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Gianni Vattimo Jenseits des Christentums Gibt es eine Welt ohne Gott? Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer ISBN-10: 3-446-20483-0 ISBN-13: 978-3-446-20483-6 Weitere Informationen oder Bestellungen unter http://www.hanser.de/978-3-446-20483-6 sowie im Buchhandel

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Page 1: Gianni Vattimo Jenseits des Christentums - · PDF fileGianni Vattimo Jenseits des Christentums Gibt es eine Welt ohne Gott? Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer ISBN-10:

Gianni Vattimo

Jenseits des ChristentumsGibt es eine Welt ohne Gott?

Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer

ISBN-10: 3-446-20483-0ISBN-13: 978-3-446-20483-6

Weitere Informationen oder Bestellungen unterhttp://www.hanser.de/978-3-446-20483-6

sowie im Buchhandel

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Die Verkündigung Nietzsches, wonach »Gott tot ist«, stellt nicht nuroder in erster Linie ein Bekenntnis zum Atheismus dar, so als sagteman: Gott existiert nicht. Eine derartige Behauptung, dieNichtexistenz Gottes, kann Nietzsche nicht formulieren, denn sonstwürde die behauptete absolute Wahrheit dieser Behauptung für ihnimmer noch soviel bedeuten wie ein metaphysisches Prinzip, einewahre »Struktur« des Realen, welche dieselbe Funktion hätte wieGott in der traditionellen Metaphysik. Dort, wo es ein Absolutes gibt,und sei es auch die Behauptung der Nichtexistenz Gottes, gibt esimmer noch die Metaphysik, das höchste Prinzip, und das heißt ebengerade jenen Gott, dessen Überflüssigkeit Nietzsche entdeckt zuhaben glaubt. Kurz gesagt, Gott ist tot, das bedeutet für Nietzsche,daß es kein letztes Fundament gibt, und nichts anderes. WenngleichHeidegger das nicht anerkennen will, hat auch seine Polemik gegendie von ihm so genannte Metaphysik, das heißt die gesamteeuropäische philosophische Tradition seit Parmenides – welchemeint, sie könne ein letztes Fundament der Realität in Form einerobjektiven Struktur bestimmen, die wie ein Wesenskern oder einemathematische Wahrheit außerhalb der Zeit gegeben ist –, eineanaloge Bedeutung. So wie Nietzsche nicht behaupten kann, daß Gottnicht existiert (damit müßte er ja sagen, daß er die wahre Struktur desRealen kennt), so kann Heidegger nicht die Metaphysik bestreitenund behaupten, daß das Reale eine andere – nicht objektive,veränderliche usw. – Struktur habe, denn auf diese Weise würde erimmer noch eine Struktur behaupten. Tatsächlich leugnet Heideggerdie metaphysische – objektive, dauerhafte, strukturelle – Konzeptiondes Seins nur im Namen der Erfahrung der Freiheit: Wenn wirexistieren, als Projekte, Hoffnungen, Absichten, Ängste, kurz, alsendliche Wesen, die eine Vergangenheit und eine Zukunft haben undnicht nur Erscheinungen sind, dann kann Sein nicht in Begriffen derobjektivistischen Metaphysik gedacht werden. Diese Ablehnung derMetaphysik drückt in Wirklichkeit die Haltung eines großen Teils des– nicht nur philosophischen, sondern auch künstlerischen,literarischen und religiösen – Denkens der ersten Jahrzehnte des20.Jahrhunderts aus, als die humanistische Kultur das Bedürfnis zuverspüren begann, sich gegen jene »totale Organisation« derGesellschaft aufzulehnen, die mit der Rationalisierung der Arbeit unddem Triumph der Technologie durchgesetzt wurde. Nach Ansicht

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eines großen Teils der Philosophie des 20.Jahrhunderts läßt sich Seinnicht mehr als Fundament denken, und dies nicht nur deshalb, weilman Gefahr liefe, daß dieser Objektivismus die totalitäre Gesellschaftund, zum bösen Schluß, Auschwitz oder den Gulag vorbereitet.Tatsache ist, daß es der europäischen Kultur zum Bewußtseingekommen ist, daß es andere Kulturen gibt, die sich nicht einfach als»primitiv« einstufen lassen, das heißt als solche, die auf dem Wegedes »Fortschritts« hinter uns Westlern hinterherhinken. Das19.Jahrhundert ist die Epoche, in der sich die historischenWissenschaften, aber auch die Kulturanthropologie entwickelten: Esreifte das Bewußtsein, daß es nicht nur einen einzigen Gang derGeschichte (der dann angeblich in der westlichen Zivilisationkulminiert), sondern verschiedene Kulturen und Geschichtsverläufegibt. Dieses Bewußtsein erhielt später entscheidende Anstöße durchdie Befreiungskriege der Kolonialvölker. Der Aufstand Algeriensgegen Frankreich und dann, zu Beginn der Siebziger, der Krieg umdas Erdöl, das sind die letzten Episoden des nicht nur theoretischen,sondern praktischen und politischen Zusammenbruchs desEurozentrismus, und das heißt der Idee einer einzigen menschlichenZivilisation, deren Leitstern und Gipfelpunkt vorgeblich Europadarstellt. Wie passen nun alle diese Dinge, und das heißt Nietzsche,Heidegger, das Ende des Kolonialismus und der christliche Glaube,zusammen? Mir scheint ganz einfach, daß man sagen kann, dieEpoche, in der wir heute leben und die zu Recht postmodern heißt, istdie Epoche, in der man sich die Wirklichkeit nicht mehr als eine festin einem einzigen Fundament verankerte Struktur denken kann,wobei es die Aufgabe der Philosophie wäre, diese zu erkennen, unddie Aufgabe der Religion vielleicht, sie anzubeten. Die tatsächlichpluralistische Welt, in der wir leben, läßt sich nicht mehr mit einemDenken interpretieren, das sie im Namen einer letzten Wahrheit umjeden Preis in eine Einheit bringen will. Ein solches Denken würdeunter anderem jedem demokratischen Ideal zuwiderlaufen, es müßtebehaupten – wie wir es von zahlreichen katholischen Politikern,zumindest in Italien, gehört haben –, daß ein von der Mehrheitgewolltes Gesetz, das aber ohne Wahrheit sei (oder das imWiderspruch zu den Lehren der Kirche stehe), keine Legitimitätbesitzt und daher, so muß man schließen, nicht den Gehorsam derBürger verdient. Von diesem Punkt aus kann man auf verschiedene

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Weise fortschreiten. Beispielsweise läßt sich fragen, wie es nochmöglich ist, rational zu argumentieren, wenn wir auf den Anspruchverzichten, ein absolut letztes Fundament zu erfassen, das jenseits derkulturellen Unterschiede für alle gilt. Hierauf könnte die Antwortlauten: Der universelle Wert einer Behauptung wird geschaffen,indem man den Konsens im Dialog konstruiert und dabei nichtbehauptet, man habe das Recht auf Zustimmung, weil man über dieabsolute Wahrheit verfügt. Und ein dialogischer Konsens wirdgeschaffen, indem man das anerkennt, was wir als kulturelles undhistorisches Erbe sowie auch als dasjenige vontechnisch-wissenschaftlichen Errungenschaften gemeinsam haben.Meine Absicht ist eher zu zeigen, wie es der postmodernePluralismus (mir, aber ich glaube, auch im allgemeinen) gestattet, denchristlichen Glauben wiederzuentdecken. Schließlich ist, wenn Gotttot ist, und das heißt, wenn die Philosophie zur Kenntnis genommenhat, daß sie das letzte Fundament nicht mit Gewißheit ergreifen kann,auch die »Notwendigkeit« des philosophischen Atheismus beendet.Nur eine »absolutistische« Philosophie kann sich ermächtigt fühlen,die religiöse Erfahrung zu leugnen. Doch Nietzsches Verkündigungvom Tode Gottes läßt sich vielleicht etwas noch Wichtigeresentnehmen. Gott ist tot, schreibt Nietzsche, weil seine Gläubigen ihngetötet haben – das heißt, sie haben gelernt, nicht zu lügen, weil er esihnen gebot, und zum Schluß haben sie herausgefunden, daß Gottselbst eine überflüssige Lüge ist. Das aber bedeutet im Lichte unsererpostmodernen Erfahrung: Eben weil Gott als letztes Fundament, unddas heißt als absolute metaphysische Struktur des Wirklichen, nichtmehr vertretbar ist, eben deshalb ist es von neuem möglich, an Gottzu glauben. Allerdings nicht an den Gott der Metaphysik und dermittelalterlichen Scholastik, der jedenfalls nicht der Gott der Bibelist, das heißt des Buches, das gerade die moderne rationalistische undabsolutistische Metaphysik nach und nach aufgelöst und geleugnethatte. Und weiter: Wenn es keine Philosophie mehr gibt (keinehistorizistische wie den Hegelianismus und den Marxismus; und auchkeine positivistische wie die verschiedenen Formen des Szientismus),welche meint, sie könne die Nichtexistenz Gottes beweisen, dannsind wir wieder frei, das Wort der Heiligen Schrift zu hören.

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