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Günter Grass: Die Blechtrommel

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Page 1: Günter Grass: Die Blechtrommel. Hans Werner Richter zur Blechtrommel Und bei der Blechtrommel, das haben wir damals doch ziemlich schnell gemerkt, war

Günter Grass: Die Blechtrommel

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Hans Werner Richter zur Blechtrommel„Und bei der Blechtrommel, das haben wir damals doch ziemlich schnell gemerkt, war wichtig, daß es nicht mehr um die großen dämonischen Figuren ging. Faschismus vielmehr als Phänomen der (Danziger) Kleinbürgerei. Da liefen nicht ständig – ich sag das jetzt bewußt karikierend – KZ-Häftlinge in Sträflingsuniform über die Straßen. Grass hatte zuerst die Fähigkeit, nicht nur zu begreifen, sondern zu gestalten, daß der Faschismus ein kleinbürgerliches Phänomen war.“(zitiert nach: Wilfried Barner (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München: Beck 1994, S. 170.)

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Günter Grass:„Und mir kam es darauf an, in der Blechtrommel […] diese Schicht (das Kleinbürgertum) in Deutschland, aus der ich ja stamme, die ich gut kenne, (…) zu beschreiben. Diese Kleinbürgerschicht wollte ich darstellen, wie sie auch politisch im Stich geworden lassen ist, von links – zum Beispiel von den Sozialdemokraten, von den Kommunisten – (…); und so wurde diese Schicht eine leichte Beute der Nationalsozialisten.“(Richtung Danzig. Ausschnitt aus einem Gespräch zwischen Walter Höllerer und Günter Grass beim „Autorenporträt Günter Grass“ des Literarischen Colloquiums Berlin am 4. Dezember 1980. In: Detlef Krumme: Günter Grass. Die Blechtrommel. Wien: Carl Hanser Verlag 1986, S. 139-144, hier: S. 144.)

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Der erste Satz…

Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen nicht durchschauen kann.

(Günter Grass: Die Blechtrommel. München: dtv 2008, S. 9)

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„Die erzählerische Wahrheit wird nicht ohne weiteres mitgeteilt, sondern unter einem noch nicht einsehbaren Zwang. Weil sich die Mit-teilungen somit gegen die Leugnungsabsicht ihres Vermittlers durchsetzen, gewinnen sie im paradoxen Gegensatz zur zweifelhaften Erzählerfigur für den Leser von vornherein einen relativ hohen Glaubwürdigkeitsgrad.“

(Ute Liewerscheidt: Günter Grass. Die Blechtrommel. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag 2000, S. 12)

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Selbstdarstellung Oskars Einmal in der Woche unterbricht ein Besuchstag

meine zwischen weißen Metallstäben geflochtene Stille. Dann kommen sie, die mich retten wollen, denen es Spaß macht, mich zu lieben, die sich in mir schätzen, achten und kennenlernen möchten. Wie blind, nervös, wie unerzogen sie sind. (…) Mein Anwalt stülpt jedesmal, sobald er mit seinem Hallo das Zimmer sprengt, einen Nylonhut über den linken Pfosten am Fußende meines Bettes. Solange sein Besuch währt - und Anwälte wissen viel zu erzählen -, raubt er mir durch diesen Gewaltakt das Gleichgewicht und die Heiterkeit.

(Günter Grass: Die Blechtrommel, S. 10)

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Erzähltheoretischer Diskurs Oskars

Man kann eine Geschichte in der Mitte beginnen und vorwärts wie rückwärts kühn ausschreitend Verwirrung anstiften. Man kann sich modern geben, alle Zeiten, Entfernungen wegstreichen und hinterher verkünden oder verkünden lassen, man habe endlich und in letzter Stunde das Raum-Zeit-Problem gelöst. Man kann auch ganz zu Anfang behaupten, es sei heutzutage unmöglich, einen Roman zu schreiben, dann aber, sozusagen hinter dem eigenen Rücken, einen kräftigen Knüller hinlegen, um schließlich als letztmöglicher Romanschreiber dazustehn.

(Günter Grass: Die Blechtrommel,S. 12)

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Aufbau des Romans

1899 ---------------- erzählte Zeit-------------1952/54

(nach: Edgar Neis: Erläuterungen zu Günter Grass. Die Blechtrommel. Hollfeld: C. Bange Verlag 1996, S. 80.)

Oskar Matzerath- Autobiographie –

(Erzählzeit 1952-1954)

„Allwissender Erzähler“

Zweites Buch(Hauptgeschichte)

II. Weltkrieg1939-1945

Erstes Buch(Vorgeschichte)

1899-1939

Drittes Buch(Folgegeschichte)

1946-1952/54

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Die zwei Handlungsebenen

1899

1924Oskars Geburt

1954Oskars 30. Geb.

Beschriebene Zeit

1952Einlieferung in die Anstalt

1954Zeit des Schreibvorgang

(Vgl.: Johannes Diekhans: Günter Grass. Die Blechtrommel. Paderborn: Schöningh 2007, S. 47.)

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Die Erzählform

„Ich“

Erzählendes Ich

„Oskar“

Erlebendes Ich

Intellektuell voll entwickelter Hellsichtiger (=Schuldiger?)

Naiver Dreijähriger, Gnom (=Unschuldiger?)

(Vgl.: Johannes Diekhans: Günter Grass. Die Blechtrommel. Paderborn: Schöningh 2007, S. 46.)

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„Distanz als Stilmittel“Abstand vom Geschehen Nähe zum Geschehen

„er“ „ich“

Schuldhaftes Handeln eines anderen Persönliche Schuld → man macht sich angreifbar

Kühle Betrachtungsweise Emotionale Betroffenheit

Objektive Darstellung Subjektive Darstellung

Kontinuierliches Erzählen Korrektur und Relativierung des zuvor Erzählten

Verwirrendes und faszinierendes Wechselspiel, verursacht durch das (ironische?) Wechseln der verschiedenen Erzählhaltungen

Abweichung vom herkömmlichen Darstellungs- und Wahrnehmungsschablonen

(Vgl.: Johannes Diekhans: Günter Grass. Die Blechtrommel. Paderborn: Schöningh 2007, S. 45.)

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„Oskar, der im frühkindlichen Alter beschlossen hat, sich dem Erwachsenwerden und der Erwachsenenwelt zu verweigern, und sich durch einen selbst inszenierten Treppensturz seinen Zwergenwuchs verschafft, besitzt zugleich die von moralischen Konventionen ungetrübte Unbefangenheit des Blicks, die ihn alles aufmerksam, aber zugleich auch unbeteiligt registrieren läßt, jenseits von moralischen Wertungen, die zur Erzählperspektive eines bürgerlichen Ichs notwendig gehören. Oskars Zwergenwuchs, die magische, glaszerstörende Kraft seiner Stimme und seine nur ihm gehörende Trommelsprache, mit der er die Vergangenheit wieder zurückholt, heben ihn aus den Bedingtheiten der ihn umgebenden Welt heraus, billigen ihm eine Sonderstellung zu und verschaffen ihm zugleich den Abstand zu einer nur aus Informationen bestehenden Wahrnehmungsgenauigkeit und –vielfalt, die auf andere Weise der tradierte allwissende Erzähler durch seinen intellektuellen Anspruch der Wirklichkeit gegenüber als ganz natürlich voraussetzte.“ (Wilfried Barner: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München: Beck 1994, S. 382.)

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Sonst änderte sich nicht viel. Über dem Piano wurde das Bild des finsteren Beethoven (…) vom Nagel genommen und am selben Nagel der ähnlich finster blickende Hitler zur Ansicht gebracht. Matzerath, der für ernste Musik nichts übrig hatte, wollte den fast tauben Musiker ganz und gar verbannen. Mama jedoch, die die langsamen Sätze der Beethovensonaten sehr liebte, (…) bestand darauf, dass der Beethoven, wenn nicht über der Chaiselongue, dann übers Buffet käme. So kam es zu jener finstersten aller Konfrontationen: Hitler und das Genie hingen sich gegenüber, blickten sich an, durchschauten sich und konnten dennoch aneinander nicht froh werden. (G. Grass: Die Blechtrommel, S. 145f.)

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Ich roch sie durch die Ritzen der Tribünen-verschalung. Das stand und berührte sich mit Ellenbogen und Sonntagskleidung, das war zu Fuß gekommen oder mit der Straßenbahn, das hatte zum Teil die Frühmesse besucht und war dort nicht zufriedengestellt worden, das war gekommen, um seiner Braut am Arm etwas zu bieten, das wollte mit dabeisein, wenn Geschichte gemacht wird, und wenn auch der Vormittag dabei draufging.

(Günter Grass: Die Blechtrommel, S. 151.)

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Nach und nach kaufte sich Matzerath die Uniform zusammen. Wenn ich mich recht erinnere, begann er mit der Parteimütze, die er gerne, auch bei sonnigem Wetter mit unterm Kinn scheuerndem Sturmriemen trug. Eine Zeitlang zog er weiße Oberhemden mit schwarzer Krawatte zu dieser Mütze an oder eine Windjacke mit Armbinde. Als er das erste braune Hemd kaufte, wollte er eine Woche später auch die kackbraunen Reithosen und Stiefel erstehen. Mama war dagegen, und es dauerte abermals Wochen, bis Matzerath endgültig in Kluft war.

(Günter Grass: Die Blechtrommel, S. 146.)

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SA-Uniformen

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H. Dobhenysk, A Pure-Blooded Aryan, Chicago Daily News (1937)

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Literatur:• Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. Untersuchungen zu Günter

Grass‘ „Blechtrommel“. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1989.• Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Blech getrommelt. Günter Grass in der Kritik. Göttingen: Steidl

1997.• Barner, Wilfried (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart.

München: Beck 1994.• Braun, Michael: Tabu und Tabubruch in Literatur und Film. Würzburg: Königshausen &

Neumann 2007.• Diekhans, Johannes (Hrsg.): Günter Grass. Die Blechtrommel. Paderborn: Schöningh 2007.• Jahnke, Walter / Lindemann, Klaus: Günter Grass: Die Blechtrommel. Acht Kapitel zur

Erschließung des Romans. Paderborn u.a.: Schöningh 1997.• Jürgs, Michael: Günter Grass. Eine deutsche Biografie. Erw. Neuausgabe. München:

Goldmann 2007.• Liewerscheidt, Ute: Günter Grass. Die Blechtrommel. Kommentare, Diskussionsaspekte und

Anregungen für produktionsorientiertes Lernen. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag 2000.• Morsbach, Petra: Warum Fräulein Laura freundlich war. Über die Wahrheit des Erzählens.

München und Zürich: Piper 2006.• Neis, Edgar: Erläuterungen zu Günter Grass. Die Blechtrommel. Königs Erläuterungen und

Materialien Band 159. Hollfeld: C. Bange Verlag 1996.

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• Neuhaus, Volker: Günter Grass. 2., überarb. und erw. Aufl.. Stuttgart und Weimar: Metzler 1993.

• Pan, Lu: Aus dem Schattenreich der Vergangenheit. Erinnerungsarbeit in Günter Grass‘ Blechtrommel und Mo Yans Üppiger Busen, Dicker Hintern. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2008.

• Reich-Ranicki, Marcel: Günter Grass. Aufsätze. Zürich: Ammann Verlag 1992.• Schilling, Klaus von: Schuldmotoren. Artistisches Erzählen in Günter Grass‘

„Danziger Trilogie“. Bielefeld: Aisthesis 2002.