grenzübertretungen (intertextualität in w.g. sebald)

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Dissert. Fakultät Philologie der RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

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  • 1

    Grenzbertretungen

    Aspekte der Intertextualitt im Werk von W. G. Sebald

    Inaugural-Dissertation

    zur

    Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie

    in der

    Fakultt fr Philologie

    der

    RUHR-UNIVERSITT BOCHUM

    vorgelegt

    von

    Peter Schmucker

    aus

    Nrnberg

  • 2

    Gedruckt mit der Genehmigung der Fakultt fr Philologie der Ruhr-Universitt Bochum

    Erstgutachter: Prof. Dr. N. Pethes

    Zweitgutachter: Prof. Dr. M. Schmitz-Emans

    Tag der mndlichen Prfung: 6. Juli 2011

  • 3

    Frau Wilhelmine Schmidt, geb. Krmer, in Dankbarkeit zugeeignet

  • 4

    Inhaltsverzeichnis

    Abschnitt Seite

    A. Einleitung 10

    A. I. Textcorpus und Problemstellung 10

    A. II. Forschungsstand 19

    A. II. 1. W. G. Sebalds Poetik und die Intertextualitt als ein Kennzeichen seines Werks 19

    A. II. 2. Allgemeine Eigenschaften von Sebalds erzhlter Welt 22

    A. III. Methode 23

    A. IV. Vorgehensweise 23

    A. V. Thesen 26

    B. Definitionen und Voraussetzungen 27

    B. I. Intertextualitt 27

    B. II. Fiktionalitt und erzhlte Welt 31

    B. III. Metaphysik 36

    C. Ein paar besondere Worte: zerstreute intertextuelle Befunde auf der Basis wrtlicher Zitate 40

    C. I. Die bedrohliche Welt und die Utopie des homostatischen Gleichgewichts: Adalbert Stifter 43

    C. I. 1. Sebalds literaturwissenschaftliche Arbeiten zu Stifter 43

    C. I. 1. a. Helle Bilder und dunkle - zur Dialektik der Eschatologie bei Stifter und Handke 43

    C. I. 1. b. Bis an den Rand der Natur - Versuch ber Stifter 52

    C. I. 2. Stifter im literarischen Werk Sebalds 56

    C. I. 2. a. Entropische Kontingenz: Der Sandsturm und Aus dem bairischen Walde 56

    C. I. 2. b. Die Kreation eines Irren: Dekompressionsoperation und Der Condor 59

  • 5

    C. I. 2. c. Grenzbertretung: Die Mappe meines Urgrovaters und Schwindel. Gefhle 62

    C. II. Wanderer in finsteren Welten: Franz Kafka 70

    C. II. 1. Sebalds literaturwissenschaftliche Arbeiten zu Kafka 70

    C. II. 1. a. Das unentdeckte Land - Zur Motivstruktur in Kafkas Schlo 71

    C. II. 1. b. Das Gesetz der Schande - Macht, Messianismus und Exil in Kafkas Schlo 78

    C. II. 1. c. Tiere, Menschen, Maschinen Zu Kafkas Evolutionsgeschichten 82

    C. II. 1. d. Via Schweiz ins Bordell. Zu den Reisetagebchern Kafkas 87

    C. II. 1. e. Kafka im Kino 89

    C. II. 2. Kafka im literarischen Werk Sebalds 92

    C. II. 2. a. Ein ewiger Frembdling und Bilgram: Der Jger Gracchus als Grundmodell fr den Erzhler in Schwindel. Gefhle 92

    C. II. 2. a. . Eine Herzensschmiede: Die Umwandlung des jugendlichen Erzhlers in ein Analogon zum Jger Gracchus 92

    C. II. 2. a. . Immer in Bewegung: Die Wanderungen des erwachsenen Erzhlers in Schwindel. Gefhle 99

    C. II. 2. a. . Zwei Wrfelspieler hockten am Quai: Der Jger Gracchus als Muster fr Sebaldsche Figuren 123

    C. II. 2. b. Das Schlo als Prtext 125

    C. II. 2. b. . Wirtshuser in abyssum: Herrenhof, Hotel Boston, Engelwirtsstube 125

    C. II. 2. b. . Winterreise: Kreisen ohne Fortschreiten, Labyrinth 126

    C. II. 2. b. . Der Wind spannte das Tuch: Die Friedhofsmauer 128

    C. II. 2. c. Andere Kafkasche Prtexte 130

    C. II. 2. c. . Madame la Mort und die Ohnmacht 130

    C. II. 2. c. . Posthumane Evolution aus der Schutthalde: Automobile, Flugzeuge und (Schutz-)Engel 132

  • 6

    C. II. 2. c. . Sowohl durch das Herz als auch durch den Kopf: Dr. K.s Badereise nach Riva 146

    C. III. Hugo von Hofmannsthal 148

    C. III. 1. Sebalds literaturwissenschaftliche Arbeiten ber Hugo von Hofmannsthal 148

    C. III. 1. a. Das Wort unter der Zunge (Zu Hofmannsthals Der Turm) 148

    C. III. 1. b. Venezianisches Kryptogramm. Hofmannsthals Andreas 152

    C. III. 2. Zitate aus Andreas: Perversion und Hresie, und aus Der Turm 157

    C. III. 2. a. Romana 157

    C. III. 2. b. Halbmond und Sichel: Zitat aus Hofmannsthals Der Turm 161

    C. IV. Kinder und Narren und Knstler: Ernst Herbeck, Robert Walser, Thomas Bernhards Kindervilla 164

    C. IV. 1. Ernst Herbeck 165

    C. IV. 1. a. Sebalds literaturwissenschaftliche Arbeiten ber Ernst Herbeck 165

    C. IV. 1. a. . Eine kleine Traverse - Das poetische Werk Ernst Herbecks 165

    C. IV. 1. a. . Des Hschens Kind, der kleine Has. ber das Totemtier des Lyrikers Ernst Herbeck 170

    C. IV. 1. b. Genauso wie mein Grovater: Die Figur Ernst Herbeck in Schwindel. Gefhle und ihre Verzweigungen 172

    C. IV. 2. Der [] immer jungfrulich gebliebene Robert: Robert Walser 174

    C. IV. 3. Thomas Bernhard und die Kindervilla 177

    C. V. Das merckwrdige Faktum der Liebe: Henry Beyles militrische und sexuelle Initiation als Gegenbild zur Kindlichkeit 179

    C. VI. Zwischenbilanz: Kurze Zusammenfassung der Ergebnisse von Teil C 183

    D. Ein schnes Bild: Poetische Paraphrase und (Geschichts-)Philosophie als Subtext 184

    D. I. Grundstzliche berlegungen zur Poetischen Paraphrase als Darstellung philosophischer Gedanken in fiktionaler Literatur 184

    D. II. Walter Benjamin 192

    D. II. 1. Stand der Forschung 192

  • 7

    D. II. 2. Zeitstrukturen in den Welten von Walter Benjamin und W. G. Sebald 201

    D. II. 2. a. Grundstzliches zu Walter Benjamins Zeitbegriff 201

    D. II. 2. b. Kritik der leeren homogenen Zeit bei Walter Benjamin 205

    D. II. 2. c. Durchgngigkeit des messianischen Moments 208

    D. II. 2. d. Aspekte der Zeit bei Sebald 210

    D. II. 2. d. . Kritik der Homogenitt der Zeit in der Metapher des Stroms 210

    D. II. 2. d. . Weitere Inseln im Strom der Zeit und weitere Diskontinuitten 216

    D. II. 2. d. . Kritik der synchronisierten Zeit im Industrialismus 221

    D. II. 2. d. . Deformation und Untote: Bucklicht Mnnlein, Gespenster und Schriftsteller 224

    D. II. 2. d. . Grundkonzept der Zeit bei W. G. Sebald: Differenzen zu Benjamins Konzept 238

    D. II. 2. e. Fortschrittskritik und Endzeitvision in Sebalds literarischem Werk 241

    D. II. 2. e. . Fortschrittskritik und Feuerbrand 241

    D. II. 2. e. . Die Endzeitvision zum Abschlu von Il ritorno in patria als ironische Spiegelung von Samuel Pepys Bericht ber das Great Fire of London 1666 244

    D. II. 2. e. . Vulkanismus 249

    D. II. 3. Naturgeschichte bei Walter Benjamin und W. G. Sebald 252

    D. II. 3. a. Verschiedene Ausprgungen des Begriffs Naturgeschichte bei Walter Benjamin 253

    D. II. 3. b. Naturgeschichte bei W. G. Sebald 257

    D. II. 3. c. Sediment und der melancholische Blick des Engels 260

    E. W. G. Sebalds Poetik 278

    E. I. Anspruch der Vergangenheit und persnliche Verstrickung in die Geschichte 278

    E. I. 1. Persnliche Verstrickung: Familie, Geschichte, Natur 279

    E. I. 2. Pathozentrische Ethik und Kritik der Jagd 284

  • 8

    E. II. Literaturwissenschaftliche uerungen Sebalds zur Poetik 294

    E. II. 1. Die Zricher Vorlesungen: Das kollektive Gedchtnis als Amt der Poeten 294

    E. II. 2. Wie man es nicht machen sollte: Poetik am Beispiel ex negativo 300

    E. II. 2. a. Between the Devil and the Deep Blue Sea. Zu Alfred Andersch: Das Hindernis der ethischen Vorbelastung 301

    E. II. 2. b. Ich mchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht. Zu den Romanen Jurek Beckers: Verfehlen von Erinnerung und Empathie 305

    E. II. 3. Was nachahmenswert ist: Exemplarische Dichter und ihre Weisen 309

    E. II. 3. a. Mit den Augen des Nachtvogels. ber Jean Amry 309

    E. II. 3. b. Jean Amry und Primo Levi 313

    E. II. 3. c. Die Zerknirschung des Herzens. ber Erinnerung und Grausamkeit im Werk von Peter Weiss 316

    E. II. 3. d. Das Geheimnis des rotbraunen Fells. Annherung an Bruce Chatwin aus Anla von Nicholas Shakespeares Biographie 318

    E. II. 3. e. Wie Tag und Nacht - ber die Bilder Jan Peter Tripps 322

    E. II. 3. f. Traumtexturen. Kleine Anmerkung zu Nabokov 329

    E. II. 3. g. Zerstreute Reminiszenzen. Gedanken zur Erffnung eines Stuttgarter Hauses 334

    E. II. 4. Noch einmal Walter Benjamin: Rettung 340

    E. II. 5. Sebalds Poetik zusammengefat 347

    E. III. Retter und Rettungen in Sebalds literarischem Werk 347

    E. III. 1. Aufgehoben: Beispiele der Rettung im Artefakt 348

    E. III. 1. a. Der rettende Reiter 348

    E. III. 1. b. Das ganze unergrndliche Unglck des Lebens aufgehoben 350

    E. III. 1. c. Gerettet in der Allegorie 352

    E. III. 2. Luftmenschen: Knstler und Heilige 356

    E. III. 3. Der Ruf der Fragmente nach Integration: Intertextuelle und andere Rtsel 362

  • 9

    E. III. 3. a. Das Konzept der Verrtselung 362

    E. III. 3. b. Erstes Beispiel: Die Reise durch die Alpen in Allestero 365

    E. III. 3. c. Zweites Beispiel: Austerlitz Reise mit Marie de Verneuil nach Marienbad 370

    E. III. 3. d. Austerlitz und Penelope Peacefuls gelste und Michael Hamburgers ungelste Rtsel 383

    F. Franz von Baader und die Frage von Sebalds gnostischem Weltbild 390

    F. I. Der religise Horizont des Autors 390

    F. II. Allgemeine Kennzeichen gnostischer Philosophie 393

    F. III. Franz von Baaders Philosophie 403

    F. IV. Die Frage von Sebalds gnostizistischem Denken 408

    F. IV. 1. Ubi cadaver ibi aquilae: Wrtliche Baader-Zitate bei Sebald 408

    F. IV. 2. Der Aufsatz Wo die Dunkelheit den Strick zuzieht. Zu Tomas Bernhard 411

    F. IV. 3. Metaphysica specialis und Merkmale des Gnostizismus in Sebalds erzhlter Welt 417

    G. Zusammenfassung 426

    H. Literaturverzeichnis 427

    I. Danksagung 458

    K. Tabellarischer Lebenslauf 459

  • 10

    A. Einleitung

    A. I. Textcorpus und Problemstellung

    Der viele Jahre als Literaturwissenschaftler an der University of East Anglia in Norwich ttige Autor W. G. Sebald, Jahrgang 1944, hat nach der Publikation von einigen Gedichten1 und kurzen Prosastcken erst vergleichsweise spt begonnen, umfangreichere literarische Texte zu verffentlichen; entsprechend scheint sein Werk eher berschaubar zu sein. 1988 erschien Nach der Natur. Ein Elementargedicht2, 1990 Schwindel. Gefhle3, 1992 Die Ausgewanderten4, 1995 Die Ringe des Saturn5 und schlielich als letzter grerer Text zu Lebzeiten 2001 Austerlitz6. Dem steht eine anhaltende literaturwissenschaftliche Publikationsttigkeit gegenber, die ihren Niederschlag neben einer Reihe von Artikeln in einschlgigen Fachjournalen seit 19727 auch in mehreren Sammelbnden gefunden hat: 1985 erschien Die Beschreibung des Unglcks8, 1991 Unheimliche Heimat9, 1998 Logis in einem Landhaus10, 1999 Luftkrieg und Literatur11 und schlielich 2003 posthum unter dem Titel Campo Santo12 eine Zusammenstellung von weiteren literaturwissenschaftlichen Essays mit einigen nachgelassenen Fragmenten literarischer Texte aus dem Umfeld eines geplanten, aber nicht realisierten Projektes zum Thema Korsika. Umfangreichere Fragmente zum gleichen Thema sind im Katalog zur Ausstellung in Marbach 2008/09 mit dem Titel Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt13 publiziert.

    Zwar fand Sebalds literarisches Schreiben schon frh Anerkennung; bereits Nach der Natur. Ein Elementargedicht wurde 1991 mit dem Fedor-Malchow-Lyrikpreis ausgezeichnet14, und seine Prosatexte wurden durch die Erstverffentlichung in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Andere[n] Bibliothek bzw. im Fall von Austerlitz

    1 W. G. Sebald: ber das Land und das Wasser Mnchen, Hanser 2008, knftig zitiert als LW

    2 W. G. Sebald: Nach der Natur. Ein Elementargedicht Nrdlingen, Greno 1988, knftig zitiert als NN

    nach der Ausgabe Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2004 3 W. G. Sebald: Schwindel. Gefhle Frankfurt am Main, Eichborn 1990, knftig zitiert als SG nach der Ausgabe

    Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2005 4 W. G. Sebald: Die Ausgewanderten Frankfurt am Main, Eichborn 1992, knftig zitiert als A nach der Ausgabe

    Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2003 5 W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn Frankfurt am Main, Eichborn 1995, knftig zitiert als RS nach der

    Ausgabe Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2004 6 W. G. Sebald: Austerlitz Mnchen, Hanser 2001, knftig zitiert als AU nach der Ausgabe Frankfurt am Main,

    Fischer Taschenbuch Verlag 2003 7 Cf. Marcel Atze: Personalbibliographie W. G. Sebald In Marcel Atze, Franz Loquai (Hrsg.): Sebald. Lektren

    Eggingen, Edition Isele 2005, knftig zitiert als Atze / Loquai 2005, hier S. 260-293, bes. S. 267 ff 8 W. G. Sebald: Die Beschreibung des Unglcks. Zur sterreichischen Literatur von Stifter bis Handke Salzburg,

    Residenz-Verlag 1985, knftig zitiert als BU nach der Ausgabe Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2003 9 W. G. Sebald: Unheimliche Heimat. Essays zur sterreichischen Literatur Salzburg, Residenz-Verlag 1991,

    knftig zitiert als UH nach der Ausgabe Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2004 10

    W. G. Sebald: Logis in einem Landhaus Mnchen, Hanser 1998, knftig zitiert als LO nach der Ausgabe Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2003 11

    W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur Mnchen, Hanser 1999, knftig zitiert als LL nach der Ausgabe Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2002 12

    W. G. Sebald: Campo Santo Mnchen, Hanser 2003, knftig zitiert als CS nach der Ausgabe Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2006 13

    W. G. Sebald: Aufzeichnungen aus Korsika. Zur Natur- und Menschenkunde von W. G. Sebald. Aus dem Nachlass herausgegeben von Ulrich von Blow In Ulrich von Blow, Heike Gfrereis und Ellen Strittmatter (Hrsg.): Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt Marbach am Neckar, Deutsche Schillergesellschaft 2008, knftig zitiert als Wandernde Schatten, hier S. 129-209 14

    Cf. Klaus Briegleb: Preisrede auf W. G. Sebald In Jrgen Abel, Robert Galitz und Wolfgang Schmel (Hrsg.): Hamburger Ziegel. Jahrbuch fr Literatur I Hamburg, Dlling und Galitz 1992 S. 474-483, knftig zitiert als Briegleb 1992

  • 11

    beim renommierten Hanser-Verlag einer breiteren ffentlichkeit bekannt. Fr die umfangreiche nationale und internationale Wirkung sind jedoch abgesehen davon zwei spezielle Ereignisse von besonderer Bedeutung, nmlich zum einen das Erscheinen von Die Ausgewanderten in der bersetzung ins Englische durch Michael Hulse 199615 und zum anderen die Diskussion ber die in Luftkrieg und Literatur zusammengefaten, bereits im Herbst 1997 gehaltenen Poetikvorlesungen16. Fr die internationale Rezeption war zweifellos das erstere Ereignis entscheidend: Seit dem Erscheinen der englischsprachigen bersetzung von Die Ausgewanderten als The Emigrants im Jahr 1996 hat wohl kein zweiter Autor der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur die Kritiker und eine breite Leserschaft in den USA und in Grobritannien so nachhaltig fasziniert wie W. G. Sebald17. In der angelschsischen Kritik wurde Sebald schon frh als Exilautor gewrdigt, wurde gewissermaen in die Gruppe der in seinem Buch dargestellten Ausgewanderten ein- und damit einem politisch unverdchtigen Personenkreis zugeordnet18. Neben der wiederholt hervorgehobenen Qualitt der bersetzungen19 spielt tatschlich ganz offenkundig die Thematik seiner Texte eine entscheidende Rolle: Sebald wurde und wird in vieler Hinsicht als Holocaust-Autor rezipiert20. Dies ist ausfhrlich diskutiert und kritisiert worden, da einerseits der geschichtliche Rahmen seiner Texte weit ber die Jahre des Nationalsozialismus hinausgeht, und da sich andererseits Sebald im Gegensatz zu Autoren wie etwa Primo Levi dem Thema Holocaust stets gewissermaen von der Peripherie her nhert21. Die Wahrnehmung, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg stellten Sebalds Hauptthemen dar, wurde nun allerdings durch die dem zweiten Ereignis, der Publikation von Luftkrieg und Literatur, folgende Debatte betont. Die referentielle Festlegung seines literarischen Werkes auf diese geschichtliche Phase bestimmt bis heute die ffentliche Diskussion etwa in Grobritannien22. Auch wenn man die mit der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts verbundenen Ereignisse lediglich als - wenn auch extreme - Beispiele einer ganz allgemein traumatischen Geschichte begreift, bleibt nicht nur in der Wahrnehmung durch die Kritik die Verbindung von Sebalds

    15 W. G. Sebald: The Emigrants London, Harvill 1996, knftig zitiert als E

    16 Cf. z.B. die zuvor bereits in verschiedenen Periodika erschienenen Beitrge von Andreas Isenschmidt, Volker

    Hage, Frank Schirrmacher, Klaus Harpprecht, Jost Nolte, Joachim Gntner, Ulrich Baron, Maxim Biller und Gustav Seibt In Volker Hage, Rainer Moritz, Hubert Winkel (Hrsg.): Deutsche Literatur 1998. Jahresberblick Stuttgart, Reclam 1999, knftig zitiert als Hage 1999, hier S. 249-290; Volker Hage (Hrsg.): Zeugen der Zerstrung. Die Literaten und der Luftkrieg Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2003, knftig zitiert als Hage 2003; Lothar Kettenacker (Hrsg.): Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-1945 Berlin, Rowohlt 2003, knftig zitiert als Kettenacker 2003. Nach Sebalds Luftkrieg und Literatur wurde die Diskussion ber das moral bombing besonders durch Jrg Friedrichs umfangreiche Buchpublikation mit dem Titel Der Brand Mnchen, Propylen 2002, knftig zitiert als Friedrich 2002, erneut belebt. 17

    Anne Fuchs: Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W. G. Sebalds Prosa Kln, Bhlau 2004, knftig zitiert als Fuchs 2004, hier S. 9 18

    Ebd. S. 10 f, bes. Anm. 5; Susanne Finke: W. G. Sebald: Der fnfte Ausgewanderte In Franz Loquai (Hrsg): W. G. Sebald Eggingen, Edition Isele 1997, knftig zitiert als Loquai 1997, S. 205-217. Zweifellos war diese vorausgegangene politische Einordnung die unverzichtbare Grundlage dafr, da die Darstellung der Leiden der deutschen Bevlkerung durch den Bombenkrieg in Luftkrieg und Literatur eben nicht von vornherein als nationalistisch und revanchistisch wahrgenommen wurde und so berhaupt Gegenstand der Diskussion sein konnte. 19

    Fuchs 2004 S. 10 20

    Ebd., bes. Anm. 3 21

    Cf. z.B. Mark M. Anderson: The Edge of Darkness: On W. G. Sebald In The New England Quarterly S. 102-121 (2003), knftig zitiert als Anderson 2003, hier bes. S. 104 f, cf. auch (28.01.2011): pwiener.googlepages.com/EdgeofDarkness.pdf 22

    Gina Thomas: Der gute Deutsche. W. G. Sebalds Nachruhm In Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Januar 2010, geschrieben anllich des dem Gedenken an Sebald gewidmeten Vortrags von Will Self im Konzertsaal des neuen Londoner Kulturzentrums King's Place, auch (28.01.2011): http://www.faz.net/s/Rub1DA1FB848C1E44858CB87A0FE6AD1B68/Doc~EAC6A63214AB0457BB30F4E16263E76AD~ATpl~Ecommon~Scontent.html

  • 12

    Werk mit Geschichte, mithin faktualem23 Geschehen erhalten. Entsprechend ist die Funktion im Rahmen von Gedchtnis, Erinnerung und Postmemory an verschiedenen Stellen ausfhrlich untersucht worden24. Diese Einschtzung ist zweifellos berechtigt; Sebald selbst betont die Bedeutung des Schreibens zum Zweck der Dokumentation:

    Im Dokumentarischen, das in Nossacks Der Untergang einen frhen Vorlufer hat, kommt die deutsche Nachkriegsliteratur eigentlich erst zu sich und beginnt mit ihren ernsthaften Studien zu einem der tradierten sthetik inkommensurablen Material. [] Der Aufklrungswert solcher authentischen Fundstcke, vor denen jede Fiktion verblat, bestimmt auch die archologische Aufklrungsarbeit Alexander Kluges auf den Abraumhalden unserer kollektiven Existenz25.

    Eine in diesem Zusammenhang hufig zitierte Passage aus einem Interview mit Sigrid Lffler lautet: Ich habe einen Horror vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung. Mein Medium ist die Prosa, nicht der Roman26. Die genauere Bedeutung dieser Passage erschliet sich allerdings erst aus dem Kontext, nmlich der vorausgegangenen Antwort Sebalds auf Lfflers Frage: Warum halten Sie berhaupt noch an der Fiktion fest? Warum schreiben Sie Erzhlungen und nicht gleich historische Monographien?; Sebald antwortet:

    Historische Monographien landen in der Fachbibliothek - mit einer Auflage von 1200 Stck. Auerdem: Was die historische Monographie nicht leisten kann, ist, eine Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufes zu produzieren. Aber erst in der Metaphorisierung wird uns Geschichte empathetisch zugnglich27.

    Damit wird auch die Bedeutung einer Passage aus der Rede zur Einweihung des Stuttgarter Literaturhauses 2001 klarer, die, wie sich zeigen wird, im Zentrum von Sebalds Poetik steht: Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, ber die Registrierung der Tatsachen und ber die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution28. Es handelt sich also bei Sebalds literarischen Texten nach seiner eigenen Aussage um Dokumentation und Fiktion zugleich; verbunden werden diese beiden scheinbar kontrren Genera in seinen Schpfungen durch Metapher oder Allegorie. Der Mehrwert gegenber der reinen Dokumentation wird durch letztere erzeugt und besteht in der empathetisch[en] Zugnglich[keit] des dargestellten Geschehens. Gegenber Sigrid Lfflers Frage hlt Sebald also dezidiert an der Fiktion fest. Seine Prosatexte tragen mit Ausnahme von Die Ausgewanderten. Vier lange Erzhlungen29 keine Gattungsbezeichnungen; ihr Charakter als der fiktionaler Werke ist gleichwohl klar und unumstritten.

    Die vorliegende Untersuchung betont den Aspekt der Fiktionalitt und befat sich besonders mit dem bislang weniger untersuchten Aspekt der Diegese im Werk Sebalds. Der Terminus Diegese wird dabei im Sinne von Gerard Genette gebraucht: Die Diegese ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt, in etwa so, wie man

    23 Die mit dem Fiktionalittsdiskurs verbundenen Begrifflichkeiten werden weiter unten im Abschnitt B. II.

    genauer betrachtet. 24

    Z.B. Fuchs 2004; Susanne Schedel: Wer wei, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist? Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W. G. Sebald Wrzburg, Knigshausen und Neumann 2004, knftig zitiert als Schedel 2004; Anne Fuchs & J.J. Long (eds.): W. G. Sebald and the Writing of History Wrzburg, Knigshausen und Neumann 2007, knftig zitiert als Anne Fuchs & J.J. Long 2007; Scott Denham, Mark McCulloh (eds.): W. G. Sebald. History-Memory-Trauma Berlin-New York De Gruyter 2006, knftig zitiert als Denham 2006 25

    LL S. 65 ff 26

    Sigrid Lffler: Wildes Denken. Gesprch mit W. G. Sebald In Loquai 1997 S. 131-133, hier S. 133 27

    Ebd. 28

    W. G. Sebald: Ein Versuch der Restitution In CS S. 248 29

    A S. 3

  • 13

    sagt, da Stendhal nicht im selben Universum lebt wie Fabrice30. Damit wird davon ausgegangen, da jeder fiktionale Text seine eigene erzhlte Welt, seine Diegese, erzeugt. Hans Blumenberg befat sich in seinem 1964 zuerst publizierten Aufsatz Wirklichkeitsbegriff und Mglichkeit des Romans31 ausfhrlich mit den Bedingungen der Konstitiuerung solcher zweite[n] Welten32 im Kunstwerk.

    Sein Ausgangspunkt ist dabei die Betrachtung verschiedener, in eine historische Sequenz gestellter Wirklichkeitsbegriffe. Grundlage etwa der platonischen Philosophie als eines ber die Antike hinaus wirkungsmchtigen Paradigmas sei der Wirklichkeitsbegriff der momentanen Evidenz33:

    Der antike Wirklichkeitsbegriff, wie er Platos Ideenlehre die Mglichkeit bietet, ohne mit ihr identisch zu sein, setzt voraus, da das Wirkliche sich als solches von sich selbst her prsentiert und im Augenblick der Prsenz in seiner berzeugungskraft unwidersprechlich da ist34.

    Grundlage dieses Wirklichkeitsbegriffes sei, da zwischen dem Gegenstand und dem ihn erfassenden Erkenntnisakt [] ein kausaler Zusammenhang eindeutig abbildender Reprsentation35 besteht. Diesem antiken, auf der Wesensform der Dinge selbst36 basierenden Wirklichkeitsbegriff gegenber stehe fr das Mittelalter und die frhe Neuzeit der der garantierten Realitt, bei dem in das Verhltnis von Subjekt und Objekt noch eine vermittelnde Instanz eingebaut ist []37, nmlich Gott als der verantwortliche Brge fr die Zuverlssigkeit der menschlichen Erkenntnis []38. Als dritten und hier entscheidenden Wirklichkeitsbegriff definiert Blumenberg nun den der Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes*39 und setzt ihn von den bereits genannten Modellen deutlich ab, was der Bedeutung der Passage halber umfnglicher zitiert sei:

    Dieser Wirklichkeitsbegriff unterscheidet sich von den vorhergehenden durch seinen Zeitbezug: Wirklichkeit als Evidenz weist sich je im gegenwrtigen Augenblick und seiner Gegebenheit aus, garantierte Wirklichkeit durch den Rckbezug auf die in der Einheit der Erschaffung der Welt und der Vernunft verbrgte Vermittlung, also auf einen immer schon vergangenen Grund dessen, was die Scholastik veritas ontologica genannt hatte; dieser dritte Wirklichkeitsbegriff nimmt Realitt als Resultat einer Realisierung, als sukzessiv sich konstituierende Verllichkeit, als niemals endgltig und absolut zugestandene Konsistenz, die immer noch auf jede Zukunft angewiesen ist, in der Elememte auftreten knnen, die die bisherige Konsistenz zersprengen und das bis dahin als wirklich Anerkannte in die Irrealitt verweisen knnten. [] Die Verbindung des

    30 Gerard Genette: Die Erzhlung Mnchen, Wilhelm Fink 1998, knftig zitiert als Genette 1998, hier S. 201;

    der Begriff wurde ursprnglich um 1950 von Anne Souriau am Institute de Filmologie del Universit de Paris in Anlehnung an und zugleich in deutlicher Distanz zu Platons geprgt; Platon: Der Staat 392 d In Ders.: Werke in acht Bnden hrsg. v. Gunther Eigler, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990, knftig zitiert als Platon 1990, hier Bd. 4 S. 200. Cf. den Artikel Digse In tienne Souriau: Vocabulaire desthtique Publi sous la direction de Anne Souriau Paris, Presses Universitaires de France 1990 S. 611-614, hier S. 612: La digse est lunivers de louevre, le monde pos par une ouevre dart. 31

    Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Mglichkeit des Romans In Hans Robert Jau (Hrsg.): Nachahmung und Illusion (Poetik und Hermeneutik 1) Mnchen, Fink 1964 S. 9-27, wiederabgedruckt in Hans Blumenberg: sthetische und metaphorologische Schriften Frankfurt am Main, Suhrkamp 2001 S. 47-73, hiernach in der Folge zitiert als Blumenberg 1964 32

    Blumenberg 1964 S. 64 33

    Ebd. S. 50 34

    Ebd. S. 49 35

    Ebd. S. 62; Hervorhebung im Original 36

    Ebd. 37

    Ebd. S. 51 38

    Ebd.; dieser Wirklichkeitsbegriff sei, wie ausgefhrt wird, noch bei Descartes wirksam, wie besonders aus seinem Zweifelsversuch hervorgehe. Cf. auch S. 61: Eine sthetik des Cartesianismus htte nichts anderes sein knnen als allenfalls eine Theorie der mittelalterlichen Kunst 39

    Ebd. S 51; die mit * bezeichnete Anmerkung stellt diesen Wirklichkeitsbegriff neben den der Phnomenologie Edmund Husserls und bestimmt den historischen Ort fr seine Genese bei Gottfried Wilhelm Leibniz zwischen 1692 und 1714

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    Possesivpronomens mit dem Ausdruck Wirklichkeit ist fr diesen Begriff charakteristisch. [] Es ist unschwer zu sehen, da dieser Wirklichkeitsbegriff eine gleichsam epische Struktur hat, da er notwendigerweise auf das nie vollendbare und nie in allen seinen Aspekten erschpfte Ganze einer Welt bezogen ist, deren partielle Erfahrbarkeit niemals andere Erfahrungskontexte und damit andere Welten auszuschlieen erlaubt*40.

    Es handelt sich demnach um Wirklichkeit, die sich im Kontext und damit in einem Text realisiert. Auch der Hinweis auf die gleichsam epische Struktur der so generierten Wirklichkeit verweist ebenso wie deren Unabschliebarkeit auf die Wirksamkeit narrativer Strukturen bei der Generierung der jeweiligen Realitt: Die sich unter diesem Begriff konstituierende Wirklichkeit ist gegenber je nachfolgenden Ereignissen sensitiv41. Mit der Verbindung des Possesivpronomens mit dem Ausdruck Wirklichkeit wird nicht die eine, ausschlieliche Wirklichkeit betrachtet, sondern eine Vielzahl sich gegenseitig eben nicht ausschlieender Wirklichkeiten, von denen eine jede auf das nie in allen seinen Aspekten erschpfte Ganze einer Welt bezogen ist. Es wird also mit jeder der in einem (Kon-) Text sich genenrierenden Wirklichkeiten eine Welt erzeugt.

    Vor der genaueren Betrachtung der Konsequenzen dieses Modells fr die Kunst sei noch der vierte der von Blumenberg genannten Wirklichkeitsbegriffe erwhnt. Er orientiert sich an der Erfahrung von Widerstand. [] Wirklichkeit ist hier das ganz und gar Unverfgbare, was sich nicht als bloes Material der Manipulation und damit der stndig umsteuerbaren Erscheinung unterwerfen lt []42. Mit der genau darauf abzielenden Formulierung Lessings, da wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung eines greren Grads unserer Realtitt bewut sind, werde das Wirklichkeitsbewutsein vom Denken getrennt und in die Sphre der unverfgbaren Erfahrungen des Subjekts mit sich selbst verlegt43. Es sei damit zu rechnen, so Blumenberg zum Beschlu dieses Abschnitts, da in der Neuzeit nicht mehr nur ein einziger, sondern mehrere unterschiedliche Wirklichkeitsbegriffe zugleich wirksam sein knnten:

    Jedenfalls mssen wir mit der Mglichkeit rechnen, da die Neuzeit nicht mehr die Epoche eines homogenen Wirklichkeitsbegriffes ist, oder da die Herrschaft eines bestimmten ausgeprgten Realittsbewutseins sich gerade in der Auseinandersetzung mit einer anderen schon formierten oder sich formierenden Mglichkeit, von Wirklichkeit betroffen zu werden, vollzieht44.

    Dem Hinweis auf das Bestehen eines Begrndungsverhltnisses zwischen den derart umrissenen Wirklichkeitsbegriffen in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und den Verstndnisweisen fr das Kunstwerk45 folgt nun eine historische Betrachtung, die im Hinblick auf Antike und Mittelalter hier bergangen werden kann. Die entscheidende Wendung sei in der frhen Neuzeit mit der Abwendung sowohl vom mimetischen als auch vom Prinzip der garantierten symbolischen Reprsentanz eingetreten: Die Vergleichbarkeit des menschlichen Werkes mit dem gttlichen Schpfungswerk war die heimliche oder ausdrckliche Orientierung eines neu sich bildenden Begriffes vom Knstler []46. Dies wird nun explizit auf den Roman bezogen:

    40 Ebd.S. 51 f; Hervorhebungen im Original. Die mit * verankerte Anmerkung stellt fest, da mit diesem

    Wirklichkeitsbegriff allererst der mundus novus ermglicht werde und da nach Julius Caesar Scaliger erst mit ihm - als Grundlage der Kunst - der Unendlichkeit des menschlichen Verstandes gegenber der (von ihm unterstellten) Endlichkeit der Welt Genge getan werde: [] Naturam enim in eo superat ars. 41

    K. Stierle: Narrativ, Narrativitt In Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wrterbuch der Philosophie Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971 ff, knftig zitiert als HWPh, hier Bd. 6 Sp. 398-401; Peter Schmucker: Wir mssen uns erzhlen. Substanz, Kausalitt, narrativer Text In Anaesthesist 55 S. 1217-1224 (2006), knftig zitiert als Schmucker 2006 42

    Blumenberg 1964 S. 53 f; Hervorhebung im Original 43

    Ebd. S. 54 44

    Ebd. 45

    Ebd. 46

    Ebd. S. 60

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    Die Frage nach der Mglichkeit des Romans als eine ontologische, d. h. als eine die Fundierung im Wirklichkeitsbegriff aufsuchende, zu stellen, bedeutet also, nach der Herkunft eines neuen Anspruches der Kunst zu fragen, ihres Anspruchs, nicht mehr nur Gegenstnde der Welt, nicht einmal mehr nur die Welt nachbildend darzustellen, sondern eine Welt zu realisieren. Eine Welt - nichts Geringeres ist Thema und Anspruch des Romans47.

    Was oben anllich der Betrachtung des Wirklichkeitsbegriffes der Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes allgemein aus der zitierten Passage erschlossen wurde, wird hier von Blumenberg selbst explizit auf den Roman angewendet. Es folgen einige Ergnzungen, die hier von Interesse sind. Zum einen erhlt der Roman speziell, darber hinaus aber das Artefakt ganz allgemein durch den angesprochenen ontologischen Bezug, durch die Fundierung im Wirklichkeitsbegriff seine eigene Wahrheit, seine besondere, der vorfindlichen Welt nicht nachstehende Dignitt: Die nie zuvor gekannte metaphysische Dignitt des Kunstwerkes hat in dieser, Einschrnkung und Intensivierung zugleich bedeutenden, Wandlung und Spaltung des Wahrheitsbegriffes ihr Fundament48. Artefakte konkurrieren konsequenterweise als zweite Welten49 mit der Natur und mit dem Wirklichkeitscharakter der gegebenen Welt50; besonders die mit dem Roman errichtete Welt trgt das Merkmal der potentielle[n] Unendlichkeit51. Mit dem Abwerfen der Bindung an die Wirklichkeit [] als ein[en] Formzwang schlielich wird das Paradox mglich, die Umkehrung der natrlichen Entropie, in der Zivilisationsschrott zur Konstitution von Bildern, Zeitungsausschnitte zur Komposition von Romanen zusammengezwungen werden knnen []52. Hier ist ganz offensichtlich von Techniken der klassischen Moderne bzw. der zeitgenssischen Kunst wie Collage, Montage und Assemblage die Rede. Bezieht man die Passage auf die reine Arbeit mit Texten, so kann sie mhelos, gewissermaen avant la lettre, auf die Intertextualitt bezogen werden.

    Als wesentliche Konklusion der Betrachtung des Aufsatzes von Blumenberg und mit diesem kann nun die fr die vorliegende Untersuchung grundlegende These aufgestellt werden, da mit jedem Roman eine Welt als der dessen Handlung umfassende Schauplatz in Analogie zur vorfindlichen Welt generiert wird. Sie soll in der Folge erzhlte Welt, erzhltes Universum oder mit Souriau bzw. Genette Diegese heien. Der primre Bezug auf den Roman ist offenbar durch den besonderen Umfang dieser Gattung als Garant fr die potentielle Unendlichkeit seiner Diegese bedingt. Ein weiteres Merkmal ist das seiner Konkurrenz mit dem Wirklichkeitscharakter der gegebenen Welt, also die Fiktionalitt. Wenn Fiktionalitt und angemessener Umfang als zureichende Kriterien fr die Etablierung einer eigenen Diegese durch Texte akzeptiert werden, dann kann dies auch fr Sebalds literarische Texte ungeachtet des Fehlens der Gattungsbezeichnung Roman[e] unterstellt werden.

    Hans Blumenberg spricht vom Anspruch der Kunst, eine Welt zu realisieren; aus dem auf den Roman bezogenen Kontext ergibt sich, da hier implizit von einem Mengenverhltnis eine Welt pro Roman die Rede ist. Im Hinblick auf Sebald sollen hier fnf grere Texte sowie eine ganze Reihe von krzeren Prosafragmenten und Gedichten untersucht werden. Diese Texte weisen betrchtliche stilistische und inhaltliche Parallelen auf. Der ersten These zufolge wird zumindest durch jeden umfnglicheren Text eine Diegese erzeugt. Als zweite Grundvoraussetzung der folgenden Untersuchung wird nun die These aufgestellt, da die erzhlten Welten der einzelnen Texte Sebalds so groe hnlichkeiten

    47 Ebd. S. 61; Hervorhebungen im Original

    48 Ebd. S. 64

    49 Ebd.

    50 Ebd. S. 65

    51 Ebd.

    52 Ebd. S. 71

  • 16

    aufweisen, da sie als eine einzige betrachtet werden knnen53. Genau diese von Sebald in seinen literarischen Texten etablierte Diegese ist ein Gegenstand der vorliegenden Untersuchung.

    Nun ist nach Blumenberg die Grundlage der durch einen Text generierten Welt, mithin einer Diegese, die Wirklichkeit der Realisierung eines in sich einstimmigen Kontextes. Der Begriff Kontext impliziert einen Zusammenhang und damit eine Gruppe von mehreren Objekten mit Relationen untereinander, das Attribut einstimmig[] eine gewisse Konstanz der Objekte und vor allem Reproduzierbarkeit der Relationen; beide Aspekte sind in ihrer Realisierung gleichwohl explizit gegenber einem temporalen Wechsel offen, der die bisherige Konsistenz zersprengen [] knnte[]. Als Konsistenz wird in der Logik die Widerspruchsfreiheit eines axiomatischen Systems bezeichnet54. Konsistenztheorie ist zudem ein Synonym fr die Kohrenztheorie der Wahrheit55. Die Wirklichkeit der durch einen fiktionalen Text generierten Diegese mu nach Blumenberg also grundstzlich als widerspruchsfrei und somit von Gesetzen gelenkt gedacht werden. Da der zugrundeliegende Wirklichkeitsbegriff zukunftsorientiert ist und zeitliche Ablufe dezidiert einschliet, mssen zu diesen Gesetzen auch Grundvorstellungen ber Geschichte zhlen. Eine wesentliche Rolle kommt dabei der Frage zu, welche Prinzipien die Geschichte gestalten, auf welche Weise Ereignisse zustandekomen.

    Wenn es denn zutrifft, da die Herrschaft eines bestimmten ausgeprgten Realittsbewutseins sich gerade in der Auseinandersetzung mit einer anderen schon formierten oder sich formierenden Mglichkeit, von Wirklichkeit betroffen zu werden, vollzieht56, so knnen auch in der Realitt einer durch einen fiktionalen Text erzeugten Diegese Wirklichkeitsbegriffe vergangener Epochen in den Blick geraten. Es ist zu erwarten, da eine Diegese die faktuale Welt ber weite Strecken mimetisch abbildet, und es wird sich zugleich die Frage der Genese der inneren Ordnung der Elemente der Dinge57 oder wenigstens nach der schieren Existenz einer solchen Ordnung in ihr stellen, die Frage einer in der Diegese wirksamen und das Geschehen steuernde Providenz oder im Gegensatz dazu der Kontingenz also. In unmittelbarem Zusammenhang damit steht die Frage nach der Agentenschaft des Handelns von Menschen in der faktualen und analog dazu von Figuren in einer fiktionalen Welt im Sinne von autonomer Handlungsfhigkeit vs. passivem Ausgeliefertsein; beide Aspekte zusammen ergnzen sich zu einem Modell von Geschichte.

    53 Dies ist keineswegs selbstverstndlich und wird gegebenenfalls im Einzelfall zu prfen sein. Eine ebenso

    triviale wie bedenkliche Materie sind in diesem Zusammenhang die Vornamen der Ehefrauen bzw. Partnerinnen des Autors und seiner Erzhler: Die des Erzhlers von Schwindel. Gefhle heit Olga (SG S. 52), die der Erzhler von Die Ausgewanderten und Die Ringe des Saturn heit (heien?) Clara (A S. 7, RS S. 349) und die des Autors Ute (Ruth Vogel-Klein: Franzsische Intertexte in Austerlitz In Irene Heidelberger-Leonard, Mireille Tabah (Hrsg.): W. G. Sebald. Intertextualitt und Topographie Berlin, LIT Verlag 2008, knftig zitiert als Heidelberger-Leonhard / Tabah 2008, hier S. 73-92, genau S. 91 (Danksagung)). Die Differenz zwischen Autor und Erzhlerfiguren bedarf trotz ihrer bei Sebald oft tuschenden hnlichkeiten keines Kommentares; wie aber verhlt es sich mit den Erzhlern? Handelt es sich um stets denselben, der dann zwischen den in Schwindel. Gefhle und den in Die Ausgewanderten berichteten Ereignissen die Partnerin ausgetauscht htte, handelt es sich um zwei verschiedene mit entsprechend zwei verschiedenen Partnerinnen, oder handelt es sich gar um drei verschiedene Erzhler, und wenn dies zutrifft, ist Clara eine einzige Person, die zwischen Die Ausgewanderten und Die Ringe des Saturn ihrerseits den Ehemann / Partner gewechselt hat, oder gibt es zwei verschiedene Personen namens Clara? Wenigstens der Erzhler in Austerlitz nennt keine Namen, was freilich wiederum verschiedene Grnde haben mag. 54

    Hans Freudenthal: Methode, axiomatische In HWPh Bd. 5 Sp. 1337 55

    Michael Albrecht: Artikel Wahrheit / Frhe Neuzeit und Aufklrung HWPh Bd. 12 Sp. 84; Wolfgang Deppert: Theorie der Wissenschaft 1. Die Systematik der Wissenschaften. Vorlesung an der Christian-Albrechts-Universitt zu Kiel fr Hrer aller Fakultten Wintersemester 2008/2009 S. 93 ff, auch (18.2.2011): http://sokrates.org/wp-content/uploads/Theorie-der-Wissenschaft-Teil-11.pdf 56

    Blumenberg 1964 S. 54 57

    Ebd. S. 62

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    Der Begriff der [human or personal] agency58 verlagert die alte Debatte ber Willensfreiheit oder Determinismus durch vorbergehendes Ausklammern der Frage nach der Kausalitt des Zustandekommens von Entschlssen auf eine empirischen Untersuchungen zugngliche Ebene und spielt deshalb derzeit im Rahmen der bildgebenden Neuropsychologie eine gewisse Rolle59.

    Auf der Ebene der faktualen Welt fallen die Diskussionen um Providenz vs. Kontingenz und um Willensfreiheit vs. Determinismus unzweifelhaft in den klassischen Bereich der Metaphysik60. Nun wird das Handeln von Figuren einer Diegese vom Autor des Textes als ihrem Schpfer bestimmt, womit die Frage ihrer Agentenschaft auf dieser Ebene zugunsten eines passiven Ausgeliefertseins zu entscheiden wre. Auf einer gewissermaen eine Stufe weiter innerhalb der Diegese gelegenen Ebene jedoch kann ungeachtet der Schpfung des Textes durch den Autor eine Providenz wirksam sein, und die Figuren knnen die starke Intuition ihrer Autonomie oder auch des Gegenteils davon empfinden und uern. Ebenso wie es fr die faktuale Welt teils vermutet, teils verworfen, jedenfalls aber anhaltend diskutiert wird, knnen somit auch in erzhlten Welten metaphysische Gesetzmigkeiten wirksam sein. Die vorliegende Untersuchung unterstellt nun an dieser Stelle als weitere Ausgangsthese, da dies auch fr das von Sebald erzhlte Universum zutrifft, und befat sich genauer mit der in ihm wirksamen Metaphysik.

    Ungeachtet des fiktionalen Charakters der hier betrachteten Texte stehen diese, wie bereits angefhrt, in einem starken Bezug zur Geschichte allgemein und speziell zu der des 20. Jahrhunderts. Die Darstellung von Geschichte und Geschichtsphilosophie in Sebalds gesamtem Werk zeigt dabei charakteristische Zge: Im Zentrum steht nicht eine traditionelle Form der Geschichtsschreibung etwa im Sinn des Historismus. Vielmehr werden auf einer wie bereits angesprochen dokumentarischen Basis einzelne Geschehnisse stets besonders im Hinblick auf ihre Konsequenzen fr die Beteiligten betrachtet. Ein wesentliches Thema im Werk Sebalds sind deshalb die Opfer der Geschichte. In welcher Weise und zu welchem Zweck werden die geschichtlichen Dokumente speziell ber sie in fiktionale Texte umgearbeitet, metaphorisier[t] und empathetisch zugnglich61 gemacht? In welcher Weise ist Sebalds Diegese in die faktuale Welt eingebettet? Gibt es in Sebalds erzhlter Welt einen Ort fr die Opfer der Geschichte, und wenn ja, welchen? Damit stellt sich als weitere Frage die nach der intendierten Funktion von Sebalds literarischem Werk in diesem Kontext, mit anderen Worten die Frage nach seiner Poetik.

    Hans Blumenberg weist in dem besprochenen Aufsatz auf die Bedeutung der Intertextualitt fr das zeitgenssische Kunstwerk hin. Tatschlich stellt der durchgehende Gebrauch der Intertextualitt ein charakteristisches Merkmal von Sebalds literarischem Werk

    58 Cf. z.B. HWPh Bd. 9 Sp. 310

    59 Cf. z.B. Kai Vogeley, Gereon R. Fink: Perspektivwechsel und soziale Kognition In Frank Schneider, Gereon

    R. Fink (Hrsg.): Funktionelle MRT in Psychiatrie und Neurologie Berlin, Springer 2006 S. 351-360, hier S. 357 60

    Dieser Begriff wird im Abschnitt B einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Zur aktuelleren, von neuropsychologischen Ambitionen geprgten Diskussion um die Willensfreiheit als einer Frage der Metaphysik cf. Jrgen Habermas: Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit: Wie lt sich der epistemische Dualismus mit einem ontologischen Monismus vershnen? Deutsche Zeitschrift fr Philosophie 54 S. 669-707, hier S. 669. Das Problem lenkt [] den Blick geradewegs auf die Struktur des Seienden im Ganzen und zieht nun auch Naturwissenschaft in den Sog der philosophischne Spekulation. Diese metaphysische Versuchung erklrt sich aus drei starken Intuitionen, die miteinander im Wettstreit liegen. Als handelnde Personen sind wir erstens von der Eigenstndigkeit und kausalen Wirksamkeit des Geistes berzeugt. Wir haben die Gewiheit, da wir aus freien Stcken handeln und etwas in der Welt bewirken knnen. Als erkennende Subjekte gehen wir zweitens von der epistemischen Autoritt der Naturwissenschaften aus, die allen, aber auch nur den in der Welt gesetzmig variierenden Zustnden und Ereignissen kausale Wirksamkeit zuschreiben. Als wissenschaftlich aufgeklrte Personen, die auf ihre eigene Stellung in der natrlichen Welt reflektieren, sind wir schlielich von der Einheit eines Universums berzeugt, das uns als Naturwesen einschliet; Hervorhebungen im Original. 61

    Sigrid Lffler: Wildes Denken. Gesprch mit W. G. Sebald In Loquai 1997 S. 131-133, hier S. 133

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    und von daher auch seiner Poetik dar. Es lassen sich mehrere Funktionsebenen dieses Gebrauches von Intertextualitt identifizieren. Diese Ebenen betreffen die Konsistenz der Texte und der erzhlten Welt, die Darstellung von Geschichte und Geschichtsphilosophie, die Funktion der Intertextualitt im Sinne eines speziellen Modells von Gedchtnis und schlielich die Steuerung des Rezeptionsprozesses.

    Sind zum ersten die verwendeten Prtexte Bausteine von Sebalds Texten, so sind analog die mit ihnen verbundenen Ausschnitte aus den erzhlten Welten der Prtexte Bausteine von Sebalds eigener Diegese. Deren Konsistenz ist damit nicht nur durch einen eigenstndigen literarischen Schpfungsproze bedingt, vielmehr wird sie gewissermaen auf einer zweiten Ebene durch die bereits konsistenten Prtexte miterzeugt; man knnte von einer Meta-Konsistenz mit den Prtextfragmenten quasi als verstrkenden Sttzpfeilern sprechen.

    Nun gilt zum zweiten das, was als Konsequenz von Blumenbergs Aufsatz entwickelt und fr Sebalds literarisches Werk zugrundegelegt wurde, auch fr die Prtexte: Alle beschreiben Geschehnisse und beziehen sich damit auf je eigene Weise auf Geschichte, und in allen mssen darber hinaus Modelle von Geschichte wirksam sein, die entweder explizit zur Sprache kommen oder ihnen unterstellt und durch geeignete Analysen namhaft gemacht werden knnen. Die intertextuellen Bezge verweisen also dezidiert auf geschichtsphilosophische Entwrfe, die damit einen untilgbaren Subtext von Sebalds Werken bilden. Sie kommen zum Teil in einer Weise zur Darstellung, fr die im Verlauf der Untersuchung der Begriff der Poetischen Paraphrase entwickelt und erlutert wird. Die Poetische Paraphrase wird in Sebalds Werk, wie sich zeigen wird, in ganz besonderem Mae auf das Werk von Walter Benjamin als Prtext angewendet.

    Zum dritten basiert Intertextualitt als Methode selbst auf einer bestimmten Vorstellung historischer Zusammenhnge und kultureller Erinnerung und damit auf einem eigenen Modell von Geschichte. Bereits die der Intertextualittsdiskussion vorausgehenden berlegungen Bachtins zur Karnevalisierung der Literatur62 fhren den gegen den monologischen Vortrag von gltigen Wahrheiten gerichteten Begriff der Polyphonie einer Vielzahl von Stimmen ein, hier noch als ein typisches Gattungsmerkmal weitgehend auf den Roman bzw. auf bestimmte Typen des Romans beschrnkt63. Diese dialogische Polyphonie, welche einen eigenen Gedchtnisraum abseits offizieller Geschichtsdarstellung erffnet, wird spter besonders von Renate Lachmann als Merkmal der Intertextualitt ganz allgemein herausgestellt:

    So wie der Text in das Gedchtnistheater der Kultur als in einen Auenraum eintritt, entwirft er dieses Theater noch einmal, indem er die anderen Texte in seinen Innenraum hereinholt. Der Raum zwischen den Texten, ist er nicht der eigentliche Gedchtnisraum? Verndert nicht auch jeder Text den Gedchtnisraum, indem er die Architektur, in die er sich einschreibt, verndert? Der Raum zwischen den Texten und der Raum in den Texten, der aus der Erfahrung desjenigen zwischen den Texten entsteht, ergibt jene Spannung zwischen extratextuell-intertextuell und intratextuell, die der Leser auszuhalten hat. Der Gedchtnisraum ist auf dieselbe Weise in den Text eingeschrieben, wie sich dieser in den Gedchtnisraum einschreibt. Das Gedchtnis des Textes ist seine Intertextualitt64.

    Die Funktion des Gedchtnisraum[es] besteht in der Restitution der Toten in der memoria, wie Lachmann am locus classicus des Berichtes Ciceros ber die Stiftung der Mnemotechnik durch Simonides nach dem die Getteten zur Unkenntlichkeit verstmmelnden Einsturz der Festhalle des Skopas65 zeigt: Der Dichter wird zum Zeugen der

    62 Michail Bachtin: Literatur und Karneval Frankfurt am Main, Ullstein 1985, knftig zitiert als Bachtin 1985,

    hier S. 47. Bachtins Arbeit wird von Sebald als brillanter Essay ber den Karneval und die Karnevalisierung in der Literatur in seinem Aufsatz ber Thomas Bernhard, BU S. 112, zitiert. 63

    Bachtin 1985 S. 86 ff, bes. S. 91 f 64

    Renate Lachmann: Gedchtnis und Literatur Frankfurt am Main, Suhrkamp 1990, knftig zitiert als Lachmann 1990, hier S. 35 65

    M. T. Cicero: De oratore II 86, 352-387, zit. n. Lachmann 1990 S. 20 f

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    alten, verlassenen, durch einen epochalen Einschnitt unkenntlich gemachten Ordnung, die er durch ein inneres Schreiben und Lesen vermittels der Bilder, die wie Buchstaben funktionieren, restituiert66. Die Untersuchung wird zeigen, da es um nichts weniger als um Restitution auch in Sebalds literarischem Werk geht.

    Zum vierten und letzten dient auch bei ihm, wie dargestellt werden wird, die Intertextualitt der Erzeugung jene[r] Spannung [], die der Leser auszuhalten hat, greift also steuernd in den Akt der Rezeption ein. Im Anschlu an Blumenberg knnte man sagen, da mit der so generierten Erfahrung von Widerstand67 der Grad der Empfindung von Realitt gegenber dem Artefakt gesteigert werden soll.

    Die Problemstellung der vorliegenden Untersuchung kann damit zusammenfassend wie folgt umrissen werden: Sie befat sich

    - erstens mit Sebalds Poetik, - zweitens mit den Grundmerkmalen der von ihm erzhlten Welt, und - drittens mit der Intertextualitt in seinem Werk, besonders mit deren Funktion. All diese Aspekte hngen eng zusammen; zugleich hat sich mit jedem dieser Aspekte

    bereits eine Reihe frherer Untersuchungen befat. Da eine umfassende Darstellung der inzwischen publizierten Literatur zu Sebald in diesem Rahmen keinesfalls mglich ist, sollen nur einige wenige der einschlgigen Studien im nchsten Abschnitt kurz angesprochen werden, wobei der Forschungsstand zu den Bezgen zwischen Walter Benjamin und W. G. Sebald vorerst ausgeklammert und dem Abschnitt vorbehalten sein soll, in welchem dieses Thema genauer untersucht wird.

    A. II. Forschungsstand

    A. II. 1. W. G. Sebalds Poetik und die Intertextualitt als ein Kennzeichen seines Werks

    Anne Fuchs hat sich in ihrer Monograpie Die Schmerzensspuren der Geschichte ausfhrlich mit Sebalds Poetik auseinandergesetzt68. Zentral sind dabei die Begriffe der Erinnerung und der Verrtselung69. Anhand von Sebalds Aufsatz ber Jan Peter Tripp argumentiert sie:

    Erzhlen als Spurensuche heit also die Vorgeschichte der Dinge transparent zu machen, allerdings nicht, um sie rational zu bewltigen, sondern umgekehrt, um durch die Evokation geheimer Korrespondenzen eine alternative, vorrationale Wahrheit aufscheinen zu lassen. Da es sich hier um eine wesentlich sthetisch produzierte Wahrheit handelt, fhrt Sebald in dem zitierten Aufsatz an zwei Bildern Tripps vor []70.

    Damit wird vollkommen zutreffend der hochgradig artifizielle Charakter von Sebalds Texten und der ihnen zugrundeliegenden Poetik benannt. Die sthetisch produzierte Wahrheit geht im zitierten Tripp-Essay taschlich, wie korrekt angemerkt wird, auf den Einsatz der Intertextualitt zurck; das angewendete Verfahren mnde jedoch, so Fuchs, nicht in eine rationale Erledigung der Gegenstnde, sondern vielmehr in ihrer Verrtselung71. Auch die Grenzberschreitung im poetischen Erinnern wird zutreffend beschrieben: Zudem ist das Sebaldsche Erinnern immer auch ein halluzinatorischer Akt, der die Trennlinie zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Lebenden und Toten

    66 Ebd. S. 22

    67 Blumenberg 1964 S. 53 f; Hervorhebung im Original

    68 Fuchs 2004; Teile daraus sind bereits 2003 erschienen Anne Fuchs: Phantomspuren. Zu W. G. Sebalds Poetik

    der Erinnerung In German Life and Letters 56 S. 281-298 (2003) 69

    Fuchs 2004 S. 69 ff 70

    Fuchs 2004 S. 70 71

    Ebd. S. 71

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    durchlchert72. Nicht explizit gemacht wird jedoch ungeachtet dieser brillanten Analyse der handwerkliche Aspekt, die Tatsache, da, wie hier gezeigt werden wird, fr die Ermglichung dieser metaphorischen Grenzbertretung genau diejenige Verrtselung von Sebalds Texten entscheidend ist, welche durch einen spezifischen Einsatz der Intertextualitt erzeugt werden soll. Anne Fuchs benennt noch zwei weitere Grundmerkmale von Sebalds Poetik, nmlich die Bedeutung der Allegorie73 und die direkt mit dieser verbundene Rettungs-Ethnographie; mit einem Zitat aus James Cliffords Studie ber ethnographische Allegorie schreibt sie: Der Andere ist verloren im Zerfallsproze von Zeit und Raum, jedoch gerettet im Text*74. Mit dieser in der vorliegenden Studie genauer untersuchten Rettung im Text oder, allgemeiner gesagt, mit dieser Rettung im Artefakt erschliet sich der bereits erwhnte, von Sebald gebrauchte und von ihm mit dem Merkmal der Fiktionalitt verbundene Begriff der Restitution.

    Die Verrtselung von Sebalds Texten durch die Einkomposition einer Vielzahl von Prtextfragmenten ist bereits mehrfach mit der Technik der bricolage nach Lvy-Strauss75 in Verbindung gebracht worden76. Der Autor selbst bekennt sich explizit zu diesem Verfahren77 und vergleicht sein Schreiben mit dem Zusamennhen eines Fleckerlteppich[s]78. Diese Art der bricolage betrifft jedoch nicht nur die Anordnung von Prtextfragmenten, sondern soll Sebalds Methode der Textproduktion ganz allgemein bezeichnen: Die beschriebenen Ereignisse werden im Text zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefgt. Die bricolage ist auf zufllig zur Verfgung stehende Fragmente angewiesen. Der Terminus diene ursprnglich dazu, so Lvy-Strauss, [] um eine nicht vorgezeichnete Bewegung zu betonen: die des Balles, der zurckspringt, des Hundes, der Umwege macht, des Pferdes, das von der geraden Bahn abweicht, um einem Hindernis aus dem Weg zu gehen79. In dieser Beschreibung einer eher zuflligen, einer nicht vorgezeichnete[n] Bewegung wird der Begriff der bricolage eng mit dem der Kontingenz verbunden. Genau dieses Zusammenfgen von kontingenten Fragmenten beschreibt der Erzhler von Schwindel. Gefhle mit dem vielzitierten Satz: Ich sa an einem Tisch nahe der offenen Terassentr, hatte meine Papiere und Aufzeichnungen um mich her ausgebreitet und zog Verbindungslinien zwischen weit auseinanderliegenden Ereignissen, die mir derselben Ordnung anzugehren schienen80. Kontingentes wird im Schreibproze geordnet. Diese Vernetzungssthetik81 wird von Marcel Atze als

    72 Ebd. S. 73

    73 Ebd. S. 77 ff; hier und an weiteren Stellen weist Fuchs auch auf die Verbindung zum Denken Walter

    Benjamins hin, die in der vorliegenden Untersuchung genauer dargelegt wird. 74

    Ebd. S. 131; die mit * gekennzeichnete Referenz verweist auf James Clifford: ber ethnographische Allegorie bersetzt von Eberhard Berg In Eberhard Berg und Martin Fuchs (Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Reprsentation Frankfurt am Main, Suhrkamp 1993 S. 200-239, hier S. 202 75

    Claude Lvi-Strauss: Das wilde Denken Frankfurt am Main, Suhrkamp 1973, knftig zitiert als Lvi-Strauss 1973, hier S. 29 ff 76

    Z.B. Fuchs 2004 S. 59 ff, 171; Gisela Ecker: Heimat oder die Grenzen der Bastelei In Michael Niehaus, Claudia hlschlger (Hrsg.): W. G. Sebald. Politische Archologie und melancholische Bastelei Berlin, Erich Schmidt Verlag 2006, knftig zitiert als Niehaus 2006, hier S. 77-88; Ben Hutchinson: W. G. Sebald - die dialektische Imagination Berlin, de Gruyter 2009, knftig zitiert als Hutchinson 2009, hier S. 52 f; Stephan Seitz: Geschichte als bricolage - W. G. Sebald und die Poetik des Bastelns Gttingen, Vandenhoek und Ruprecht 2011 77

    Sigrid Lffler: Wildes Denken. Gesprch mit W. G. Sebald In Loquai 1997 S. 131-133, hier S. 132 78

    Ruth Vogel-Klein: Ein Fleckerlteppich. Interview von Ruth Vogel-Klein mit Gertrud Th. Aebischer-Sebald, knftig zitiert als Vogel-Klein 2005 b In Ruth Vogel-Klein (Hrsg.): Mmoire. Transferts. Images. Erinnerungen. bertragung. Bilder recherches germaniques, Universit Marc Bloch, Strasbourg 2005, knftig zitiert als Vogel-Klein 2005 a, hier S. 211-220, bes. S. 217 79

    Lvy-Strauss 1973 S. 29 80

    SG S. 107 81

    Fuchs 2004 S. 74 ff

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    Beziehungswahn gekennzeichnet82. Trotz des unbezweifelbaren Verdienstes seiner frhen und hchst aufschlureichen Studie zur Intertextualitt in Sebalds Werk wird mit dieser Diagnose der Stellenwert der Vernetzungssthetik fr Sebalds Poetik verkannt. Wer narrative Texte verfat und sich dabei wie Sebald scheinbar konventioneller Mittel des Erzhlens bedient, ist gezwungen, diesen Texten eine strukturelle Ordnung zu geben. Er kann sich einer Reihe von Fragen wie der nach der Erzeugung von Kohrenz und Motivation in diesen Texten und den damit verknpften Konstruktionen von Sinn nicht entziehen. Wenn somit die durch den Autor erzeugte providentielle Ordnung des Textes betont wird, stellt sich zugleich die Frage nach dem Verhltnis dieser in der Diegese gltigen Ordnung zu der Ordnung oder Unordnung in der faktualen Welt; anders gewendet, gert die Kontingenz der letzteren in den Blick. Damit ist ein wesentliches Thema der vorliegenden Untersuchung, nmlich Sebalds Geschichtsbild und die Grundbeschaffenheit der von ihm erzhlten Welt, angesprochen, ein Thema, das mit Atzes psychiatrischer Diagnose des Beziehungswahn[s] unterdrckt wird. Da die Intertextualitt schon frh als ein wesentliches Merkmal von Sebalds Werk erkannt worden ist83, befat sich neben den bereits erwhnten noch eine ganze Reihe von weiteren Publikationen mit diesem Aspekt84. Ausfhrlich untersucht ist die Beziehung zwischen der abschlieenden Episode von Schwindel. Gefhle, Il Ritorno in Patria, und Franz Kafkas Jger Gracchus-Fragmenten85. Die in der vorliegenden Untersuchung aufgezeigte Verbindung zum Stifterschen Prtext Die Mappe meines Urgrovaters blieb jedoch dabei bislang unbeachtet86. Nun ist bei der Vielzahl der intertextuellen Bezugnahmen in Sebalds literarischem Werk nicht zu erwarten, da in absehbarer Zeit eine vollstndige Aufschlsselung dieses Aspektes vorgelegt werden kann. Sowohl aus grundstzlichen Erwgungen heraus als auch aufgrund eines noch darzulegenden wichtigen Merkmals der Sebaldschen Poetik erscheint es vielmehr weder mglich noch angemessen, eine solche Betrachtung abzuschlieen. Dagegen hat Richard Sheppard auf einen in vielen Fllen zu beobachtenden grundstzlichen Mangel in der Beschftigung mit der Intertextualitt in Sebalds Werk hingewiesen:

    [] if you want to get into Maxs literary work at any depth, you have to be constantly alive for intertextuality. You also need to have read the books that were most important to him and know what he said about his reading in his critical work. It is surprising how many critics are reluctant to do this87.

    Nun mag der erste Punkt eher zweifelhaft und vielleicht auf die besonderen Bedingungen der Germanistik in den angelschsischen Lndern bezogen sein; man darf aber wohl dennoch davon ausgehen, da Sebalds Prtexte den Forschern, die zu diesem Thema publiziert haben, durchaus bekannt sind. Viel eher scheint fr eine Reihe von einschlgigen Studien der zweite Kritikpunkt zuzutreffen. Genau dies ist einer der methodischen Ansatzpunkte der vorliegenden Untersuchung: Es wird versucht, die allgemeine Qualitt und speziell den semantischen Gehalt der Prtexte, so wie sie sich fr Sebald prsentieren, anhand

    82 Marcel Atze: Koinzidenz und Intertextualitt. Der Einsatz von Prtexten in W. G. Sebalds Erzhlung All

    Estero In Loquai 1997 S. 146-169, knftig zitiert als Atze 1997, hier S. 147 83

    Atze 1997 passim 84

    Z.B. Oliver Sill: Aus dem Jger ist ein Schmetterling geworden. Textbeziehungen zwischen Werken von W. G. Sebald, Franz Kafka und Wladimir Nabokov In Poetica 29 S. 596-623 (1997). Zitiert wird hier und in der Folge nach der Buchversion Verwandlung In Oliver Sill: Der Kreis des Lesens. Eine Wanderung durch die europische Moderne Bielefeld, Aisthesis 2001 S. 15-45, knftig zitiert als Sill 2001; Schedel 2004; Heidelberger-Leonhard / Tabah 2008; Peter Schmucker: Grenzbertretungen. Beziehungen zwischen den Werken von Adalbert Stifter und W. G. Sebald In Focus MUL 26 S. 24-32 (2009), knftig zitiert als Schmucker 2009 85

    Bes. Atze 1997 und Sill 2001 86

    Soweit bekannt, wurde sie erstmals in Schmucker 2009 dargestellt. 87

    Richard Sheppard: Dexter - Sinister: some observations on decrypting the mors code in the work of W. G. Sebald In Journal of European Studies 35 S. 419-463, knftig zitiert als Sheppard 2005, hier S. 421.

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    eines Verfahrens zu erhellen, welches einem close reading seiner literaturwissenschaftlichen Arbeiten nahekommt. Auf diese Weise bilden die Prtexte eine der Grundlagen fr die Beurteilung der Metaphysik von Sebald Diegese.

    A. II. 2. Allgemeine Eigenschaften von Sebalds erzhlter Welt

    Es besteht in der Kritik Einigkeit darber, da Sebalds literarische Texte besondere inhaltliche Merkmale aufweisen. Dazu zhlt the uncanniness of everything88, die McCulloh direkt mit Sigmund Freuds Aufsatz Das Unheimliche und genauer mit der dort beschriebenen unheimlichen Wirkung von scheinbar zuflligen Koinzidenzen in Verbindung bringt, ebensolchen Koinzidenzen, wie sie von Sebald in seinen Texten hergestellt werden89. Weitere Unheimlichkeiten kommen hinzu. Vor langer Zeit Verstorbene laufen Erzhlern ber den Weg90, die sich ber weite Strecken durch eine im Zwischenbereich zwischen Leben und Tod gelegene Landschaft zu bewegen scheinen; die Zeit ist an bestimmten Orten stillgestellt, an anderen ist sie gegenber der Vergangenheit und, mit Blick auf das unvermeidliche Ende der Zeiten, auch gegenber der Zukunft transparent. Die Sexualitt ist, sofern sie berhaupt zum Thema wird, mit Strafe belegt. All dies ist in verschiedenen Untersuchungen angemerkt worden und wird in der vorliegenden ausfhrlich dargestellt werden. Die Konklusion, im Text baue sich eine ganz spezifische eigene Welt mit ihren eigenen Gesetzen auf, ist, obgleich auf der Hand liegend, bislang jedoch noch kaum gezogen und geprft worden. So schreibt McCulloh in seinem bereits zitierten Buchkapitel Blending Fact, Fiction, Allusion, and Recall91, einem der wenigen Texte, welche das Thema der Fiktion in Sebalds Werk berhaupt offen benennen, zu den in seiner Welt wirksamen Gesetzen:

    [] readers must bring to the text a taste for a narrative that depends on a flow of incidents, coincidences, and uncanny events seemingly governed by hidden, unknowable laws [] everything belongs together somehow, everything is interrelated by some secret orderliness, but even the author isnt certain precisely how. If he is, he isnt telling. In any case, there are too many coincidences, too many currents flowing in upon themselves, for life to be merely a random chain of events compatible with philosophical materialism92.

    Damit ist, ohne da der Begriff explizit genannt wrde, die Anmutung von Sebalds Diegese bzw. der Verknpfung der Geschehnisse in ihr genau umschrieben. In einem Punkt darf allerdings widersprochen werden: Es sind die Erzhlerfiguren, welche sich ber die geheimen Gesetzlichkeiten hinter den Ereignissen nicht so ganz sicher sind. Der Autor wei nur zu genau, worum es sich dabei handelt, denn er ist schlielich der Schpfer der erzhlten Welt. Aber es trifft zu, da er uns sein Wissen nicht mitteilt. Es trifft auch zu, da sich die Abfolge der beschriebenen Ereignisse, die chain of events, einer materialistischen, auf der Kontingenz als letztem Prinzip fuenden Erklrung entzieht. Ebenfalls nicht zufllig gebraucht McCulloh den Terminus der Kette; in ihr sind die Glieder bereits gefgt, sie ist mit Plan durch einen Handwerker hergestellt worden. Dieser ist beim Text mit dem Autor

    88 Mark McCulloh: Understanding W. G. Sebald University of South Carolina Press 2003, knftig zitiert als

    McCulloh 2003, hier S. 3 89

    Ebd. S. 4 f; Sigmund Freud: Das Unheimliche In Ders.: Gesammelte Werke Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 1999, knftig zitiert als Freud: Werke, hier Bd. 12 S. 229-268, bes. S. 250 f 90

    McCulloh 2003 S. 5, 26 ff; SG S. 41, 61; es handelt sich, wie gezeigt werden wird, bei diesen Begegnungen weder um Halluzinationen des Erzhlers, noch sind die Wahrnehmungen ironisch gebrochen wie in der bekannten Strophe von Gottfried Benn: Pltzlich sitzt ein Toter an der Theke, / Rechtsanwalt, mit rotem Nierenschwund, / schon zwei Jahre tot, mit schner Witwe,/ und nun trinkt er lebhaft und gesund Gottfried Benn: Aber Du - ? In Ders.: Smtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe Stuttgart, Klett-Cotta 2002 Bd. 1 S. 283 91

    McCulloh 2003 S. 1-25 92

    Ebd. S. 22

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    identisch93; die Phrase verweist jedoch darber hinaus auf die Great Chain of Being, die universelle, durch Gott geschaffene providentielle Ordnung allen Seins94. Knnte es sein, da Sebalds Diegese in hnlicher Weise konstruiert, da in ihr eine analoge oder auch in bestimmten, vielleicht auch entscheidenden Punkten abgewandelte Metaphysik gltig ist? Mit dieser Frage setzt sich die vorliegende Untersuchung auf der Basis eines bislang eher sprlichen Forschungsstandes auseinander.

    A. III. Methode

    Grundlage der angewandten Methode ist die Intertextualitt in Sebalds literarischem Werk. In einer ersten Stufe wird versucht, anhand der Forschungsliteratur zu Sebald und darber hinaus aufgrund eigener Textvergleiche Prtexte zu identifizieren. In einer zweiten Stufe werden diejenigen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, welche sich mit Autoren und Texten befassen, denen Prtextfragmente entstammen, genau untersucht. Auf diese Weise soll eruiert werden, welche Vorstellungen Sebald mit diesen Texten und Autoren verbindet, welchen semantischen Gehalt er den von ihm verwendeten Fragmenten unterstellt und durch ihre Einkomposition in die von ihm geschaffenen Texte transportiert. Dabei erfordert es die Schlssigkeit der Argumentation, da in der vorliegenden Niederschrift die Darstellung der Untersuchung der literaturwissenschaftlichen Aufstze der Demonstration der Prtextfragmente in den literarischen Texten und ihrer Funktion vorausgeht. Die Anwendung dieser Methode erfordert weiterhin einige Grundannahmen, die ebenso wie der angewandte Intertextualittsbegriff keineswegs selbstverstndlich sind und im Zusammenhang mit diesem im folgenden Abschnitt diskutiert bzw. benannt werden sollen. In seinen literaturwissenschaftlichen Aufstzen befat sich Sebald nicht nur argumentierend, sondern auch wertend mit den von ihm betrachteten Texten und Autoren. Er legt auseinander, welche Texte oder, allgemeiner, welche Kunstwerke fr ihn einen besonders hohen Rang einnehmen, und warum dies so ist. Hieraus knnen Rckschlsse auf seine eigene Poetik gezogen werden, die ber seine expliziten uerungen zu diesem Thema etwa in den in Luftkrieg und Literatur zusammengefaten Poetikvorlesungen hinausgehen oder sie ergnzen. Es darf unterstellt werden, da er einerseits Merkmale von Werken anderer Autoren besonders hervorhebt, die sie mit seinen eigenen Werken teilen, und da er umgekehrt von ihm besonders hoch eingeschtzte Eigenschaften von solchen Werken im Sinn einer aemulatio in seinen eigenen selbst anstreben wird. Zusammen mit seinen expliziten uerungen zu diesem Thema lassen so sich wesentliche Merkmale von Sebalds Poetik erschlieen.

    Das literarische Werk von W. G. Sebald stellt ein vieldimensionales Geflecht von Bezgen dar. Jede genauere Betrachtung eines Aspektes daraus erfordert quasi das Legen eines Schnittes durch dieses Geflecht, um den aktuell untersuchten Gegenstand freizulegen. Das Durchtrennen von Verbindungen wird sich dabei ebensowenig umgehen lassen wie das Antreffen der gleichen Linien bei je unterschiedlicher Schnittfhrung, Verkrzungen sind, bedingt durch die Komplexitt des Gegenstandes, ebenso unvermeidlich wie Redundanzen.

    A. IV. Vorgehensweise

    An die Darlegung der Grundthesen fr diese Untersuchung im letzten Abschnitt der Einleitung schliet sich im Abschnitt B die Betrachtung einiger wesentlicher Begriffe wie

    93 Auf die von Roland Barthes und Michel Foucault angestoene Theorie vom Tod des Autors soll an dieser

    Stelle dezidiert nicht eingegangen werden. 94

    Cf. Arthur O. Lovejoy: Die groe Kette der Wesen Frankfurt am Main, Suhrkamp 1993, hinsichtlich des christlichen Gottes bes. S. 87 ff

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    Intertextualitt, Fiktionalitt und erzhlte Welt und Metaphysik sowie aus diesem Kontext heraus die genauere Formulierung der in der Folge jeweils verwendeten Konzepte an. Thema des Abschnittes C ist die Intertextualitt in Sebalds Werk auf der Basis wrtlicher oder nahezu wrtlicher Zitate aus Prtexten. Der erste Referenzautor ist Adalbert Stifter. Die Untersuchung nimmt ihren Ausgang von den beiden literaturwissenschaftlichen Essays ber diesen und versucht im Anschlu daran, anhand der darin vertretenen Positionen die Funktion der Zitate aus Stifterschen Prtexten in Sebalds literarischem Werk zu bestimmen. Es wird eine Reihe von Merkmalen erarbeitet, die Sebald mit dem Werk Stifters und speziell mit den von ihm daraus verwendeten Prtexten verbindet. Dazu zhlen die Hresie im Sinne einer gnostizistischen Philosophie, die entropische Kontingenz und schlielich ein prekrer Status der Sexualitt. Die Tatsache, da Stifters Die Mappe meines Urgrovaters neben Kafkas Jger-Gracchus-Fragmenten ein wesentlicher Prtext fr Schwindel. Gefhle und von da aus fr Sebalds gesamtes literarisches Werk ist, leitet ber zur Betrachtung der bislang identifizierten Prtexte aus dem Werk von Franz Kafka.

    Auf der gleichen methodischen Basis wie fr Stifter wird in der Folge eine umfangreiche Betrachtung der Zitate aus dessen Werk unternommen. Hier sind fnf literaturwissenschaftliche Aufstze zu bercksichtigen, die zum Teil in mehreren unterschiedlichen Fassungen vorliegen und in mehrere verschiedene Richtungen weisen. Zunchst wird erneut das Motiv des Jger[s] Gracchus aufgegriffen; dessen Bewegungen durch ein Zwischenreich zwischen Leben und Tod knnen anhand einer Analyse besonders von Schwindel. Gefhle, aber auch weiterer literarischer Texte als Grundmodell fr die Bewegungen der Sebaldschen Erzhler und anderer Figuren erwiesen werden. Es folgt eine Untersuchung von Kafkas Schlo-Roman als Prtext fr Sebald. Es lt sich zeigen, da die Kafkaschen Wirtshuser als Orte an der Grenze zwischen Leben und Tod ihre Entsprechung in Sebaldschen Hotels und Gasthsern haben, da das labyrinthische Kreisen in einer Landschaft des Todes ohne gerichtetes Fortschreiten als Bewegung von K. im Schlo von Sebalds Erzhlern in den von ihnen durchwanderten Landschaften wiederholt wird, und da entsprechend die Besteigung der Friedhofsmauer durch K. im Schlo ebenfalls von Sebald - in Die Ausgewanderten - zitiert wird. Ebenfalls in Die Ausgewanderten wird das Kafkasche Motiv der Ohnmacht aufgenommen und mit dem von Sebald im Schlo-Roman identifizierten der Madame la Mort verbunden. In eine andere Richtung weist der Essay Tiere, Menschen, Maschinen - Zu Kafkas Evolutionsgeschichten. Der dort formulierte und Kafka unterstellte Gedanke einer besonders an Maschinen gebundenen Evolution nach dem Menschen wird von Sebald in seinem eigenen Werk aufgegriffen und interessanterweise mit dem Motiv des Schutzengels verbunden.

    Es folgt auf der gleichen methodischen Basis, der Betrachtung von Sebalds Aufstzen ber das Romanfragment Andreas und das Trauerspiel Der Turm von Hugo von Hofmannsthal, die Untersuchung der von ihm in sein literarisches Werk bernommenen Zitate aus dessen Werk. Whrend aus Andreas besonders die wiederum mit Hresie und Perversion verbundene, in Schwindel. Gefhle transferierte Figur der Romana untersucht wird, ergibt sich aus einem Zitat aus Der Turm das Bild einer Kindlichkeit, die bei Hofmannsthal mit politischer Utopie, bei Sebald mit sexueller Unschuld verbunden wird.

    Letzteres wird an den sowohl als Gegenstand mehrerer literaturwissenschaftlicher Essays dienenden faktualen Gestalten als auch in Sebalds literarischem Werk explizit oder implizit als Figuren auftretenden Dichtern Ernst Herbeck und Robert Walser exemplifiziert und mit einem Zitat aus Thomas Bernhards Die Auslschung, dem Hinweis auf die Kindervilla, verbunden. Die damit evozierte erotische wie politische Unschuld wird mit dem Bericht ber Henry Beyle in Schwindel. Gefhle als dem genauen Gegenteil dieser kindlichen Figuren kontrastiert. Zu beachten ist hier allerdings, da nach Sebald die Kindlichkeit keineswegs vor einer im Sinne einer Erbschuld allen Menschen auferlegten

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    Schuld bewahrt, wie am Beispiel des (faktualen!) Ernst Herbeck in dem Essay Des Hschens Kind, der kleine Has. ber das Totemtier des Lyrikers Ernst Herbeck gezeigt wird.

    Im Abschnitt D schliet sich die Betrachtung einer speziellen Form von Intertextualitt im Werk Sebalds an, die nicht primr auf wrtlichen Zitaten beruht, sondern philosophische, besonders geschichtsphilosophische Inhalte und hier wieder besonders Aspekte aus dem Werk von Walter Benjamin wiedergibt, also auf die faktuale Welt gewendete Theorien in einen fiktionalen Rahmen bertrgt. Fr diese Form der Intertextualitt wird der Begriff der Poetischen Paraphrase geprgt, definiert und an einer Reihe von Beispielen aus der Literatur erlutert.

    Nach einem Abri des Forschungsstandes zu Bezgen zwischen den Werk-Konvoluten von Walter Benjamin und W. G. Sebald werden die jeweils von Benjamin und Sebald zugrundegelegten Begriffe fr die Zeit und die fr diese gltigen Gesetzmigkeiten dargelegt und verglichen. Es zeigt sich eine Reihe von Strukturisotopien, insbesondere eine im Werk von beiden wirksame Inhomogenitt der Zeit, die so bei Benjamin fr den messianischen Moment und damit fr Erlsung, bei Sebald hingegen fr den Durchtritt von Gespenstern transparent wird. Als Differenz zu Benjamin ist jedoch die Zeit bei Sebald aufgrund der Anwendung des Konzeptes der Entropie und damit der zerstrerischen Wirkung des vom Menschen angefachten Feuers endlich, ohne da die etwa in Il Ritorno in Patria in ironischer Anlehnung an Samuel Pepys Beschreibung des groen Brandes von London dargestellte Endzeitvision mit der Hoffnung einer transzendenten Erlsung verbunden wre. Diese Betrachtung fhrt unmittelbar zu dem Begriff der Naturgeschichte, dessen Ausformung bei Sebald sich erneut eng an derjenigen bei Walter Benjamin orientiert und mit dem an verschiedener Stelle in seinem Werk poetisch paraphrasierten Blick des Engel[s] der Geschichte aus dessen neunter These zur Geschichtsphilosophie verbunden ist.

    Mit der Naturgeschichte, der natural history of destruction als dem Titel der englischen bersetzung seiner Zricher Poetikvorlesungen, ist die Untersuchung bei der Poetik Sebalds angelangt, welcher der nun folgende Abschnitt E gewidmet ist. Zunchst wird der bereits im Zusammenhang mit der Untersuchung der Kindlichkeit angetroffene Begriff der Schuld, der unumgnglichen persnlichen Verstrickung des Menschen, aufgegriffen und von ihm die Verpflichtung zur empathischen Zuwendung zum Mitmenschen abgeleitet. Zu dieser Verpflichtung zhlt, wie sich aus den Zricher Vorlesungen ergibt, die Umformung traumatischer Ereignisse wie der Auswirkungen des Bombenkrieges auf die Zivilbevlkerung in eine ffentlich lesbare Chiffre95, eine Aufgabe, welche die deutsche Literatur der Nachkriegszeit verfehlt habe. Das Amt der Poeten im Sinne Sebalds lt sich von daher als die Pflege des kollektiven Gedchtnisses bestimmen. Die rechte Art und Weise dieser Pflege wird sodann aus einer Reihe von Essays ber positive und negative Beispiele, zu welch letzteren der vieldiskutierte Aufsatz ber Alfred Andersch zhlt, erschlossen. Aus den Positivbeispielen Jean Amry, Primo Levi, Peter Weiss, Bruce Chatwin und Wladimir Nabokov ergibt sich, da sowohl der Produktions- als auch der Rezeptionsproze geglckter Literatur von einer metaphorischen berschreitung von Zeit- und Raumgrenzen begleitet ist, welche bewirkt, da sich Dichter, Figuren und damit potentiell Opfer bzw. deren allegorische Entsprechungen und schlielich Rezipienten im Artefakt treffen, in dem die Grenze zwischen Leben und Tod aufgehoben ist. Auf diese Weise wird eine gewisse Restitution der Opfer der Geschichte im Artefakt ermglicht. Das dabei wirksame Konzept der Allegorie wird neben das von Walter Benjamin gestellt und die Restitution mit dessen Begriff der Rettung verglichen. Es wird sodann anhand einiger Stellen in Sebalds literarischem Werk demonstriert.

    Im Proze der Produktion von Literatur fallen fr Sebald Kunstfertigkeit und bis an die Grenze gehendes Leiden zwangslufig zusammen. Der Knstler wird dadurch zum

    95 LL S. 12

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    Verwandten des Akrobaten ebenso wie des Heiligen. Dem Proze der Produktion steht der der Rezeption des Artefakts quasi spiegelbildlich gegenber. Auch mit ihr mu Mhe, mssen Leiden verbunden sein. Diese Widerstndigkeit, die ihrerseits, wird sie denn bewltigt, den Rezipienten zum bertritt in Zeit und Raum des Artefakts ntigt, wird durch den Einsatz der Intertextualitt zum Zweck der Verrtselung erzeugt, wie aus dem Aufsatz zum Werk von Jan Peter Tripp klar hervorgeht. Dieser Effekt wird ebenfalls an einigen Beispielen aus Schwindel. Gefhle und Austerlitz demonstriert.

    Im anschlieenden Abschnitt F wird nun die Frage nach der Sebalds Diegese zugrundeliegenden Metaphysik untersucht. Bereits bei der Betrachtung der Essays ber Stifter ist eine Reihe von Hinweisen auf die gnostische Philosophie aufgefallen. Es wird deshalb die These geprft, in Sebalds Diegese seien Grundmerkmale einer solchen wirksam.

    Im gesamten literarischen Werk Sebalds zeigen sich immer wieder Hinweise auf die christliche Religion. Deshalb, vor allem aber wegen des Prinzips der minimal departure einer erzhlten Welt von der faktualen (s.u. B. II.) kann eine kurze Betrachtung des religisen Horizonts des Autors nicht ganz umgangen werden, der sich auf der kognitiven Ebene zweifellos im Laufe der Zeit von den in einer dezidiert katholisch geprgten Erziehung gelegten Grundstzen entfernt hat.

    Es schliet sich eine allgemeine Darstellung der gnostischen Philosophie an, an derem Abschlu die Kennzeichen eines Gnostizismus der Moderne erarbeitet werden. Im literaturwissenschaftlichen Werk Sebalds finden sich einige Zitate und andere Hinweise auf den christlichen Gnostiker Franz von Baader. Deshalb wird dessen spezielle Philosophie bzw. spekulative Theologie ebenfalls kurz dargelegt. Abschlieend kann anhand einiger typischer Merkmale von Sebalds erzhlter Welt gezeigt werden, da die in ihr gltigen Grundgesetze oder, anders ausgedrckt, da ihre Metaphysik einem Gnostizismus der Moderne entspricht.

    A. V. Thesen

    Folgende Thesen werden an den Ausgangspunkt der Untersuchung gestellt und in ihrem Verlauf geprft:

    1. Durch W. G. Sebalds literarische Texte wird eine Diegese erzeugt, in welcher eine Metaphysik wirksam ist, die einem Gnostizismus der Moderne entspricht und zugleich Anklnge an die spekulative Theologie Franz von Baaders aufweist. 2. Die von Sebald fr die faktuale wie fr seine fiktionale Welt angewendete Geschichtsphilosophie entspricht der von Walter Benjamin mit der Modifikation, da bei ihm im Gegensatz zu diesem die Zeit endlich und entsprechend der ersten These nicht von einer messianischen Erlsungshoffnung begleitet ist. 3. Eine wesentliche Rolle fr die Generierung dieser Eigenschaften seiner Diegese spielt auf der Ebene der Textproduktion die umfangreiche Anwendung der Intertextualitt mit der Schaffung entsprechender Subtexte; zugleich soll sie durch das Prinzip der Verrtselung der Texte rezeptionssteuernd eingreifen. 4. Die Poetik Sebalds zielt auf die Schaffung eines Raumes zur Restitution der Opfer der Geschichte im Artefakt.

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    B. Definitionen und Voraussetzungen

    B. I. Intertextualitt

    Der Begriff der Intertextualitt ist bereits mehrfach mit unterschiedlicher Intention und aus verschiedener Perspektive dargestellt worden. An dieser Stelle mu deshalb lediglich klargestellt und begrndet werden, welches spezielle Konzept in der vorliegenden Untersuchung Anwendung finden soll.

    Das von Julia Kriteva 1967 in ihrem Aufsatz Bakhtin, le mot, le dialogue et le roman1 dargestellte ursprngliche und begriffsbildende Konzept der Intertextualitt geht von einem sehr weiten Verstndnis des Begriffs aus: [] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes2. Jeder einzelne Text ist somit unabhngig von den konkreten Produktions- und Rezeptionsbedingungen in ein multidimensionales Netzwerk von Bezgen zwischen allen oder zumindest einer Vielzahl von Texten eingebunden. Auf Grund der Abstraktion vom Produktionsproze wird sich so in jedem Text eine Vielzahl von Bezgen, jedoch keine spezifisch intendierte Bedeutung zeigen lassen. Diese Dezentrierung der Kategorie Text3 mit der Konsequenz der Unmglichkeit einer stabilen, auf eine Autorintention zurckgehenden Textbedeutung4 ist durchaus beabsichtigt und entspricht der theoretischen Basis, welche der Etablierung des Begriffs zugrunde liegt. Genau deshalb freilich ist der universelle Intertextualittsbegriff nach Kriteva fr die Bearbeitung der fr die vorliegende Untersuchung zentralen Frage ungeeignet.

    Statt dessen soll im Grundsatz auf das von Gerard Genette in seinem Werk Palimpseste5 unter Berufung auf Kriteva entwickelte Konzept zurckgegriffen werden, welches von ihm wie folgt umrissen wird:

    Heute (am 13. Oktober 1981) glaube ich fnf Typen transtextueller Beziehungen unterscheiden zu knnen, die nun in der Reihenfolge zunehmender Abstraktion, Implikation und Globalitt aufgezhlt werden sollen. Der erste wurde vor einigen Jahren von Julia Kriteva unter der Bezeichnung Intertextualitt erforscht, und dieses Wort liefert uns unser terminologisches Paradigma. Ich definiere sie wahrscheinlich restriktiver als Beziehung der Co-Prsenz zweier oder mehrerer Texte, d.h. in den meisten Fllen, eidetisch gesprochen, als effektive Prsenz eines Textes in einem anderen Text. In ihrer einfachsten und wrtlichsten Form ist dies die traditionelle Praxis des Zitats (unter Anfhrungszeichen, mit oder ohne genaue Quellenangabe); in einer weniger expliziten und auch weniger kanonischen Form die des Plagiats (etwa bei Lautreamont), das eine nicht deklarierte, aber immer noch wrtliche Entlehnung darstellt; und in einer noch weniger expliziten und weniger wrtlichen Form die der Anspielung, d.h. eine Aussage, deren volles Verstndnis das Erkennen einer Beziehung zwischen ihr und einer anderen voraussetzt, auf die sich diese oder jene Wendung des Textes bezieht, der ja sonst nicht ganz verstndlich wre6.

    Bei Genette ist damit die Begriffshierarchie gegenber dem gngigen Gebrauch verschoben: Als Oberbegriff fr Beziehungen ganz allgemein fungiert bei ihm statt Intertextualitt der Begriff Transtextualitt. Unter dem Begriff der Transtextualitt fat Genette neben der im Zitat beschriebenen Intertextualitt im engeren Sinn mit den dieser untergeordneten Formen des Zitats, des Plagiats und der Anspielung auf der gleichen Ebene vier weitere Begriffe zusammen. An zweiter Stelle rangiert neben der Intertextualitt der Begriff des Paratextes, definiert als eine Aussage ber den eigentlichen Text, die

    1 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman In Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und

    Linguistik Frankfurt am Main, Athenum 1971/72 Bd. 2, 3 S. 345-375, knftig zitiert als Kristeva 1972 2 Kristeva 1972 S. 348

    3 Ulrike Kunkel: Intertextualitt in der italienischen Frhromantik. Die Literaturbezge in Ugo Foscolos

    Ultime Lettere de Jacopo Ortis Tbingen, Narr 1994 S. 11 4 Ebd.

    5 Gerard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe Frankfurt am Main, Suhrkamp 1993, knftig

    zitiert als Genette 1993 6 Ebd. S. 10

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    lektresteuernd wirksam werden kann. Dazu gehren die mit dem Text in engerer Weise verbundenen Peritexte wie Gattungsbezeichnung, Vorwort, Motti sowie der Epitext, der Mitteilungen des Autors ber den Text an einer nicht direkt mit ihm verbundenen Stelle enthlt. Dazu zhlen Interviews oder primr schriftliche uerungen wie Briefe und Tagebcher. An dritter Stelle steht unter dem Begriff der Transtextualitt der Metatext, womit ein Kommentar eines Textes durch einen anderen bezeichnet wird wie z.B. Literaturkritik oder literaturwissenschaftliche Arbeiten ber den primren Text. Der vierte Begriff unter der Transtextualitt ist die Hypertextualitt. Hierbei handelt es sich um eine komplette Umformung eines Ausgangtextes in mehreren mglichen Formen; eine Transformation ist die Behandlung des gleichen Themas wie im Prtext in einem genderten Stil, ein Beispiel ist James Joyces Ulysses im Verhltnis zu Homers Odyssee. Bei der Imitation wird unter Beibehaltung des Stils ein anderes Thema behandelt, ein Beispiel ist Vergils Aeneis im Verhltnis zu Homers Odyssee. Als fnfter Begriff unter der Transtextualitt wird von Genette die Architextualitt definiert, bei der es um Fragen der Zuordnung eines gegebenen Textes zu einer bergeordneten Kategorie, im Grundsatz also um Gattungszuordnung geht7.

    Als Spezialform der Intertextualitt nach Genette ist hier der von Theodor Ziolkowski geprgte Begriff der figure on loan8 zu ergnzen. Er bezeichnet die Technik der bernahme literarischer Figuren von einem Werk ins andere und wird am Auftauchen von Wilhelm Meister in dem von mehreren Mitgliedern des Nordsternbundes gemeinsam verfaten Roman Die Versuche und Hindernisse Karls: Eine deutsche Geschichte aus neuerer Zeit9 exemplifiziert und als eine Taktik der Romantischen Ironie gekennzeichnet.

    Zweifellos eignet sich das von Genette etablierte System grundstzlich gut zur Untersuchung und Klassifizierung von Bezgen zwischen Texten, auch deshalb, weil Genette, wenn auch in anderem Kontext, die Unterstellung von Autorintention sowohl im Hinblick auf den Produktionsproze als auch im Hinblick auf die Steuerung der Rezeption eines Textes ausdrcklich erlaubt:

    Das hauptschliche Anliegen des Paratextes [] besteht nicht darin, im Umfeld des Textes hbsch zu wirken, sondern ihm ein Los zu sichern, das sich mit dem Vorhaben des Autors deckt. Zu diesem Zweck richtet er zwischen der idealen und relativ unwandelbaren Identitt des Textes* und der empirischen (soziohistorischen) Realitt seines Publikums eine [] Art Schleuse ein, durch die sie auf gleicher Hhe bleiben knnen oder, wenn man lieber will, eine Luftkammer, die dem Leser hilft, ohne allzu groe Atemnot von einer Welt in die andere zu gelangen; eine mitunter heikle Operation, vor allem wenn letztere eine fiktive Welt ist10.

    In bereinstimmung damit wird als erste Voraussetzung der vorliegenden Untersuchung gefordert, da zumindest ein Teil der in Sebalds Werk eingefgten intertextuellen Bezge bedeutsam ist. Es wird damit die These aufgestellt, da die fr die vorliegende Untersuchung relevanten intertextuellen Bezge mit der Person des Autors bzw. dem Produktionsproze direkt verknpft sind. Auf die Betrachtung mglicherweise

    7 Genette 1993; cf. auch http://www.uni-due.de/einladung/Vorlesungen/epik/intertextg.htm (22.01.2011)

    8 Theodore Ziolkowski: Figure on loan In Ders.: Varieties of Literary Thematics Princeton University Press

    1983 S. 123-151, in der Folge zitiert als Ziolkowski 1983, hier bes. S. 124 und 127 f. 9 Die Versuche und Hindernisse Karls. Eine Geschichte aus neuerer Zeit Berlin / Leipzig 1808 In Helmuth

    Rogge (Hrsg.): Der Doppelroman der Berliner Romantik Leipzig, Klinkhardt und Biermann 1926 / Hildesheim, Olms 1999 Bd. 1 S. 168 f 10

    Gerard Genette : Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches Frankfurt am Main, Suhrkamp 1989, knftig zitiert als Genette 1989, hier S. 388 f; die mit * angegebene Referenz nimmt Bezug auf Texte mit unsi