungezogene Liebling der Grazien ist nicht nur im Gespräch, er wird auch in die literarischen Salons eingeladen, deren wichtigster und berühmter der Salon im Hause der Eheleute Rahel und Karl August Varnhagen von Ense ab 1819 der Mittelpunkt des künstlerischen und geistigen Lebens Berlins und das Zentrum der deutschen Romantik ist20.

20 Karl August Varnhagen von Ense gab drei Jahre lang mit Adelbert von Chamisso den Musenalmanach heraus; österreichischer Offizier; nach dem Wiener Kongress preußischer Gesandter in Karlsruhe; wegen seiner de-mokratischer Gesinnung in den Ruhestand versetzt; seine Kontakte zu hochgestellten Persönlichkeiten ermöglichten ihm seine gesellschaftliche Ausnahmestellung in Berlin; der erste Puschkin-Übersetzer.

Rahel Varnhagen unterhielt schon vor ihrer Ehe einen literarischen Salon, in dem u.a. Wilhelm von Humboldt, Schlegel und Brentano verkehrten; bei Napoleons Einzug in Berlin 1806 wurde der Salon geschlossen; vor ih-rer Ehe konvertierte die Jüdin zum Protestantismus.

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Hier lernt er die wichtigsten Persönlichkeiten der geistigen Szene Deutschlands kennen: unter anderen den Dichter Adelbert von Chamisso; den Philosophen und Platon-Übersetzter Friedrich Schleiermacher; den Professor Immanuel Hartmann Fichte, Sohn von Johann Gottlieb Fichte und neben Kant, Schelling und Hegel wichtigster Philosoph des deutschen Idealismus; Alexander Freiherr von Humboldt, Diplomat und humanistisch orientierter Naturfor-scher, Geophysiker, Forschungsreisender und Meteorologe; dessen Bruder Wilhelm Freiherr von Humboldt, preußischer Politiker, Schul- und Universitätsreformer, Sprachforscher und Philosoph, der als Botschafter am Wiener Kongress teilnahm21; und Georg Wilhelm Friedrich Hegel selbst.

Der Umgang des angehenden Dichters konnte erlauchter nicht sein. Da verstört es nicht, dass er in den einschlägigen Weinstuben Ber-lins das damönisch-geniale, mit 35 Jahren an Trunksucht sterbende Dichtergenie Christian Dietrich Grabbe22 (dessen Wahlspruch: Am besten beginnt man – ein Drama – mit einer Naturkatastrophe und stei-gert dann) kennen lernt, der ihn als „Poeten-Jude“ abqualifiziert.

Aus dem Grabbe-Kreis zieht Heine sich schnell zurück, verkehrt aber immer häufiger in den Salons Hohenhausen und Varnhagen, die in Berlin die geistige Insel bilden, wo die kulturelle Elite poli-tisch und künstlerisch unzensiert miteinander verkehren kann; Hei-ne nennt es seine „zweite Heimat“. Niemand versteht mich so tief und kennt mich wie Frau von Varnhagen. Das Beste ist, ich brauche Frau von Varnhagen keine langen Briefe zu schreiben, wenn sie nur weiß, dass ich lebe, so weiß sie auch, was ich fühle und denke. Den Hausherrn nennt er „Statthalter Goethes auf Erden“ – obwohl Goethe noch fast ein Jahr-zehnt leben wird. ………………………… . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21Außerdem verkehrten in dem Salon der Varnhagens: Bettina von Arnim, Leopold von Ranke, Mendelssohn-Bartholdy, Jean Paul, u.a.

22Grabbe, Christin Dietrich: Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung; Don Juan und Faust; Herzog Theodor von Gothland.