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10 11 ZEITLUPE 6 2015 ZEITLUPE 6 2015 Lesen Sie bitte weiter auf Seite 12 Heimisch werden im Altersheim Betreuung und Entlastung, Sicherheit und soziale Kontakte: Das Leben im Altersheim bietet viele Vorteile. Die Zeitlupe hat Bewohnerinnen und Bewohner in Altersheimen in Zürich, Thun BE und Thal SG besucht. eit einem Vierteljahr erlebe ich einen Perspektivenwech- sel. Etwas, was ich in den bisherigen neunzig Jahren noch nie erlebt habe: Ich bin Bewohner eines Altersheims geworden.» So beginnen die Tagebuchnotizen von Otto Streckeisen. Für den langjährigen Pfarrer im Kanton Schaffhausen gehörten regel- mässige Besuche im Altersheim ein Le- ben lang zu seinem Pflichtenheft. Mit 91 Jahren, mit dem Einzug ins Al- ters- und Pflegeheim im bernischen Wal- kringen, wurde er vom Betreuer selber zum Betreuten: «Ich stosse täglich auf Erfahrungen, die ich in meinem bis- herigen Leben noch nie gemacht habe.» Bis zu seinem Tod 2013 schrieb Otto Streckeisen für die Zeitschrift «Reformier- te Presse» jeden Monat eine Kolumne aus dem Altersheim. Scharfsinnig beob- achtete er darin sein eigenes Verhalten, analysierte seine Gefühle und warf einen manchmal nachdenklichen, manchmal humoristischen Blick auf die neue Le- benssituation und die Mitbewohnenden. Schwierigkeiten verschwieg er nicht. Dazu gehörte, dass er sich der Endlich- keit stellte: «Ich erlebe meine letzte ir- dische Haltestelle. Hier werde ich krank werden und sterben. Daran werde ich jetzt täglich erinnert. Immer wieder wird im Essraum ein Stuhl frei.» Ein Heimeintritt ist nicht nur ein ein- schneidender Übergang im Leben, son- S Seit Mitte Februar 2015 wohnt Agnes Zingerli (97) im Altersheim Trüeterhof in Thal SG. Aus gesundheitlichen Gründen wurde der Umzug nötig. Agnes Zingerli ist noch nicht lange im Altersheim, und doch könnte sie sich den Alltag in ihrem eigenen Haus nicht mehr vorstellen. «Ich hatte nie Heimweh danach, ist das nicht komisch?», fragt die 97-Jährige. Dabei wollte sie eigentlich gar nie von zu Hause weg. Doch dann stürzte sie dreimal kurz hintereinander. Der Arzt war sehr offen, und Agnes Zingerli sah es ein: In den eige- nen vier Wänden konnte sie nicht wohnen blei- ben. Nach einer kurzen Übergangszeit im Pflege- wohnheim wurde eines der 29 Einerzimmer im Altersheim Trüeterhof frei, nur etwa zwanzig Geh- minuten von ihrem Zuhause entfernt. Agnes Zingerli zog ein. Ihre liebsten Möbel und Gegenstände konnte sie mitnehmen: den runden Tisch, die Stühle, die Ständerlampe, Zimmer- pflanzen, Fotos ihres verstorbenen Mannes, der fünf Grosskinder und der Urenkelin. Zu ihrem Zimmer gehört ein Balkon, von dem aus sie in die Hügel des Appenzeller Vorderlandes und in die Reben am Buechberg sieht. Dass sie auf Hilfe angewiesen ist, macht der einst so tatkräftigen «Ich habe noch nie Heimweh gehabt» Langweilig sei ihr nie: «Ich gehe jassen, lese meine Heftli, spaziere mit dem Rollator ums Haus herum, füttere die Enten am Teich …» Sie wüsste nicht, was sie im Trüeterhof zu bemängeln hätte. Auf ihre Wünsche werde Rücksicht genommen: Dass sie zum Beispiel Spinat nicht mag oder nicht gerne Eile mit Weile spielt. Und die Pflegenden seien alle nett und sehr hilfsbereit: «Manchmal komme ich vom Frühstück wieder ins Zimmer im zweiten Stock, und selbst das Bett ist schon gemacht.» Im Trüeterhof, erzählt Agnes Zingerli, sei bereits ihre Schwester gewesen. Sie kennt viele der hier wohnenden Thaler, Rheinecker und Appenzeller von früher, und am Tisch sitze sie neben einem 103-Jährigen, der ihr als junger Mann täglich auf seinem Arbeitsweg begegnet sei. Sie lacht bei dieser Erinnerung. Jung möchte sie nicht noch einmal sein. Im Trüeterhof werde sie bleiben, bis … Agnes Zingerli neigt den Kopf, legt ihn auf ihre gefalteten Hände und schliesst die Augen. Adresse: Altersheim Trüeterhof, Dorfstrasse 36, 9425 Thal SG, Telefon 071 888 22 60, Mail [email protected], Internet www.trueterhof.ch dern mit grösster Wahrscheinlichkeit auch der letzte. Es braucht Mut, sich mit diesem letzten Schritt rechtzeitig ausein- anderzusetzen. Ängste überwiegen, ob- wohl eigene Erfahrungen und objektive Umfragen zeigen: Das Leben im Alters- heim bietet Sicherheit und Entlastung, ermöglicht Aktivitäten und soziale Kon- takte und gewährt jederzeit die nötige Pflege und Betreuung. Auch aus finan- ziellen Gründen muss niemand auf den Heimeintritt verzichten: Wenn die Bei- träge der Krankenkasse, das eigene Ver- mögen, AHV und Pensionskasse nicht ausreichen, können Ergänzungsleistun- gen in Anspruch genommen werden. Die meisten alten Menschen, rund vier Fünftel der über 80-Jährigen, wohnen bis zu ihrem Tod oder bis kurz davor noch zu Hause. Nach dem Grundsatz «ambulant vor stationär» ermöglichen ihnen Spitex-Mitarbeitende, Mahlzeiten- und Besuchsdienste, Hauspflegehilfen und Angehörige das Leben oft bis zuletzt in den eigenen vier Wänden. Der Preis dafür ist vielfach hoch: Isolation und Al- leinsein, Angst vor den einsamen Näch- ten, vor körperlichen Beschwerden, eine zu grosse Belastung für die Angehörigen, ein Sturz in der nicht barrierefreien Woh- nung, ein Spitalaufenthalt. Wer sich bis dahin keine Gedanken über seine Zu- kunft gemacht hat, muss seine ver- bleibende Lebenszeit oftmals in einer In- stitution verbringen, die er nie freiwillig gewählt hätte. «Das Wissen, wo man im höheren Al- ter oder im Notfall seinen Lebensabend verbringt, ist wie eine Versicherung», sagt Alexander Seifert, Experte am Zent- rum für Gerontologie der Universität Zü- rich, zum Thema «Wohnen im Alter». Eine Unfallversicherung werde ja auch nicht erst bei einem Autounfall ab- geschlossen, vergleicht der Fachmann: Langweilig ist es Agnes Zingerli in ihrem Zimmer im Altersheim Trüeterhof nie. Es braucht Mut, sich mit einem Heimeintritt rechtzeitig zu beschäftigen. Die Ängste überwiegen. zweifachen Mutter, ehemaligen FHD-Angehöri- gen und Samariterin am meisten Mühe. Aber sie merke ja selber, wie viel schwächer sie in der letzten Zeit geworden sei. Bilder: Sonja Ruckstuhl Von Usch Vollenwyder

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Page 1: Heimisch werden im Altersheim S - zeitlupe.ch · herigen Leben noch nie gemacht habe.» ... nie; er höre gern Musik, lese und bekomme Besuch von seinen Töchtern und Enkeln. Ob er

10 11ZEITLUPE 6 • 2015 ZEITLUPE 6 • 2015

Lesen Sie bitte weiter auf Seite 12

Heimisch werden im AltersheimBetreuung und Entlastung, Sicherheit und soziale Kontakte: Das Leben im Altersheim bietet viele Vorteile. Die Zeitlupe hat Bewohnerinnen und Bewohner in Altersheimen in Zürich, Thun BE und Thal SG besucht.

eit einem Vierteljahr erlebe ich einen Perspektivenwech-sel. Etwas, was ich in den bisherigen neunzig Jahren noch nie erlebt habe: Ich bin Bewohner eines Altersheims geworden.» So beginnen die Tagebuchnotizen von Otto

Streckeisen. Für den langjährigen Pfarrer im Kanton Schaffhausen gehörten regel-mässige Besuche im Altersheim ein Le-ben lang zu seinem Pflichtenheft.

Mit 91 Jahren, mit dem Einzug ins Al-ters- und Pflegeheim im bernischen Wal-kringen, wurde er vom Betreuer selber zum Betreuten: «Ich stosse täglich auf Er fahrungen, die ich in meinem bis-herigen Leben noch nie gemacht habe.»

Bis zu seinem Tod 2013 schrieb Otto Streckeisen für die Zeitschrift «Reformier-te Presse» jeden Monat eine Kolumne aus dem Altersheim. Scharfsinnig beob-achtete er darin sein eigenes Verhalten, analysierte seine Gefühle und warf einen manchmal nachdenklichen, manchmal humoristischen Blick auf die neue Le-benssituation und die Mitbewohnenden. Schwierigkeiten verschwieg er nicht. Dazu gehörte, dass er sich der Endlich-keit stellte: «Ich erlebe meine letzte ir-dische Haltestelle. Hier werde ich krank werden und sterben. Daran werde ich jetzt täglich erinnert. Immer wieder wird im Essraum ein Stuhl frei.»

Ein Heimeintritt ist nicht nur ein ein-schneidender Übergang im Leben, son-

S

Seit Mitte Februar 2015 wohnt Agnes Zingerli (97) im Altersheim Trüeterhof in Thal SG. Aus gesundheitlichen Gründen wurde der Umzug nötig.Agnes Zingerli ist noch nicht lange im Altersheim, und doch könnte sie sich den Alltag in ihrem eigenen Haus nicht mehr vorstellen. «Ich hatte nie Heimweh danach, ist das nicht komisch?», fragt die 97-Jährige. Dabei wollte sie eigentlich gar nie von zu Hause weg. Doch dann stürzte sie dreimal kurz hintereinander. Der Arzt war sehr offen, und Agnes Zingerli sah es ein: In den eige- nen vier Wänden konnte sie nicht wohnen blei- ben. Nach einer kurzen Übergangszeit im Pflege- wohnheim wurde eines der 29 Einerzimmer im Altersheim Trüeterhof frei, nur etwa zwanzig Geh- minuten von ihrem Zuhause entfernt. Agnes Zingerli zog ein. Ihre liebsten Möbel und Gegenstände konnte sie mitnehmen: den runden Tisch, die Stühle, die Ständerlampe, Zimmer-pflanzen, Fotos ihres verstorbenen Mannes, der fünf Grosskinder und der Urenkelin. Zu ihrem Zimmer gehört ein Balkon, von dem aus sie in die Hügel des Appenzeller Vorderlandes und in die Reben am Buechberg sieht. Dass sie auf Hilfe angewiesen ist, macht der einst so tatkräftigen

«Ich habe noch nie Heimweh gehabt»Langweilig sei ihr nie: «Ich gehe jassen, lese meine Heftli, spaziere mit dem Rollator ums Haus herum, füttere die Enten am Teich …» Sie wüsste nicht, was sie im Trüeterhof zu bemängeln hätte. Auf ihre Wünsche werde Rücksicht genommen: Dass sie zum Beispiel Spinat nicht mag oder nicht gerne Eile mit Weile spielt. Und die Pflegenden seien alle nett und sehr hilfsbereit: «Manchmal komme ich vom Frühstück wieder ins Zimmer im zweiten Stock, und selbst das Bett ist schon gemacht.»Im Trüeterhof, erzählt Agnes Zingerli, sei bereits ihre Schwester gewesen. Sie kennt viele der hier wohnenden Thaler, Rheinecker und Appenzeller von früher, und am Tisch sitze sie neben einem 103-Jährigen, der ihr als junger Mann täglich auf seinem Arbeitsweg begegnet sei. Sie lacht bei dieser Erinnerung. Jung möchte sie nicht noch einmal sein. Im Trüeterhof werde sie bleiben, bis … Agnes Zingerli neigt den Kopf, legt ihn auf ihre gefalteten Hände und schliesst die Augen.

Adresse: Altersheim Trüeterhof, Dorfstrasse 36, 9425 Thal SG, Telefon 071 888 22 60, Mail [email protected], Internet www.trueterhof.ch

dern mit grösster Wahrscheinlichkeit auch der letzte. Es braucht Mut, sich mit diesem letzten Schritt rechtzeitig ausein-anderzusetzen. Ängste überwiegen, ob-wohl eigene Erfahrungen und objektive Umfragen zeigen: Das Leben im Alters-heim bietet Sicherheit und Entlastung, ermöglicht Aktivitäten und soziale Kon-takte und gewährt jederzeit die nötige Pflege und Betreuung. Auch aus finan-ziellen Gründen muss niemand auf den

Heimeintritt verzichten: Wenn die Bei-träge der Krankenkasse, das eigene Ver-mögen, AHV und Pensionskasse nicht ausreichen, können Ergänzungsleistun-gen in Anspruch genommen werden.

Die meisten alten Menschen, rund vier Fünftel der über 80-Jährigen, wohnen bis zu ihrem Tod oder bis kurz davor noch zu Hause. Nach dem Grundsatz «ambulant vor stationär» ermöglichen ihnen Spitex-Mitarbeitende, Mahlzeiten- und Besuchsdienste, Hauspflegehilfen und Angehörige das Leben oft bis zuletzt in den eigenen vier Wänden. Der Preis dafür ist vielfach hoch: Isolation und Al-leinsein, Angst vor den einsamen Näch-ten, vor körperlichen Beschwerden, eine zu grosse Belastung für die Angehörigen,

ein Sturz in der nicht barrierefreien Woh-nung, ein Spitalaufenthalt. Wer sich bis dahin keine Gedanken über seine Zu-kunft gemacht hat, muss seine ver-bleibende Lebenszeit oftmals in einer In-stitution verbringen, die er nie freiwillig gewählt hätte.

«Das Wissen, wo man im höheren Al-ter oder im Notfall seinen Lebensabend verbringt, ist wie eine Versicherung», sagt Alexander Seifert, Experte am Zent-rum für Gerontologie der Universität Zü-rich, zum Thema «Wohnen im Alter». Eine Unfallversicherung werde ja auch nicht erst bei einem Autounfall ab-geschlossen, vergleicht der Fachmann:

Langweilig ist es Agnes Zingerli in ihrem Zimmer im Altersheim Trüeterhof nie.

Es braucht Mut, sich mit einem Heimeintritt rechtzeitig zu beschäftigen. Die Ängste überwiegen.

zweifachen Mutter, ehemaligen FHD-Angehöri-gen und Samariterin am meisten Mühe. Aber sie merke ja selber, wie viel schwächer sie in der letzten Zeit geworden sei. Bi

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Von Usch Vollenwyder

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12 13ZEITLUPE 6 • 2015ZEITLUPE 6 • 2015

Seit drei Monaten lebt Bruno Kägi (84) in einem Notzimmer im Alters- und Pflege-zentrum Herrenbergli in Zürich. Er ist dank- bar und zufrieden.Das Zimmer im Zürcher Alters- und Pflegezent-rum Herrenbergli ist als Notlösung gedacht: Es ist klein, ein ehemaliges Büro, mit einem La- vabo. Die Toilette befindet sich über den Gang, die Dusche im ersten Stock. Für Bruno Kägi kein Problem: «Die Pflegenden sind äusserst zuvorkommend, die medizinische Betreuung optimal geregelt, das Essen gut und die gebo- tene Sicherheit einfach grossartig.» Er vermisse nichts, vielleicht ein bisschen seine Freiheit. Doch daran sei nicht das Herrenbergli schuld, sondern seine Krankheit mit den damit verbun- denen körperlichen Einschränkungen. Bruno Kägi bezeichnet sich als Realist. Gerade deshalb kann er es kaum verstehen, warum er gedacht habe, er bleibe für immer gesund und werde nie in ein Altersheim ziehen: «Heute würde ich beizeiten mögliche Wohnalternati-ven prüfen und mich rechtzeitig in einem Al- tersheim anmelden – damit ich eine Auswahl hätte!» Im Leben müsse man doch ein paar Mal die Weichen stellen. Und ausgerechnet im Alter habe er das verschlafen! Schliesslich habe ihn das Leben wachgerüttelt: Dreimal war er im Spital, zunächst wegen einer Operation, dann wegen Komplikationen. Bruno Kägi litt an Atemnot, die vier Treppen im Haus waren kaum noch zu bewältigen, die Nächte allein in den vier Wänden – Bruno Kägi ist allein- stehend – waren lang. Er musste intensiv über seine Zukunft nachdenken und erkannte, dass der Umzug in ein Alters- oder Pflegeheim die einzige Alternative war. Seine Töchter seien froh, dass er selber entschieden habe: So müssten sie kein schlechtes Gewissen haben.Fünfzig Jahre lang wohnte der heute 84-Jährige in Zürich-Altstetten. Es war deshalb keine Frage,

Hanni (84) und Christian Winkler (90) woh- nen seit einem Jahr im Seniorenzentrum Sonnmatt in Thun. Das Paar hatte sich auf diesen Umzug vorbereitet.Die Sonnmatt kenne sie schon lange, erzählt Hanni Winkler. Als junge Hausfrau und Mutter engagierte sie sich im örtlichen «Lismi-Chränzli» und sammelte – wie viele andere – Geld fürs geplante Alters- und Pflegeheim am Thunersee. Hier würde sie mit ihrem Mann Christian einmal den Lebensabend verbringen: in der Nähe ihres Quartiers, ihrer Genossenschaftssiedlung, ihrer Nachbarn und Bekannten. Das Paar meldete sich rechtzeitig an und reservierte sich zwei miteinander verbundene Zimmer. Als Hanni Winkler immer öfter sagte, sie sei müde vom täglichen Einkaufen, Kochen und Haushalten, zögerte Christian Winkler noch. Ihm war wohl zu Hause, und er half beim Rüsten und Betten. «Doch Mueter meinte, sie gehe jetzt dann ins Altersheim.» Als auch er für den Umzug bereit war, sei alles ruck, zuck gegangen: «Innert acht Tagen war unsere alte Wohnung geräumt und die neuen Räume in der Sonnmatt – mit gegen 130 Plätzen eines der grösseren Senioren- zentren in Thun – bezogen.» Ihre ehemaligen Nachbarn sehen Winklers auch ein Jahr später immer noch regelmässig.Aber es sei ihnen wohl da: die helle Wohnung, der Blick vom Balkon auf den Niesen, auf das Stockhorn und die Gantrischkette, das rundum nette Pflegepersonal. Hanni Winkler ist froh, dass sie nicht mehr selber kochen muss – auch wenn sie wegen der guten Küche in der Sonn- matt dummerweise schon etwas zugenommen habe. Und Vater sei zufrieden, dass er ihr beim Kochen nicht mehr handlangern müsse. Wäh- rend Christian Winkler gern Bücher liest und an heiminternen Angeboten wie Turnen oder dem Männertreff teilnimmt, ist Hanni Winkler lieber für sich im Zimmer, liest und strickt.

«Im Alter muss man die Weichen neu stellen – wie oft im Leben»

«Plötzlich ist alles ruck, zuck, zack, zack gegangen»

«Wer sich frühzeitig mit seiner späteren Wohnsituation auseinandersetzt, kann noch selber entscheiden, wie und wo er einmal wohnen möchte. Sonst entschei-den andere für die Betroffenen.» (Siehe Interview Seite 15.)

Alexander Seifert ist Mitautor der 2013 erhobenen Studie «Im Alter ziehe ich (nie und nimmer) ins Altersheim». Darin wurden mehr als 1500 über 75-jährige

Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Zürich zu ihren Motiven, Erwartungen und Einstellungen gegenüber dem Al-tersheim befragt. Rund ein Drittel stand bereits auf einer Warteliste, die rest-lichen zwei Drittel hatten sich (noch) nirgends angemeldet. Von diesen sagten immerhin 78 Prozent, dass sie sich einen Umzug in ein Altersheim vorstellen könnten. Diese hohe Zustimmung zeigt:

Altersheime haben viel von ihrem Schre-cken verloren. Das bestätigen auch an-dere Umfragen: Wer den Umzug wagt, gewinnt oft viel an Lebensqualität.

Auch der Pfarrer und Kolumnist Otto Streckeisen wog die Vor- und Nachteile gegeneinander ab: «Ein Stück meiner so genannten Selbstständigkeit habe ich verloren. Ich bin an eine Hausordnung gebunden. Und auch in der Auswahl

mitmenschlicher Begegnungen erlebe ich Schranken. Ist das ein Verlust?» Je grösser seine körperlichen Beschwerden wurden, umso grösser erachtete er aber auch den Gewinn.

Noch vier Monate vor seinem Tod schrieb er: «Dass ich in jeder Tagebuch-notiz etwas über meine Erlebnisse im Al-tersheim berichte, liegt daran, dass ich als Bewohner diese Welt am besten ken-

ne und dass ich darüber staune, wie viel Interessantes sich hier ereignet.»

Buchtipp: Otto Streckeisen: «Heimgang. Ge- danken über den Lebensabend». rüffer & rub Verlag, Zürich 2015, 214 S., ca. 28.80. (Die Gedanken von Otto Streckeisen sind begleitet von Beiträgen namhafter Fachleute.)Mehr Bilder auf www.zeitlupe.ch

Interview mit dem Experten auf Seite 15

Die Umfrage in der Stadt Zürich zeigt: Altersheime haben viel vom früheren Schrecken verloren.

dass er in das nächstgelegene Altersheim – in seinem Fall das Herrenbergli mit seinen 80 Einer- und sieben Doppelzimmern – ziehen würde. Glück und Zufall verhalfen ihm we- nigstens zu einem Notplatz. Langweilig ist ihm nie; er höre gern Musik, lese und bekomme Besuch von seinen Töchtern und Enkeln. Ob er bald in ein grösseres Zimmer umziehen kann,

«Es ist ein grosser Unterschied, ob man im Altersheim allein oder noch zu zweit ist», sagt Hanni Winkler. So hätten sie ausserhalb des Speisesaals eher wenig Kontakt mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern. Für die Zu- kunft hat das Paar mit einem Pflegevertrag vorgesorgt: «Wir bleiben hier, bis wir ‹heimge-hen›.» Wie schnell die Zeit auch jetzt vergeht,

ist ihm nicht wichtig: «Ich wohne gerne hier. Meine Umgebung trägt viel zu meiner Lebens- freude bei.»

Adresse: Alters- und Pflegezentrum Herren-bergli, Am Suteracher 65, 8048 Zürich, Telefon 044 434 80 70, Mail [email protected], Internet www.herrenbergli.ch

kann Hanni Winkler oft kaum fassen: «Erst noch habe ich für die Sonnmatt Geld gesam-melt – und schon bin ich selber eingezogen.»

Adresse: Sonnmatt – Wohnen im Alter, Sonn- mattweg 7B, 3604 Thun, Telefon 033 334 55 34, Mail [email protected], Internet www.wia-sonnmatt.ch

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15ZEITLUPE 6 • 2015

«Die Zufriedenheit in den Altersheimen ist gross»Ist die Angst vor einem Übertritt ins Altersheim nachvollziehbar? Vielfach wirkt allein das Wort «Heim» abschreckend – das ist vermutlich auch ein Grund, warum sich viele Altersheime heute Alterszentren nennen. Denn mit dem Begriff «Heim» verbindet sich oft noch die Vorstellung, dass man abgeschoben, entmündigt, un-selbstständig und in seiner Autonomie eingeschränkt wird. Medienberichte über negative Einzelfälle und fehlende posi-tive, persönliche Erfahrungen schüren solche Vorurteile. Deshalb klaffen Vorstel-lung und Realität oft weit auseinander.

Wie sieht denn die Realität aus? Dass die Zufriedenheit mit den Dienstleistungen in Altersheimen gross ist. Das bestätigen alle unsere Umfragen. Die Gewissheit, jederzeit auf Hilfe und Betreuung zählen zu können, wird geschätzt, aber auch die Entlastung, die sich durch das Weg-fallen von Hausarbeiten ergibt. Der Ein-schnitt in die eigene Autonomie und Selbstständigkeit erweist sich in der Regel als deutlich weniger gross als befürchtet, denn auch die Institutionen messen der Entscheidungsfreiheit und Mitbestimmung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner grosse Bedeutung zu.

Aus welchen Gründen schauen sich ältere Menschen überhaupt nach einem Platz in einem Altersheim um? Weil sie für Even-tualitäten gewappnet sein und selber be-stimmen möchten, wann und wohin sie einmal ziehen wollen. Als zweiten Grund geben sie an, dass sie Angst haben, den Angehörigen zur Last zu fallen. Dazu passt, dass die wenigsten alten Eltern der-einst zu ihren Kindern ziehen und sich von diesen pflegen lassen möchten. Schliesslich führt ein zunehmender Unter stützungs- und Pflegebedarf sowie das Gefühl von Unsicherheit im eigenen Haushalt dazu, dass sich Betroffene nach einer geeigneteren Wohnform umsehen.

Welche Wünsche und Erwartungen an ein Altersheim stehen im Vordergrund? Wichtig sind Aspekte zur Privatsphäre, dem Wohnkomfort, zu den Aktivitäten und zu

den Hilfsangeboten. Gross ist auch der Wunsch nach einem Zuhause bis zum Tod. Mit dem Umzug aus der Wohnung oder dem eigenen Haus in ein Zimmer in einem Altersheim kommen die Betroffe-nen in der Regel gut zurecht. Manche mö-gen sogar ausschliesslich ein Zweierzim-mer. Wichtigstes Kriterium aber scheint die Quartiernähe zu sein: 77 Prozent der Befragten gaben an, dass sie als Erstes eine Wohnmöglichkeit im gleichen Quar-tier oder im eigenen Dorf suchen würden. Diese Quartierverbundenheit können sich Altersheime zunutze machen.

Wie? Indem sie sich – wie es bereits vie-lerorts geschieht – öffnen. Ich plädiere dafür, dass Altersheime schon frühzeitig versuchen, die ältere Bevölkerung in ihrer Umgebung anzusprechen – nicht nur ihre aktuelle, sondern auch die zu-künftige Zielgruppe: mit einem Mittags-angebot, einer Cafeteria, einem Tag der offenen Tür, mit öffentlichen Veran-staltungen, Vorträgen, Konzerten, Kunst-ausstellungen … Im Idealfall kommt es so zu einer Durchmischung von Men-schen innerhalb und ausserhalb des Al-

tersheims, aber auch zwischen den Ge-nerationen.

Wie kann man sich selber auf einen Übertritt ins Altersheim vorbereiten? Indem man an solchen Veranstaltungen teilnimmt und frühere Nachbarn oder Bekannte, die im Altersheim leben, regelmässig besucht. So lernt man den Ablauf des Hauses ken-nen, die Pflegenden, die Infrastruktur. Sobald man eine Institution persönlich kennt, werden Ängste abgebaut.

Wie kann man alte Menschen ermuntern, sich in einem Heim anzumelden? Nur durch Sensibilisierung. Und mit dem Argu-ment, dass es viele Vorteile hat, wenn man die Zukunft vorausplant: Man kann verschiedene Möglichkeiten besprechen und Heime besuchen, damit man die für sich beste Wahl trifft. Bei einem Notfall kann es sonst vorkommen, dass mit ir-gendeinem Heimplatz vorliebgenommen werden muss. Dann ist die Abneigung noch viel grösser, und das negative Er-lebnis lässt sich kaum noch korrigieren.

Wann ist der richtige Augenblick für einen Umzug gekommen? Jeder und jede muss das abwägen, wenn möglich mit seinen Angehörigen besprechen und Bilanz ziehen: Wann schränken die alltäglichen Hindernisse die Lebensqualität zu sehr ein? Wenn es so weit ist, dass eine Alters-institution mehr Vorteile bietet als die eigenen vier Wände, dann sollte man an einen Umzug denken und einen Schnup-pertag vereinbaren.

Wie sieht Wohnen im Alter in Zukunft aus? Früher gab es nur das private Wohnen zu Hause und das institutionelle Wohnen in einem Heim. Heute gibt es viele Möglich-keiten dazwischen wie etwa Alterswoh-nungen, Alterssiedlungen, Generationen-häuser, Wohngemeinschaften oder betreu- tes Wohnen mit Serviceleistungen. Solche Übergänge werden noch fliessender wer-den. Die klassische Schwarz-Weiss-Ein-teilung ins hochgelobte private und das angstbesetzte institutionelle Wohnen hat keine Zukunft mehr.

Alexander Seifert arbeitet seit 2008 am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich. Der gebürtige Berliner und ausgebildete Sozialpädagoge stu- dierte Soziologie und forscht als wissen- schaftlicher Projektmitarbeiter auf den Themengebieten Wohnen, Technik und Sehbeeinträchtigungen im Alter. Adresse: Zentrum für Gerontologie, Sumatrastrasse 30, 8006 Zürich, Telefon 044 635 34 20, Mail [email protected], Internet www.zfg.uzh.ch