forschungspraxis aus ethischer perspektive

32
Forschungspraxis aus ethischer Perspektive Nele Heise, M.A. HAW Hamburg – 11. April 2016

Upload: university-of-hamburg

Post on 14-Apr-2017

408 views

Category:

Science


2 download

TRANSCRIPT

Forschungspraxis aus ethischer Perspektive

Nele Heise, M.A.HAW Hamburg – 11. April 2016

freie Medienforscherin, Referentin und Autorin

Schwerpunkte: Onlinekommunikation und mediale

Teilhabe; digitaler Wandel; Ethik im Netz, Big Data- und

Algorithmen-Ethik

MA-Arbeit „Ethik der Internetforschung“ (qualitative

Interviewstudie, Universität Erfurt, 2011)

I. Sozialforschung als kommunikativer

Prozess

II. Anything Goes? Ethische Dimensionen

von Forschung

Sozialforschung als

kommunikativer Prozess

empirische (Sozial-)Forschung ist

kommunikationsgebunden, d. h. Forschungsprozesse sind

immer auch Kommunikationsprozesse und stellen

kommunikative Beziehungen her (z. B. zwischen

Forscher*innen und Beforschten)

verschiedene (Erkenntnis-)Interessen und

Rollen(asymmetrien), wechselseitige Erwartungen und

normative Ansprüche (z. B. forschungsethische Prinzipien)

Kommunikatives Handeln –

Gegenstand und Grundlage von

Sozialforschung

Unterdrückung kommunikativer Prozesse (nicht-

reaktive Verfahren) bzw. Problematisierung der

Interaktion („reaktive“ Verfahren)

bewusste Forcierung, Interaktion als Zugang zu

sozialer Wirklichkeit von „innen“ heraus; z. B.

teilnehmende Methoden, ethnografische Ansätze,

Kommunikative oder Partizipative Sozialforschung

Kommunikatives Handeln –

Gegenstand und Grundlage von

Sozialforschung

Feine Unterschiede: Interviewformen

u.a. hinsichtlich Fokus, Offenheit, Grad der Standardisierung, Rolle des Interviewenden

kommunikativer Prozess: dialogisch orientiert; stellt

wechselseitige, auf Vertrauen beruhende Beziehung

zwischen Forscher*in und Teilnehmer*in her

(Interesse/Aufmerksamkeit, Raum und Zeit geben)

Herausforderung: technisch-methodisch, Reflexion

kommunikativer Settings und Strategien

(Kommunikationsstil, Transparenz, Authentizität, ...),

Berücksichtigung ethischer Standards und Prinzipien

Interviewen als …

„Der unerfahrene und von sozialen Ängsten befallene

Interviewer (...) hat kein Gespür für die ‚schwangere

Pause‘. Statt selbst auch mal eine Minute zu

schweigen oder die ursprüngliche Frage

abzuwandeln, bombardiert er den Informanten mit

weiteren Fragen. Dadurch wird der Befragte nur noch

wortkarger und verzichtet auch auf Kommentare, die

ihm vielleicht schon auf der Zunge lagen.“

MERTON & KENDALL [1979: 204]

Ethnographisches Interview

besondere Nähe zu Forschungsteilnehmer*innen

(Zugang zur Lebenswelt, Interaktion, Datenqualität)

Spezifische Rolle der/des Forschenden (Beobachtung,

Teilhabe)

besondere Anforderungen in methodischer wie

forschungsethischer Hinsicht (Offenlegung,

Rollenkonflikte, Dokumentation, Anonymisierung)

Anything Goes?

Ethische Dimensionen

von Forschung

Ethik als

Prozess, in dessen Verlauf das

richtige Handeln anhand

allgemeiner Kriterien begründet

werden soll.

9. August 1945http://www.archives.gov/research/military/ww2/photos/images/ww2-163.jpg

https://www.theguardian.com/science/head-quarters/2014/jul/01/facebook-cornell-study-emotional-contagion-ethics-breach

„Bausteine“ von Forschungsethik

“Ethics are guidelines and principles that help us to

uphold our values – to decide which goals of research

are most important and to reconcile values and goals

that are in conflict. Ethical guides are not simply

prohibitions; they also support our positive

responsibilities.”DIENER/CRANDALL [1978: 3]

siehe z. B. DIENER/CRANDALL [1978], STROHM KITCHENER/KITCHENER [2009], FENNER [2010]

Ethische Entscheidungsfindung

(geteilte) Wertbasis

(interne/externe)Verantwortung

Ethische Entscheidungsfindung

in HEISE [2013: 105]

„Auch der weniger spektakuläre Forschungsalltag verlangt uns

ethische Entscheidungen ab: (…) Als Sozialwissenschaftler sind wir

Teil der Gesellschaft, deren Werte auch unsere sind. Wir

interagieren in unseren empirischen Untersuchungen mit

Nichtwissenschaftlern und müssen die Rechte und Interessen der

Untersuchten ernst nehmen. Außerdem müssen sowohl unsere

unmittelbare Kooperation mit Fachkollegen als auch unsere

Interaktion mit der wissenschaftlichen Fachgemeinschaft den

ethischen Grundsätzen der Gesellschaft folgen.“

GLÄSER/LAUDEL [2006: 46f.]

Forschungsethische Richtlinien

Grundsätze „guten“ wissenschaftlichen Arbeitens (DFG)

gegenüber Mitarbeiter*innen, Kolleg*innen, scientific

community (intern) sowie Teilnehmer*innen, Gesellschaft,

ggf. Auftraggebern (extern)

Erfüllung wissenschaftlicher Qualitätskriterien (z.B.

Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit der methodischen

Umsetzung), Anwendung bestmöglicher Standards, v.a. im

Umgang mit Untersuchungsteilnehmern

Abgrenzung von forschungsfremden Tätigkeiten (Auftrags-

/Marktforschung)

Standards im Umgang mit

Forschungsteilnehmer*innen

Freiwilligkeit der Teilnahme und Prinzip der informierten

Einwilligung („informed consent“)

Nicht-Schädigung (Vermeidung möglicher Risiken) und

Schutz (Zusicherung von Anonymität und Wahrung der

Privatsphäre) der Teilnehmer*innen

Rechtlicher Kontext: Persönlichkeitsrechte (Dritter),

Datenschutz (auch Verwahrung/Sicherung), Recht auf

Informationelle Selbstbestimmung, Betreiberrechte (z. B.

AGBs)

Anspruchsgruppen ethischer

Entscheidungsfindung

Ethik-Kodizes

Betreiber

»Ethische Reflexionen sollten nicht nachträglich stattfinden und sich nur auf die technologische Anwendung beschränken, sondern die Forschungsprozesse von Beginn an begleiten.«

FENNER [2010: 196]

http://ct.fra.bz/ol/fz/sw/i54/5/10/3/frabz-ONE-DOES-NOT-SIMPLY-START-THE-PROJECT-WITHOUT-CONSIDERING-ETHICS-9e0b60.jpg

Ethische Fragen im Forschungsprozess

Rekrutierung Datenerhebung Auswertung Publikation

Zugang zu Räumen

Zugang zu Personen

Sichtbarkeitsstrategien

Anonymität vs. Autorschaft

Anonymisierungsstrategien

Handlungen vs. Artefakte

Freiwilligkeit / informed consent

Datenschutz / -verwahrung

Nicht-Schädigung

Transparenz | Offenlegung | Reziprozität

Werturteile & Biases

„Wann im Forschungsprozess – und von wem –

ist eine Einwilligung notwendig?“

Erkenntnisinteresse (Handlungsakte vs. Artefakte)

Zugänglichkeit und/oder Sensibilität von Daten

bzw. Informationen

Erwartungen der Nutzer*innen im Kontext des

Handelns (z. B. Grad der Öffentlichkeit/Privatheit

ihres Handelns)

Visuelle Heuristiken als Entscheidungshilfe und Orientierung; in: MCKEE/PORTER [2009: 132/136]

Informierte Einwilligung

Art der Interaktion / Daten

in: HEISE/SCHMIDT [2014]

Informierte Einwilligung

Anspruch: Nicht-Schädigung und Schutz der

Privatsphäre (in allen Publikationen, z. B. auch Vorträgen)

kein Rückschluss auf einzelne Personen, insb. bei

sensiblen Informationen

Probleme u. a. potenzielle De-Anonymisierbarkeit,

Durchsuchbarkeit/Verknüpfung von Informationen

Lösungsansätze: „Data Fabrication“ [MARKHAM 2012],

visuelle Paraphrasen, Wortwolken etc.

Welcher Grad an Anonymisierung der Daten ist

(bei der Veröffentlichung) notwendig?

Veröffentlichung

Beispielhafte Anonymisierung; in: HEISE/SCHMIDT [2014]

Fallweises Abwägen …

Analysegegenstand: Text(e), aggregierte

Information(sstücke), Personen, …

Nutzungserwartungen in einer Online-Umgebung

Sensibilität gesammelter Informationen

Eigenschaften, wie Alter, Zugehörigkeit (geographisch-

kulturell-politisch) und/oder technische Expertise der

Teilnehmenden

Form der Sammlung und Weiterverbreitung von Daten

Nutzung von Realnamen, echten Nutzer*innen-/Avatar-

Namen, z. B. im Kontext von Zitaten, Screenshots usw.

Erscheinungsort und Zugänglichkeit von Daten und

Forschungsmaterial

in Anlehnung an MCKEE/PORTER [2009: 7f.]

Guidelines / Richtlinien

Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis (DFG 2013), Ethik-Kodizes

einzelner Fachgemeinschaften (s. HEISE/SCHMIDT 2014)

Marktforschung: Qualitätskriterien des ADM Arbeitskreises dt. Markt- und

Sozialforschungsinstitute e. V. (adm-ev.de), ESOMAR (esomar.org)

Online-Forschung: Association of Internet Researchers (aoir.org), NESH

„Ethical Guidelines for Internet Research” (etikkom.no), Standesregeln der

Dt. Gesellschaft für Online-Forschung (dgof.de)

Literatur

HOPF (2009): „Forschungsethik und qualitative Forschung“

AYAß/BERGMANN (2011): „Qualitative Methoden der Medienforschung“

MCKEE/PORTER (2009): „The Ethics of Internet Research“

HEISE/SCHMIDT (2014): „Ethik der Online-Forschung“

Orientierungspunkte

Nele Heise, M. A.

Graduate School Media & Communication www.neleheise.de

@neleheise

Danke.

ADM ARBEITSKREIS DEUTSCHER MARKT- UND SOZIALFORSCHUNGSINSTITUTE E.V. (2011). Positionspapier des ADM zu Kriterien zur Bewertung von Methoden der Markt- und Sozialforschung. http://www.adm-ev.de/fileadmin/user_upload/PDFS/Positionspapier-ADM_Feb-2011.pdf (11. April 2016).

AYAß, R., & J. BERGMANN (Hrsg.) (2011). Qualitative Methoden der Medienforschung. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung. Online verfügbar: http://www.verlag-gespraechsforschung.de/2011/pdf/medienforschung.pdf (10. April 2016).

DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT (2013). Vorschläge zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. 2., ergänzte Aufl. Weinheim: Wiley-VCH. http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/download/empfehlung_wiss_praxis_1310.pdf (11. April 2016).

DIENER, E., & R. CRANDALL (1978). Ethics in Social and Behavioral Research. Chicago/London: University of Chicago Press.

DÖRING, N. (1999). Sozialpsychologie des Internet: die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Göttingen u.a.: Hogrefe.

DZEYK, W. (2001). Ethische Dimensionen der Online-Forschung. Kölner Psychologische Studien 6 (1), S. 1-30. Online verfügbar: http://kups.ub.uni-koeln.de/2424/1/ethdimon.pdf (11. April 2016).

EYNON, R., SCHROEDER, R., & J. FRY (2009). New Techniques in Online Research. Challenges for Research Ethics. 21st Century Society 4 (2), S. 187-199.

FENNER, D. (2010). Einführung in die Angewandte Ethik. Tübingen: Francke.

FRAAS, C., MEIER, S., & C. PENTZOLD (2012). Online-Kommunikation. Grundlagen, Praxisfelder und Methoden. Wien: Oldenbourg Verlag.

GLÄSER, J., & G. LAUDEL (2006). Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen. 2., durchgesehene Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

HAMILTON, R. J., & B. J. BOWERS (2006). Internet Recruitment and E-Mail Interviews in Qualitative Studies. Qualitative Health Research 16 (6), S. 821-835.

HEISE, N. (2013). ‘Doing it for real’. Authentizität als kommunikationsethische Voraussetzung onlinebasierter Forschung. In M. Emmer, A. Filipovic, J.-H. Schmidt & I. Stapf (Hrsg.), Authentizität in der computervermittelten Kommunikation (S. 88-109). Weinheim: Juventa.

HEISE, N., & J.-H. SCHMIDT (2014). Ethik der Onlineforschung. In M. Welker, M. Taddicken, J.-H. Schmidt & N. Jackob (Hrsg.), Handbuch Online-Forschung (S. 519-539). Köln: Herbert von Halem Verlag.

HOPF, C. (2003). Qualitative Interviews - ein Überblick. In U. Flick, E. von Kardoff & I. Steinke (Hrsg.) Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch (S. 349-359). Reinbek: Rowohlt Taschenbuch.

HOPF, C. (2009). Forschungsethik und qualitative Forschung. In U. Flick, E. von Kardoff & I. Steinke (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch (S. 589–599). 7. Aufl. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch.

MERTON, R. K., & P. L. KENDALL (1979). Das fokussierte Interview. In: Hopf/Weingarten (Hrsg.) Qualitative Sozialforschung. Stuttgart (Klett); S. 171-204.

MARKHAM, A. (2012). Fabrication as ethical practice: Qualitative inquiry in ambiguous internet contexts. Information, Communication & Society 15 (3), S. 334-353.

MCKEE, H., & J. PORTER (2009). The Ethics of Internet Research. A Rhetorical, Case-Based Process. New York u.a.: Peter Lang.

MARKHAM, A., & E. BUCHANAN (2012). Ethical Decision-Making and Internet Research: Recommendations from the AoIR Ethics Working Committee (version 2.0). http://aoir.org/reports/ethics2.pdf (11. April 2016).

SCHMIDT, J.-H. (2011). Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. 2., überarb. Aufl. Konstanz: UVK Verlag.

STROHM KITCHENER, K., & R. F. KITCHENER (2009). Social Research Ethics. Historical and Philosophical Issues. In D. M. Mertens & P. E. Ginsberg (Hrsg.), The handbook of social research ethics (S. 5-22). Thousand Oaks: SAGE Publications.

WOLFF, O. J. (2007). Kommunikationsethik des Internets: eine anthropologisch-theologische Grundlegung. Hamburg: Verlag Dr. Kovač.

ZIEGAUS, S. (2009). Die Abhängigkeit der Sozialwissenschaften von ihren Medien. Grundlagen einer kommunikativen Sozialforschung. Bielefeld: transcript.

Quellen