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Hans-Jürgen Goertz Bruchstücke radikaler Theologie heute Eine Rechenschaft Vandenhoeck & Ruprecht

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  • Hans-Jrgen Goertz

    Bruchstcke radikaler Theologie heuteEine Rechenschaft

    Vandenhoeck & Ruprecht

    UMS_Goertz 1 02.06.10 12:34

  • Janneke und Jan Mieke und Fine

    fr spter

  • Hans-Jrgen Goertz

    Bruchstcke radikalerTheologie heute

    Eine Rechenschaft

    Vandenhoeck & Ruprecht

  • Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

    im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISBN 978-3-525-56005-1

    Umschlagabbildung:Digital Image The Museum of Modern Arts/Scala, Florence.

    Georges Braque, Man with a guitar, 1911

    2010 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Gttingen / www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenenFllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Hinweis zu 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile drfen ohnevorherige schriftliche Einwilligung des Verlages ffentlich zugnglichgemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung fr

    Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany.Druck und Bindung: c Hubert & Co, GttingenGedruckt auf alterungsbestndigem Papier.

  • Der ehrliche religise Denker ist wie ein Seiltnzer. Er geht,dem Anscheine nach, beinahe nur auf der Luft. Sein Bodenist der schmalste, der sich denken lt. Und doch lt sichauf ihm wirklich gehen.

    Ludwig Wittgenstein

  • Inhalt

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    1 Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Radikalitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Provisorisches Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 Gesprch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5910 Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6311 Brche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6912 Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7613 Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8114 Utopie ein historisches Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . 9415 Friedfertig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10416 Barmherzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12017 Glaubenstaufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12418 Dialog ungleicher Partner (historisch) . . . . . . . . . . . . 13219 Dialog ungleicher Partner (theologisch) . . . . . . . . . . . 14620 Rede von Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15221 Das Christussymbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16322 Der kindliche Geist Reste einer Predigt . . . . . . . . . . 171

    Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

    Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

  • Vorwort

    Karl Barth hat gelegentlich zwischen regulrer und irregulrerTheologie unterschieden. Regulr ist die Theologie, die an denUniversitten gelehrt wird und in den systematischen Entwrfeneiner wissenschaftlichen Theologie ihre Gestalt findet. Irregulrist dagegen die Theologie, die sich in Erzhlungen, Briefen, Be-kenntnissen, Apologien, Rechenschaften,Widerrufen, Predigten,LiedernundLiturgien ausspricht. Irregulr ist eine Theologie, dieda entsteht, wo noch alles in Bewegung und nicht institutionellverfestigt ist. Eine solche Theologie ist provisorisch und expe-rimentell. Sie hat keine Mitte, aus der sie entspringt, sie hat kei-nenAnsatz, der einen argumentativen Zusammenhang nach demanderen aus sich heraussetzt und sich schlielich in einemLehrgebude vollendet. Sie gehorcht auch keiner Methode, dieihre Gedanken auf Kurs hlt. Irregulre Theologie umweht einHauch von Anarchie. Sie greift hier an, strzt dort um und reitneue Horizonte auf. Sie nimmt auf die herkmmliche Art undWeise, theologisch zu denken und zu reden, wenig Rcksicht. Inihren Einsichten und Impulsen, die sie vermittelt, kann sie ra-dikal sein, d.h. schonungslos und gelegentlich rabiat, auf jedenFall spontan und sorglos um die Dauer ihrer Geltung. RadikaleTheologie bricht auf, unvorhersehbar, und bricht zusammen,wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Sie hat keine Tradition, die von ihrausgebildet oder aus der sie freigesetztwordenwre. IhrMerkmalist Prsenz. Wohl aber gibt es Beispiele dafr, dass trotz derTraditionsbrche sich hnelnde radikaltheologische Entwrfeentstanden sind.

    Irregulre Theologie braucht nicht radikal zu sein, ist sie esaber, dann wird sie sich eine Form suchen, die Theologen in derRegel nicht whlen: nicht voluminse Bcher, in der sich diekomplizierte und filigrane Architektur eines theologischenLehrgebudes voll entfalten kann, sondern Fragmente, die denGedanken freien Lauf lassen, kurze Texte, die sich dem Zwangeiner bergreifenden Ordnung entziehen.

    Das ist der Grund, warum ich von Bruchstcken radikalerTheologie spreche.

    Bruchstcke sind Fragmente, darber hinaus sind sie ber-

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  • reste, die aus vergangenen Zusammenhngen auf uns gekommensind. In ihnen lebt Vergangenes, auch wenn es selbst nicht mehrin seiner Lebensflle sichtbar wird. Diese Flle kann nur nocherahnt werden. Wer heute ber den christlichen Glauben nach-denkt, schpft aus der Flle, die vergangen ist und sich nur nochfragmentarisch erfassen lsst. Einmal sind des Reflexionen undessayistische Erluterungen wichtiger Begriffe, ein anderes Malbekenntnishafte Stze, historische Analysen, theologische Kritikoder Reste einer Predigt. Und doch vermitteln uns die Fragmenteetwas von der Flle des Heiligen Geistes, die sich im Leben derChristenheit fortwhrend und weltweit ihren mehr oder wenigergelungenen Ausdruck verschafft. Das Ganze zu erkennen istweder dem Historiker noch dem Theologen mglich. Wollenbeide aber berhaupt etwas erkennen,mssen sie die Fragmente,die Spuren eines geisterfllten, aber versunkenen Lebens, dassich nicht mehr wieder beleben lsst, wie es war, in die Zusam-menhnge ihres eigenen Lebens stellen und darauf vertrauen,dass der gttliche Geist sie hier zur Sprache bringt andernfallsbleiben sie stumm.

    Wie irregulre Theologie nicht von sich aus radikal ist, sindauch Fragmente nicht von sich aus schon Texte radikalen Inhalts.Wohl aber werden sie das, sobald in diesen Bruchstcken auchder prophetische Zug wahrgenommen wird, wie er sich immerwieder noch auf neue Weise zu Worte meldet. Radikal sind dieseFragmente also, wenn sie einer vergangenen Botschaft, die ei-nerseits oft verschttet, entstellt und missverstanden wurde,andererseits auch getrstet, erlst und beglckt hat, sehr direktihre Stimme in einer Zeit leihen, die kaum wei, dass diese Bot-schaft auch ihr gilt. Die Bruchstcke des christlichen Glaubenslassen den Archologen, der sie zu entziffern und zu verstehenversucht, zum Propheten werden. Er trgt dazu bei, unsere Ge-genwart als die in vergangenen Fragmenten gemeinte Zukunfteines vom gttlichen Geist bewegten, vielleicht sogar erflltenLebens zu begreifen und ber sich hinauszufhren.

    Die Bruchstcke radikaler Theologie nehmen Impulse aus derReformation des 16. Jahrhundert auf, mit der ich mich als His-toriker intensiv beschftigt habe. Vor allem habe ich mich mitden Gestalten beschftigt, die immer noch typologisch unter den

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  • Begriff der radikalen Reformation gefasst werden. Aufgefallenist mir aber inzwischen, dass dieser typologische Umgang mit sogenannten Schwrmern, Tufern, Spiritualisten und Antitrini-tariern im Grunde das Urteil derjenigen aufnimmt und weitertrgt, die sie einst ablehnten. Von den Radikalen wurde be-hauptet, sie htten sich selber mit ihrem religisen und gesell-schaftlichen Nonkonformismus aus den Kirchen ausgeschlossenund seien aus eigener Schuld an den Rand der Gesellschaft ge-raten. Radikale waren damals Randexistenzen zumindest inden Augen derjenigen, die sich in der Mitte von Kirche und Ge-sellschaft whnten. Sie redeten anderen dazwischen, htten aber,wie ihnen unterstellt wurde, eigentlich nichts zu sagen, was or-thodox und konstruktiv wre. Die weltlichen und geistlichenHerrschaftseliten glaubten, ihre Untertanen vor dem zerstreri-schen Einfluss dieser Nonkonformisten in Schutz nehmen zumssen, und gingen gegen solche Exzentriker, eben gegen die-jenigen, die aus der Mitte gefallen waren, rigoros vor: mit Aus-weisung, Verfolgung oder Todesstrafe. Seither umweht Radika-litt in der ffentlichen Diskussion ein Hauch von gesellschaft-licher chtung. Dabei haben die Radikalen ihren Einspruchgegen die Missstnde in Kirche und Gesellschaft nicht erst vomRande her erhoben, nicht als Abgedrngte und Verstoene,sondern mitten im reformatorischen Aufbruch, im Zentrum desGeschehens, das einen grundlegenden Wandel vom Mittelalterzur Neuzeit einleitete. Sie gehren, knnte man sagen, zum Ur-gestein der Reformation und erinnern daran, dass die Refor-mation in ihrem Ansatz selber radikal war. Nicht erst der Deut-sche Bauernkrieg von 1525 war, wie Karl Marx meinte, war dieradikalste Tatsache der deutschen Geschichte, sondern dieReformation allgemein. Reformation das waren nicht die Ideeneiniger Theologen und Humanisten, Martin Luthers, UlrichZwinglis, Johannes Calvins und Philipp Melanchthons, sonderndas war eine Vielfalt von sozialen Bewegungen, die, beseelt vonLosungen dieser Reformatoren, drauf und dran waren, dassptmittelalterliche, theologisch beherrschte System von geistli-cher und weltlicher Macht aufzusprengen und eine Entwicklungeinzuleiten, die zur Ablsung der Klerikerkultur durch die Lai-enkultur fhrte. Dies war ein fundamentaler Bruchmit Recht und

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  • Konvention, mit Vorstellungen vom Heil im Religisen und mitFormen des Zusammenlebens im Sozialen. Die Bewegungsviel-falt, die entstanden war und sich gegen den Konformismusdurchzusetzen begann, war zutiefst radikal. Ob es sich dabei umlutherische oder zwinglische, um buerliche oder tuferischeBewegungen handelte, solange sie ihr Ziel, ein neues Verstndnisvon Religion, weltlicher Obrigkeit und Gemeinwesen zu legali-sieren, noch nicht erreicht hatten, waren sie allesamt nonkon-formistischund radikal. Auf diesen urreformatorischenGeist derRadikalitt beziehen sich diese Bruchstcke einer radikalenTheologie. Sie haben darin nicht ihren Grund, sehen in ihm abereine Quelle, aus der Impulse entspringen, die uns helfen knnten,den Weg der Reformation heute noch einmal wohl aberselbstkritischer zu gehen, so wie Michel Foucault einst dazuaufforderte, den Weg der Aufklrung noch einmal anders zugehen.

    Diese Fragmente klingen vielleicht selbstbewusst, fordernd,eigenwillig und programmatisch. Gemeint sind sie so aber nicht.Mit ihnen will ich nur herauszufinden versuchen, was fr dastheologische Denken abgefallen sein knnte, nachdem ich michjahrzehntelang historisch mit der Reformationszeit beschftigthabe und nachdem Radikalitt zu begreifen zu meiner Aufgabewurde. Vielleicht aber hat Theologie schon immer meine histo-rische Arbeit begleitet, mir dazwischengeredet und mich sogarvorangetrieben, ein historisches Feld nach dem anderen zu un-tersuchen und mir zuletzt auch noch in geschichtstheoretischenUntersuchungen darber klar zu werden, wie die historisch er-worbene Fragilitt religiser Existenz mit Grnden zu ertragensei. Um mir darber Gewissheit zu verschaffen, habe ich damalsallerdings keine Zeit gefunden. Inzwischen ist das Bedrfnis,Klarheit ber meine theologischen Grundberzeugungen zu er-langen, immer dringlicher geworden. Und so kann ich mir imRuhestand endlich Rechenschaft ber meine Theologie ablegen,ohne den Druck beruflicher Verpflichtungen ertragen und ohneein schlechtes Gewissen haben zu mssen, der historischen Ar-beit zuviel Zeit zu entziehen.

    Hamburg im Frhjahr 2010 Hans-Jrgen Goertz

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  • 1 Kritik

    Kritiker sprechen mit scharfer Zunge und ziehen in Mitleiden-schaft, was anderen lieb undwert ist. Missmutig laufen sie umherund suchen das Haar in der Suppe. Sie reien nieder, meint man,und bauen nicht auf. Sie sind destruktiv. Negatives Denken flltvielen auf die Nerven, sympathischer wre, positiv zu denken.Kritiker sind anstrengend und unangenehm, so scheint es.

    Der Philosoph Theodor W. Adorno hat gelegentlich an JosephGoebels erinnert, der alle Kritiker als Kritikaster diffamierte undihnen vorwarf, die Gemeinschaft des Volkes zu zersetzen. Kriti-kern sei mit Abscheu zu begegnen. Doch dabei sei es geradeumgekehrt, wandte Adorno ein: Kritik ist der Nhrboden derDemokratie, und er fhrt fort: Die am meisten vom Positivenreden, sind einig mit zerstrender Gewalt (Adorno, Kritik,S. 19). Ein solches Misstrauen gegen Kritik verhindert jedeVernderung zum Besseren. Kritik ist dagegen das Lebenselixiereiner Gesellschaft, die Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit inEinklang miteinander zu bringen versucht. Das gilt auf andere,nmliche geistlicheWeise auch fr dieKirche, die eine Institutionder Freiheit, eine Gemeinschaft des Friedens und eine Frspre-cherin fr Gerechtigkeit in dieser Welt ist. Kritik bewahrt siedavor, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit, wie sie ihr verheiensind, aus den Augen zu verlieren und die Kraft, Salz der Erde zusein, einzuben.

    Kritik, die das moderne Leben hervorbrachte und begleitet,hat ihren Ursprung nicht erst in der so genannten Aufklrung,wie allgemein angenommen wird, sondern schon im sptenMittelalter. Der franzsische Philosoph Michel Foucault sahihren Ursprung in der Pastoral, im Hirtenamt der rmisch-ka-tholischen Kirche oder im Beichtstuhl. Dem Bemhen derPriester, sich Macht ber die Gewissen der Beichtkinder zu ver-schaffen und unbedingten Gehorsam gegenber dem Klerus zufordern, begannen sich die Laien allmhlich zu widersetzen. Siebekundeten ihre Absicht, sich nicht mehr berwachen, nichtmehr gngeln und nichtmehr regieren zu lassen, und sie warendabei, sich vom Priester zu lsen, ja, sich letztlich mit der Losungvom Priestertum aller Glubigen an seine Stelle zu setzen. Das

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  • bedeutete, sich nicht mehr belehren zu lassen, sondern die Hei-lige Schrift in die eigenen Hnde zu nehmen und Vers fr Vers,Kapitel fr Kapitel nachzulesen, was in ihr tatschlich ge-schrieben worden ist, welche Art von Wahrheit von der Schriftgesagt wird, wie man den Zugang zu dieser Wahrheit der Schriftin der Schrift und vielleicht trotz des Geschriebenen findet;schlielich hie es sogar zu der einfachen Frage vorzudringen: Istdie Schrift wahr? (Foucault, Was ist Kritik?, S. 13). Hier deutetesich ein Weg vom sptmittelalterlichen Antiklerikalismus berdie Reformation zur Aufklrung an einWeg, der schlielich ausder Kirche herausfhrte. Die Wurzel der Kritik ist aber histo-risch gesehenbiblisch. Sie lie imProtest undWiderstand gegendie Missstnde in der Kirche des Mittelalters neue Triebe hervorschieen.

    In diese Geschichte reihten sich auch die Tufer ein und bil-deten im Zuge der Reformation Bruchstcke radikaler Theologieaus. Nicht von ungefhr wurden sie der radikalen Reformationzugerechnet. Die Radikalen wandten sich mit uerster Vehe-menz gegen die Priester, Mnche und Nonnen ihrer Zeit, sie ta-delten sie, sie beschimpften sie und griffen sie gelegentlich ttlichan. Sie rissen sie von den Kanzeln oder schlugen ihnen dieAbendmahlselemente aus der Hand. Gelegentlich verunreinigtensie dasWeihwasserbecken oder strmten Klster. Sie kritisiertennicht nurdenKlerus, der von sich behauptete, Kirche JesuChristizu sein, sondern verwarfen ihn schlielich ganz und gar. Siehatten alle Hoffnung aufgegeben, dass er noch etwas fr das Heilder Menschen tun knne. Die Kritik, die sie bten, ging an dieWurzel der sptmittelalterlichen Kirche. Paul Tillich hat fr denProtestantismus allgemein die Kritik als sein Prinzip be-stimmt, die ihren Ausdruck in der Rechtfertigung des Sndersaus Gnade allein fand. Das war eine prophetische Kritik, die ineinem engen Verhltnis zu rationalen Kritik gesehen wurde: Inder rationalen Kritik wird die prophetische konkret. In derprophetischen Kritik erhlt die rationale ihre Tiefe und ihreGrenze, ihre Tiefe durch die Unbedingtheit des Anspruchs, ihreGrenze durch die Gnade (Tillich, Protestantismus, S. 33). Wersich dieser Radikalitt heute noch verpflichtet wei, wird sich einpositives Verhltnis zur Kritik nicht ausreden lassen.

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  • Es gibt keinen Grund, die kritische Einstellung zu allem, waserdacht und geschrieben,wasberliefert undvonMenschenhandgemacht wurde, selbst was von den Kanzeln verkndigt wird,auch nur fr eineWeile aufzugeben. Kritik ist nicht die Fhigkeit,Verstand und Scharfsinn fr den einen oder anderen Zweckeinzusetzen. Sie ist vielmehr eine Haltung, die uns zur zweitenNatur geworden ist und uns daran erinnert, dass wir uns selbernicht ber den Weg trauen knnen. Kritik, die sich auf andereund anderes richtet, ist vor allem und zuerst immer auchSelbstkritik. Sie unterzieht unser Vermgen, etwas zu erkennen,sogar einer besonders rckhaltlosen Prfung, d.h. sie zeigt unsdie Grenzen unserer Erkenntnismglichkeiten auf. Es wre einMissverstndnis zumeinen, der aufgeklrte Mensch sei mit einergrenzenlosen Fhigkeit zur Welterkenntnis und Weltbeherr-schung ausgerstet, es ist vielmehr umgekehrt: Die groenChancen seines Lebens liegen in der Selbstbescheidung seinesErkenntnisvermgens. Zu wissen, was sich erkennen und wassich nicht erkennen lsst, erffnet ihm einen Raum, in dem ersein Leben in aller Gelassenheit frei gestalten kann. Er brauchtnicht mehr zu befrchten, eingeschliffenen Ritualen im Denkenund Handeln unbewusst folgen, gesellschaftlichen Zwngenblind gehorchen oder unter dem Druck irgendwelcher Autori-tten handeln zu mssen. Er hat sich davon selbst befreit. Kritikund Freiheit sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille.

    Wohl sind die Grenzen unseres Erkennens deutlich geworden.Die Kritik, die dabei am Werke ist, richtet sich aber auch gegensich selbst und kommt nicht zur Ruhe. Sie stellt Fragen berFragen. Gefragt wird, ob die Einsicht in die Begrenztheit desErkenntnisvermgens tatschlich schon die letzte Auskunft berdie Existenz des Menschen ist und ob diese Begrenzung in derNatur des Menschen liegt oder nicht doch auf eine Macht zu-rckgeht, die sich unserer Erkenntnis entzieht, weil sie allemenschlichen Mglichkeiten berschreitet. Der nordamerika-nische Theologe Gordon D. Kaufman hat in seinem Buch In Faceof Mystery (1995) von dem Geheimnis gesprochen, das unsumgrenzt, das ebenso unergrndbar ist wie unaussprechlich, ausdem wir aber leben. Als Folgerung aus dieser Erfahrung knntedie Kritik verstanden werden. Sie entspringt unserer Unsicher-

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  • heit, ob alles wirklich so ist, wie wir meinen. Sie treibt uns voneiner Frage zur anderen, von einer Antwort zur nchsten Frageund verharrt schlielich vor dem Geheimnis des Lebens inDemut. Dieses Geheimnis wird traditionellerweise Gott genannt.So muss Kritik nicht Anmaung und Selbstberheblichkeit desMenschen sein, sie kann auch sorgsames Hren auf die Stimmensein, die von diesem Geheimnis sprechen und sich in der Be-grenzung ihrer Erkenntnismglichkeiten einig wissen.

    Paul Tillich hat das Begrenzte gelegentlich das Bedingte ge-nannt und dasUnbegrenzte dasUnbedingte.Wie dasUnbedingtedas Bedingte begrenzt, so ist es allein die unbegrenzte Macht, diein der Lage ist, die Grenze zu durchbrechen und sich im Be-dingten als das, was uns unbedingt angeht, bemerkbar zu ma-chen. Paul Tillich schreibt: In jedem Vorlufigen und durchjedes Vorlufige hindurch kann das Letzte, Unbedingte sichverwirklichen (Tillich, Systmatische Theologie, Bd. 1, S. 21). Sogesehen weist sich die kritische Vernunft, die das Bedingte zuerkennen vermag, selbst in die Schranken. Sie erzwingt sichkeinen Zugang zum Unbedingten. Gleichwohl verwirklicht sichaber das Unbedingte in ihr wie auch in den Objekten ihrerErkenntnis. Sie weist ber sich hinaus und wird aus einem In-strument, das gewhnlich in ihren Untersuchungsgegenstandeindringt, zum Medium des Unbedingten in dieser Welt oder zueinem Zeichen der Transzendenz (Peter L. Berger). Die kriti-sche Vernunft legt nicht die Grundlagen, auf denen die Theologieerbaut wird, sondern schafft nur den Raum, in dem Glaube undtheologisches Denken sich entfalten. Das ist nicht wenig und si-chert der Kritik ihren festen Platz in der Theologie. Die Kritikwiederum verbindet die Theologie mit dem Denken allgemein.

    2 Alltag

    Alle Religion beginnt mit der berschreitung unserer Alltags-erfahrung. Mit diesem Satz wollte Wolfgang Trillhass die Er-fahrungen, die wir tglich machen, nicht aus dem Zusammen-hang mit dem Religisen lsen und den Erfahrungsraum desProfanen vom Erfahrungsraum des Heiligen trennen (Trillhaas,

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  • Religionsphilosophie, S. 213). Im Gegenteil, er wollte die alltg-lichen Erfahrungen gerade in ihrer Funktion fr die Religion zurGeltung bringen. Es sind nicht eigentlich die Natur, die Dingeoder die Erzeugnisse des kulturellen Schaffens, es sind nichtBerge, Donner und Blitz, Feuer, Regenbogen, Wolken, Wasser,Brot und Wein oder besondere Menschen, die sich uns von sichaus als Zeichen der Transzendenz zu erkennen geben. Es sindvielmehr unsere Erfahrungen mit ihnen, die sie zu Zeichen desHeiligen werden lassen und ihren tieferen Sinn fr uns er-schlieen.

    Als der Reformator Andreas Bodenstein von Karlstadt zwi-schen Weihnachten und Neujahr 1521 in der Allerheiligenkirchezu Wittenberg erstmals das Abendmahl in beiderlei Gestaltausteilte und den Versammelten den Kelch reichte, so wird be-richtet, sei ein alter Mann vor Schreck in Ohnmacht gefallen.Offensichtlich hatte er den Wein, der das fr ihn vergossene BlutChristi symbolisierte, als ein Geheimnis erfahren, das ihn er-schauern lie, das ihn abstie und anzog. Er stand vor einemmysterium tremendum und einem mysterium fascinans, wieRudolf Otto ein solches Geschehen beschrieb (Otto, Das Heilige,S. 13 ff. und S. 42 ff.).

    Die Kirche war der sakrale Raum, der die Laien am Erhabenenund Ganz Anderen teilhaben lie ein Kontrast zum profanenRaum des lndlichen und stdtischen Lebens mit niedrigenHtten, beengten Husern, verwinkelten und schmutzigen Gas-sen.Wer in dasKirchenschiff eintrat, fand sich auf einmal in eineranderen Welt wieder : in einem Kultraum mit hohem Gewlbe,reichlich verzierten Altren, mit Statuen, Skulpturen und Bil-dern, kunstvoll geschnitztem Chorgesthl, mit bunten Glas-fenstern und Licht durchfluteten Seitenschiffen. Das war einimposantes Ambiente fr den Gottesdienst, der von Klerikern inkostbarem Ornat, mit gldenem Gert und in lateinischer Sa-kralsprache gehalten wurde. So wurde das Neue Jerusalem vor-weggenommen. Welche Unterbrechung des kleinrumig einge-schrnkten Arbeitslebens, welches Erlebnis aller Sinne mu dadie Teilnahme an der Liturgie gewesen sein, umgeben vom Ge-heimnis der unverstndlichen Kultsprache und den wohl kaumgedeuteten heiligen Gesten. So hat Peter Dinzelbacher die

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  • Wirkung des sakralen Raumes auf die Menschen im Mittelalterbeschrieben (Dinzelbacher, Religionsgeschichte, S. 252 f.). Einehnlich faszinierende Wirkung geht heute noch von den imFernsehen inszenierten Gottesdiensten des Papstes in aller Weltaus.

    Inzwischen ist immer deutlicher geworden, dass die Kirche esschwer hat, die Verbindung zur profanen Welt zu halten und dasErleben des Heiligen mit der Erfahrung des Profanen zu ver-mitteln. Schon im spten Mittelalter, vollends in der Reformati-onszeit, stellten sich diese Schwierigkeiten ein. Immer intensiverwurde empfunden, dass dieWelt des Sakralen so gar nicht zu derWelt passte, in der Jesus nach denZeugnissen derHeiligen Schriftlebte, in der ermit Dirnen undZllnern sprach, denKranken halfund die Elenden trstete, in der er mit seinen Jngern das letzteAbendmahl in einer Herberge feierte und in der er ans Kreuzgeschlagenwurde: Hier der Papst und sein Klerus in der sakralenWelt, dort Jesus mit seinen Nachfolgern in der Welt der Alltg-lichkeit. DieserKontrast war es, der in dem frhreformatorischenHolzschnittflugblatt Passional Christi und Antichristi von LucasCranach d. . den Menschen vor Augen gefhrt wurde und 1519fr die Sache der Reformation zu werben begann. Allmhlichverschwanden die Heiligenbilder aus den Kirchen, Nebenaltrewurden weggerumt, ebenso Monstranzen und Weihwasserbe-cken. Kerzen und ewige Lichter erloschen. Kruzifixe amWegrandwurden niedergerissen, Wallfahrtskappellen verkamen zu Spe-lunken, und Reliquien verloren ihrenWert. Zahlreiche Feiertage,die Heiligen gewidmet waren, wurden abgeschafft, Klster wur-den verlassen. Soziale Probleme des gemeinen Mannes wurdenauf Kanzeln oder in Flugschriften errtert, die buerlichenAuseinandersetzungen mit geistlichen und weltlichen Grund-und Landesherren erhielten eine religise Note. Die HeiligeSchrift wurde als Gottes Juristerei genutzt und den Herr-schenden als Spiegel vorgehalten. Die Klerikerkultur begann derLaienkultur zu weichen. Sehr viel mehr als vorher rckten diealltglichen Erfahrungen derMenschen nun in denBannkreis derReligion. Sie drangen in den sakralen Raum ein, extrem in denGottesdiensten der Tufer, die sich gezwungen sahen, Gottes-huser aus Stein zu meiden und sich in Hhlen, Scheunen und

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  • Wldern zu versammeln. Die alltglichen Erfahrungen wolltenauch in der Predigt mitbedacht werden, in den Anweisungen zueinem gottgeflligen Handeln im Beruf und Wirtschaftsleben,ebenso wie in der Erbauungsliteratur. Diese geistliche Aufwer-tung alltglicher Erfahrungen hat sich im Laufe der Zeit verstrktund zu einer Verbindung zwischen christlicher Botschaft undGeist der Moderne beigetragen, ja, sogar dazu beigetragen, dassdie Moderne heraufgefhrt wurde.

    Feiertage und Werktage lsten einander in wiederkehrendemRhythmus ab. Feiertage knnten als Ausgleich fr alltglicheBedrngnisse und Beschwerden gelten, wie der Philosoph OdoMarquard in dem Kultus der Religionen heute, auch in Mrchenund schner Literatur, eine Kompensation der Modernisie-rungsschden sieht (Marquard, Apologie, S. 105). So berraschtes nicht, wenn sich schon im frhen Christentum die Neigungimmer mehr durchsetzte, einen Festtagskult auszugestalten undzu einem Refugium vor den Anfechtungen und Anfeindungender Welt werden zu lassen. Allmhlich hatte sich dieser sakraleKult verselbststndigt und die Beziehung zur alltglichen Er-fahrung verloren. Heute wrden wir von einem Wirklichkeits-verlust der Kirche sprechen. Um einen solchen Verlust wiederauszugleichen, hat sich im spten Mittelalter eine Bewegung ge-bildet, die sich bemhte, denAlltagmit seinen bedrngendenwiebeglckenden Erfahrungen in das gottesdienstliche Leben zu-rckzuholen. Sakraler und profaner Raum wurden wieder fr-einander geffnet. Das hat auch die Theologie verndert.

    Eine Theologie, die sich ihre ursprngliche Radikalitt be-wahrt, wird sich nicht jenseits, sondern einzig und allein in denalltglichen Erfahrungen zur Sprache bringen in Zwngen undZufllen, in Mehrdeutigkeit, Zweifel und in aller Vorlufigkeit.Nur so wird einer solchen Theologie anzumerken sein, dass sieparadoxerweise aus einem Geist jenseits dieser Erfahrungenspricht

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  • 3 Radikalitt

    Radikalitt hat keine Tradition. Sie bahnt sich zwar im Laufe derZeit an, scheint unabwendbar zu sein, schlielich bricht sie aberdoch spontan auf undwirft ein neues Licht auf das Gewesene undBestehende. Siemarkiert einen Bruch.Wie bei einem Filmschnittbleiben die Linien, die von einem Bild zum anderen fhren, un-sichtbar. Nur die Kontraste treten deutlich hervor. Nach einerWeile verfestigen sich die Formen und Inhalte des Neuen, sieverndern sich und werden institutionalisiert. Ihre ursprngli-che Radikalitt verflchtigt sich, und was von ihr brig bleibt,wird zur Gewohnheit und setzt Tradition an.

    Ein besonders ausdrucksstarkes Beispiel fr das Entstehenund Vergehen von Radikalitt ist die Reformation des 16. Jahr-hunderts in Deutschland. Der Kirchenhistoriker Berndt Hammhat sie als eine Umbruchbewegung beschrieben, die sich gegendas GesamtsystemvonReligion, Kirche und religis bestimmterGesellschaft desMittelalters wandte. In seinenAugenwar sie einSystembruch, dem der mittelalterlich-scholastische Stufenbauder Heilsvermittlung vom Natrlich-Zeitlichen bis zumHimmlisch-Ewigen zumOpfer fiel (Hamm, Einheit undVielfalt,S. 66, 64, 69). Radikal war also nicht nur ein theologischer Ge-danke, sondern mitsamt dem Gedanken auch dessen umstr-zendeWirkung im kirchlichen und gesellschaftlichen Raum. Dasgilt auch jetzt noch: Radikal ist kein besonders khner oderverwegener Gedanke allein, radikal ist ein Gedanke berhaupterst, wenn seinem Entstehen noch Spuren der Erfahrung anhaf-ten und er sich mit seinen Impulsen zu grundstrzender Ver-nderung im Raum alltglicher Erfahrungen verwirklicht.

    So gesehen war die Reformation tatschlich eine radikale Re-formation. Nicht nur das Bemhen derjenigen, die mit den re-formatorischen Absichten Martin Luthers und Ulrich Zwinglisunzufrieden waren und ber sie hinausgingen, war radikale Re-formation, sondern jeder Versuch, das gradualistisch konzipierteHeilssystem des sptmittelalterlichen Katholizismus aus denAngeln zu heben und in alltglichen, religis nicht berhhtenErfahrungen die gttliche Zuwendung des Heils zu erwarten.Radikalitt hatte in den frhen Jahren der Reformation ein plu-

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  • ralistisches Gesicht. Sobald sich das Sakrale nicht als berweltzeigt, sondern sich im Alltglichen manifestiert, beginnt es zuzersplittern und nur noch bruchstckhaft das eine Mal hier, dasandere Mal dort, im Profanen in Erscheinung zu treten, in denVerstelungen all dessen, was uns im Leben zu begegnen vermag,in ungeordneter Pluralitt.

    Die Organisationsform dieser Radikalitt war nicht Kirche iminstitutionell blichen Sinn, sondern soziale Bewegung. Darun-ter war eine Aktionsgemeinschaft zu verstehen, die sich um re-formgesinnte Anfhrer sammelte und mit Worten, Gesten undAktionen einen Wandel im kirchlichen und sozialen Bereichherbeizufhren versuchte. Was diese Bewegung besonders aus-zeichnete, war ihre Spontaneitt, ihre lose, bewegliche Organi-sationsform, ihre fluktuierende Anhngerschaft und ihre, je nachLage der Dinge, wechselnden Ziele. Auerdem setzte die frh-reformatorische Bewegung, sobald sie auf den Plan trat, schnellweitere Bewegungen aus sich heraus, und es entstand eine Be-wegungsvielfalt, die dem reformatorischen Aufbruch seine be-sondere Durchschlagskraft verlieh. Alles war zunchst noch ex-perimentell, provisorisch und deshalb auch geeignet, den Laiendas Gefhl zu vermitteln, jetzt selber Schaden von der Chris-tenheit abwenden und der Kirche ein neues Gesicht verleihen zuknnen.

    Keine andere Organisationsform als Bewegung wre damalswirkungsvoller gewesen, der Reformation gegen eine hierar-chisch, geistlich qualifizierte Stndegesellschaft zum Durch-bruch zu verhelfen. In spteren Zeiten waren es Bewegungengegen den absolutistisch ausgerichteten Untertanenstaat und indemokratisch verfassten Staaten auerparlamentarisch agie-rende Bewegungen, die auf gesamtgesellschaftliche Vernde-rungen drangen. Bewegungen atmen den Geist der Radikalitt.Sobald ihre Radikalitt verbraucht ist, erlschen sie. Damalsverschwanden sie oder erstarrten zu kleinen Gruppen, die ihrenursprnglichen Nonkonformismus aufgeben mussten und nurnoch wage an die Radikalitt des Anfangs erinnerten. In neuererZeit verschwinden sie oder verwandeln sich in Parteien, dieZugang zu den Parlamenten suchen, ihn auch gefunden habenund gelegentlich mitregieren.

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  • Radikalitt, die sich theologisch Ausdruck verschafft, kannnicht verordnet werden. Stellt sie sich dennoch ein, dann ge-schieht es zumeist, wenn die Diskrepanz zwischen sakraler undprofaner Erfahrung zu gro oder fr viele unertrglich gewordenist. Heute ist es weniger die Diskrepanz zwischen sakralem Kult-raum und Alltagserfahrung als vielmehr die Diskrepanz zwi-schen sakraler und profaner Sprache, die sich kaum noch ber-brcken lsst. Gewhnlich orientieren sich die Bemhungen,diese Diskrepanz zu berwinden, an einer neuen Lektre derHeiligen Schrift. So war das in der frhen Reformationszeit derFall bei Martin Luther, Thomas Mntzer, Ulrich Zwingli, Jo-hannes Calvin, den Tufern und Spiritualisten. Auf andereWeisewar das auch nach dem ErstenWeltkrieg der Fall, als Karl BarthsRmerbriefkommentar (1922) die Krise zum Vorschein brachte,in die Kirche und Theologie geraten waren und in der dieGrundlagen der spteren BekennendenKirche gelegt wurden, dieihr halfen, demNationalsozialismus zuwiderstehen. Radikal warauch die Erwartung, die Paul Tillich mit dem Religisen Sozia-lismus in der Weimarer Republik verband, die Macht des Un-bedingtenwerde gegen die Dmonien der Zeit auf den Plan tretenund das Gericht ber Kirche, Gesellschaft und Kultur bringen,sofern diese sich gegen das Unbedingte behaupten. Mit demGericht werde es aber nicht sein Bewenden haben, sondern in derKrisis werde sich Bedingtes fr den Geist des Unbedingten ff-nen. Genau genommen meinte Tillich es so: Die Krisis des Be-dingten ist nicht Vorbedingung fr die Wirksamkeit des Unbe-dingten, sondern umgekehrt, das Unbedingte ist immer schondie Krisis des Bedingten. Die Krisis vollzieht sich durch Neu-schpfung; und in derNeuschpfung istmehr als bloeKrisis; esist Realisierung des Unbedingt-Wirklichen, wenn auch in derForm des Bedingten, die zu neuer Krisis treibt (Tillich, MainWorks/Hauptwerke, IV, S. 58 f.). In derWelt, nicht von derWeltzu sein (Joh. 15,19) und unter eschatologischem Vorbehalt zubegreifen, dass noch nicht ist, was einst sein wird diese feinenUnterschiede biblischer Einsicht in die christliche Existenz imAuge zu behalten und kritisch zu bedenken, ist Aufgabe radikalerTheologie. So hat sich ein Begriff, der einst eingesetzt wurde, umdie Radikalen zu denunzieren oder an den Rand von Kirche und

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  • Gesellschaft zu drngen, zu einem Verstndnis von Theologiegewandelt, das zur Mitte jeder Theologie wird. Eine solcheTheologie kann sich subjektiv als schroffe Alternative gegen alleanderen theologischen Bemhungen verstehen, objektiv aberwerden sich pluralistische Ausdrucksformen aus ihrem Ansatzheraussetzen, die Verknpfung von Theologie mit jeweils un-terschiedlich gestalteter bzw. wahrgenommener politischer undgesellschaftlicher Wirklichkeit herzustellen. Allerdings wird sicheine solche Theologie nicht in das Gewhnliche, Traditionelle,das Herrschende und immer wieder Gleiche einordnen, es ver-strken und fortsetzen. Denn der Wert eines Gedankens mitsich an seiner Distanz von der Kontinuitt des Bekannten,schriebTheodorW.Adornober denphilosophischenGedankenin einem Fragment seiner Minima Moralia (Adorno, MinimaMoralia, S. 142); und dasselbe gilt fr den Wert eines theologi-schen Gedankens. Religise Radikalitt ist, was die Kontinuittdes Bekannten durchbricht und sich demGeist ffnet, der weht,wo er will. Radikale Theologie ist im Ansatz pneumatologischausgerichtete Theologie. Ein Radikaler erzwingt nicht seinenLebensstil und seinen Lebensweg, auch nicht die Gesellschaft, inder er leben mchte. Er vernimmt vielmehr, wohin der gttlicheGeist ihn fhrt und folgt ihm, sollte es sein, auchwohin er nichtwill.

    4 Moderne

    Zweifellos war die Reformation des 16. Jahrhunderts eine wich-tige Zsur im Gang der abendlndischen, christlich geprgtenGeschichte. Diese Zsur markierte nicht nur Kritik am Mittelal-ter, sondern zugleich auch eine ffnung fr die Zeit, die mit derAufklrung des 17. und 18. Jahrhunderts als das Zeitalter derModerne eingelutet wurde.

    Was unter Moderne zu verstehen sei, ist nicht einfach zusagen. Da gehen die Meinungen weit auseinander, und die Ak-zente, die fr das Verstndnis der Moderne ausschlaggebendsind, werden unterschiedlich gesetzt : auf Philosophie oder Kul-tur, auf Staat oder Recht, auf Moral oder Religion, auf Gesell-

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  • schaft, Wirtschaft oder Technik. Diese Vielfalt der Akzente zeigt,wie umfassend, vielschichtig und kompliziert der Prozess war,der nach den tief greifenden Vernderungen, die von der Refor-mation herbeigefhrt worden waren, alle Lebensbereiche nocheinmal erfasste und bis in die Gegenwart hinein auf neueGrundlagen stellte.

    Immanuel Kant verstand die Aufklrung als den Ausgang desMenschen aus der selbstverschuldeten Unmndigkeit und er-mahnte jeden, sich von niemandem fhren zu lassen und sichallein auf den eigenen Verstand zu verlassen. So war die Aufkl-rung eine Selbstbefreiung des Menschen von den Zwngen einerOffenbarungsreligion, von absolutistischer Despotie und auto-ritr gesetztem Recht. WasMenschen dachten und taten, was vonihnen erwartet und was ihnen zugemutet wurde, musste sich vordem Forum der Vernunft verantworten weltweit. Noch niewurde der Mensch so ernst genommen wie in der Aufklrung,darinwurdenRenaissance undReformationberboten.Nochniewar das Vertrauen in die Leistungskraft des Menschen so gro.Fortschritt durch Vernunftgebrauch, hie die Devise, Beherr-schung der Natur durch Wissenschaft und Technik. So sprachErnst Troeltsch in seiner berhmtenAbhandlungberDasWesendes modernen Geistes (1907) von einem Hochgefhl der Men-schenkraft(Troeltsch, Lesebuch, S. 136). Die Vernderungen,die sich in den genannten Bereichen andeuteten, haben allmh-lich ein Bewusstsein davon entstehen lassen, dass nichtsmehr ist,wie es einst war. Von der Vergangenheit wurden keine Impulsemehr erwartet, die das Leben noch entscheidend htten gestaltenknnen. Traditionen begannen, ihre Wirkung auf die Gegenwartzu verlieren. Sie brachen ab und gaben den Weg fr die Zukunftfrei, die geistesgegenwrtig geplant und verantwortet werdensollte.

    Es sind vor allem drei Entwicklungen, die fr die radikaleTheologie heute wichtig sind: erstens die Skularisierung allerLebensbereiche, zweitens die Trennung vonKirche und Staat unddrittens die Auflsung der Einheit von Staat und Gesellschaft.

    1. Bereits mit der Reformation hat sich die Entwicklung an-gebahnt, die zur Skularisierung von Staat und Gesellschaftfhrte, d. h. zur Trennung von sakralem und profanem Lebens-

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  • bereich. Das Denken, das die wichtigsten Lebensbereiche neukonzipierte und einander auf andere Weise zuordnete, als es imMittelalter der Fall war, begann sich von kirchlicher Bevormun-dung zu befreien und sich im Zuge der Aufklrung immerselbstbewusster auf die Autonomie der Vernunft zu grnden.Wohl drfte es problematisch sein, das skularisierte Denken derAufklrung auf den christlichen Glauben allein zurckzufhren,wichtig aber ist die These Friedrich Gogartens, die Wirkung deschristlichen Glaubens so zu verstehen, dass die Welt unter allenUmstnden und in jeder Hinsicht und in allem, was zu ihr gehrt,ist und bleibt, was sie ist, eben Welt, und nicht vom Glaubenmystifiziert oder vereinnahmt wird (Gogarten, Verhngnis,S. 12). Die weltlichen Probleme sachlich zu lsen, ergibt sich auseinem Glauben, der aus der Gnade Gottes allein lebt, die denMenschen annimmt, wie er ist, und ihm die Sorge nimmt, dasHeil in derWelt zu suchen, die er fr sich selbst gestaltet. Nicht zubersehen ist freilich, dass die Aufklrung auch Krfte freisetzte,die sich kmpferisch gegen den christlichen Glauben stellten unddem Atheismus, der sich den Menschen und die Welt ohne Gottdachte, zum Durchbruch verhalfen. Die Aufklrung bzw. dieModerne, die aus ihr erwuchs, aber nicht als feindselige Machtallgemein zurckzuweisen oder sich ber sie hinwegzusetzen,sondern sich auf sie einzustellen, sich auf ihren Denkwegen sel-ber zur Sprache zu bringen und zu bewhren, ist Aufgabe radi-kaler Theologie. Radikal ist, den christlichen Glauben auch dortzur Sprache zu bringen, wo er zutiefst angefochten ist oder vonGrund auf verworfen wird.

    2. Auchdie Trennung vonKircheund Staat liegt in derTendenzreformatorischer Bewegungen. Zwar wurde die religis geprgteEinheitskultur des Mittelalters zerrttet und aufgelst, allge-mein ist es aber nicht zur Trennung vonweltlicher Obrigkeit undKirche gekommen. Im Gegenteil, die Landesherrschaft ist ge-genber der Kirche selbstbewusster und strker geworden; siehat den Zusammenhang zwischen Staat und Kirche rechtlich aufneue Grundlagen gestellt und im so genannten Landeskirchen-tum gefestigt. Die Impulse, die von staatrechtlichen berle-gungen mancher Aufklrer ausgingen, konnten sich nichtgegen das landesherrliche Kirchenregiment durchsetzen. Selbst

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  • von Friedrich dem Groen, der die Religion zur Privatsache er-klrt hatte, wurde der konfessionsstaatliche Charakter Preuensbeibehalten. Die institutionelle Trennung ist allmhlich vollzo-gen worden, in Deutschland erst mit der Verfassung der Wei-marer Republik nach dem Ersten Weltkrieg und dabei habentheologische berlegungen weniger eine Rolle gespielt. Wichti-ger waren staatsrechtliche Erwgungen und gesellschaftlicheVernderungen.

    Zum Zuge kamen solche Trennungsversuche dagegen schonfrh in den jungen Vereinigten Staaten von Amerika. Hiermussten sich alle Konfessionen auf einen freikirchlichenRechtsstatus einstellen. Sicherlich ist es historisch bertrieben,hier tuferische Forderungen, die Kirche aus dem Einflussweltlicher Obrigkeiten im 16. Jahrhundert zu lsen, amWerke zusehen, aber dennoch gehrten die einst zurckgedrngten, ja,sogar strafrechtlich verfolgten Aktionen eines tuferischen Se-paratismus in die Vorgeschichte von religiser Toleranz undmoderner Demokratie. Dass die verfassungsrechtliche Trennungvon Thron und Altar immer noch das Nebeneinander vonvolkskirchlich geprgten Landeskirchen bzw. konkordatsrecht-lich geschtzter katholischer Kirche und voneinander unab-hngiger Freikirchen zulsst, zeigt, wie aktuell radikaltheologi-sches Nachdenken ber ein modernes Kirchenverstndnis seinknnte. So wre noch einmal kritisch zu prfen, ob alle Kirchen,Landeskirchen wie Freikirchen in gleicher Weise, heute schondas Postulat einer Institution gesellschaftskritischer Freiheit(Metz, Theologie der Welt, S. 122) einlsen.

    3. Zum Erscheinungsbild der Moderne gehrt auch die Ver-nderung der sozialen Ordnung. Die Adelswelt wurde von derBrgerwelt abgelst nicht allmhlich, sondern abrupt, radikalund auf irreversible Weise. Nichts wird mehr sein, wie es einstwar. Diese Erfahrung, die mit der Franzsischen Revolutionverbunden wird, liegt dem Geist der Moderne zu Grunde.

    Die Einheit von Staat und Gesellschaft, die das lange Mittel-alter hindurch bestand und die Lebenswelt der Menschen be-stimmte, indem sie jedem einen festen gesellschaftlichen Standzuwies, begann endgltig zu zerfallen. Entstanden war die Weltdes Brgertums, der Wirtschaft und des Handels. Neue gesell-

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  • schaftliche Krfte forderten das Mitspracherecht bei der Rege-lung ffentlicher Angelegenheiten und bestimmten zunehmenddie Tagesordnung politischer Entscheidungen. DemokratischeGemeinwesen, die industrielle Revolution und der moderneKapitalismus prgten fortan den Erfahrungsraum der Menschenund strmten in die PorenunseresDaseins, wie Ernst Troeltschtreffend formulierte (Troeltsch, Lesebuch, S. 136).

    In die Trennung von Staat und Gesellschaft wurde auch dieKirche hineingezogen; inzwischen hat die ihr von staatswegenverordnete Funktion ihre Plausibilitt verloren, fr den innerenZusammenhalt des Gemeinwesens, im konkreten Fall fr dasEinvernehmen zwischen Herrschern und Beherrschten zu sor-gen. Auch wenn sie gebraucht wurde, den inneren Frieden ineiner konfliktgeladenen Gesellschaft wahren zu helfen oderwieder herzustellen, tat sie es gewhnlich im Auftrag staatlicherGewalt und nicht aus eigenen Stcken. Nur selten litt die Kirchemit den Beherrschten, mit denjenigen, die zu kurz kamen undohne Einfluss waren. Sie half den Armen, wurde selber aber nichtarm. Sie weinte mit den Bedrckten, war aber nicht untrstlich.Sie beklagte die Opfer im Krieg, opferte sich aber nicht auf, umFrieden zu schaffen.

    Die deutschen Lnder blieben zwar konfessionell geprgteStaatsgebilde, die Kirchen aber wurden fr dasWohlergehen undFunktionieren der brgerlichen Gesellschaft entbehrlich. Damitwurden sie um alle Mglichkeiten gebracht, die gesellschaftli-chen Probleme noch ernsthaft beeinflussen oder lsen zu kn-nen, mit denen demokratische Mitbestimmung, kapitalistischeWirtschaftsweise und Industrialisierung die Menschen berzo-gen. Die Trennung von Staat undGesellschaft bedeutete nicht nureine Befreiung der Kirche von staatlicher Reglementierung eineFreiheit brigens, die sie sich nicht selber erkmpft hatte, son-dern die ihr als Abfallprodukt ihrer gesellschaftlichen Zurck-drngung ins Private in den Scho fiel. Das fhrte allerdings auchdazu, dass die Kirche aus dem Raum der alltglich die Menschenbedrngenden Probleme verdrngt wurde.

    Auf diese Dynamik, die an den Konflikten zwischen Staat undGesellschaft entstand und bis in die Gegenwart weiterwirkt, musssich auch die Theologie einstellen, will sie das, was uns unbe-

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  • dingt angeht (Paul Tillich) im Erfahrungsraum der Menschenzur Sprache bringen. Die Theologie wird sich auf die Moderneeinstellen, sie wird sich ihr aber nicht ausliefern. Darin wird sichihre Radikalitt heute erweisen mssen.

    In gewisser Weise ist eine solche Theologie der Reflex auf dieallgemeine Erfahrung, dass die Aufklrung nicht nur zu den Er-rungenschaften gefhrt hat, die dem Leben der Menschen zuGute gekommen sind, sondern dass sie die Menschen auch in dieLage versetzt hat, zu zerstren, was das Leben schtzt und erhlt,ja, eine berheblichkeit freigesetzt hat, das Leben zahlloserMenschen selbst in unvorstellbarem Ausma zu gefhrden oderzu vernichten. Angesichts des Holocaust haben die PhilosophenTheodorW.AdornoundMaxHorkheimer von der Dialektik derAufklrung (1944) gesprochen. Auf die zerstrerischen, imGrunde auch selbstzerstrerischen Krfte der Moderne hat dieTheologie zu reagieren. Nur dann wird es ihr gelingen, sich ihreim Unbedingten wurzelnde Unabhngigkeit gegenber der Mo-derne zu bewahren.

    Wer Kritik an der Moderne bt, an ihren inhumanen Zgengenauso wie an der Art und Weise, wie sie die Grundlagen deschristlichen Glaubens unterminiert, wird allerdings das Kindnicht mit dem Bade ausschtten. Jede Pauschalkritik, die in derModerne nur einen Irrweg menschlicher berheblichkeit sieht,verbietet sich. Zuviel ist mit der Aufklrung in das allgemeineBewusstsein eingegangen, das uns hilft, das Leben zu bewltigen.Hinter die Moderne fhrt kein Weg zurck, als ob es mglichwre, Einsichten der Vormoderne, der Reformation, der AltenKirche oder derUrchristenheit wieder zu belebenund zu direkterAnwendung in der Gegenwart zu bringen, so hilfreich es auch ist,sich mit diesen Einsichten immer wieder aufs Neue zu beschf-tigen. Allenfalls liee sich der Weg in die Moderne noch einmalanders, nmlich so gehen, dass ihre problematischen Entwick-lungen vermieden werden ein Weg, den auf seine Weise MichelFoucault zu gehen vorschlug. Das wre eine Kritik, die sich trotzaller Schrfe, dennoch weiterhin im Rahmen der Moderne be-wegte.

    Diesen Weg der Aufklrungskritik ist in der neueren Theolo-gie, wie Trutz Rendtorff meinte, Karl Barth mit seinem be-

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  • rhmten Rmerbriefkommentar (1922) gegangen. Rendtorffsieht darin auf berraschende Weise nicht eine Abkehr von derAufklrung, sondern den ersten Schritt einer neuenAufklrung,die den Prozess der Aufklrung noch einmal aufrollt, einenProzess, der nicht die Freiheit und Autonomie des Menschen,sondern die Freiheit und Autonomie Gottes im Auge hat. Al-lerdings sei diese radikale Wende gegen die Aufklrung um denPreis ihrer Mglichkeit vollzogen worden, die theologischen In-halte mit der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zuvermitteln (Rendtorff, Theorie des Christentums, S. 164).Mit derPreisgabe des Wirklichkeitsbezugs, knnte gesagt werden, hatBarth sich letztlich um die Radikalitt seiner Theologie gebracht.Einen anderen Weg der Kritik an der Moderne hat Gordon D.Kaufman beschritten. Er unterscheidet sehr genau zwischen denmodernen Elementen, die in das allgemeine Bewusstsein derMenschen heute eingegangen und auch fr die theologische Ar-beit unverzichtbar sind, und den Elementen ber die theologischhinausgedacht werden muss, sofern die moderne Kultur nichtber Resourcen zu verfgen scheint, das fortschreitendemenschliche Leben auf angemessene Weise zu erhalten und zuuntersttzen, zu orientieren und zu leiten, zu motivieren und zubeleben (Kaufman, In Face of Mystery, S. 433). Das wre einkritisch-komplementrer Umgang mit der Moderne, der dieAufklrung aufklrt und der Theologie einen radikalen Charak-ter verleiht.

    5 Postmoderne

    Die Kritik an der Moderne hat inzwischen zur Beobachtung ge-fhrt, dass die Moderne sich berlebt habe und Vergangenheitgeworden sei. Ob diese Beobachtung allerdings auch zutrifft odernicht doch nur auf einer Fehldiagnose beruht, ist umstritten. Dieeinen sehen in der Postmoderne einen Begriff, der eine tiefehistorische Zsur markiert: Wie das Mittelalter von der Neuzeitabgelst wurde, beginnt jetzt das Zeitalter der Moderne demZeitalter der Postmoderne zu weichen und alle Lebensbereichemit neuem Denken und neuem Fhlen zu durchdringen: vor

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  • allem Kultur und Religion, auch Politik, Gesellschaft und Wirt-schaft bleiben davon nicht unberhrt. Die anderen wehren sichgegen ein solches Pauschalurteil. Sie lehnen die Prmisse ab, dieModerne knne berboten und das Leben in dieserWelt ohne diebeherrschende Rolle der Vernunft ertrglicher gestaltet werden.Postmoderne knne allenfalls als AusdruckderModerne gedachtwerden, der Fehlentwicklungen korrigiert und neue Akzentesetzt, lautet der Einwand, oder sie wird zu einemAnachronismus,der auchdie positiven Errungenschaften derVernunft beschdigtund faschistische Grundeinstellungen wieder aufleben lsst. Einsolcher Schlagabtausch beschrnkt sich nicht auf das Feuilleton,sondern geistert auch durch die wissenschaftliche Literatur. Soschrieb Richard Wollin ber The Seduction of Unreason: TheIntellectual Romance with Fascism from Nietzsche to Postmo-dernism (Princeton 2004).

    Die Postmoderne wird begrt, weil sie die kritischen Ein-wnde gegen modernes Denken besttigt und dem christlichenGlauben frderlicher ist als die Moderne mit ihrer tzenden, oftzersetzenden Rationalitt und dem berheblichen Individualis-mus, den sie hervorgebracht hat. Postmoderne frdert ein Den-ken, das nicht auf universalen Geltungsanspruch aus ist und dieWerte des Partikularen, des Regionalen und des Gemeinschaft-lichen wieder entdeckt hat. Um ein Wort des Philosophen OdoMarquardt aufzugreifen, sie kompensiert die Modernisierungs-bzw. Globalisierungsschden (s.o. S.15). Vor allem die kleinerenKirchen, die Konfessionen und Denominationen, denen es ver-wehrt war, allgemeine Geltung in den Gesellschaften zu erlangen,fhlen sich im postmodernen Denken besttigt und aufgehoben.Auf der anderen Seite wird die Postmoderne abgelehnt, weil sieeinem unbndigen Pluralismus der Meinungen und Lebensein-stellungen Tr und Tor ffnet und jedes Wahrheitsverstndnisunterminiert, ja, Wahrheitsansprche in den Bereich des Be-liebigen abschiebt oder die Suche nach Wahrheit berhauptaufgibt. Die Reaktionen auf diese Zge postmodernen Denkenssind besonders heftig und erklren die Postmoderne fr ber-wunden, bevor ihre Vertreter eigentlich eine Chance hatten, sichmit ihren korrigierenden Einstellungen voll zu entfalten.

    Im Zuge postmodernen Denkens sind jedoch einige Einstel-

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  • lungen schon klar genug in Erscheinung getreten, so dass esfalsch wre, sie hier zu bergehen.

    Mit den Schlagwrtern linguistic turn, historische Dis-kursanalyse und konstruktivistische Methode ist angedeutet,dass der Zugang zur Vergangenheit, wie Historiker ihn gesuchthaben, neu bedacht werden muss und davon auch die ge-schichtlichen Grundlagen des christlichen Glaubens berhrtsind. Die Erkenntnis des Vergangenen ist in hchstem Maeunsicher geworden. Im Grunde musste der Historiker davonausgehen, dass das historische Urteil, zu dem er sich nach m-hevoller Arbeit an den Quellen der Vergangenheit durchgerun-gen hat, eigentlich nur hypothetischer Natur war : So wie er einvergangenes Geschehen darstellt, knnte es sich zugetragenhaben. Eine letzte Gewissheit, dass es sich tatschlich auch sozugetragen hatte, ist nicht zu erlangen. Zuviel Eignes bzw. Ge-genwrtiges hat sich in die EntstehungdiesesUrteils eingemischt,als dass noch von einer Objektivitt historischer Erkenntnis ge-sprochen werden knnte. Max Weber sprach deshalb von so-genannter Objektivitt, das aber heit, dass der historischeBefund sich zwar die eine oder andere Erkenntnis abringen lie,der Historiker sich wohl darum bemhte, seinem Gegenstandmglichst nahe zu kommen, die Wahrheit ber Vergangenes mitletzter Sicherheit aber nicht ausgesprochen werden konnte.Dennoch wurde daran festgehalten, sich weiterhin um sie zubemhen. Die Richtigkeit des historischen Urteils fand ihr Kri-terium im Gegenstand selbst. Daran sind inzwischen Zweifellaut geworden. Auf verschiedene Weise wurde gezeigt, wie sehrsich die Sprache, die wir gebrauchen, die Bilder, mit denenwir anVergangenes herangehen, und die Begriffe, die wir in unserenAnalysen einsetzen, zwischen das Vergangene und uns schiebt,so dass es nicht mglich ist, jemals zu einem Wissen von Ver-gangenem zu gelangen, das interpretationsunabhngig wre.Allgemein gesprochen, immer schon hat sich unsere Gegenwartin die Vergangenheit eingemischt.

    Das wird zum Problem, wenn die Begrndung des Glaubensan den historischen Jesus gebunden wird. Wer dieser Jesuswirklich war, lsst sich mit geschichtswissenschaftlichen Mit-teln nicht mehr genau sagen. Selbst wer der erhhte, gewhnlich

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  • den Glauben begrndende Jesus Christus war, lsst sich nichteinwandfrei feststellen, jedenfalls nicht so, dass der Glauben aufeine solche Feststellung felsenfest gegrndet werden knnte. DieTexte, die vom erhhten Jesus Christus berichten, sind Glau-benstexte der frhen Christen und mssen als historisch ent-standene Texte interpretiert werden. ImWesentlichen besteht dakein Unterschied zwischen der Deutung eines vergangenen Ge-schehens oder der Interpretation eines Textes bzw. einesSprachgeschehens. Immer schon schieben sich die Horizonte derHandelnden damals und der Horizont der Interpreten heute in-einander, um einwichtiges Argument aus Hans-Georg GadamersHermeneutik aufzugreifen (Gadamer,Wahrheit und Methode,1960). So wichtig die Feststellung ist, dass der christliche Glaubeaus geschichtlichen Erfahrungen eines Volkes mit dem HandelnGottes entsprungen ist, so wichtig ist auch zu sehen, dass dieBegrndung dieses Glaubens, wenn sie denn eine theologischesein soll, sich der Prsenz des gttlichen Geistes in seinem Volkheute verdankt. So zeigt sich eine Affinitt zwischen dempostmodernen Zugang zur Geschichte und der Pneumatologie mehr als unter den Bedingungen der Moderne wird die Be-deutsamkeit der Pneumatologie fr Theologie und Kirche heuteim Zusammenhang mit postmodernen Erkennntnisweisensichtbar paradoxerweise anders als Georg Picht sich das einstvorstellte: nicht im Zusammenhang mit dem Universalismus,sondern dem Partikularismus (Picht, Gott der Philosophen,S. 75). Die gelegentlich beklagte Geistvergessenheit beginntsich im redlichenUmgangmit Geschichte der Flle des HeiligenGeistes zu ffnen. Mag diese Flle des Geistes in der Reforma-tionszeit zu naiv in Anspruch genommenworden sein, so war siedamals schon ein Zeichen fr die Radikalitt von Frmmigkeitund Theologie, und sie wurde an den Rand gedrngt. Heute istdiese Geistesflle in der Mitte der Christenheit als radikaler, vonMenschen gestalteter Ausdruck gttlichen Handelns wahrzu-nehmen.

    Im Johannesevangeliumwird verheien, dass der Geist Gottesin alle Wahrheit leiten wird. Die Wahrheit steht nicht jetzt schonein fr alleMal fest. Sie wird sichvielmehr erst noch einstellen. Sowird der eschatologische Charakter der Wahrheit zum Ausdruck

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  • gebracht. Auch hier ist eine strukturelle Affinitt zu postmo-dernem Wahrheitsverstndnis zu beobachten. Michel Foucaulthat in seiner Theorie vom Diskurs darauf hingewiesen, dassWahrheit, die gesellschaftliche Geltung beanspruchen will, nichtals bereits unter den Menschen existierende Wahrheit zu entde-cken, sondern im Diskurs allererst herzustellen sei. Sie existiertnicht unabhngig von den Menschen, sie wird vielmehr unterihnen in Auseinandersetzungen, in denen um die Macht in derGesellschaft gerungen wird, ausgemacht. Sicherlich ist dieWahrheit, die den Christen verheien ist, eine andere. Aber auchdiese Wahrheit wird sich wohl nur so einstellen, dass sie imDiskurs, den Christen und Nichtchristen miteinander fhren,entsteht und die Zukunft der Menschheit gestaltet. Foucaultsprach von der fruchtbaren Rolle des Diskurses (Foucault,Ordnung, S. 25). In dem Wahrheitsdiskurs, in dem Christenstehen, wird die produktive Funktion des Diskurses letztlich vonder Fhrung durch den Heiligen Geist wahrgenommen.

    Es wurde bereits erwhnt, dass sich die kleineren Kirchen, dieeiner kirchlich und gesellschaftlich angefochtenen Traditionentsprangen, von dem postmodernen Trend zum Partikularenermutigt fhlen, ihren Stand in der kumenischen Bewegungselbstbewusst zu behaupten. Im Grunde geht es nicht umSelbstbehauptung, sondern allein darum, gemeinsam mit ande-renKirchen dieWahrheit, die in der Einheit der Kirche verheienist, zu suchen frei von der Sorge, ein depositum veritatis, das inder eigenen Kirche gewhnt werde, knne verloren gehen. Einsolches Depot wird nicht von dieser oder jener Kirche fr andereKirchen aufbewahrt, es liegt vielmehr allen Kirchen voraus undlsst alle Kirchen gelassen in die Zukunft schreiten. Unter demTrend zum Partikularen drften sich die Grenzen der einzelnenKirchen nicht verfestigen, sie mssten sich eigentlich auflsen,sofern sie trennend wirken. So verwirklicht sich die universalentworfene Einheit der Kirche paradoxerweise im Partikularen.

    Die Postmoderne ist fr die theologische Arbeit heute alsoebenso fruchtbar wie die Moderne. Der Theologe verfllt wederder einen noch der anderen. Er wird aber auf die eine ebensoaufmerksam eingehen wie auf die andere: auf ihre Sprache, Bil-der, Symbole und Einsichten. Er wird sich ihnen zuwenden, um

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  • sie drastischer Kritik zu unterziehen. Er wird aber, um zu ver-werfen, was Leben behindert oder zerstrt, nicht von auen her,sondern von innen her, in der Sprache, in den Bildern, Symbolenund Einsichten die Kritik ansetzen und das Lebenswerte vomZerstrerischen trennen. Darin sah Gordon D. Kaufman deneinzigen Weg, auf dem Vershnung zwischen Moderne, Post-moderne und christlichem Glauben angestrebt und zu einemrelativ zusammenhngenden Verstndnis des menschlichenLebens in derWelt zusammengefhrt werden knne (Kaufman,In Face of Mystery, S. 443 und S. 435). Moderne und Postmo-derne schrfen das kritische Bewusstsein desMenschen, in dieserWelt zu bestehen, und beide fordern die Theologie heraus, mitihnen denWahrheitsdiskurs zu fhren, auf dem sich auch fr sie kaum vorstellbar und deshalb radikal die Wahrheit erst nocheinstellen wird.

    6 Geschichte

    Der Mensch ist seinem Wesen nach geschichtlich. Mit diesemSatz will Wolfhart Pannenberg in seinen Vorlesungen zur An-thropologie die hohe Bedeutung der Geschichte fr das theolo-gische Denken ber den Menschen zum Ausdruck bringen. Ander Antwort auf die Frage, was der Mensch sei, beteiligen sichzahlreiche Wissenschaften, beispielsweise die Biologie, die Ver-haltensforschung, die Soziologie, vor allem und zuerst auch diePhilosophie. Die Krone aber aller anthropologischen Wissen-schaften sei, so Pannenberg, die Geschichtswissenschaft. Zwarliefere sie, wie die anderen Wissenschaften, auch nur ein ab-straktes Modell vomMenschen, doch sie kme dem konkretenMenschen in seiner permanenten Vernderlichkeit, dem kon-kreten Wandel im Leben der einzelnen und Menschengruppenwesentlich nher als alle anderen (Pannenberg, Was ist derMensch?, S. 96). Deshalb ist ihr Erkenntnisgewinn fr die Wis-senschaft vom Menschen besonders hilfreich.

    Geschichtlichkeit, also die Einsicht, dass der Mensch inGeschichte(n) verstrickt sei, um auf den Titel einer phno-menologischen Untersuchung Wilhelm Schapps anzuspielen

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  • (Schapp, In Geschichten verstrickt, 2004), ist ein moderner Be-griff. Er entstand in der kritischen Reaktion auf die Aufklrung.In der Aufklrung wurde Vernunft in die Geschichte gebracht,und im Historismus wurde Geschichte in die Vernunft einge-fhrt. Was auch immer mit Hilfe der Vernunft erkannt oderhervorgebracht wird, ist geschichtlich bedingt oder hat einenbestimmten, historisch begrenzten Sinn. Es ist nicht allgemein-gltig. Das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit des Men-schen, das zu einer Grunderfahrung derModerne wurde, wurzeltin diesem Spannungsverhltnis von Vernunft und Geschichte.Sowohl der eine als auch der andere Schritt war ein aufklreri-scher Akt und fhrte zur Entstehung der modernen Ge-schichtswissenschaft.

    In der Theologie wurde unterschiedlich darauf reagiert. Ver-treter der religionsgeschichtlichen Schule, der so genannten li-beralen Theologie allgemein, haben sich das Erkenntnisangebotder modernen Geschichtswissenschaft zunutze gemacht undsind den Wurzeln des Christentums in der religisen Welt desVorderen Orients nachgegangen. Je intensiver das Entstehungs-geflecht des Christentums jedoch herausgearbeitet wurde, um soschwieriger wurde es, die Absolutheit des christlichen Glaubenszu begrnden. Mit einem alternativen Gegenschlag hat die Dia-lektische Theologie nach dem Ersten Weltkrieg reagiert und dieangeblich ruinsen Folgen der modernen Geschichtswissen-schaft fr den christlichen Glauben an den Pranger gestellt.Weder auf dem Wege der Vernunft noch mit den Mitteln derhistorischen Forschung sei es mglich, die Besonderheit deschristlichen Glaubens zu erfassen und seine berlegenheit ge-genber allen FormenmenschlicherReligiositt undMoralitt zubegrnden. Auf eine dem Menschen unmgliche Weise, ist dieunerbittliche Auskunft Karl Barths, begrndet die gttliche Of-fenbarung sich selbst.

    Im Gefolge dieser radikalen Ablehnung der modernen Kon-zeption von Geschichte, wie sie sich zu einer selbststndigenWissenschaftsdisziplin ausbildete und einen theologisch neu-tralen, profanen Zugang zur Vergangenheit suchte, entstandenweniger schroffe, dennoch hnliche Varianten im Umgang mitGeschichte. Alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine eigene,

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  • vom Glauben geprgte oder theologische Schau der Geschichteentwickeln. Der nordamerikanische Theologe John H. Yoderbeispielsweise, der in seinem viel beachteten Buch The Politics ofJesus (Yoder, Die Politik Jesu der Weg des Kreuzes, 1981) einefriedenskirchliche Theologie aus dem Geist radikaler Reforma-tion vorlegte und in zahlreichen Aufstzen weiter ausarbeitete,hat einen doppelten Geschichtsbegriff in Anschlag gebracht: dieGeschichte des Volkes Gottes, in der Christen in der NachfolgeJesu stehen und dem Reich Gottes entgegen gehen, in der auchTheologie getrieben wird, auf der einen Seite und die profaneGeschichte, in der sich die Mchte, die Geschichte zu gestaltenmeinen, dem Gehorsam Christi versagen, auf der anderen Seite.Das eine ist Geschichte, in der den Menschen das Heil in JesusChristus widerfhrt und gehorsam aufgenommen wird. Das an-dere ist Geschichte, in der sichMenschen demHeil versagen, eineGeschichte ohne Richtung und Ziel, die gestaltlos und ohne Be-lang fr die Theologie nebenher luft und jetzt schon dem Ge-richt Gottes verfallen ist. Wirkliche Geschichte ist nur dieHeilsgeschichte. Sicherlich ist es jedem unbenommen, den Ge-schichten, in die er verstrickt ist, diesen oder jenen Sinn zugeben. Geschichte aber, an der alle teilhaben, kann nur eine sein,sie lsst sich nicht verdoppeln oder vervielfachen. Das ist nichtnur eine allgemeine, anthropologisch begrndete Erfahrung:jederMensch erfhrt sich als einMensch, der Geschichte hat. Dasist auch eine vomchristlichenGlauben her begrndete Sicht. DenGlauben daran, dass Gott etwas mit dem Menschen, der schonimmer in Geschichte verstrickt ist, vorhat, nannte Tillich denMut, der einen Sinn sieht in scheinbarer Sinnlosigkeit, einenSieg auch in scheinbarer Niederlage, eine Erfllung auch inscheinbarer Zerstrung und das Reich Gottes in dem, was dasReich der Dmonen zu sein scheint (Tillich, Sieg in der Nie-derlage, S. 136). Ein solcher Glaube ist nur Mut in einer Ge-schichte, in der fr den Menschen noch alles auf dem Spiel stehtund in der vor Gott noch alle mit von der Partie sind. Es ist einund dieselbe Geschichte, die Gott rechtfertigen und in sein Reichhineinziehen wird.

    Einen anderen Weg, den Umgang mit Geschichte theologischzu bedenken, hat Wolfhart Pannenberg eingeschlagen. Er hat

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  • darauf hingewiesen, dass die Erfahrung neuzeitlicher Ge-schichtlichkeit kein aufklrerischer Fremdkrper im theologi-schen Denken ist und deshalb abgestoen werden msste. DieseErfahrung hat vielmehr biblische Wurzeln. Es darf heute alsallgemein anerkannt gelten, da das geschichtliche Denken, dasdasAbendland bis heute bestimmt, seinenUrsprung in Israel hat,in der Weise, wie die Israeliten ihre Hoffnung auf die Zukunftrichteten, von der sie noch nicht Dagewesenes erwarteten, und inder Weise, wie sie das Geschehen als einen einmaligen, nichtumkehrbaren Lauf auf die Zukunft zu verstanden (Pannenberg,Was ist der Mensch?, S. 99). So sah Israel die Schpfung als denAnfang und die Auferstehung von den Toten als die Vollendunggttlichen Handelns in der Geschichte an. Auf andere Weisefortgesetzt wurde diese zwischen Verheiung und Erfllungverlaufende Geschichte im Christusgeschehen und in der Ge-schichte, die dieses Geschehen aus sich heraussetzte bis in dieGegenwart.

    Hier gebe ich nur gerafft wieder, was in der letzten VorlesungPannenbergs zur Anthropologie ausfhrlich dargelegt wurde.Nachzutragen ist noch der Hinweis darauf, dass mit dem bibli-schen Geschichtsdenken die Weltgeschichte in den Blick kommtund dass das vorweggenommene Ende dieser Geschichte imChristusgeschehen dem gesamten Geschichtsverlauf seinen Sinnverleiht. Das bezieht auch die neuzeitliche Christentumsge-schichte mit ein. So schreibt Pannenberg spter : Die Erfahrungder Wirklichkeit als Geschichte durch Israel bedeutet, da erstvom Gott der Bibel her die Wirklichkeit, in der wir leben, so er-kennbar geworden ist, wie sie wirklich ist. Damit wird gesagt,dass sich die theologische Deutung auf die Geschichte bezieht,die alle einbezieht, also eine Geschichte im Auge hat, in der dieRede vomHandelnGottes in der Vergangenheit im Fortgang derGeschichte immer wieder strittig ist und sich immer neu als diealles bestimmende Wirklichkeit bewhren mu an neuen For-men der Welt- und Selbsterfahrung (Pannenberg, Wissen-schaftstheorie, S. 402).

    Daraus ziehe ich meine eigenen Schlsse. Erstens ist esgrundstzlich ein und dieselbe Situation, in der Theologen undHistoriker auf die Vergangenheit zurcksehen. In beiden Fllen

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  • ist es die Situation, in der alle auf den Gott angewiesen sind, derdie Gottlosen rechtfertigt. Zweitens: Wenn der Skularisie-rungsprozess vom christlichen Glauben in Gang gesetzt wurde,dann drfte es nur selbstverstndlich sein, sich ohne Vorbehalteauf skulare Methoden und Konzeptionen von Geschichte ein-zulassen. Im brigen sind es nicht Methoden und Konzeptionen,die eine Abkehr von Gott notwendigerweise einschlieen, son-dern nur die Absichten derjenigen, die sich dieserMethoden undKonzeptionen auch bedienen. Drittens sind sowohl den Theolo-gen als auch den Historikern nur hypothetische Aussagen bervergangenes Geschehen mglich. Sowohl die einen als auch dieanderen knnen nur sagen, wie etwas gewesen sein knnte, nichtwie es einst war. Viertens hat Pannenberg die theologische bzw.kirchenhistorische Deutung der Geschichte vom Forschungsge-genstand her durchdacht. Inzwischen beginnt sich aber in dergeschichtstheoretischen Diskussion die Auffassung durchzuset-zen, dass Geschichte keinen Gegenstand, sondern nur Probleme,d.h. das Problem zu bearbeiten hat, dass sich mit dem Erkennenvon Vergangenheit stellt. Das Handeln Gottes in der Geschichteist nicht Gegenstand des Theologen und des Historikers. Es istnur ein Problem und das Problem stellt sich zwischen dasvergangene Geschehen und den Betrachter heute, genauso wie essich dem Betrachter auf hypothetische Weise erschliet. Direktlsst sich brigens die Wirklichkeit des in der Geschichtehandelnden Gottes weder besttigen noch bestreiten. DieseWirklichkeit ist, wie jede historische Wirklichkeit an sich,unzugnglich, und sich auf historischeWirklichkeit als Brgenfr eine richtige historische Aussage zu berufen, ist geschichts-theoretisch nicht zu begrnden (Goertz, Abschied, S. 118).

    Fnftens: Der Bezugspunkt historischer Arbeit ist nicht einvom Erkennenden unabhngiges Geschehen, sondern die Be-ziehung, in der er zu einem vergangenen Geschehen steht oderdie er zu diesem herstellt. Auf Pannenberg bezogen, wrde dasheien, der theologisch orientierte Kirchenhistoriker steht auf-grund seines Glaubens bereits in einer Beziehung zu dem Gott,der in der Geschichte handelt; und der Historiker, dem dieseGlaubensbeziehung fehlt, ist in der Lage, eine Beziehung zueinem Geschehen herzustellen, in dem nach Aussage der Quellen

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  • Menschen von Gott ergriffen zu sein meinen. So ist es auch demProfanhistoriker mglich, an den historischen Quellen die Hin-weise darauf zu bemerken, wo Impulse wirksam sind, die sicheinemReflex des Unbedingten imBedingten verdanken knnten.So liee sich ein zwangloses, unkompliziertes Verhltnis zwi-schen theologischer und profanwissenschaftlicher Arbeit an derGeschichte aufbauen. Keine Betrachtungsweise wre gegen dieandere auszuspielen. Die eine she dies, die andere jenes schrferoderdie eine interessierte sich fr dieses unddie andere fr jenes;grundstzlich aber drfte keine ein Auslegungsmonopol auf ir-gendein historisches Geschehen fr sich beanspruchen.

    Ein solcher Umgang mit Geschichte, der mit dem HandelnGottes in unseren Lebensverhltnissen rechnet, es sich aberversagt, das Unbedingte in denWechselfllen historischer Zeitendingfest zu machen, ist mutig und in den Augen vieler sogartricht. Auf das gttliche Wirken ber die Gegenwart hinausrckhaltlos zu vertrauen, in einer offenen Zukunft zu stehen unddie Ungewissheit nicht zu frchten, ist eine Erfahrung, die jederadikale Theologie selbstkritisch zu bedenken hat.

    7 Provisorisches Leben

    Es fllt niemandem leicht, sich zu einem Leben zu bekennen, dashinter den Erwartungen zurckbleibt, die wirmit ihmverbinden,einem Leben, das uns entgleitet, das aus dem Ruder zu laufendroht oder das sich nicht mehr einrenken lsst. Wir leiden gele-gentlich darunter, dass wir nicht immer sorglos wie die Vgelunter dem Himmel sind oder wie die Lilien auf dem Felde, nichtimmer sanftmtig und nicht immer friedfertig. Wir sind oftungeduldig, obwohl wir wissen, dass es besser wre, sich in Ge-duld zu ben. Wir sind oft rechthaberisch oder fahren anderenber den Mund, obwohl wir wissen, wie sehr das demtigt undverletzt. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach(Mt 26,41) diese biblische Erfahrung ist auchunsere Erfahrung.Wir knnen uns damit abfinden, wir knnen diesen Makel auchals Ansporn auffassen, uns zu bessern und zu versuchen, vonMalzuMal perfekter zu werden. Dennochwird es uns nicht gelingen,

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  • den Stand der Vollkommenheit zu erreichen, worum sich dieMnche in ihren Orden whrend des Mittelalters, die Katharerdes hohen und spten Mittelalters oder einige Gruppen derTufer in der frhen Neuzeit bemhten.

    Selbst wenn uns dieses oder jenes glckt, eine beruflicheKarriere, die Beziehung zu einem Menschen oder ein Kunstwerk alles bleibt, wie Wissen und Voraussicht nach biblischer Ein-sicht, nur Stckwerk (1Kor 13, 9). Die Erfahrung eines frag-mentarischen Lebens stellt sich ein, wennwir kritisch betrachten,was uns tglich widerfhrt, wie wir darauf reagieren und was wirdaraus fr uns machen. Doch nicht nur in alltglicher Be-grenztheit, sondern auch, wo es um die letzten, d.h. religisenFragen geht, drngt sich uns die Erfahrung eines fragmentari-schen Lebens auf, nmlich wenn wir nicht berspielen, dass unsdas Geheimnis umgibt, das unser Leben trgt, aber auch aus-macht (Kaufman, In Face of Mystery, 1995). So wenig es unsmglich ist, in dieses Geheimnis einzudringen, so wenig knnenwir auch wissen, was ein vollkommenes, im Einvernehmen mitdiesem Geheimnis gefhrtes Leben ist. Wir knnen es nur glau-bend ahnen, konkretmssenwir aber Entscheidungenwagen, diedem Leben diese oder jene Richtung geben, ohne uns ihrerWirkungen sicher zu sein. Im Einflussbereich des allumfassen-den Geheimnisses kann das Ergebnis unserer Entscheidungennur ein tentatives, ein provisorisches Leben sein.

    Provisorisches Leben das eine Mal ist es ein allgemeiner,ontologischer Begriff : Das Leben allerMenschen ist provisorisch.Das andere Mal ist dieser Begriff im engeren Sinn theologischgemeint: Auch denjenigen, die aus der Vergebung der Sndenleben und sich um ein gottgeflliges Leben bemhen, gelingtnicht mehr als nur ein Provisorium.

    Gerade der theologische Aspekt zeigt, dass provisorischesLeben nicht eo ipso verpfuschtes oder verfehltes Leben ist, son-dern zunchst nur auf die Grenze hinweist, ber die Menschennicht aus eigenen Stcken gelangen, und auf den Weg, auf demwir uns schon immer befinden, unser noch keineswegs schonausgereiftes Menschsein zu verwirklichen: wir befinden unsstets in einem Prozess, Mensch (human) zu werden, schreibtGordon D. Kaufman, und werden niemals ganz und gar Mensch

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  • sein; jeder von uns ist ein Moment in weiteren Prozessen derMenschwerdung (Kaufman, In Face of Mystery, S. 318). Zu-gleich zeigt der theologische Aspekt auch, dass menschlichesLeben korrumpiert, bse und schuldverstrickt ist, wenn es sichanmat, ber das Leben anderer zu verfgen und die Grenze, diedas Geheimnis setzt, zu missachten.

    Auch wenn diese Grenze akzeptiert wird, bleibt das Lebenprovisorisch. Das mchte ich an zwei Grundeinstellungen deschristlichen Glaubens kurz erlutern: an der Rechtfertigung desSnders sola gratia und an der Wirkung, die von der Erwartungdes Jngsten Gerichts auf Kirche und Welt jetzt schon ausgeht.BeideMale geht es um das Heil, das Gott denMenschen zueignet:einmal um das individuell und das andere Mal um das kollektivund universal zugesprochene Heil.

    1. Die Rechtfertigung des Snders sola gratia war das groeThema der Reformation im 16. Jahrhundert. Niemand hattedieses Thema zunchst so tief durchdacht wie der Augustiner-mnch Martin Luther. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt(Rm 3, 21), wurdenichtmehr wie in der katholischenKirche desspten Mittelalters als Forderung verstanden, die den MenschenLeistungen abverlangte, um Gott gndig zu stimmen und sichdenHeilsempfang zu sichern. Sie wurde vielmehr als ZuwendungGottes verstanden, die allein (ohne Zutun des Menschen) vonSnde und Schuld zu befreien vermag. Luthers Rechtferti-gungsverstndnis, aus dem grundstrzende Vernderungen inKirche und Gesellschaft hervorgingen, wurde oft, schon im re-formatorischen Aufbruch selbst, imputativ und nicht effikativverstanden, so als sei dem Glubigen die Vergebung der Sndennur zugerechnet, dessenvon Snde durchdrungeneExistenz abernicht realiter in den Zustand der Gerechtigkeit verwandelt wor-den. Das sei ein Zuspruch gewesen, so wurde Luther oft vorge-worfen, als ob imMenschennichts geschehenunddie Besserungdes Lebens ausgeblieben sei. Der Anlass fr eine imputativeDeutung ist der Rmerbriefvers, in dem davon gesprochen wird,dass der nicht mit Werken umgeht, glaubt aber an den, der dieGottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zurGerechtigkeit (Rm 4,5). Ein Rechtfertigungsverstndnis, dasjede konkreteWirkung vermissen lsst, drfte Luther selbst aber

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  • kaum vertreten haben. Das Heilswort, das dem Snder zuge-sprochen wird, war fr Luther vielmehr ein Wort, das denMenschen bis ins Innerste hinein trifft und ihn in die Lage ver-setzt, sich auf Gott hin, wie er sich in Christus offenbart hatte,auszurichten, d.h. sich neu zu verstehen, genau genommen, nichtsich selbst, sondern sich so, dass dieses Selbst sich mit demLeben Jesu identifiziert: So wird Jesu Leben zu meinem Lebenund mein Leben zu Jesu Leben. Sich selber neu zu versehen,heit, ein Leben zu fhren, das den anderen Menschen als einGeschpf Gottes achtet und sorgsam mit ihm umgeht. Die Zu-wendung zum anderenMenschen, demNchsten, war fr Lutheretwas anderes als eine ethische Forderung, die auf den rechtfer-tigenden Glauben folgte. Diese Zuwendung war so zu verstehen,dass derGerechtfertigte in seiner Existenz demandernMenschenein Christus wurde. So ist die Rechtfertigung ein profundesgeistliches Geschehen, in dem sich das Heil in dieser Welt Aus-druck verleiht. Sich und seine Welt neu zu verstehen, ist einGeschehen, das nicht ohne Folgen ist, nicht eigentlich, weil derGerechtfertigte sich des Nchsten, der in Not geraten ist, an-nimmt, sondern weil er selber zum Nchsten dessen wurde, derihn braucht. Mit dem rechtfertigenden Glauben hat sich Neues inder Welt eingestellt: Die Beziehungen der Menschen unterein-ander beginnen sich zu verndern. Die Rechtfertigung desMenschen sola gratia und sola fide schafft nicht nur neue Ein-stellungen, sondern auch neue Realitten. Noch einmal: DieseVernderung geht nicht auf die Erfllung einer ethischen For-derung zurck, die bei Luther angeblich auf der Strecke gebliebensei, wie manche seiner Zeitgenossen enttuscht feststellten,sondern ist Ausdruck des Rechtfertigungsgeschehens selbst:nicht Handeln des Menschen, sondern zu allererst HandelnGottes. Das ist einHandeln, das dieMglichkeiten desMenschen,aus sich heraus eine grundlegende Vernderung in dieser Weltherbeizufhren, bersteigt und an den gttlichen Schpfungsaktselbst erinnert.

    Allerdings erscheint das Heil, das auf diese Weise konkretwird, nicht in seiner vollendeten Gestalt, sondern auf zwiespl-tige Weise. Luther hat dafr die Formel geprgt: Der Christ seisimul iustus et peccator obwohl gerecht gesprochen, sei er

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  • immer noch Snder. Mit dieser paradoxen Formel wird auf denvorlufigen, noch nicht zur endgltigen Vollendung gelangtenStand desHeils in dieserWelt hingewiesen.DasHeil, sofern es dieMenschen ergreift, trgt noch einenprovisorischenCharakter. Esist ein lebenslanger, vor dem Jngsten Tag nie abgeschlossenerProzess, in dem der gerecht gesprochene Snder in seinenHeilsstand hineinwchst. Die Chance, die er dazu erhalten hat,lsst sich als gndige Zuwendung Gottes in der Zeit bis zumWeltgericht verstehen. Der Philosoph Walter Benjamin, der berGeschichte im Lichte der Messiaserwartung nachdachte, hatGeschichte, wenn sie nicht als Moloch der Selbstvernichtung desMenschen begriffen wurde, als Aufschub des letzten Gerichtsinterpretiert und die Zeit bis dahin als Zeit der Gnade zu be-greifen gelehrt. So braucht das Provisorium, das unser Leben ist,nicht als Makel empfunden zu werden, es lsst sich vielmehr alsAusdruck der Zuwendung Gottes zum Menschen verstehen.Darin wurzeln Lebensmut und Lebensfreude, obwohl alles demEnde entgegen geht.

    2. Gemeinde, Kirche, ReichGottes auchdiese institutionellenFormen des christlichen Glaubens stehen unter eschatologi-schem Vorbehalt. Auf unterschiedliche Weise haben sie sich imLaufe der Geschichte ausgebildet, und mit unterschiedlicherWirkung ist mit ihnen experimentiert worden. Jede Form hatAspekte der christlichen Botschaft verwirklicht, jede Form hataber auch die Schwierigkeiten ans Licht gebracht, mit denenChristen ringen mussten, der Botschaft eine konkrete, dieWirklichkeit gestaltende Kraft zu verleihen. Besonders deutlichzeigten sich diese Schwierigkeiten, wenn das eine oder andereekklesiologische Verstndnis gegeneinander ins Feld gefhrtoder verabsolutiert wurde. Jahrhunderte lang hat die Behaup-tung der einen oder der anderen Kirche, nur sie sei die wahreKirche Jesu Christi auf Erden, das Gesicht des Christentums ge-prgt und die politischen genauso wie die sozialen Auseinan-dersetzungen geschrt, wenn nicht sogar berhaupt erst ausge-lst.

    Hier wurde die sichtbare, hierarchisch gegliederte, priesterli-che Gestalt der Kirche mit dem Leib Christi identifiziert undjeder ausgeschlossen, der sich dieser institutionalisierten Form

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  • des Glaubens nicht einfgen wollte (rmisch-katholische Kir-che). Dort wurde der Akzent auf die Verkndigung des gttlichenWortes oder auf die Frmmigkeit der Laien gelegt und diecongregatio fidelium in der soziologischen Gestalt der Ge-meinde als die im Neuen Testament allein gemeinte Gestaltchristlicher Gemeinschaft angesehen (auf je verschiedene Weisedie reformatorischen Kirchen und die Gemeinden der Tufer).Immer wieder auch wurden vom unmittelbaren Gottesverhltnisdes Einzelnen her lose Formen eines gemeinsamen Gottes-dienstes oder einer vita communis gesucht (Konventikel, Ver-sammlungen, Bruderschaften). In diese ekklesiologischen Kon-zeptemischten sich auchVorstellungen vom Reich Christi bzw.Reich Gottes ein. Dieses Reich konnte als Heilsgeschehen imAbgrund der Seele verinnerlicht, es konnte als Theokratie aufgewaltsame Weise jetzt schon uerlich herbei gezwungen, eskonnte schlielich als neue Gesellschaft, wie der mennoniti-sche Theologe John H. Yoder meinte, schon verwirklicht oder alsdas Reich des wiederkehrenden Christus, wie andere meinen,vorerst nur erwartet werden. UmdieVerhrtungen und schroffenAlternativen im Kirchenverstndnis aufzulsen, sprach EmilBrunner vom Missverstndnis der Kirche undmeinte, dass dieneutestamentliche Ekklesia sich nur in den Begriffen derChristusgemeinschaft und der Bruderschaft zum Ausdruckbringen liee und die bestehenden Kirchen ihre Aufgabe nichtdarin sehen knnten, Ekklesia zu werden, sondern einzig undallein demWerden der Ekklesia zu dienen. Diese Ekklesia knnenur in den Kategorien der Eschatologie beschrieben und alsmessianische Gemeinde erwartet werden. Alle Kirchen, Ge-meindenundGemeinschaften sind vorlufig. Sie grnden in demHeilsereignis, das mit Tod und Auferstehung Jesu Christi imNeuen Testament umschrieben und als neuer on vorgestelltwurde, der bereits angebrochen sei, aber immer auch noch er-wartet werde. In dieser Vorlufigkeit ist die Aufgabe der exis-tierenden Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften uner-schpflich, und vielfltig sind nicht nur die Formen, die sichentwickelt haben, sondern die sich noch entwickeln werden. FrEmil Brunner hat diese Einsicht eine doppelte Konsequenz: Zumeinen kann jede Kirche oder Gemeinde demWerden der Ekklesia

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  • dienen; und zum anderenwird jede Kirche oder Gemeinde damitrechnen mssen, dass neue Formen des Dienstes an der Ekklesiaentstehen werden, die weit abliegen von dem, was man bisherunter Kirchen verstanden hat, die aber gerade darum oft taugli-chere Mittel fr den einen, entscheidenden Zweck sind als dieMehrzahl der Kirchen (Brunner, Missverstndnis, S. 110).

    Im Vorlufigen, Provisorischen und Experimentellen erreichtder christliche Glauben die alltgliche Erfahrungswelt der Men-schen, und in dieser Vorlufigkeit verschafft sich die Hoffnungauf ein gelingendes Leben fr alleMenschen ihrenAusdruck. Daszu denken, ist khn und radikal.

    8 Gesprch

    Das Gesprch gehrt zu den intensiveren Formen menschlicherKommunikation. In ihm werden nicht nur Warnung, Schrecken,Trauer und Freude vermittelt, wie wortlose Gesten sie auchmitzuteilen vermgen, sondern vor allem Bedenken, Befrch-tungen, Behauptungen, Vorwegnahmen, Beschreibungen undkomplizierte Gedanken. Es werden Probleme errtert, es wirdgestritten und nach Lsungen gesucht. Im Gesprch teilt sicheiner dem anderen mit: Auge in Auge. Verstellung und Lgehaben es hier schwerer sich zu behaupten, als in einem Briefbeispielsweise. Ein Augenzwinkern kann zu verstehen geben,dass ein gerade gesprochener Satz nicht eigentlich meint, was eraussagt. Das kann vor Verletzungen bewahren, das kann auchHumor in die zwischenmenschlichen Beziehungen bringen, derein Gespr fr die Leichtigkeit des Seins weckt und die Le-bensfreude steigert. Ein Gesprch kann freilich auch Verwirrungstiften oder eine Beziehung beenden. Wir beginnen uns voreinemneuenHorizont, der sich uns pltzlich geffnet hat, andersals vorher zu verstehen, oder wir rennen in panischer Angst vordieWand.Gesprche sind ambivalente Erlebnisse, sie bestimmenaber unsere Existenz. Sie sind das Medium, in dem sich unserLeben entfaltet, seinen Hhepunkt erreicht und seinem Endeentgegenluft.

    Im Gesprch nhern sich die Partner einander an oder ent-

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  • fernen sich voneinander. Sie teilen einander mit, nehmen oftauch etwas vom anderen auf und verndern sich. Gesprche sindQuellen der Vernderung. Ob es im Gesprch zum Konsens berGedanken, Vorstellungen, Urteile kommt, zu einer berein-stimmung der Gefhle, zur Verstndigung ber Inhalte desGlaubens, ber moralische Normen oder zumDissens, immer istein solches Gesprch produktiv gewesen. Es ist Neues entstan-den: neu fr den einen und neu fr den andern, sofern sich beibeiden etwas verndert hat. Wenn Gesprche mit der Absichtgefhrt werden, den Gesprchspartner auf die eigene Positionherberzuziehen und sich dabei selbst aber berhaupt nicht zubewegen, wird die kommunikative Dimension des Gesprchszerstrt und ihr Sinn verfehlt. Sinn des Gesprchs ist es, dieGemeinschaft, in der jemand zu denken, zu sprechen und zuleben gelernt hat, mit der Gemeinschaft zu vermitteln, in der einanderer zu denken, zu sprechen und zu leben gelernt hat. So istdas Gesprch nicht nur eine Gemeinschaft der Sprechenden,sondern soziologisch in einem weiteren Sinn auch die Vermitt-lung zwischen vorher isolierten Kommunikations- und Lebens-gemeinschaften. Gesprche im Kleinen knnen einen Anfangsetzen, grere Gemeinschaften und sogar Gesellschaften zuverndern. Um hier schon ins Theologische auszugreifen: Wozwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ichmitten unter ihnen (Mt 18,20), d. h. wo zwei oder drei mitein-ander ber Christus sprachen, ist schlielich eine weltvern-dernde Bewegung und eine weltumspannende Gemeinschaftentstanden: das Christentum.

    Nebender kommunikativen sind es vor allemnochdrei andereDimensionen, die sich im Gesprch miteinander verschrnken:eine sthetisch-rhetorische, eine hermeneutische und eine er-kenntniskritische.

    Die sthetisch-rhetorischeDimension: Sie zeigt sich darin, dassGesprche gefhrt und gepflegt werden. Nicht alles, wasMenschen miteinander bereden, ist schon Gesprch. Da ist vielPlappern und Gerusch, viel Geschrei, Selbstdarstellung undGerede. In einem Gesprch muss der Redeanteil nicht gleich-mig verteilt sein. Der eine kann reden und der andere zuhren.Auch das kann ein Gesprch sein. Wie es ein beredtes Schweigen

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  • gibt, so lsst sich auch ein beredtes Zuhren denken. Ein Ge-sprch wird erst zerstrt, wenn die dialogische Struktur einermonologischen weichen muss. So sprechen wir von einer Ge-sprchskultur, die im Grunde mehr meint, als dass zwei Men-schen miteinander sprechen. Alles kommt vielmehr darauf an,wie sie miteinander sprechen: zuvorkommend, rcksichtsvollund unverstellt. Darin zeigt sich der sthetisch-rhetorischeCharakter des Gesprchs.

    Die hermeneutische Dimension: Hermeneutik heit die Lehrevom Verstehen. Zunchst handelte es sich um Anweisungen zurichtigem Verstehen von Texten, dann auch um das bedeutsameGesprch, das aus unterschiedlicher Perspektive um einenSachverhalt gefhrt wird, bis es zum Einverstndnis darberkommt. So hat Friedrich Schleiermacher, der einflussreichsteTheologe des 19. Jahrhunderts, den Aufgabenbereich der Her-meneutik erweitert. Schlielich hat in neuster Zeit der Heidel-berger Philosoph Hans-Georg Gadamer die Hermeneutik zueiner Grundkategorie der praktischen Philosophie entwickelt.AmModell des Gesprchs, einer Abfolge von Frage und Antwort,wird das hermeneutische Verfahren so entwickelt, dass es sichnicht nur als Auslegung von Texten oder als sinnerfassendesLesen im Buch der Geschichte darstellt, sondern zum Sich-verstehen dessen fhrt, der sichumTexte, Geschichte und andereMenschen bemht. Die Trennung von Erkenntnissubjekt undErkenntnisobjekt, wie sie der traditionellen Erkenntnistheorie zuGrunde liegt, wird aufgegeben, so dass es nicht mehr das Subjektist, das dem Objekt eine Erkenntnis abringt, eine genaue Wie-dergabe des Objekts anstrebt und auf diese Weise dessen Wahr-heit an den Tag bringt. In der neueren hermeneutisch orien-tierten Philosophie ist die Frage nach dem Sinn identischmit derFrage nach der Wahrheit eines Textes, eines Geschehens odereines Sachverhalts. Wie der Sinn so stellt sich auch die Wahrheit,die gesucht wird, im Gesprch ein; und so unabgeschlossen wiedas Gesprch ist auch die Suche nachWahrheit, also dieWahrheitselbst. Das ist so, weil das Subjekt immer schon selbst an SinnundWahrheit partizipiert, Wahrheit sich ohne seine Interessen,Fragen und Erfahrungen berhaupt nicht denken lsst. Mehrnoch: Verstndigung im Gesprch ist nicht ein bloes Sich-

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  • ausspielen und Durchsetzen des eigenen Standpunktes, sonderneine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt,was man war (Gadamer, Wahrheit, S. 360). Nicht nur der Ein-zelne wird verndert, ausgeweitet wird auch unser Welthori-zont. Er wird im Verstehen zu einem Raum, der unser ganzesLeben zur Suche nach Sinn undWahrheit werden lsst. Das ist diekreative, unser Leben gestaltende Kraft des Gesprchs.

    Die erkenntnistheoretische