formen von gedächtnis und erinnerung in beim häuten der zwiebel und die box

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HAMID TAFAZOLI University of Washington Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box 1 Das Gedächtnis beruft sich gerne auf Lücken. Was haften bleibt, tritt ungerufen, mit wechselnden Namen auf, liebt die Verkleidung. Auch gibt die Erinnerung oftmals nur vage und beliebig deutbare Auskunft. Sie siebt mal grob-, mal feinmaschig. Gefühle, Gedankenkrümmel fallen wortwörtlich durch. —Grass, Zwiebel 183 “Was in Literatur umgemünzt wird, spricht für sich” (Zwiebel 373). Wie in seinen früheren Werken Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre und Krebs- gang thematisiert Grass auch in Beim Häuten der Zwiebel erlebte Geschichten und Erinnerungen literarisch. Im Mittelpunkt stehen die Aufarbeitung der Geschichte und der Erinnerungsprozess. Als Metapher für Erinnerungen soll die Zwiebel “Haut nach Haut der Erinnerung auf die Sprünge” helfen oder “vertrocknete Tränendrüsen erweich[en] und in Fluß” bringen (Zwiebel 373). Ebenfalls um “Erinnerungen” (Box 101) geht es in Die Box. Hier ist die Kamera, die Erinnerungen durch das Knipsen aufbewahrt; das Entwickeln der Negative macht sie dann zugänglich. In beiden Werken folgt Grass seiner Lebensaufgabe in literarischer Verarbeitung seines Lebens wie seiner Zeit und bestätigt die Auffassung, dass Erinnerungen, bald vage, bald konkret, den Stoff bilden, aus dem die Literatur ist (Humphrey 73). Erinnerungskulturelle Wirkungspoten- tiale durchstreifen beide Werke. Im Hinblick auf individuelle und kulturelle Gedächtnis- und Erinnerungsprozesse möchte ich den Text als Ort der Fixierung erinnerungskultureller Wirkungspotentiale und als Ort des Ge- dächtnisses diskutieren. Als Medium, so möchte ich meine These formulieren, bewegt sich der Text als ästhetischer Ort der Erinnerungsarbeit 2 zwischen einer individuell wie kulturell nachweisbaren Authentizität und einer rheto- risch und kommunikativ gestalteten Poetitzität. Als Zwischen-Stimme, 3 die über Fakten und Fiktionen in Abhängigkeit und in Abgrenzung voneinander spricht, lässt der Text beide Stimmen hören und wird durch die Multiperspek- tivität zu einem konstruierten Ort von Geschichte und Erinnerung. Begonnen wird die Reflexion auf die eigene Geschichte mit einem Bekennt- nis: “Ob heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter The German Quarterly 85.3 (Summer 2012) 328 ©2012, American Association of Teachers of German

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Page 1: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

HAMID TAFAZOLI

University of Washington

Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim

Häuten der Zwiebel und Die Box1

Das Gedächtnis beruft sich gerne auf Lücken. Was haften bleibt, tritt ungerufen,

mit wechselnden Namen auf, liebt die Verkleidung. Auch gibt die Erinnerung

oftmals nur vage und beliebig deutbare Auskunft. Sie siebt mal grob-, mal

feinmaschig. Gefühle, Gedankenkrümmel fallen wortwörtlich durch.

—Grass, Zwiebel 183

“Was in Literatur umgemünzt wird, spricht für sich” (Zwiebel 373). Wie in

seinen früheren Werken Blechtrommel, Katz und Maus, Hundejahre und Krebs-

gang thematisiert Grass auch in Beim Häuten der Zwiebel erlebte Geschichten

und Erinnerungen literarisch. Im Mittelpunkt stehen die Aufarbeitung der

Geschichte und der Erinnerungsprozess. Als Metapher für Erinnerungen soll

die Zwiebel “Haut nach Haut der Erinnerung auf die Sprünge” helfen oder

“vertrocknete Tränendrüsen erweich[en] und in Fluß” bringen (Zwiebel 373).

Ebenfalls um “Erinnerungen” (Box 101) geht es in Die Box. Hier ist die Kamera,

dieErinnerungendurchdasKnipsenaufbewahrt;dasEntwickelnderNegative

machtsiedannzugänglich. InbeidenWerkenfolgtGrassseinerLebensaufgabe

in literarischer Verarbeitung seines Lebens wie seiner Zeit und bestätigt die

Auffassung, dass Erinnerungen, bald vage, bald konkret, den Stoff bilden, aus

dem die Literatur ist (Humphrey 73). Erinnerungskulturelle Wirkungspoten-

tiale durchstreifen beide Werke. Im Hinblick auf individuelle und kulturelle

Gedächtnis- und Erinnerungsprozesse möchte ich den Text als Ort der

Fixierung erinnerungskultureller Wirkungspotentiale und als Ort des Ge-

dächtnissesdiskutieren.AlsMedium,somöchte ichmeineThese formulieren,

bewegt sich der Text als ästhetischer Ort der Erinnerungsarbeit2 zwischen

einer individuell wie kulturell nachweisbaren Authentizität und einer rheto-

risch und kommunikativ gestalteten Poetitzität. Als Zwischen-Stimme,3 die

über Fakten und Fiktionen in Abhängigkeit und in Abgrenzung voneinander

spricht, lässt der Text beide Stimmen hören und wird durch die Multiperspek-

tivität zu einem konstruierten Ort von Geschichte und Erinnerung.

BegonnenwirddieReflexionaufdieeigeneGeschichtemiteinemBekennt-

nis: “Ob heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter

The German Quarterly 85.3 (Summer 2012) 328

©2012, American Association of Teachers of German

Page 2: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

Person zu verkappen: Als er annähernd zwölf zählte […], begann und endete

etwas.Aber läßtsich,wasanfing,wasauslief, sogenauaufdenPunktbringen?

Was mich betrifft, schon” (Zwiebel 7). Dieser Eröffnungsparagraph expliziert

den Wunsch, sich in dritter Person zu äußern; zugleich vollzieht sich der

Wechsel von einem Er zu einem Ich. Die Perspektive der dritten Person Singu-

lar deutet auf Distanzgewinnung als notwendige Strategie des autobiographi-

schen Romans: Das Ich schlüpft in die Rolle eines anderen und macht sich

selbst zum Objekt. Durch die Angabe über das Alter und über den Anfang und

das Ende des Geschehens sowie durch die individuelle Auffassung und Verar-

beitung des Geschehenen wird ein Rahmen gesetzt, der mit dem Griff nach

literarischem Gebrauch jene erzählte Geschichte (wie auch sonst in Grass’

autobiographischem Werk) als individuelle (Re)Konstruktion derselben

erscheinen lässt. Der Perspektivenwechsel durch die Person des Anderen

kommt an mehreren Stellen vor und steuert den Wechsel von unmittelbarer

Anschauung zu nachgeholter Betrachtung:

Von jung an: ihm war nicht beizukommen, weder mit asketischem Maßhalten –

Beschränkung auf schwarzweiß – noch durch Sucht, die alles Papier beflecken

wollte. Selbst Übersättigung bis zum Wortekel hat ihn nicht abstellen können.

Nie gab es genug. Stets war ich gierig nach mehr. (279)

Das Individuum sieht sich von außen und erfährt sich als ein Anderes. Es ist

sich selbst auf der Spur, betritt “die Bühne der Selbstwahrnehmung” (Wagner-

Egelhaaf 11) und versucht, sich seiner selbst bewusst zu werden:

Ich bereits angejahrt, er unverschämt jung; er liest sich Zukunft an, mich holt die

Vergangenheit ein; meine Kümmernisse sind nicht seine; was ihm nicht schäd-

lich sein will, ihn also nicht als Schande drückt, muß ich, der ihm mehr als ver-

wandt ist, nun abarbeiten. Zwischen beiden liegt Blatt auf Blatt verbrauchte

Zeit. (Zwiebel 51)

Das Ich steht in einer doppelten Funktion: Es macht eine Aussage und

markiert die sprechende und beschreibende Instanz; gleichzeitig erfüllt es die

Rolle eines beschriebenen Ichs und nimmt eine sich von der Sprecherinstanz

zeitlich wie räumlich klar unterscheidende Position ein. Das beschreibende

Ich ist der angejahrte Großvater mit einer Vergangenheit, die es in der Gegen-

wart reflektierend in das beschriebene Ich hineinprojiziert. Die zwischen

beiden liegende Zeit belegt—wie die Häute die Zwiebel—“Schicht auf

Schicht” Erinnerungen; zu erkennen sind bei der Zwiebel “Ritze” und bei den

Erinnerungen einen “Zeitspalt, der mit Anstrengung zu erweitern ist”; durch

ihn “sehe ich mich und ihn zugleich” (51).

In Die Box bezeichnet die Fotografin Marie ihre Kamera, wie wir aus Patriks

Munde hören, als etwas, was den Durchblick hat. Hier ist das Spiel mit dem

Perspektivenwechsel das künstlerische Hauptanliegen. In jedem der neun

Kapitel nehmen bis zu acht Erzähler Aufstellung und sprechen über das Ich,

TAFAZOLI: Grass 329

Page 3: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

das bereits zu Beginn des Romans über sie spricht und sie als seine Söhne und

Töchter vorstellt, die über den abwesenden Vater sprechen:

Es war einmal ein Vater, der rief, weil alt geworden, seine Söhne und Töchter zu-

sammen – vier, fünf, sechs, acht an der Zahl –, bis sie sich nach längerem Zögern

seinem Wunsch fügten. Um einen Tisch sitzen sie nun und beginnen sogleich zu

plaudern: jeder für sich, alle durcheinander, zwar ausgedacht vom Vater und

nach seinen Worten, doch eigensinnig und ohne ihn, bei aller Liebe, schonen zu

wollen. Noch spielen sie mit der Frage: Wer fängt an? (Box 7)

Doch das erste Gespräch findet bei dem Vater selbst statt; jedes weitere

Kapitel wird auch von ihm abgeschlossen. Er ist derjenige, der den Rahmen

setzt und das letzte Wort haben will (Zwiebel 8). Dazwischen stehen in Box

Dialoge der Kinder, bei denen der Leser im Verlauf der Gespräche erschließen

soll, wer spricht. Während der Erzähler in Zwiebel den Kunstgriff auf die dritte

Person anwendet, lässt er das Wort Ich in Box seinen Kindern in den Mund. Die

Selbstthematisierung des beschreibenden Ichs erfolgt in beiden Texten als ein

zweifaches Selbst: Ein Selbst als bloßes Lebensresultat mit individuellen

Erfahrungen und mit einem individuellen Gedächtnis und ein Ich, das seine

Selbstheit ausdrücklich macht und sie zum Gegenstand von Darstellung und

Kommunikation erhebt. Die Übernahme von Fremdperspektiven und soziale

Festlegungen machen den “Selbstbezug” des Ichs auf ein Bild, das es von sich

malt, überhaupt möglich (Hahn 10). Es handelt sich also um Spiegelungs-

prozesse.

Die Literarisierung der eigenen Lebensgeschichte macht den Text zu einem

Medium, das sowohl ein Gedächtnis hat als auch es schafft. Gedächtnis und

Erinnerung sind im Prozess der retrospektiven Selbstvergegenwärtigung zwei

Hauptakteuren des autobiographischen Schreibens (A. Assmann, Erinnerungs-

räume 64); ihre einzige Ausdrucksform ist die Sprache. Als Autobiographie

sind Zwiebel und Box bezeichnet worden. Stuart Taberner charakterisiert sie

als “quasi-autobiography” und sieht in ihnen “the instrumentalization of pri-

vate failings for public edification” (505–06). Seine Unterscheidung zwischen

privater und politischer Lebensgeschichte erfolgt durch das Kontrastieren von

Grass’ political private biography und private private biography in der Frage nach

Scham, Mitverantwortung und Mitgliedschaft bei der Waffen SS. Vor allem in

Die Box sieht Taberner “the tension between self and performance, between

private shame and public persona” (507). Die Unterscheidung privater und

politischer Lebensgeschichte erlaubt zudem die Frage nach dem Bezug des

Privaten und des Politischen, der durch Gespräche mit wechselnden und nur

durch den Text hörbaren Stimmen rekonstruiert wird. Den Theorien über

Textualität—besonders Intertextualität—als Gedächtniskonzept der Litera-

turwissenschaft, dem Oliver Scheidings Artikel “Intertextualität” hauptsäch-

lich gewidmet ist, liegen Taberners Überlegungen über eine fiktionalisierte

Lebensgeschichte ebenfalls zugrunde.

330 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

Page 4: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

Die primäre sprachliche Faktur aller literarischen Äußerungen zeigt ihre

Konsequenz in der Konzeption des literarischen Ichs, und zwar in der Ablö-

sung des empirischen Subjektbegriffs zugunsten einer Beschreibungsperspek-

tive. Das Ich der Autobiographie markiert einerseits die sprechende Instanz

und bezieht andererseits eine Position, die sich räumlich wie zeitlich von der

sprechenden Instanz unterscheidet. Die erzähltheoretische Unterscheidung

zwischen der sprechenden und erzählenden Instanz beruht auf der Vorstel-

lung von einer Differenz zwischen pränarrativer Erfahrung und Erinnerung,

welche die Vergangenheit narrativ überformt und retrospektiv Sinn und Iden-

tität stiftet. Die Kollision beider Ich-Varianten konstruiert eine Redesituation,

die sich im Text als Medium ihrer Sprachlichkeit vollzieht und deshalb für die

Literaturwissenschaft von Bedeutung ist. Aktuell wird die Frage nach dem

Stellenwert von Grass’ Werken für Gedächtnis- und Erinnerungsforschung

diskutiert und die These vertreten, dass Grass’ Werk zum wichtigsten zeit-

geschichtlichen Dokument avanciert und das Potential besitzt, in seiner medi-

alen Form das kulturelle Gedächtnis auf unterschiedliche Art und Weise zu

reflektieren, zu entfalten und kulturelle Erinnerungen zugänglich zu machen

(Paaß 14). Die individual-politische Bedeutung und Funktion von Box und

Zwiebel unterstreicht ihre Relevanz für das Generationen- und das kulturelle

Gedächtnis. Mit Taberner gesprochen, hat das Geschehen und mit ihm auch

die Erinnerung in beiden Romanen eine individuelle und eine politische Di-

mension. Wie der Großvater auf das Leben des Zwölfjährigen zurückblickt,

wie das Ich die Kritik an seinem Leben als Familienvater aus dem Munde seiner

Kinder hören lässt und letztlich was seine Texte zum kulturellen Gedächtnis

beitragen, sind meine Ausgangsfragen.

1. Autobiographisches Schreiben als Erinnerungsakt

Beim Häuten der Zwiebel ist als “Roman zum Leben” bezeichnet worden

(Spiegel). Autobiographisches4 ist hier ungebrochen in einer Reihe von Perso-

nen- und Ortsnamen sowie von historischen Daten und Ereignissen einge-

baut. Momente der Fiktion in der Selbstdarstellung sind ebenfalls am Werk.

Dem Wechselspiel von Fiktivem und Faktischem verleihen poetische Bilder

Ausdruck, was gleichermaßen gegen eine absolut faktische wie eine absolut

fiktive Charakterisierung des Textes spricht. Dass die Grenze zwischen dem

Faktischen und dem Fiktiven eher verschwimmt als verdeutlicht wird, ist ins-

besondere dort ersichtlich, wo ein erinnerndes und erzählendes Subjekt die

Bühne betritt, sein Leben “[a]us rückläufiger Sicht” (Box 121) erzählt und

durch Metaphern künstlerische Formen der Erinnerungen gestaltet. Individu-

elles Erinnern und Erzählen durch literarische Strategien lassen den Text

weder als historischen Tatsachenbericht noch als faktische Wiedergabe des

Geschehenen lesen, sondern “als erzählte Geschichte über den Erzähler”

TAFAZOLI: Grass 331

Page 5: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

(Pakendorf 55). Entschlossener wird der Erzählstoff in Box in eine Form ge-

hüllt, die ihn einer faktisch-historischen Kritik entzieht, wie Taberner dies

auch betont. In beiden Werken werden Erinnerungen multiperspektivisch

bald genau, bald lückenhaft erzählt. Faktisches und Fiktives sind nicht immer

auseinanderzuhalten.

Der im Anschluss an dem Schriftsteller und Literaturkritiker Serge Dou-

brovsky gebrauchte Terminus der Autofiktion (ego-fiction) für Texte, in denen

die Grenze des Faktischen und des Fiktiven verschwimmt,5 meint die Thema-

tisierung und die Untersuchung von Schilderungen des Erlebten sowie der

Existenzerfindung unter gleichzeitiger Beibehaltung der fiktiven und der

realen Identität 6 (Baumann 51–145). Das Gedächtnis-Gewebe im Sinne Dou-

brovskys liegt Erinnerungen zugrunde und ermöglicht ihre sprachliche Fixie-

rung im Text, wodurch der Text wiederrum zu einem Speicher- und Gedächt-

nismedium wird. Der unmittelbare Zusammenhang von Erinnerung als

kognitivpsychischer Konstruktion, die bewusst werden muss und dann bild-

lich dargestellt bzw. sprachlich formiert werden kann, und Gedächtnis als

mechanischem Vermögen des Speicherns bedeutet für die Autobiographie,

dass der Text selbst als Raum eines Gedächtnismusters fungieren und zugleich

die Imagines im Netzwerk des kulturellen Gedächtnisses aufrufen kann. Vor

allem hier wird der Text für das Zusammenwirken des individuellen und des

kollektiven Gedächtnisses interessant. Der Ausdruck Gewebe impliziert einen

Prozess und lässt Roland Barthes’ Auffassung vom Text erkennen. Der Text als

“Gewebe” entsteht durch ein ständiges Flechten, bearbeitet sich selbst (Lust

94) und wächst immer nach (Leçon 51). Die Anspielung auf das “Flechten” und

auf die Selbstbearbeitung des Textes hinterfragt dessen Präsentation als etwas

Abgeschlossenes.

In Zwiebel als Medium des Erinnerns in Ijoma Mangolds Interpretation in

der Süddeutschen Zeitung wird im Prozess autobiographischer Selbstvergegen-

wärtigung das zurückliegende Leben von dem in der Gegenwart schreibenden

Subjekt erinnernd in einer gegenwärtigen Redesituation eingeholt. Dabei ist

das Sich-Erinnern ein “Willensakt,” und der Prozess des Sich-Erinnerns ein

Vorgang der (Re)Konstruktion im Text (Wagner-Egelhaaf 13). Orientiert an

Maurice Halbwachs’ Theorie der Gruppenbezogenheit von Erinnerungspro-

zessen inLescadres sociauxde lamémoire (1925), erfolgtder individuelleVorgang

jedoch nicht losgelöst vom Erinnerungshorizont anderer Gesellschaftsmit-

glieder. Individuen sind in unterschiedliche Gedächtnishorizonte mit einem

unmittelbaren Bezug auf weitere Kreise (Familie, Generation, Gesellschaft

und Nation) mit eigenem Gedächtnis eingespannt, woraus die binäre Analyse

des Gedächtnisses als dynamischen Mediums subjektiver und kollektiver

Erfahrungsverarbeitung resultiert.7 Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit ha-

ben einen kommunikativen Charakter, weil sie in einem Milieu räumlicher

Nähe, regelmäßiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter

Erfahrungen mit einem spezifischen Zeithorizont entstehen. Eng verknüpft

332 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

Page 6: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

mit der Identität einer Gesellschaft oder Nation ist das kulturelle Gedächtnis

mit dem Rückgriff auf Archiven, Gedächtnissorte und öffentliche Rituale. Für

dieLiteraturheißtes,dassGedächtnisinhalteerst imSchreibaktanPräsenzge-

winnenunddieSprachezuderwichtigstenStützedesGedächtnissesmachen.

Als solche Gedächtnisinhalte existieren Erinnerungen perspektivisch, frag-

mentarisch, begrenzt, flüchtig, labil und ungeformt in der Vernetzung mit

Erinnerungen anderer und gewinnen an Kohärenz, Glaubwürdigkeit und Ver-

bindlichkeit. Die perspektivische und nachträgliche Versprachlichung des

Inhalts, der Form und Struktur von Erinnerungen stellt ihre absolute Glaub-

würdigkeit in Frage.

Im kritischen Diskurs mit der Gedächtnis- und Erinnerungstheorie richtet

sich meine Frage in Zwiebel und Box nach dem individuellen Erinnerungspro-

zess und seiner Vernetzung und Verortung in einem kollektiven und kulturel-

len Kontext. Konkret möchte ich fragen: Wer erinnert sich und welchen kultu-

rellen Stellenwert haben seine Erinnerungen für andere im literarischen

Schreibakt?

2. Autobiographisches Schreiben und das individuelle Gedächtnis

Problematisch ist im Hinblick auf nicht homogene Gesellschaften die Ein-

bettung von Erinnerungen in einen kollektiven und kulturellen Kontext. In

diesem Zusammenhang stellt Friderike Eigler in der Assmanschen Theorie die

“unausgesprochene Annahme einer homogenen Gesellschaft,” die der ethni-

schen Heterogenität der heutigen Bundesrepublik nicht gerecht wird (Eigler

45–54)8 in Frage und diskutiert die Öffnung der Gedächtnistheorie auf weitere

Fragestellungen durch das Aufzeigen von Grenzen, wo sowohl die Erfassung

und Beschreibung von Gedächtnisdiskursen als auch ihre kritische Analyse

angestrebt wird.9 Die Leistung der Literatur besteht darin, dem Gedächtnis

eine Fassung zu geben, welche stets präsent hält, dass es diese nicht geben

kann. Die kritische Analyse von Gedächtnisdiskursen und die Formen von

kulturellen Erinnerungen sind also weiterführende Ansätze der Literaturwis-

senschaft. Die Einbettung von individuellen Erinnerungsprozessen in die

Perspektive einer Generation, einer Politik und einer Kultur mit dem Bezug auf

den Prozess eines kollektiven Erinnerns führt zu der Frage, wie normativ sich

die individuelle Erinnerungsarbeit im kulturellen Kontext aufweisen kann,

vor allem wenn sie in der Literatur geschieht.10 Weil die Erinnerungsperspekti-

ve individuell ist, weil sich jeder von seiner sich von der anderer unterscheiden-

den Gegenwart aus auch anders erinnert und weil es letztendlich um literari-

sche Prozesse des Erinnerns geht, spreche ich von Formen von Erinnerung und

kulturellem—nicht zwingend kollektivem—Gedächtnis, denn das kollektive

Gedächtnis schließt die Homogenität ein, die heute—Eigler zufolge—kaum

auf eine Gesellschaft zutrifft. Auch innerhalb derselben Generation wird, wie

TAFAZOLI: Grass 333

Page 7: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

Grass’ Texte auch zeigen, unterschiedlich erinnert. Eine besondere Stelle un-

terstreicht meine Annahme, wo sich das beschreibende Ich an seinen erschos-

sen Onkel Franz Krause erinnert:

Der erschossene Onkel, Franz Krause, hinterließ Frau und vier Kinder, die etwas

älter, gleichen Alters, zwei oder drei Jahre jünger als ich waren. Mit ihnen durfte

nicht mehr gespielt werden. Sie mußten die altstädtische Dienstwohnung auf

dem Brabank räumen und aufs Land ziehen, wo die Mutter zwischen Zuckau

und Ramkau eine Instkate und einen Acker besaß. Dort, in der gehügelten Ka-

schubei, hausen des Briefträgers Kinder noch heute, geplagt von üblichen Alters-

gebrechen. Sie erinnern sich ganz anders. (Zwiebel 17)

Es wird hier deutlich, dass auch innerhalb derselben Generation Varianten von

Erinnerungen angenommen werden können, was Defizite im öffentlichen

Umgang mit Erinnerungsdiskursen bestätigt. Das beschriebene Ich ist Zeuge

des Zweiten Weltkrieges und des Untergangs des Großdeutschen Reiches;

Journalisten bezeichnen es als Zeitzeuge des Dritten Reiches. Der literarische

Blick des beschreibenden Ichs auf das beschriebene ich, der durch die zeitliche

Distanz zwischen ihnen deutlich wird, lässt beim beschreibenden Ich

Fremdheitsgefühle aufkommen. Das Leben des beschriebenen Ichs wird in

Abschnitte des Nichtrauchers, des Rauchers von selbstgedrehten Zigaretten

und des Pfeifenrauchers geteilt. (344–45) Das junge Ich leidet an einer

dreifachen Hunger: der “ordinäre Hunger” (279), der “Fleisch versessene Hun-

ger,” der ihn “weitläufig” macht (327), und das nicht zu stillende “Verlangen

nach bildlicher Besitznahme” (279). In der Nachkriegszeit sieht sich das Ich als

“elternlos, heimatlos, als entwurzelt” und geht mit sich selbst “wie mit einem

Waisenkind” um (219). All dies sind seine individuellen Erfahrungen, betrach-

tet durch die zeitlich-räumlich wechselnde Perspektive des Großvaters auf

den Jungen. Vom Großvater gefragt, erzählt der Zwölfjährige über sich und

richtet zugleich die Perspektive auf die Schuljahre zurück. Das zwölfte

Lebensjahr, das mit dem Krieg zusammenfällt, markiert—genauso wie der

Krieg selbst—einen Wendepunkt. Von hier wird nämlich auf das Geschehen

vor und nach dem Ende der Kindheit geblickt; hier “begann und endete etwas”

(7). Was endete, sind die Kindheitsjahre, was beginnt, ist das in die Zukunft

gerichtete Leben des Zwölfjährigen. Die Zeit, in der “das Ende der Kinderjahre

ausgerufen” wird, bleibt entgegen der anfänglichen Behauptung, “[s]ogar die

Uhrzeit wollte unvergesslich sein,” nur vage im Spätsommer bestimmt (7). In

der zeitlichen Einschränkung zwischen der Perspektive des Großvaters und

der des Zwölfjährigen öffnen sich weitere Perspektiven, wie etwa die auf das

vierzigste Lebensjahr und von hier aus wiederum zurück auf die Kindheit. Die

Brücke, die von hier zurückgeschlagen wird, zeigt sich durch das Gedicht

“Kleckerburg” (15), das Historisches ins Gedächtnis zurückruft; die Kindheit

wird also historisiert, poetisiert und im Text, in dem das Kind und der Vierzig-

jährige aufeinandertreffen, rekonstruiert.

334 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

Page 8: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

Die Kindheit wird in einem Mietshaus beendet, wo sich auch das Familien-

leben abspielt. Der Krieg bricht die Kontinuität dieses Familienlebens in der

Stadt Danzig ab, die im Verlauf der Erzählung zu einem Familienort wird, und

ist u.a. die Antriebskraft zu der ungewollten Reise des jungen Soldaten an die

Front. Der Kontinuitätsabbruch zeigt sich bildlich in der Kollektion von

Bildern in den Zigarettenschachteln, die das junge Ich vor dem Krieg sammel-

te. Die Rationalisierung der Tabakware nach dem Kriegsausbruch bewirkte

Lücken inseinerBildersammlung,dieallerdingsnachträglichgeschlossenwer-

den konnten. Solche Lücken lassen sich auch in Erinnerungen nachweisen, die

im besten Falle durch Fiktion geschlossen werden. Darauf komme ich später

zurück. Als zentraler Punkt in der Lebensgeschichte des Ichs erweist sich der

Krieg auch deshalb, weil an ihm die Erzählungen über das, was endete und was

begann, sowie die Darstellung weiterer Ereignisse unmittelbar angeschlossen

werden (26–27).

Die individuelle Perspektive des Ichs umfasst seine Lebensgeschichte zwi-

schen 1939 und 1959. Sie beschränkt sich auf den Ausbruch des Zweiten Welt-

krieges, in dem das Ich zwölf Jahre alt zählte und den Kampf um die polnische

Post in Danzig erlebte und das Erscheinen von Blechtrommel. In der Zeitspanne

zwischen dem zwölften und dem einundzwanzigsten Lebensjahr, die eine

entscheidende Relevanz für den individuellen Erinnerungsprozess besitzt,11

ist das junge Ich Spannungen ausgesetzt, die durch ständige Distanzierung

und Annäherung des beschreibenden Ichs an Dynamik gewinnen. Durch die

individuelle Erinnerungsarbeit werden hier zwei Selbst-Bilder inszeniert, die

sich in einem empirischen und einem künstlerischen Porträt widerspiegeln.

Das empirische Ich steht in der dritten Person Singular, sucht nach Ausflüch-

tenundAusreden;esverschweigtmanches.Oft istvoneinemjungenSoldaten

die Rede, der ein Mitläufer, ein Verdränger und ein Sünder ist:

Noch während der letzten Jahre der Freistaatzeit — ich zählte zehn — wurde der

Junge meines Namens durchaus freiwillig Mietglied des Jungvolks, einer Auf-

bauorganisation der Hitlerjugend. […] Auf dem Weihnachtstisch wünschte ich

mir die Uniform samt Käppi, Halstuch, Koppel und Schulterriemen. (Zwiebel 27)

Die Verdrängungsarbeit des empirischen Ichs bleibt jedoch nicht verdeckt,

sondern wird vom dichterischen Ich erinnernd aufgedeckt. Dieses Ich arbeitet

auf, analysiert, erklärt, hat Erinnerungslücken und macht sich selbst kraft der

Literatur zum Objekt. Bei Erinnerungen an den Schulfreund Wolfgang Hein-

richs, dessen Verschwinden das beschriebene Ich verschwiegen und nicht

nach Gründungen gefragt hatte, bildet nun das beschreibende Ich eine Kausal-

kette:

weil ich mich begnügt hatte, nichts oder nur Falsches zu wissen, weil ich mich

kindlich dummgestellt, sein Verschwinden stumm hingenommen und so aber-

mals das Wort “warum” vermieden hatte, so daß mir mein Schweigen nun, beim

Häuten der Zwiebel, in den Ohren dröhnt. (25)

TAFAZOLI: Grass 335

Page 9: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

Damit wird gezeigt, dass beide Ichs sich keineswegs in einem harmonischen

Verhältnis befinden, sondern vielmehr in einem konfliktreichen Verhältnis

stehen, in dem durch Entdecken und Verstecken der Prozess der Selbst-

findung gesteuert wird. Mit einem Blick auf das Gedicht Was gesagt werden

muss fällt es deutlich auf, dass Grass’ Ich-Figur auch hier einen verstörten

Eindruck hinterlässt, wenn es um das Schweigen und das Ver-schweigen geht.

Sie fühlt sich genötigt, durch die Bildung von kausalen Verhältnissen das

(Ver-)Schweigen zu rechtfertigen und erzeugt dabei Spannungen, die eben

einem Versteckspiel ähneln.

3. Versteckspiele der Erinnerungen

Orte, Gegenstände, Personen und Ereignisse sind miteinander verflochten

und beeinflussen gemeinsam den Erinnerungsprozess, der durch mediale

Träger gesteuert wird. Als wesentliche Anhaltspunkte bei der Schilderung der

Lebensgeschichte bilden der Zweite Weltkrieg und die Stadt Danzig neben der

Familie den Gedächtnishorizont des erinnernden Subjekts, das durch den

Gebrauch von Metaphern beim Schreiben der Lebensgeschichte zeigt, wie die-

se auf die Gedächtnis- und Erinnerungsarbeit angewiesen ist. Das zentrale

Motiv ist die Zwiebel, die das unbeobachtbare organische Gedächtnis meta-

phorisiert und “den feinen Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge, zwi-

schen verschwommenem Blick und Betroffenheit veranschaulichen” soll (Pa-

kendorf 56). Das Zeichen der Archivierung ist, wenn der Zwiebelhaut etwas

eingeritzt steht. Mit dem Bild des Häutens der Zwiebel—das Graben à la Ben-

jamin—wird der Freilassungsprozess von Gespeichertem dargestellt. Der

“Moment der nur Rückbesinnung” gleicht dem “des Griffes nach der Zwiebel”

(Zwiebel 281).12 Wenn Ritze in Zwiebelhäuten einen Speichervorgang symbo-

lisieren, so sind die Häute als Erinnerungsmedien zu deuten, an denen die zu

erzählende und zu memorierende Vergangenheit abgelesen werden kann. Das

Häuten und Hacken der Zwiebel, das Fließen von Tränen und die symbolische

Bedeutung für Schuldbewusstsein, Scham und Trauerarbeit finden ihren ers-

ten Keim in einem ganzen Kapitel der Blechtrommel. Die Zwiebel ist ein Tränen

spendendes Mittel; indem sie tränen fordert, trübt sie den Blick und symboli-

siert einen Erinnerungsakt, bei dem es nur beschränkt gelingt, den memorier-

ten Gegenstand in seinen Varianten klar zu erkennen. Somit verweist das Bild

der Zwiebel bei der Entzifferung und Deutung von Erinnerungen auf Schwie-

rigkeiten, welche die “Problematik eines nur mühsam zu initiierenden Erinne-

rungsprozesses und die Vagheit der schließlich rekonstruierten Ereignisse der

Vergangenheit” beleuchten (Paaß 487). Die Deutungs- und Interpretations-

problematik von Erinnerungen spiegelt sich außerdem darin wider, dass

Erinnerungen oft eine “Spiegelschrift,” verkehrt “oder sonstwie verästelt” sind

(Zwiebel 9), und erst entziffert werden müssen; ein Phänomen, das für Die Box

336 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

Page 10: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

ebenfalls gilt, denn auch Bilder einer Kamera sind Spiegel verkehrt. Das be-

schreibendeIchnenntschoninZwiebeldengesamtenErinnerungsprozessund

die Entzifferungsversuche einen Blick in den “Rückspiegel” (44); es betrachtet

also die Spiegelungen, entziffert und beschreibt diese.

Wenn die Zwiebelhaut nicht eingeritzt ist, dienen andere Gegenstände als

“Hilfsmittel”, die, “wenn sie intensiv genug beschworen werden, zu raunen

beginnen” (64). “Materielle Träger” (A. Assmann, Erinnerungsräume 15) des

Gedächtnisses—Bilder, Gutscheine im Zigarettenpäckchen der Mutter, die

drei Alben in den Farben blau für die Sammlung der gotischen Malerei, rot für

die Sammlung der Malerei der Renaissance und goldgelb für die Bilder des Ba-

rock, die Tabakdose, der Koffer und der Pappkarton, der Zettelkram, der Klei-

derschrak und die Kamera—haben selbst eine archivierende Funktion und

werden befragt, wenn “die imaginierte Zwiebel nichts ausplaudern will”

(Zwiebel 65), oder deren Nachrichten nicht entschlüsselt werden können. Auf

diese Träger stützen sich das Erinnern und das Schreiben des beschreibenden

Ichs; beides stellt sowohl eine Entzifferungsarbeit von Gedächtnisinhalten als

auch einen Akt des Erinnerns und des Speicherns dar, denn durch das Schrei-

benwerdenErinnerungsinhalte interpretiert, fixiertundzugänglichgemacht.

Weder die Gedächtnisarbeit noch das Fixieren von Erinnerungen folgt einem

systematischen Vorgang. Erinnerungen werden als “Bilderfolge” bezeichnet,

bei “deren Produktion der Zufall Regie geführt hat” (140). Als zufällige

“Schnappschüsse” werden sie archiviert (249). Schon hier lassen sich durch die

bildliche Funktion des Films Anspielungen auf Die Box erkennen, wo der Erin-

nerungsprozess ebenfalls unsystematisch verläuft. Hier knippst Marie “im-

mer nur nach Gefühl” und guckt “oft in ne andere Richtung” (Box 16). Die

schlichte Kastenkamera macht das Gespeicherte sichtbar, indem sie

“Schnappschüsse” macht (147); sie macht sie aber auch hörbar, indem sie er-

zählt. In der Funktion des Erzählens wird das Aufbewahrungs- und Speicher-

medium Kamera als Metapher für das Buch gebraucht. Während dort die einge-

ritzte Haut der Zwiebel Gespeichertes ahnen lässt, übernimmt hier die Box

diese Funktion, wenn sie den Durchblick gewährt. Hier sollen Fotos als spre-

chendes Medium den Vater glaubwürdig erscheinen lassen, denn dieser “er-

zählt viel” und “keiner weiß hinterher, wieviel davon wahr ist” (26). Die Fotos

sind “Momentaufnahmen, mehr nicht” (10) und sind nur immer dann ent-

standen, wenn der Vater “Knips mal, Mariechen!” sagte (11). Erinnert wird

auch zum Teil unter “Paps Regie” (170): “Aber auch an die verlorengegangenen

Schnappschüsse, an alles, was Mariechen aus uns gemacht hat, wenn sie mit

den Rollfilmen in ihrer Dunkelkammer verschwand, sollen wir uns erinnern,

nur weil Vater will …” (12).

Ebenfalls als Metapher gilt der starr und leblos erscheinende Bernstein in

Zwiebel, der das Vergangene auf ewig einschließt und den Moment des Todes

konserviert. Der Bernstein und die Zwiebel gleichen einem Vanitas-Motiv:

Der Zwiebel fehlt der Kern, was von ihr nach dem Häuten bleibt, sind ihre

TAFAZOLI: Grass 337

Page 11: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

vertrockneten Häute. Der Bernstein konserviert und verspricht Ewigkeit.

Durch das Zwiebelschälen wird ein aktiver Erinnerungsprozess durch immer

neue, verborgen liegende Hautschichten symbolisiert. Die Unterschiede zwi-

schen beiden Metaphern verdeutlichen die Differenz, die das erzählende Ich

zwischen Erinnerung und Gedächtnis vornimmt:

Die Erinnerung liebt das Versteckspiel der Kinder. Sie verkriecht sich. Zum

Schönreden neigt sie und schmückt gerne, oft ohne Not. Sie widerspricht dem

Gedächtnis, das sich pedantisch gibt und zänkisch rechthaben will. (Zwiebel 8)

Die Variabilität und Verschlossenheit der Erinnerungen zeigen sich darin, dass

sie “mal so, mal so” (10) erzählt werden und sich “leichthin in Variationen”

(56) und “Versteckspiele” (8) verlieren, die vor allem dann vorkommen, wenn

sie nachgearbeitet werden.13 Es soll “Blatt nach Blatt” (12) erinnert werden;

manchmal findet sich aber ein “leeres Blatt,” was wiederum bedeutet, dass

entweder nichts gespeichert ist, oder “ich bin es, der nicht entziffern will”

(114). Erinnerungen des beschreibenden Ichs sind lückenhaft (44), sind “die

fragwürdigste aller Zeuginnen” und “je nach Marktlage käuflich” (64). Ge-

wollte und ungewollte Erinnerungslücken füllen das Blatt aus; geplante und

ungeplante Schummeleien füllen die Lücken aus (9). Solche Anspielungen

heben die Schwierigkeit hervor, an die Wahrheit des eigenen Lebens heran-

zukommen.

Das Versteckspiel geschieht zwischen dem beschreibenden und dem

beschriebenen Ich,14 und tritt an einer Stelle besonders hervor, die sowohl für

das individuelle Gedächtnis relevant ist, als auch eines der zentralen Merk-

male des kulturellen Gedächtnisses ausmacht. Gespielt wird bei der Frage

nach einer verjährten Schuld und dem Schweigen:

Weil aber so viele geschwiegen haben, bleibt die Versuchung groß, ganz und gar

vom eigenen Versagen abzusehen, ersatzweise die allgemeine Schuld einzukla-

gen oder nur uneigentlich in dritter Person von sich zu sprechen: Er war, sah, hat,

sagte, er schwieg … Und zwar in sich hinein, wo viel Platz ist für Versteckspiele.

(36)

Das Schweigen, bereits thematisiert in Aus dem Tagebuch einer Schnecke, verleiht

dem Erinnerungsprozess eine entscheidende Bedeutung, denn dieser bricht

das Schweigen, wandelt es ins Sprechen um und wird als Entlastung der

eigenen Person und Befreiung “von selbstverschuldeter Unmündigkeit” auf-

gefasst (335). Schweigen und Vergessen prägen die Momente der Selbst-

darstellung genauso wie Sprechen und Erinnern. Dass es sich beim Erinnern

und Vergessen um zwei Seiten des einen Prozesses handelt, wird durch

Erinnerungslücken veranschaulicht, die im Text Variationen von Erinne-

rungen und somit auch Fiktionen ermöglichen. Sie tauchen dort auf, wo das

beschreibende Ich nicht mehr weiß, wann oder wie gewisse Handlungen des

beschriebenen Ichs erfolgten. Es wird beispielsweise an einen Koffer erinnert,

338 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

Page 12: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

in dem sich der spärliche Nachlass von zwei Onkeln mütterlicherseits

befindet. An diesen Fund wird eine Reihe von unbeantworteten Fragen

verknüpft; sogar das Alter bleibt rätselhaft (58…59). Beim Abschied von den

Eltern (1944) erinnert sich der junge Soldat an die Abschiedsszene: Der

Abschied von der Mutter wird kurz und klar dargestellt; hingegen fällt der

Abschied vom Vater in Erinnerungslücken: “Er [der Vater H.T.] umarmte

mich. Nein, ich bestehe darauf, meinen Vater umarmt zu haben. Oder kam es

nur männlich zum Händeschütteln” (116)? Den Erinnerungsverlust belegt

außerdem ein verloren gegangenes Tagebuch (135–36). Vermisst werden

auch Oktavhefte, in die das beschriebene Ich Inhalte seines Kochkurses

geschrieben haben will: “Aus ihnen zu zitieren, würde mich glaubwürdiger

machen” (209). Damit deutet das beschreibende ich zwar an, um Glaub-

würdigkeit bemüht zu sein, seine Erinnerungen sind jedoch “löchrig” (200).

Der Zustand, in dem nicht mehr erinnert werden kann, wird mit einem

Filmriss verglichen: “Sooft ich ihn [den Film H.T.] flicke und wieder anlaufen

lasse, bietet er Bildsalat” (138). Scheint die Reihenfolge der Geschehnisse nicht

bestimmbar zu sein, so heißt es: “Die Zwiebel nimmt es nicht allzu genau mit

der Reihenfolge” (422). Wenn nicht mehr erinnert werden kann oder will,

heißt es: “Die Zwiebel verweigert sich” (340). Ähnliches geschieht in Die Box.

Marie lässt Sachen, die noch weh tun können, in ihrer Dunkelkammer oder sie

hat die Negative zu Schnipseln gemacht. Der Drogenkonsum der älteren

Söhne oder exhibitionistische Träume von Laura bleiben im Dunkeln.

Glaubwürdig ist nur, was “Marie mit ihrer Agfa belichtet hatte” und was

genauso — “total ohne Schummel” — aus der Kamera herauskam, so “irre das

aussah” (Box 27).

Beim Vergessen erweist sich das Gedächtnis nicht als schützender Faktor,

sondern mehr als eine Kraft mit eigener Gesetzlichkeit. Dabei kann die Rück-

griffmöglichkeit erschwert (Vergessen) oder blockiert (Verdrängen) werden.

Beides veranlasst eine Neubestimmung der Erinnerungen.15 Erinnerungs-

lücken werden nicht verschwiegen, sondern merklich versprachlicht und zei-

gen, dass die Vergangenheit sich im Gedächtnis des beschreibenden Ichs teil-

weise als Leerstelle manifestiert hat und machen den Entwurf einer an biogra-

phischen Fakten geknüpften Lebensgeschichte unerfüllbar. Die Unzuverläs-

sigkeit und die reduzierte Kapazität des Gedächtnisses, welche die Faktizität

der Lebensgeschichte wiederum relativieren, werden rhetorisch durch eigen-

händige und variantenreiche Komposita mit weißnicht- zum Ausdruck ge-

bracht, die sich im Text kaum wiederholen.

4. Von individueller zu kultureller Erinnerungsarbeit

Krieg als übergeordnetes und Rahmenbildendes Thema stellt den Über-

gang vom individuellen zum Generationengedächtnis wie zum kulturellen

TAFAZOLI: Grass 339

Page 13: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

Gedächtnis dar. Das beschreibende Ich fasst die Ereignisse im Umfeld des

elfjährigenJungenkurzvordemKriegzusammen: InDanzigbrennenSynago-

gen, Schaufenster fielen in Scheiben, Plünderung und Verwüstung sind an der

Tagesordnung. Im “Laub” seiner “Erinnerungen” finde sich nichts, was ihm

günstig wäre; zugleich heißt es aber, dem Jungen gebe sich der Alltag “aufge-

regt aufregend als ‘Neue Zeit’” aus (Zwiebel 26): Max Schmeling siegt, Bernd

Rosemeyer ist der schnellste Rennfahrer, die Luftschiffe Graf Zeppelin und

Hindenburg werden bestaunt und die Waffen siegen. Durch die Schilderung

vonEreignissen,die sichaufdaskollektiv-episodischeGedächtnis stützenund

kulturell einen normativen Verbindlichkeitscharakter aufweisen (Kölbl und

Straube 32), bettet das Ich seine Erinnerungen in einen Kontext mit kulturel-

len Codes. Der Rückgriff auf den historischen Kontext bedeutet für die Ge-

dächtnis- und Erinnerungsforschung, dass das individuelle Gedächtnis in

seiner zeitlichen Erstreckung und in Formen seiner Erfahrungsverarbeitung

vom Horizont des Generationengedächtnisses bestimmt wird.16 Familienge-

nerationen und soziale Generationen verfügen zwar selbst über eigenes

Gedächtnis, erweitern und kontextualisieren aber die individuelle Perspektive

auf die Geschichte.17 Im Erinnerungsprozess sind das historisch Faktische und

das literarisch Fiktive gemeinsam am Werk. Das Wechselspiel von Fakt und

Fiktion, die Lückenhaftigkeit der Erinnerungen und die poetische Freiheit

durch zahlreiche Techniken des literarischen Schreibens verweisen darauf,

dass bei Grass Märchenhaftes (Hinck 4) und Phantasievolles (Kesting 17)

präsent sind, und erlauben den Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit von

Gedächtnis und Erinnerung. Die Relation der Erinnerungen von Generatio-

nenmitgliedern vor dem Hintergrund deren Gedächtnishorizont bestätigt die

Annahme über die gleichzeitige Präsenz des Faktischen und des Fiktiven im

literarischen Erzählen. Das beschreibende Ich stützt der Glaubwürdigkeit

wegen seinen Erinnerungsprozess auf das Familien- und das Generationenge-

dächtnis, greift auf die Perspektive anderer Personen und konstruiert durch sie

eine Wir-Perspektive, in die es seine individuellen Erinnerungen einbettet. Zu-

nächststelltesdieFamilie indenVordergrund:DieMutterhateineVerwandt-

schaftsseite kaschubischen Teils, ist einfühlsam, häuslich, kunstliebend,

warmherzig, freundlich, romantisch, träumerisch, liebevoll, zärtlich, gegen

den Krieg und die “besorgteste aller Mutter” (Zwiebel 30). Ihr Name, Helene,

fällt erst bei der Erzählung über ihre Geschäftstüchtigkeit im Kolonialwaren-

laden des Vaters. Die Mutter bildet nicht nur die emotionale, sondern auch die

finanzielle Seite eines Mutter-Sohn-Verhältnisses, wenn sie ihrem Sohn Ta-

schengeld gibt und ihn für die Tätigkeit als Schuldantreiber anteilig belohnt.

Bei Erzählungen über die Mutter geht es um die Erinnerungen an die eigene

Kindheit und an die Kaschuben im “hügeligen Hinterteil der Stadt Danzig,”

die “nie polnisch, nie deutsch genug” war (41). Die Bedeutung von Danzig als

Familienort wird so auf einen Generationsort erweitert und dabei die Ge-

dächtniskraft dieses besonderen Ortes verstärkt. Die andere Seite der Familie

340 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

Page 14: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

bildet der Vater Wilhelm. Zwischen ihm und seinem Sohn herrscht ein gespal-

tenes Verhältnis, das als eine Art Hass des Müttersöhnchens auf den “nicht

zum gefügigen Haßobjekt” taugenden Vater und als “zusätzlicher Antrieb”

bezeichnetwird (79),dassderSohndenFluchtwegausdemHausesucht.Erin-

nerungen an das Vater-Sohn-Verhältnis stützen sich auf mediale Träge wie

auf die Uhr, die der Vater seinem Sohn geschenkt hatte, oder auf die Speiseöl-

und Fettmarken. Das Kleben dieser Marken verbildlicht einen Moment der

Annäherung des Vaters und des Sohnes, der seinen sentimentalen Höhepunkt

in der Abschiedsszene am Bahnhof erreicht. Familiäre Erinnerungen werden

durch die Figur der Schwester ergänzt. Ein weiteres Familienmitglied, das Va-

riationen der Erinnerungen des beschreibenden Ichs preisgibt, ist der bereits

erwähnteOnkelFranzKruse,dereineFrauundvierKinderzurückließ.Sieper-

sonifizieren den Kriegselend und Vertreibung (18, 117).

Die Wir-Perspektive außerhalb der Familie gestalten Freunde. Mit dem

Schuldfreund Wolfgang Heinrichs teilt das Ich Erinnerungen an das Schlacht-

schiff Warspite und an den Austausch von Kenntnissen über den Kampf um

Narvik. Durch Erinnerungen an Heinrichs’ plötzliches Verschwinden proble-

matisiert das beschreibende Ich das Schweigen. Mit Erinnerungen an dem

Kochmeister werden Beschreibungen historischer Momente—Folgen des Hit-

ler-Stalin-Paktes und der Volksvertreibung—thematisiert. Erinnerungen an

die Besatzungszonen, Arbeitskolonen und die Verschiffung von Arbeitskräf-

ten auf Gebiete der Alliierten werden an Philipp, den Kumpel der Tage im

Munsterlager unter britischer Besatzung geschildert. Die zentrale Figur bei

den Erinnerungen an die Ausbildungsjahre als Künstler und Bildhauer ist der

Lehrer Otto Pankok. Erinnerungen an die erste Liebe spiegeln sich in der Figur

Annerose wider.

Im politischen Umfeld des beschriebenen Ichs in den Kriegsjahren bilden

sich zwei Erinnerungsgruppen: die eine Gruppe tritt gemeinsam zum “Fah-

nenappel” (99) an und zeigt sich an der politischen Richtung aktiv beteiligt.

Mit ihr wird die zweite Gruppe kontrastiert und als Ausnahme vorgestellt, die

durch einen “weizenblond[en],” “blauäugig[en]” und “hochaufgeschosse-

ne[n] Junge[n]”personifiziertwird(96),der sichweigert,demSchießbefehlzu

folgen: “Er oder seine Finger handelten strafwürdig” (97). Beide Gruppen sind

so konstruiert, dass sie das individuelle und das soziale Gedächtnis miteinan-

der vernetzen, und zwar dadurch, dass sie im unmittelbaren Umfeld des Ichs

wirken und zum tagespolitischen Geschehen Stellung nehmen. Dem Wir der

am Krieg aktiv beteiligen Soldaten steht ein anderes Wir gegenüber, das in der

Figur jenes blonden und blauäugigen Soldaten personifiziert ist, der, wie die

anderen flüstern, “schon lange reif fürs KZ” (101) war. In dem Kapitel “Er hieß

Wirtunsowasnicht” äußert sich dieser Soldat stets im Plural und spricht “für

eine Mehrzahl aus, was er zu tun verweigerte” (100). Die Contra-Perspektive

zu dieser Mehrheit wird in den Erinnerungen an die Dienstzeit bei der Waf-

TAFAZOLI: Grass 341

Page 15: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

fen-SS, an die Figur des Führers und an das Wir der Jungnazis in der amerikani-

schen Arbeitslage konstruiert.

Auch Erinnerungen an die Nachkriegszeit sind an eine Wir-Perspektive ge-

bunden, so etwa am Tag der Befreiung Deutschlands, in den Arbeitskolonen,

in Kontakten mit den Befreiern und in der Stellungnahme zur gegenwärtigen

Politik, personifiziert durch die Figur des Kanzlers Adenauer, der wie eine

“Maske” wirkt (341), hinter der sich alles verbirgt, was dem Ich verhasst war:

“die sich christlich gebende Heuchelei” und “die katholische Kungelei gaben

sich als Politik aus” (341). Durch das Kontrastieren mit dieser Figur werden po-

litische und religiöse Ansichten des Ichs durchleuchtet.

Man kann schlussfolgern, dass durch die Variationen der Wir-Perspektive

unterschiedliche Formen gemeinsamer Erinnerungen rekonstruiert, themati-

siert und kontextualisiert werden. Erinnerungen des beschreibenden Ichs an

das beschriebene Ich im individuell und sozial konstruierten Kontext werden

einerseits intertextuell, andererseits mit historisch abrufbaren Daten ver-

netzt. Die Judenverfolgung, das Leben in den Arbeitslagern, der Zweite Welt-

krieg, Volksvertreibungen, die Befreiung und Teilung Deutschlands, der Ab-

wurf der Atombomben auf Japan, der Verfall der Reichsmarkwährung, die

Währungsreform, Anspielungen auf Danzig, West- und Ost-Berlin, Dresden

und Düsseldorf als “Gedächtnisort[e]” (A. Assmann, Erinnerungsräume 21),18

das Wirtschaftswunder und der Kalte Krieg werden in die Erzählungen über

die individuelle Lebensauffassung des Ichs eingebettet. Sie werden durch eine

Wir-Perspektive des Familien- und Generationengedächtnisses eingerahmt

und glaubwürdig gestützt. Zwar dienen historisch nachprüfbare Fakten als

Stütze der Erinnerungen, durch Erinnerungslücken und Fiktionen, durch den

literarischen Kunstgriff, leere Blätter und nicht-eingeritzte Zwiebelhäute

wird die Vergangenheit und mit ihr auch die Geschichte konstruiert und nur li-

terarisch glaubwürdig gemacht. Darum ist das beschreibende Ich darüber hin-

aus bemüht, wenn es seine Erinnerungsarbeit durch Verweise auf Fotos und

durch die Herstellung von intertextuellen Bezügen zum eigenen Werk unter-

stützt.19 Allerdings sind Erinnerungen alles andere als genau, wie zahlreiche

Metaphern und Anspielungen—von der Zwiebel bin hin zu den Momentauf-

nahmen—erkennen lassen. Selbst wenn historische Belege zum Glaubwür-

digmachen der Erinnerungen herangezogen werden, repräsentiert die Aus-

wahl von willkürlich, individuell und literarisch erzählten Erinnerungen nur

einen konstruierten Raum der Geschichte zwischen Blechtrommel und Box.

Durch die Intertextualität erinnert sich Literatur an sich selbst und wird zu ei-

nerArtErinnerungspraktik.DiestrittdurchdiepersönlichenStellungnahmen

des beschriebenen Ichs in fiktiven Dialogen mit Schriftstellern bei Tisch,

durch die Rezeption von literarischen Werken, durch das Kommentieren vom

Erzählten und nicht zuletzt auch durch Verweise auf das eigene Werk zum

Vorschein.

342 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

Page 16: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

5. Fazit

Subjektive Perspektive auf das Geschehen, Lückenhaftigkeit und Variatio-

nen von Erinnerungen, Schweigen und Verdrängen sowie metaphorische

Anspielungen des erinnernden Ichs auf die Zuverlässigkeit der Erinnerungen

lassen bei der Frage nach ihrem kollektiven Bezug Zweifel aufkommen. Die

Analyse von Zwiebel und Box mit der Frage nach kultureller Gedächtnis- und

Erinnerungsarbeit sollte unter Berücksichtigung des multiperspektivisch

organisierten literarischen Verfahrens gestellt werden. So löst sich der Begriff

einer Gesamtwahrheit für literarische Schilderung von individuellen wie

gesellschaftspolitischen Prozessen auf, ohne dass die Stimme des Ichs entkräf-

tet wird. Dies ist nur möglich, wenn man den literarischen Text als medialen

Ort betrachtet, der die Versprachlichung von Erinnerungen und ihre perspek-

tivische Verortung in sozialen und historischen Kontext ermöglicht und zu-

gleich Erinnerungen archiviert. Der Ort des Erinnerungsprozesses ist weder

mit dem Befindlichkeitsort des beschriebenen noch mit dem des beschreiben-

den Ichs identisch, sondern ist der Text, der folglich selbst als Aufbewahrungs-

medium zu einem Gedächtnisort und durch seine kommunikative Funktion

zueinemErinnerungsmediumwird,dessensich jederperspektivischbedienen

kann. Dadurch, dass das beschriebene und das beschreibende Ich im Text-Ort

aufeinandertreffen, wird die Zeitlichkeit ihres Verhältnisses zueinander

zugunsten ihrerRäumlichkeitaufgehoben.Trotz ihrerDifferenzenals jemand

der vertuscht und verschweigt und als jemand, der entdeckt und aufarbeitet,

finden beide im Text-Ort zusammen. Die Stimme des Texts als Raum ihrer

Handlung versprachlicht Differenzen beider Ichs.

Es wurde gezeigt, dass das beschreibende Ich bei seinen Schilderungen auf

außerliterarische Wirklichkeit Bezug nimmt und ihre Diskurse durch Fiktion

reorganisiert. Durch den Zugriff auf Vergangenheitsversionen und Gedächt-

nisinhalte anderer Menschen und anderer Symbolsysteme wie Politik, Ge-

schichte und Alltagsdiskurse kodiert der Text ein kulturelles Wissen über das

Gedächtnis und formt es ästhetisch durch narrative Strukturen, Symbolik

und Metaphern. In der Literarisierung von Erinnerungen und kulturellem

Gedächtnis durch Intertextualität, Interdiskursivität und Selbstreflexion

liegt auch der Versuch über die Herstellung einer textuellen Kohärenz und

Authentizität. Auf diese Weise bildet sich ein Gedächtnis in der Literatur, das

—mit Zygmunt Baumann gesprochen—Vergängliches in ein Unvergängli-

ches übersetzt.

Die Normativität von Grass=Werk für die Gedächtnis- und Erinnerungsar-

beitkannnurvordemHintergrundderFragenachderMedialitätvonLiteratur

und Gedächtnis gestellt werden. Rezeptionsästhetisch betrachtet, stabilisiert

bzw. vermittelt Grass= literarisches Werk nicht die eine Wahrheit, sondern

poetisiert die Formen von individuell wie kulturell geteiltem Wissen über die

Vergangenheit. Wenn über das ABewußtsein von Einheit und Eigenart@ (J. Ass-

TAFAZOLI: Grass 343

Page 17: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

mann, AKollektives Gedächtnis@ 15) einer Gesellschaft gesprochen wird, dann

könnendiesenichtaufdas eineWissengestütztwerden, sondernaufdiemulti-

perspektivischen Formen des Wissens, die Mitglieder der Gesellschaft besit-

zen. So wird jeder Leser im literarischen Text eine besondere normative Ver-

bindlichkeit für die Gesamtheit seiner Gesellschaft finden. Durch den Einbe-

zug der Rezeptionsseite avancieren literarische Texte zu kulturellen Texten,

die kollektive und identitätsstiftende Wissensbestände einer Gesellschaft

transportieren und das Selbstbild dieser Gesellschaft konturieren und somit

einen beständigen Kanon darstellen (A. Assmann, AWas sind kulturelle Texte@

232-44). Astrid Erll verbindet mit Assmanns Theorie erzähltheoretische und

gedächtnistheoretische Kategorien und ergänzt, dass literarische Texte als

kulturelle Texte innerhalb der jeweiligen Rezeptionskontexte unterschiedli-

che erinnerungskulturelle Funktionen erfüllen und auf diese Weise als Spei-

chermedium das kulturelle Gedächtnis bilden. Ein literarischer Text kann in-

nerhalb einer Erinnerungsgemeinschaft als kultureller Text rezipiert werden,

wenn er an die spezifischen Wahrnehmungsweisen des Leserkreises, an die

ASinnhorizonte, kulturspezifischen Schemata, Narrationsmuster sowie Ima-

ginationen der Vergangenheit@ der jeweiligen Erinnerungskultur angeschlos-

sen werden kann (Erll, Kollektives Gedächtnis 106). Als Literatur steht Grass=

Werk in einem Spannungsverhältnis zu Gedächtnisdiskursen. Als sprachli-

ches Medium unterliegt es nicht der Identitätslogik der öffentlichen, politi-

schen und historischen Diskurse. Das literarische Schreiben über Erinnerun-

gen kann hier nicht als Resultat inszeniert werden, sondern muss im Sinne

Barthes als Prozess betrachtet werden, der zeigt, wie sich die Verschränkung

vonGedächtnisundkultureller Identität in ihrenVariantenmodifizieren lässt

(Eigler 56–57) und die Frage nach der literarischen Entfaltung von Erinne-

rungsdiskursen erlaubt. Durch die poetische Bearbeitung von Erinnerungen

macht Grass weder an die bohrende Unruhe der Selbstbefragung Rousseaus

noch an die wechselseitige Durchdringung von Dichtung und Wahrheit, dem

historischen und dem poetischen Ich Zugeständnisse. Sein Werk steht als Ge-

dächtnismedium im Dienst einer selbstreflexiven Erinnerungsarbeit und the-

matisiert Prozesse von Erinnern und Vergessen in ihren Variationen, in denen

das lebendig individuelle und das kulturelle Gedächtnis ineinandergreifen.

Der Text versprachlicht Prozesse dieser Art; was er leistet, ist weder die voll-

kommene Opposition von Geschichte und Gedächtnis noch ihre absolute

Gleichsetzung. Vielmehr wird der Bezug von Gedächtnis und Geschichte als

zwei Modi der Erinnerung (A. Assmann, Erinnerungsräume 133–34) am

Text-Ort literarisiert.

344 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

Page 18: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

Notes

TAFAZOLI: Grass 345

1 Richard Gray in Dankbarkeit.2 Mit dem Begriff der Erinnerungsarbeit soll ein Gedächtnismodell hervorgehoben

werden, das seine “eigene Medialität nicht ausblendet” (Eigler 62). Erinnerungsarbeit

schließt unterschiedliche Formen kritischen Erinnerns, d.h. literarische Strategien,

ein.3 Die dritte Stimme in Beim Häuten der Zwiebel und die der Kinder in Die Box ge-

stalten den Text zu einem Ort, an dem jene Stimme zu hören ist, die Gary L. Baker Im

Krebsgang eine Zwischen-Stimme nennt. Bei der Erzählweise im Roman Im Krebsgang

spricht Baker von einer “middle voice;” sie “makes possible talk of distinctive suffering

situated between the passivity of victims and the agency of perpetrators” (237).4 Siehe zur literaturwissenschaftlichen Diskussion über die Autobiographie aus-

führlich in Wagner-Egelhaaf.5 Doubrovskys Gedanke in Autobiographiques lässt sich so verstehen: Der Erzähler,

der schnell den Namen des Autors übernimmt, verfügt über ein Gedächtnis, das ein

Gewebe knüpft, in dem sich neueste, lang vergangene Erinnerungen vollkommen

durcheinander mischen. In ihm kommen Fiktives und Faktisches gleichermaßen vor.

Das Privileg eines sich im Lebensabend befindenden Autors besteht darin, die Sprache

des Abenteuers dem Abenteuer der Sprache zu überlassen. Kritisch soll hier angemerkt

werden, warum eigentlich die Öffentlichkeit ausgerechnet Schriftsteller zu morali-

schen Autoritäten erhebt. Ist es doch nicht das literarische Werk, für es sie sich inte-

ressieren sollte? Diese Frage stellt man sich im Falle Günter Grass’ besonders, denn

seine Autorität wackelte nicht, weil Zweifel über den ästhetischen Wert seiner Bücher

aufkam, sondern weil die Person des Schriftstellers, seine Handlungen und Meinungen

plötzlich Risse aufweisen. Der ästhetische Maßstab verschwindet schnell aus dem

Blick der Öffentlichkeit; das Werk und mit ihm auch der Schriftsteller werden einer

realen Verurteilung ausgesetzt (Farron).6 Claudia Gronemann diskutiert in der Frage nach Voraussetzungen und Bedin-

gungen neuerer autobiographischer Konzepte die Problematik der Autobiographie für

aktuelle Fragestellungen im Kontext von Lejeune, Serge Doubrovsky und Paul de Man.

Sie hält “[d]as Modell einer retrospektiv erzählten, auf Identität und Kohärenz

gestützten individuellen Persönlichkeitsentwicklung” für problematisch (243). Im

Begriff der Autofiktion sieht sie die Ablehnung des traditionellen Modells der

Lebensdarstellung und die “neue Möglichkeit autobiographischen Schreibens jenseits

von tradierten Gattungsgrenzen” (252). Das Modell der Autofiktion bindet fiktionale

Strukturen, die den Akt des Fingierens kennzeichnen, in die autobiographische Selbst-

darstellung ein.7 Vgl. zuerst A. Assmann: “Konstruktionen von Vergangenheit.” Die außerordent-

liche Fülle von Forschungsbeiträgen (siehe hierzu A. Assmann, “Gedächtnis als Leit-

begriff” 27–45) dokumentiert die Konjunktur, die das Thema Gedächtnis und Erin-

nerung hat und öffnen den Blick auf ein Paradigma, das verschiedene kulturelle

Phänomene und Felder wie etwa Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Reli-

gion und Recht in neue Zusammenhänge bringt (J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis

11).8 Aus der Vielzahl von dem im letzten Jahrhundert veröffentlichten Texten

beschränkt Eigler ihre Analyse auf eine Textauswahl aus Werken von Senocak,

Schmidt, Marion und Wackwitz.

Page 19: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

346 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2012

9 Vgl. Eigler 39–62, hier 40: Diese Öffnung erfolgt im Hinblick auf den nationalen

Identitätsdiskurs in der Konzeption der Deutschen Erinnerungsorte mit der Kritik daran,

dass in diesen Diskursen die in Deutschland lebenden ethnischen Minderheiten

ausgeschlossen bleiben.10 Johannes Fried hat in Der Schleier der Erinnerung an Fallbeispielen aus der poli-

tischen Geschichte die Wandelbarkeit der Erinnerungen betont und demonstriert,

dass einerseits die individuelle Aufnahme von Signalen aus der Umwelt durch unsere

Sinnsysteme und andererseits die Überformung der Vergangenheitsperspektive durch

spätere Erfahrungen die Erinnerungsarbeit steuern. Auf die Wandelbarkeit der Erin-

nerungen von einzelnen Subjekten an dieselbe Zeit verweist Katja Fullard in einem

Vergleich zwischen Grass und Wallershoff und untersucht deren individuelle Perspek-

tive auf das Zeitgeschehen im Rahmen des Fiktionalisierens, um das es in der Literatur

geht: “Both wrote about war in their fiction” (71). “[B]oth demonstrate an awareness

of the unstable nature of memories” and “both insist on the authenticity of their mem-

ories and point to an unchangeable basic truth” (74).11 Karl Mannheim geht davon aus, dass Individuen im Alter von 12 bis 25 Jahren für

lebensprägende Erfahrungen besonders aufnahmefähig sind und dass das, was in

diesem Zeitraum erlebt wurde, für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung eines

Menschen bestimmend bleibt (509–65).12 Das Häuten symbolisiert einen nicht abschließbaren, narrativ entfalteten

Erinnerungsprozess. Mit einem Verweis auf textexterne Passagen aus einem Interview

der FAZ mit Grass schildert Paaß, wie der Akt des Zwiebelschälens und der Akt des

Erinnerns zusammenfallen (488–89).13 Hier zwei Beispiele: Während seiner Ausbildungszeit als Panzermann erinnert

sich das Ich bei seinem Gang durch ein Waldstück zu einem Gutshof mit einem

schlossartigen Bau: “Einmal glaube ich von dorther Musik gehört zu haben. Heute bin

ich mir manchmal sicher, es habe ein Streichquartett etwas von Hayden und Mozart

geübt” (Zwiebel 129). Zu Beginn heißt es: Für das Ich lasse sich, was anfing und was

auslief, genau auf den Punkt bringen, was die Absicht über eine genaue Erinnerungs-

arbeit impliziert. Eine Reihe von Erinnerungslücken bestätigt jedoch die Ungenau-

igkeit von Erinnerungen. Schon in Die Blechtrommel spielt Grass mit Worten, die eine

Ungenauigkeit des Erinnerungsprozesses darstellen sollen wie etwa in der Phrase

“mein hoffentlich genaues Erinnerungsvermögen” (Hall 47–79).14 Bereits in Die Blechtrommel vollziehen sich solche Versteckspiele zwischen dem

Erzähler und Oskar (20).15 Vgl. A. Assmann, Erinnerungsräume (29); siehe zur Diskussion Haverkamp und

Lachmann.16 Im Hinblick auf das Individuum und auf die Darstellung dessen Geschichte

betrachtet Hans Glagau die individuelle Fundierung des autobiographischen

Schreibens als Störfaktor der historischen Wahrheit (55–71). Auch für Roy Pascal

schränkt der individuelle Charakter des autobiographischen Ichs den Wert der

Autobiographie im Auge des Historikers ein. Anders als der Historiker sieht der

Autobiographietheoretiker die individuelle Erfahrung als Besonderheit des autobio-

graphischen Schreibens, in das Ich und die Umwelt in ein wechselseitiges Verhältnis

treten (20–21, 179).17 An Karl Mannheims Theorie einer Einbindung des Individuums in der Dynamik

der gesellschaftlichen Prozesse anknüpfend, erörtert J. Assmann, dass soziale Genera-

Page 20: Formen von Gedächtnis und Erinnerung in Beim Häuten der Zwiebel und Die Box

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tionen die Zeiterfahrung einer Gesellschaft rhythmisieren. Demnach wird das indi-

viduelle Gedächtnis nicht nur in seiner zeitlichen Erstreckung vom Horizont des

Generationengedächtnisses bestimmt, sondern auch in den Formen seiner Erfah-

rungsverarbeitung durch den kommunikativen Austausch stabilisiert, bei dem

Zeitzeugen einer Erinnerungsgemeinschaft eine herausragende Rolle spielen. Ihre

lebendigen Erinnerungen, ihre biographischen und persönlich erfahrenen und

kommunizierten Erfahrungen bilden einen Erinnerungsraum, der mit ihrem Tod nach

drei bis vier Generationen dem neuen Erinnerungsraum folgender Generationen

weicht (Das kulturelle Gedächtnis 11). Die Tradierung dieser Gedächtnisform obliegt

nur ausgewählten Personen. Daran schließt sich das für die Literaturwissenschaft

relevante Merkmal, denn Jan Assmann zählt zu diesen ausgewählten Personen die

Schriftsteller (54).18 Entweder ist das Gedächtnis an den Ort selbst, oder das Gedächtnis wird in den

Ort lokalisiert. Ferner können Orte selbst zu Trägern, und damit zu Subjekten der

Erinnerung werden und Erinnerungen festigen.19 So finden sich zahlreiche Hinweise auf Die Blechtrommel, auf Tagebuch einer

Schnecke, Die Rättin, Im Krebsgang, Hundejahre, Der Butt, Das Treffen in Telgte, Katz und

Maus, Mein Jahrhundert, Ein weites Feld, Örtlich betäubt und auf das Theaterstück

Verlorene Schlachten. Durch intertextuelle Bezüge zu eigenem Werk wird die Absicht

verfolgt, erinnernd auf Elemente vorrangiger Literatur zurückzugreifen.

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