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Universitätsverlag winter Heidelberg Erzählverfahren des Phantastischen in Werken von Fritz Rudolf Fries christine erfurth

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Universitätsverlagwinter

Heidelberg

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erfurthErzählverfahren des Phantastischenin Werken von Fritz Rudolf Fries as Phantastische, in den Gründungsjahren der ddr als formalistisch und spätbürgerlich dekadent offizi-ell abgelehnt, etablierte sich in den 70er und 80er Jahren in der Literatur des Landes, um nach dem politischen Umbruch von 1989 eine der Zeit entsprechende neue Funktion zu erhalten. Fritz Rudolf Fries’ Werke Der Weg nach Oobliadooh (1966/1989), Das nackte Mädchen auf der Straße (1978) und Die Nonnen von Bratislava (1994) zeigen Kontinuitäten und Entwicklungen der Erzähl-verfahren des Phantastischen und den Wandel der ddr-spezifischen Bewertung dieser Ästhetik in den Druck-genehmigungsvorgängen. Als Schriftsteller und Übersetzer bezog Fries im ostdeutschen Wissenschafts- und Litera-turbetrieb zu den Begriffen Phantasie und Phantastisches Stellung und brachte die Literatur Lateinamerikas in die Debatten ein. Die Publikation enthält zudem Gespräche mit dem Autor und seinem Verleger Elmar Faber, die Ein-blicke in Verlagspolitik, Zensurpraxis, Arbeitsprozesse und Schreibkonzepte geben.

Erzählverfahren des Phantastischenin W

erken von Fritz Rudolf Fries

isbn 978-3-8253-6628-5

Erzählverfahrendes Phantastischen in Werken von Fritz Rudolf Fries

christine erfurth

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jenaer germanistische forschungenNeue Folge · Band 40

Herausgegeben von

Reinhard Hahn

Jens Haustein

Klaus Manger

Stefan Matuschek

Dirk von Petersdorff

Gregor Streim

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christine erfurth

Erzählverfahrendes Phantastischenin Werkenvon Fritz Rudolf Fries

UniversitätsverlagwinterHeidelberg

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isbn 978-3-8253-6628-5

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Ver-wertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2016 Universitätsverlag Winter GmbH HeidelbergImprimé en Allemagne · Printed in GermanyLektorat: Ingrid Sonntag, LeipzigDruck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtemund alterungsbeständigem Papier.

Den Verlag erreichen Sie im Internet unter:www.winter-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft.

umschlagbild

Marx-Engels-Denkmal (Berlin-Mitte), Aufstellen der Friedrich-Engels-Skulptur, Februar 1986, ddr© Sibylle Bergemann /ostkreuz

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Inhaltsverzeichnis

Danksagung 7

1 Einleitung 9

2 Kennzeichen phantastischen Erzählens 17

3 Fries als Vermittler phantastischer und lateinamerikanischer Literatur 293.1 Entwicklungslinien einer theoretischen Auseinandersetzung mit phantas-

tischer Literatur in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293.2 Fries’ Positionierung in Gesprächen mit Kritikern und Literaturwissen-

schaftlern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323.3 Fries als Übersetzer lateinamerikanischer Literatur . . . . . . . . . . . . 383.4 Strategien der Bücherbeschaffung im In- und aus dem Ausland . . . . . . 43

4 Der Weg nach Oobliadooh (1966/1989) – Leben in Daseinsmöglichkeiten 514.1 Die Beurteilung der phantastischen Elemente des Romans in den Druck-

genehmigungsverfahren der 60er und 80er Jahre . . . . . . . . . . . . . . 524.2 Oobliadooh als phantastischer Kunstraum – Zeit- und Raumwahrnehmung 634.3 Jazz auf dem Weg nach Oobliadooh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734.4 Wege nach Oobliadooh auf der Wirklichkeitsebene . . . . . . . . . . . . 804.5 Wege nach Oobliadooh in der Phantasie Arlecqs . . . . . . . . . . . . . . 85

5 Das nackte Mädchen auf der Straße (1978) – Eine literarische Auseinanderset-zung mit phantastischen Texten von E. T. A. Hoffmann, Thomas Mann und JulioCortázar 935.1 Der Flaneur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955.2 Das Weibliche als phantastisches Element . . . . . . . . . . . . . . . . . 985.3 Konstruktion und Wahrnehmung von Räumen . . . . . . . . . . . . . . . 1035.4 Van der Wahls Doppelgänger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

6 Die Nonnen von Bratislava (1994) – Destabilisierung der Erzähler 1156.1 Der Roman Die Nonnen von Bratislava und das phantastische Schreiben

in den 90er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1166.2 Die Paradoxie des phantastischen Elementes . . . . . . . . . . . . . . . . 1266.3 Irritationsmethoden des Phantastischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

6.3.1 Erzählsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1346.3.2 Erzählen zwischen Distanz und Unmittelbarkeit . . . . . . . . . . 1356.3.3 Hinweise auf kognitive Einschränkungen des Erzählers . . . . . . 138

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6.3.4 Alemáns nationale Identität zwischen Selbstcharakterisierungund Fremdwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

6.3.5 Explizite autoreferentielle Reflexion des Erzählers über sein Er-innerungsvermögen und dessen Unzuverlässigkeit . . . . . . . . 149

6.3.6 Alemán als Lügner und Betrüger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1596.3.7 Explizite Widersprüche innerhalb des narrativen Diskurses . . . . 1676.3.8 Der Hispanist Dr. Alexander Retard als Korrektiv des Erzählers . 174

6.4 Dr. Alexander Retards Reinkarnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1826.5 Raum- und Zeitbrechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1876.6 Phantastische Metamorphosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

7 Zusammenfassung und Ausblick 213

Anhang 221Gespräch mit Fritz Rudolf Fries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221Gespräch mit Elmar Faber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

Abkürzungsverzeichnis 237

Literaturverzeichnis 239A Werkverzeichnis zu Fritz Rudolf Fries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239B Weitere Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242C Sekundärliteratur zu Fritz Rudolf Fries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246D Weitere Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Verzeichnis der Filme 255

Archivalische Quellen 255

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Danksagung

Ich danke Prof. Dr. Claudia Albert, Prof. Dr. Stefan Matuschek und Prof. Dr. Jan Konstfür die Betreuung der Arbeit, dem Cusanuswerk für die finanzielle und ideelle Förderung,der Ernst-Reuter-Gesellschaft für den Druckkostenzuschuss, Fritz Rudolf Fries und ElmarFaber für die Gespräche, Dr. Sylvia Böhning, Florian Erfurth, Dr. Stefan Flemmig, KarinHerrmann, Iris Hoschka, Siegfried Hoschka, Dr. Katja Leuchtenberger, Karin Morgeneier,Dr. Katrin Ott, Romy Richtsteiger, Fanny Schöler-Rädke, Ingrid Sonntag, Ludger Vollmerund Kristin Weigel für die kritische Lektüre und für die wertvollen Anregungen.

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1 Einleitung

Das Leben von Fritz Rudolf Fries, seine Erzählweise und das literarische Personal seinerTexte ließen sich nicht auf Ostdeutschland beschränken, sondern reichten bereits vor demFall der Mauer weit über die Grenzen des Landes hinaus. Seine Arbeiten erschienen inwichtigen ostdeutschen Verlagshäusern, in der Bundesrepublik sowie in New York, Pa-ris und Amsterdam. Während der Verleihung des Heinrich-Mann-Preises 1979 würdigteKarl Mickel den Preisträger Fries und sprach insbesondere über dessen „Leben in zweiKulturen“.1 Fries wurde 1935 als Kind deutscher Eltern in der baskischen Stadt Bilbaoam Golf von Biskaya geboren. Als er sechs Jahre alt war, verließ die Familie samt spa-nischer Großmutter sein Geburtsland und siedelte nach Leipzig über, wo er später unterWerner Krauss Romanistik studierte. Er lebte und arbeitete in Leipzig, Berlin und in Pe-tershagen, einem Ort in Brandenburg. Er galt als einer der gefragtesten Übersetzer ausdem Spanischen in der DDR. Im Zuge des Lateinamerikabooms in den 70er und 80erJahren übersetzte er insbesondere Werke von Julio Cortázar und Jorge Luis Borges. Erwar Herausgeber einer vierbändigen Borges-Ausgabe und verfasste umfangreiche Nach-worte. Mickel stellte Fries’ literarische und wissenschaftliche Arbeiten heraus, in denender Schriftsteller „zwei Traditionslinien verknüpf[e]“.2 Aber nicht nur die spanische, son-dern auch die lateinamerikanische Kultur tritt in seinen Texten in einen Dialog mit derdeutschen. Die vorliegende Arbeit untersucht die These, inwiefern die Internationalitätvon Fries’ Leben und Werk als Übersetzer auch eine Quelle für das Phantastische seineseigenen Schreibens war. Ziel der Arbeit ist es, die in der bisherigen Forschung umstritte-ne These zu belegen, dass Fries’ Werke anhand ästhetischer Kriterien der phantastischenLiteratur zuzuordnen sind.

Im Wissenschafts- und Literaturbetrieb der DDR waren die Begriffe Phantasie undPhantastisches Gegenstand verschiedener Debatten: In der Diskussion über den Schrift-steller Franz Kafka bezog Anna Seghers literarisch Stellung zu dessen Werk und legteihr Verständnis von Phantasie dar. Später befassten sich im Zuge der Romantikrezeptionostdeutsche Autoren, wie Franz Fühmann, Christa Wolf und Günter de Bruyn, mit denphantastischen Elementen dieser Literatur. Der Blick ostdeutscher Autoren richtete sichauch auf internationale Publikationen, unter anderem von lateinamerikanischen Autoren.Gleichzeitig ist zu beobachten, dass in den 70er und 80er Jahren in der DDR eine Viel-zahl von literarischen Texten entstand, für die phantastische Elemente und Schreibweisencharakteristisch sind. In diesem Umfeld arbeitete Fries als Übersetzer und schrieb Gedich-te, Erzählungen, Romane und Hörspiele. Daher soll untersucht werden, welche Stellunger als Schriftsteller, Wissenschaftler und Übersetzer in diesen Debatten bezog. Folgende

1 Mickel, Karl: In zwei Kulturen leben. Laudatio zur Verleihung des Heinrich-Heine-Preises1979, in: Neue Deutsche Literatur 8, 1979, S. 160–164, hier S. 163.

2 Ebd.

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Fragen leiten die Untersuchung: Welche Kontroversen wurden um Phantasie und um dasPhantastische geführt? Welche Position vertrat Fries innerhalb der Debatten? Reflektierteer darüber in seinen literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten?

Ebenso sollen Brüche und Kontinuitäten in Fries’ Schreibverfahren von seinen Anfän-gen als Schriftsteller in der DDR bis nach der gesamtdeutschen Vereinigung aufgezeigtwerden. Die Arbeit wirft daher die Frage nach Bestimmungs- und Einordnungsmöglich-keiten von Literatur auf. Die Literaturgeschichtsschreibung erfasst den Begriff der DDR-Literatur im Wesentlichen anhand politischer Zäsuren. Ein solches methodisches Vorge-hen schließt jedoch die zweifelhafte These ein, dass sich Literatur und somit auch derenÄsthetik parallel zu historischen Ereignissen wandeln oder direkt auf (kultur)politischeBegebenheiten reagieren müsse. Dieses Verständnis von literarischen Texten aus einemvermeintlich geografisch und zeitlich abgeschlossenen Raum kann nicht geteilt werden.Fries veröffentlichte in Ost und West, wobei sein Erstlingswerk 23 Jahre lang offizi-ell nur dem westdeutschen Lesepublikum zugänglich war. Übersetzungen seiner Werkeerschienen in den Vereinigten Staaten, Frankreich, England, Spanien und in vielen osteu-ropäischen Ländern. Fries’ Texte können aufgrund ihrer Ästhetik in einem literarischenFeld verortet werden, das sich von der deutschen bis zur lateinamerikanischen Litera-tur des 20. Jahrhunderts erstreckt. Unter ästhetischen Aspekten, jenseits von politischenund territorialen Kriterien, zeigt sich in der sogenannten DDR-Literatur eine Vielzahl vonAnsätzen. Daher soll die Frage beantwortet werden, ob Fries auch nach 1989 seinen äs-thetischen Konzeptionen treu blieb und ob eine Differenzierung seiner Texte in DDR- undWendeliteratur haltbar ist.

Weiterhin werden Fragestellungen der Buch- und Verlagsgeschichte in die Unter-suchung einbezogen. Phantastische Schreibweisen emanzipierten sich in der DDR, ob-wohl sie in den Anfangsjahren des Landes als formalistisch und spätbürgerlich dekadentoffiziell abgelehnt worden waren. In diesem Kontext ist die phantastische Ästhetik alsGegenschreibweise zum Formalismusverdikt und den ästhetischen Beschränkungen zuverstehen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich Forschungsfragen aus dem Bereich derVeröffentlichungspraxis der Verlage und wird der Fokus auf Zensur und Instrumenta-lisierung von Literatur gerichtet: Welche Werke von Fries und welche Übersetzungenlateinamerikanischer Autoren konnten in ostdeutschen Verlagen veröffentlicht werden,welche wurden abgelehnt? Wie agierten Autoren und Verleger in den Verhandlungen mitder Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel (HV) beim Ministerium für Kultur? Be-zogen sich die Kontroversen während der Druckgenehmigungsverfahren auf die Ästhetikder Texte, insbesondere auf deren phantastische Schreibweisen?

Durch die Anbindung dieses literaturwissenschaftlichen Projektes an die Buchwis-senschaft ergibt sich eine Schnittstelle mit der historischen Leserforschung. In der DDRbestand eine erhebliche Diskrepanz zwischen den in ostdeutschen Verlagen publiziertenBüchern und der tatsächlich gelesenen und im Wissenschafts- und Literaturbetrieb be-sprochenen Literatur. Über eine Publikation ausgewählter Werke Borges’ und Cortázarswurde beispielsweise erst in den 70er und 80er Jahren verhandelt. Unabhängig von diesenEinschränkungen las und diskutierte Fries wie viele interessierte ostdeutsche Leser inter-nationale Literatur. Auch diesen Besonderheiten des Literaturbetriebes geht die Arbeitnach, da sie Einfluss auf das Rezeptionsverhalten der ostdeutschen Leser nahmen.

Als Untersuchungsgegenstand werden Fries’ Debütroman Der Weg nach Oobliadooh(1966/1989), die Kurzgeschichte Das nackte Mädchen auf der Straße (1978) und der

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Roman Die Nonnen von Bratislava (1994) herangezogen.3 Diese Werkauswahl gibt einenexemplarischen Einblick in Fries’ umfangreiches Gesamtwerk. Die Beschränkung aufdrei Texte aus einem Korpus von mehreren Romanen, Erzählbänden, Gedichtsammlun-gen, Kinderbüchern und Hörspielen ermöglicht eine detailliertere Analyse des Textmate-rials. Im Feuilleton und in wissenschaftlichen Beiträgen werden die ausgewählten Roma-ne der phantastischen Literatur zugeordnet. Fries selbst bezeichnete Das nackte Mädchenauf der Straße als phantastische Kurzgeschichte.4 Die Texte sind im Unterschied zu an-deren Arbeiten des Autors deutlich von phantastischen Motiven und Erzählverfahrengeprägt, während das Phantastische kein primäres ästhetisches Charakteristikum seinesGesamtwerkes ist. Die Verlegung eines Mittleren Reiches5 (1984) sollte beispielsweise inAbgrenzung zur Phantastik als Science-Fiction-Roman und Das Luft-Schiff 6 (1974) unterdem Begriff der Phantasie diskutiert werden.

Den Weg nach Oobliadooh und Die Nonnen von Bratislava schrieb Fries nach grund-legenden politischen Veränderungen – den ersten nach dem Mauerbau von 1961 und denzweiten nach dem politischen und gesellschaftlichen Umbruch von 1989. Die Protagonis-ten setzen sich mit der deutschen Geschichte, dem Nationalsozialismus beziehungsweiseder Ein-Parteien-Diktatur, auseinander und beobachten den Umgang ihrer Mitmenschenmit ihrer Vergangenheit. Sie befinden sich auf der Suche nach einem Platz innerhalb undaußerhalb der Gesellschaft. Da die Werke in einem Zeitraum von vierzig Jahren entstan-den sind, ermöglichen sie eine Analyse von Brüchen und Kontinuitäten im Schreiben desAutors. Den Weg nach Oobliadooh veröffentlichte Fries 1966 im Alter von 31 Jahren.Das nackte Mädchen auf der Straße ist eine Kurzgeschichte der 70er Jahre, einer Zeit, alsphantastische Literatur erstmals in der DDR diskutiert wurde. Der Roman Die Nonnenvon Bratislava erschien 1994 nach dem Fall der Mauer in der Bundesrepublik.

Die Textanalyse erfolgt anhand von Stefanie Kreuzers Theorie zur Beschreibung vonLiterarischer Phantastik in der Postmoderne.7 Kreuzer unterscheidet aufgrund der jewei-ligen spezifischen Ausprägungen der Genremerkmale die sogenannte traditionelle Phan-tastik und die Neophantastik. Die von ihr auf Grundlage etablierter Phantastiktheorienentwickelten Merkmale sind unter anderem der Rezeptionsästhetik entlehnt. Weiterhinlenkt sie den Fokus, der in der bisherigen Phantastikforschung auf der erzählten Welt und

3 Fries, Fritz Rudolf: Der Weg nach Oobliadooh. Roman, Frankfurt/Main 1966; Berlin/Ost, Wei-mar 1989. Ders.: Das nackte Mädchen auf der Straße, in: Die Tarnkappe. 35 Geschichten, hg.v. Sonja Schnitzler u. Manfred Wolter, Berlin/Ost 1978, S. 156–167. Ders.: Die Nonnen vonBratislava. Ein Staats- und Kriminalroman, München 1994.

4 Vgl. Albrecht, Friedrich; Fries, Fritz Rudolf: Interview mit Fritz Rudolf Fries, in: WeimarerBeiträge 25, 1979, H. 3, S. 38–63, hier S. 59.

5 Fries, Fritz Rudolf: Verlegung eines mittleren Reiches. Aufgefundene Papiere. Herausgegebenvon einem Nachfahr in späterer Zeit, Berlin/Ost, Weimar 1984; u. d. T.: Verlegung eines mitt-leren Reiches. Roman. Aufgefunden und herausgegeben von einem Nachfahr in späterer Zeit,Frankfurt/Main 1984.

6 Fries, Fritz Rudolf: Das Luft-Schiff. Biografische Nachlässe zu den Fantasien meines Großva-ters, Rostock 1974; u. d. T.: Das Luft-Schiff. Biografische Nachlässe zu den Fantasien meinesGroßvaters. Roman, Frankfurt/Main 1974.

7 Kreuzer, Stefanie: Literarische Phantastik in der Postmoderne. Klaus Hoffers Methoden derVerwirrung, Heidelberg 2007 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 45) [Zugl.: Frankfurt/Main,Univ., Diss., 2005].

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den Motiven lag, auf die spezifische sprachliche Gestaltung und die erzählerischen Ver-fahren der Texte.

Die Arbeit wertet Interviews und Gespräche mit dem Autor aus, die in den Literatur-zeitschriften Weimarer Beiträge, Neue Deutsche Literatur und Sinn und Form erschienensind, um die Position des Autors in den zeitgenössischen Literaturdebatten und seine Sichtauf die Schreibweisen der von ihm übersetzten und benachworteten lateinamerikanischenAutoren zu untersuchen. Außerdem werden Essays von Fries berücksichtigt, die er alsNachworte zu weiteren ostdeutschen Übersetzungen der Literatur Lateinamerikas schrieb.

Interviews mit Zeitzeugen wurden geführt, um Einblicke in Verlagspolitik, Zensurpra-xis und Rezeptionsgeschichte von Fries’ Publikationen, seinen Herausgaben und Überset-zungen lateinamerikanischer und phantastischer Literatur zu erlangen. Gesprächspartnerwaren der Verlagsleiter Elmar Faber und sein Autor Fritz Rudolf Fries. Faber leitete von1983 bis 1992 den (Ost-)Berliner Aufbau-Verlag und gründete 1990 den Kunst- und Lite-raturverlag Faber & Faber. Seit den 80er Jahren und bis zu seinem Ausscheiden verlegteer Fries’ literarisches Werk. Fries hingegen übersetzte für den Verlag und verfasste fürdie Buchausgaben Essays und Nachworte. Im Interview sprach Fries auch über sein Ver-ständnis von phantastischer und lateinamerikanischer Literatur, über Arbeitsprozesse undSchreibkonzepte sowie über Bezugsmöglichkeiten von westeuropäischen Buchproduktio-nen. Der international anerkannte Romanist Karlheinz Barck, der sich an einem Gesprächüber lateinamerikanische Literatur im Wissenschaftsbetrieb der DDR interessiert gezeigthatte, verstarb 2012. Die Befragungen wurden mittels Leitfadeninterviews durchgeführt.Die Offenheit und geringe Standardisierung der Gesprächssituation ermöglichte intensiveEinblicke in die Sichtweise der Befragten. Ihre Erinnerungen stellen eine unersetzlicheErgänzung zur Erforschung des Literaturbetriebes dar.

Des Weiteren wurden Korrespondenzen, Notizen und Verlagsgutachten aus den Aktender Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes derehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und aus den Druckgenehmigungsaktender Bestände des Bundesarchivs ausgewertet. Da das Quellenmaterial sehr lückenhaft ist– viele Anweisungen und Absprachen zwischen Autor, Verlag und der HV wurden münd-lich getroffen – können die Erinnerungen der Zeitzeugen manche Leerstelle füllen.

Die Einordnung von Fries’ Werken in das phantastische Genre ist bisher nur unzu-reichend untersucht worden. Eine zusammenfassende Darstellung seines phantastischenSchreibens am Beispiel ausgewählter wissenschaftlicher und literarischer Texte fehlt völ-lig. Dabei zählen Überblicksdarstellungen Fries’ Romane wie selbstverständlich zu denphantastischen Texten ostdeutscher Autoren.8 In Einführungen in Leben und Werk wird

8 Vgl. Kaufmann, Eva: Phantastische Literatur, in: Metzler Lexikon. DDR-Literatur. Autoren –Institutionen – Debatten, hg. v. Michael Opitz u. Michael Hofmann, Stuttgart, Weimar 2009,S. 252–254, hier S. 253. Vgl. Roeder, Caroline: Phantastisches im Leseland. Die Entwicklungphantastischer Kinderliteratur der DDR (einschließlich der SBZ). Eine gattungsgeschichtli-che Analyse, Frankfurt/Main u. a. 2006 (Kinder und Jugendkultur, -literatur und -medien 44)[Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2005], S. 185 f., 214 f. Vgl. Amann, Jessica: The fan-tastic in the post-Wende German novel, Nottingham 2003 [Zugl.: Nottingham, Univ., Diss.,2003], S. 45 f. Vgl. Eigler, Friederike: Jenseits von Ostalgie. Phantastische Züge in „DDR-Romanen“ der neunziger Jahre, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 40, 2004, H. 3(Themenbd.: Beyond Ostalgie. East and West German Identity in Contemporary German Cul-ture), S. 191–206, hier S. 197.

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er als „phantastische[r], subversive[r] Erzähler“9 vorgestellt und sein Stil als „überborden-de, leichtfüßig fabulierende und fantastische Schreibweise“10 charakterisiert. Die bishernicht überprüfte These, seine Texte seien in der Tradition der „‚phantastischen Roman-welten‘ der Lateinamerikaner“11 geschrieben, steht die Annahme einer „Nachfolge [. . . ]Jean Pauls und E. T. A. Hoffmann [sic]“12 gegenüber. Einerseits erfolgt eine zurückhalten-de Bestimmung seines Erstlingswerkes durch „phantastische Züge“13 oder „fantastischeMotive“ und „Strukturelemente[ ]“14, andererseits wird derselbe Text als ein „Meister-werk der fantastischen Literatur des 20. Jahrhunderts“15 gepriesen.

Carsten Gansel bespricht den Roman Der Weg nach Oobliadooh in seiner Disserta-tion Zur Rolle des Phantastischen als Mittel realistischer Wirklichkeitserkundung und -wertung im Literaturprozeß der DDR und bei ausgewählten Autoren im Zeitraum 1949 bis198816, die noch in der DDR im Jahr 1989 erschienen ist. Er fragt nach der Funktion vonphantastischen Darstellungsformen innerhalb des Erzählkonzeptes des Autors und bezüg-lich des gesellschaftlichen und historischen Kontextes. Dabei geht Gansel von der Theseaus, dass Literatur der realistischen Wirklichkeitserkundung und -wertung diene, weilphantastische Texte das Verhältnis der dargestellten fiktiven Welt zur Wirklichkeit pro-blematisieren. Diesem Ansatz, der der Entstehungszeit der Schrift geschuldet ist, schließtsich eine aufschlussreiche Analyse der ästhetischen Spezifika der jeweiligen Texte an.Gansel formulierte als Erster die Beobachtung, dass Parallelen zwischen Fries’ phantasti-schen Schreibweisen und der lateinamerikanischen Literatur bestehen.

In der Bundesrepublik entstand, ebenfalls in den 80er Jahren, die Dissertation vonHelmut Böttiger: Fritz Rudolf Fries und der Rausch im Niemandsland. Eine Möglichkeit

9 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR, erw. Neuausg., 1. Aufl. Berlin 2000,S. 288; EA: Darmstadt 1981.

10 Leuchtenberger, Katja: New Yorker Bratenfett und literarische Ostereier. Fritz Rudolf Fries liestUwe Johnson, in: Johnson-Jahrbuch, hg. v. Michael Mofmann u. Mirjam Springer, Göttingen2009, Bd. 16, S. 93–104, hier S. 94.

11 Ebd. Vgl. Barck, Simone: Oobliadooh, in: Dies.; Lokatis, Siegfried: Zensurspiele. Heimli-che Literaturgeschichten aus der DDR. Mit Beiträgen von Günter Agde u. a., Halle 2008,S. 169–171, hier S. 171; EA in: Berliner Zeitung, 18.05.2005.

12 Staudacher, Cornelia: Ein Meisterwerk der fantastischen Literatur. Fritz Rudolf Fries: „DerWeg nach Oobliadooh“, in: deutschlandradio.de, Büchermarkt, 17.12.2012, Web (letzter Zu-griff 22.05.2013) [enthält O-Ton-Aufnahmen des Autors].

13 Eigler 2004, S. 197.14 Barck 2008, S. 171.15 Staudacher 2012.16 Gansel, Carsten: Zur Rolle des Phantastischen als Mittel realistischer Wirklichkeitserkundung

und -wertung im Literaturprozeß der DDR und bei ausgewählten Autoren im Zeitraum zwi-schen 1949 bis 1988. Traditionen, Tendenzen, Varianten und Funktionen, 1989 [Zugl.: Berlin,Akad. für Gesellschaftswiss. beim ZK d. SED, Diss. B, 1989], zu Fries S. 125–147; zusam-menfassende und überarbeitete Darstellung u. d. T.: Mobilisierung der Phantasie oder Versuchüber das Phantastische in der DDR-Prosa, in: DDR-Literatur ’88 im Gespräch, hg. v. SiegfriedRönisch, Berlin/Ost, Weimar 1989, S. 66–98, zu Fries S. 76 f. Ders.: Zwischen Kunstweltenund frustrierender Wirklichkeit. „Der Weg nach Oobliadooh“ von Fritz Rudolf Fries, in: DDRLiteratur ‘89 im Gespräch, hg. v. Siegfried Rönisch, Berlin, Weimar 1990, S. 104–122.

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der DDR-Literatur17 (1985). Böttiger befasst sich erstmalig mit Fries’ Gesamtwerk unduntersucht die Wechselwirkung von Autor und Text unter Berücksichtigung der kultur-politischen Entwicklungen in der DDR. Fries’ bis dahin erschienene Werke liest er hin-sichtlich der dichterischen Selbstsuche des Autors. Er vertritt die streitbare These, dassFries seine „Schreibsituation als Modell“ gestalte, indem er sich „inmitten konkreterpolitischer Bedingungen“ einen „ästhetischen Fluchtraum[ ]“18 erschaffe. InsbesondereBöttigers Überlegungen zur Funktion des Jazz, zur Gegenüberstellung von Kunsträumenund Wirklichkeit sowie zu den Bezügen zwischen Fries’ und Jean Pauls Werk werden inder vorliegenden Arbeit berücksichtigt.

Aktuellere Forschungsbeiträge zum Roman Der Weg nach Oobliadooh, die für dieseArbeit relevant sind, widmen sich dem Jazz, der Stadttopografie als Texttopografie, derAbgrenzung vom sogenannten Ankunftsroman und den labyrinthischen Schreibweisen.19

Für die Analyse der Kurzgeschichte Das nackte Mädchen auf der Straße werden dieArbeiten von Helga Heidecker, Reinhold Grimm und Thomas Senft herangezogen.20 Hei-deckers und Grimms Motiv- und Strukturanalysen verfolgen den Weg von Fries überThomas Mann, E. T. A. Hoffmann bis zu Hans Christian Andersen. Heidecker erweitertzudem den intertextuellen Rahmen auf Julio Cortázars Insel am Mittag (1966). Bereitsvor Heidecker verglich Thomas Senft Fries’ Kurzgeschichte mit diesem Text. In seinerUntersuchung Spanien im Herzen. Funktion und Spiegelung des Hispanischen im Werkvon Fritz Rudolf Fries (1988) widmet er sich den Werken hinsichtlich der Funktion undder Entlehnungen von Stoffen, Motiven und Themen aus der hispanischen Literatur. Diese

17 Böttiger, Helmut: Fritz Rudolf Fries und der Rausch im Niemandsland. Eine Möglichkeit derDDR-Literatur, Hamburg 1985 [Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1985]; Aktualisie-rung und Zusammenfassung u. d. T.: Fritz Rudolf Fries. Der Rausch im Niemandsland, in:Ders.: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Wien2004, S. 142–157. Ders.: Rausch im Niemandsland. Fritz Rudolf Fries, der Jazz und die DDR,in: Fries, Fritz Rudolf: Der Weg nach Oobliadooh. Roman, Berlin 2012 (Die Andere Biblio-thek 331), S. 321–350.

18 Böttiger 1985, S. 6.19 Albert, Claudia: Fritz Rudolf Fries auf dem „Weg nach Oobliadooh“, in: Literatur und Musik in

der klassischen Moderne. Mediale Konzeptionen und intermediale Poetologien, hg. v. JoachimGrage, Würzburg 2007 (Klassische Moderne 7), S. 347–360. Dies.: Stadttopographie als Text-topographie, in: Stadt und Text. Beiträge zum Interdisziplinären Kolloquium Stadt und Text amInstitut für Germanistik der Universität Leipzig im Wintersemester 2005/2006, hg. v. BettinaBock u. Björn Dumont, Leipzig 2006 (Germanistische Fachbeiträge), S. 157–166. Bolln, Frau-ke: Zwischen Beat Generation und ‚Ankunftsliteratur‘. Fritz Rudolf Fries’ Roman „Der Wegnach Oobliadooh“, Bielefeld 2006 [Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 2005]. León Schillgalies, Carolinade: „Das Koordinatensystem der Vorstellungskraft“. Fritz Rudolf Fries’ trojanische Text-Pferdeund das Spanische als Katalysator, 2007, URN: urn:nbn:de:bvb:473-opus-1124 [ElektronischeRessource der Deutschen Nationalbibliothek, Zugl.: Bamberg, Univ., Diss., 2006].

20 Heidecker, Helga: Aus dem Kleiderschrank auf die Straße. Der rätselhafte Weg eines nacktenMädchens. (H. C. Andersen – Th. Mann – F. R. Fries), in: Orbis Litterarum 54, 1999, S. 24–44.Grimm, Reinhold: Intertextuelle Fingerübungen? Zu zwei Kurzgeschichten von Fritz RudolfFries, in: Literatur für Leser 21, 1999, H. 4, S. 185–198. Senft, Thomas: Spanien im Herzen.Funktion und Spiegelung des Hispanischen im Werk von Fritz Rudolf Fries, Rheinbach-Merzbach 1988 (Bonner Untersuchungen zur vergleichenden Literaturwissenschaft 5) [Zugl.:Bonn, Univ., Diss., 1986].

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Ergebnisse greift die vorliegende Arbeit auf, um Fries’ Auseinandersetzung mit E. T. A.Hoffmann und Julio Cortázar neu zu bewerten und zur Diskussion zu stellen.

Martin Kanes Aufsatz ‚Zuweilen verliere ich mich in fantastischen Zusammenhän-gen‘. Fritz Rudolf Fries’s Extravaganza „Die Nonnen von Bratislava“21 (2000) widmetsich den phantastischen Elementen des Romans Die Nonnen von Bratislava. Kane veran-schaulicht an diesem Textbeispiel seine Beobachtung, dass die sogenannte Wendeliteraturvon dem Phantastischen und einem ausgeprägten satirischen Humor gezeichnet ist. Erversucht so, seine fragwürdige Annahme zu belegen, dass die Autoren auf diese Weiseihre eigene Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit verarbeiteten. Kane verzichtet auf einetheoretische Bestimmung des Phantastischen und erwähnt ausschließlich Ereignisse aufder Handlungsebene, die den Naturgesetzen widersprechen. Die vorliegende Arbeit wirddagegen zeigen, dass mit den Kategorien des Phantastischen die Ästhetik des Romansumfassender beschrieben werden kann.

Zwei Dissertationen vergleichen Die Nonnen von Bratislava mit Romanen ostdeut-scher Autoren, die sich dem politischen Umbruch von 1989/90 widmen. Unter dem TitelWendekrisen. Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre22 (2006) untersucht Mir-jam Gebauer die Gestaltung pikaresker Figuren. Sie vertritt die These, dass die Autoren„karnevaleske und pikareske Gestaltungsstrategien als Antwort auf Problemstellungen derNachwendezeit und insbesondere auf Redegegenstände und Regularitäten des Diskursesdieser Periode“23 fanden. Für die vorliegende Arbeit wird ihre Untersuchung des unzu-verlässigen Erzählers von Interesse sein, der eine konstitutive Bedingung des Pikareskensowie des Neophantastischen ist. Michael Haase dagegen widmet sich in seiner Disser-tation Eine Frage der Aufklärung. Literatur und Staatssicherheit in Romanen von FritzRudolf Fries, Günter Grass und Wolfgang Hilbig24 (2001) dem Paradoxon Dichter-IM.

21 Kane, Martin: ‚Zuweilen verliere ich mich in fantastischen Zusammenhängen‘. Fritz RudolfFries’s Extravaganza „Die Nonnen von Bratislava“, in: 1949/1989. Cultural perspectives ondivision and unity in East and West, hg. v. Clare Flanagan u. Stuart Taberner, Amsterdam,Atlanta 2000 (German Monitor 50), S. 161–175.

22 Gebauer, Mirjam: Wendekrisen. Der Pikaro im deutschen Roman der 1990er Jahre, Trier 2006(Schriftenreihe Literaturwissenschaft 72) [Zugl.: Kopenhagen, Univ., Diss., 2003]. Die Autorinbespricht zudem Thomas Brussigs „Helden wie wir“ (1995), Jens Sparschuhs „Der Zimmer-springbrunnen“ (1995) und Günter Grass’ „Ein weites Feld“ (1995). Gebauer veröffentlichteihre Forschungsergebnisse auch u. d. T.: „Ich heiße Mateo Alemán, aber ich bin nicht MateoAlemán . . . “. Verfahren der Fiktionalisierung von Mateo Alemán in Fritz Rudolf Fries’ „DieNonnen von Bratislava“ und Theodor Fontane in Günter Grass’ „Ein weites Feld“, in: ColloquiaGermanica 34, 2001, Nr. 3/4, S. 271–286; Dies.: Reinkarnierter Schriftsteller. Zur mehrstufigenFigurenkonstruktion in Fritz Rudolf Fries’ „Die Nonnen von Bratislava“ und Günter Grass’„Ein weites Feld“, in: Thema mit Variationen. Dokumentation des VI. Nordischen Germanis-tentreffens in Jyväskylä vom 4.–9. Juni 2002, Frankfurt/Main u. a. 2004 (Finnische Beiträge zurGermanistik 12), S. 477–487.

23 Gebauer 2006, S. 12.24 Haase, Michael: Eine Frage der Aufklärung. Literatur und Staatssicherheit in Romanen von

Fritz Rudolf Fries, Günter Grass und Wolfgang Hilbig, Frankfurt/Main u. a. 2001 (EuropäischeAufklärung in Literatur und Sprache 13) [Zugl.: Duisburg, Univ., Diss., 2000]. Er behandeltweiterhin Günter Grass’ „Ein weites Feld“ (1995) und Wolfgang Hilbigs „Ich“ (1993). Haaseführt den Begriff ‚Dichter-IM‘ ein, der auch in der vorliegenden Arbeit verwendet wird.

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Seines Erachtens ergründet Fries’ Roman die ethische und geschichtliche Dimension derirritierenden Tatsache, dass sich Dichter als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des Ministeri-ums für Staatssicherheit funktionalisieren ließen. Fries hinterfrage dabei den Dichter-IMin seiner Verantwortung als Dichter. Da die Paradoxie ein Genremerkmal des Phantasti-schen ist, knüpft diese Arbeit an Haases Begriff an.

Die Arbeit beginnt mit einer Betrachtung des Autors als Vermittler lateinamerika-nischer Literatur und zeichnet die Entwicklungslinien einer theoretischen Auseinander-setzung mit Phantasie und Phantastischem nach. Daran angeschlossen wird die Analysekonkreter Textbeispiele und deren Publikationsgeschichte. Die autorisierten Interviews,die im Laufe dieser Arbeit geführt wurden, sind im Anhang veröffentlicht.

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2 Kennzeichen phantastischen Erzählens

Franz Kafkas Erzählverfahren entziehen sich den Phantastik-Theorien, die von TzvetanTodorov, Roger Caillois, Peter Cersowsky und Uwe Durst vertreten werden.1 Die Wis-senschaftler schließen seine Texte entweder aus dem Korpus phantastischer Literatur ausoder bestimmen sie als Sonderfall und ferner als ein „neues Genre“.2 Todorov verkün-dete, dass mit Kafkas Text Die Verwandlung (1915) der Phantastik ein Ende gesetztsei.3 Jedoch geben vor allem Texte lateinamerikanischer Autoren, wie Julio Cortázar,die sich an Kafka orientierten, Zeugnis eines Paradigmenwechsels. Der argentinische Li-teraturwissenschaftler Jaime Alazraki entwickelte ausgehend von Kafkas und CortázarsWerken eine erste Poetik der sogenannten Neophantastik.4 Die Eigenart vor allem vonKafkas Texten wurde zum Maßstab für dieses theoretische Konzept erhoben. Innerhalbdes Genres wird zwischen traditioneller Phantastik und Neophantastik unterschieden.Als neophantastische Literatur diskutieren die einschlägigen wissenschaftlichen Beiträ-ge von Renate Lachmann, María C. Barbetta und Stefanie Kreuzer die Werke von sounterschiedlichen Autoren wie Franz Kafka, Julio Cortázar, Jorge Luis Borges, AdolfoBioy Casares, Bruno Schulz, Flann O’Brien, Vladimir Nabokov, Klaus Hoffer, ChristophRansmayr, Patrick Süskind, Sten Nadolny und Robert Schneider. Als Vertreter der tradi-tionellen Phantastik gelten dagegen Alexander Puschkin, Dostojewski, E. T. A. Hoffmannund Edgar Allan Poe.5

1 Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique, Paris 1970; dt. u. d. T.: Einführung indie fantastische Literatur, Frankfurt/Main 1992; EA: München 1972. Caillois, Roger: Das Bilddes Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction, in: Phaïcon. Almanach der phantas-tischen Literatur 1, hg. v. Rein A. Zondergeld, Frankfurt/Main 1974, S. 44–83; EA: 1. Kapitelseines Buches: Images, images. . . : essais sur le rôle et les pouvoirs de l’imagination, Paris1966. Cersowsky, Peter: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Un-tersuchungen zum Strukturwandel des Genres, seinen geistesgeschichtlichen Voraussetzungenund zur Tradition der „schwarzen Romantik“ insbesondere bei Gustav Meyrink, Alfred Kubinund Franz Kafka, München 1983 [Zugl.: Würzburg, Univ., Diss., 1981]. Durst, Uwe: Theorieder phantastischen Literatur, aktualisierte, korrigierte und erw. Neuausg. Berlin 2007 (Litera-tur. Forschung und Wissenschaft 9); EA: Tübingen, Basel 2001 [Zugl.: Stuttgart, Univ., Diss.,1999].

2 Durst 2007, S. 314.3 Vgl. Todorov 1992, S. 150–156.4 Alazraki, Jaime: En busca del unicornio. Los cuentos de Julio Cortázar. Elementos para una

poética de lo neofantástico, Madrid 1983.5 Vgl. Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phan-

tastischer Texte, Frankfurt/Main 2002, S. 18–26. Vgl. Barbetta, María C.: Poetik des Neo-Phantastischen. Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“, Würzburg 2002 (Epistemata, ReiheLiteraturwissenschaft 354) [Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2000]. Vgl. Kreuzer, Stefanie: Li-terarische Phantastik in der Postmoderne. Klaus Hoffers Methoden der Verwirrung, Heidelberg

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Das Genremerkmal, das alle theoretischen Arbeiten zur Neophantastik verbindet, ist derRezeptionsästhetik entlehnt. Es bezieht sich auf das Interaktionsverhältnis zwischen Textund Leser. Das Phantastische wird als affektintensives Genre diskutiert. Während derRezeption von literarischen Texten der traditionellen Phantastik werden emotionale Re-aktionen, wie Angst, Schreck, Horror oder Ekel, hervorgerufen. Beispielsweise gelten dieGemütsbewegungen Angst und Schrecken als poetische Anliegen des Schauerromans.Die Wirkung neophantastischer Literatur hingegen reduziert sich auf eine unbestimmteIrritation des Lesers.

Der Einbezug des wirkungsästhetischen Ansatzes ist kennzeichnend für die maxima-listische Theorie, wie sie Caillois vertritt. Für ihn sind phantastische Texte „in erster Linieein Spiel mit der Angst“.6 Hans Richard Brittnacher benennt die Angst als „phantasti-schen Primäraffekt“. In Anlehnung an Sören Kierkegaard grenzt Brittnacher diesen Ge-mütszustand „als ein ungerichtetes und zustandsbezogenes Gefühl“ von der „gerichtet[en]und gegenstandsbezogen[en] Furcht“ ab. Aufgrund des „unspezifischen Charakter[s]“7

eigne sich die Angst insbesondere für das Genre, da sie der Desorientierung des Lesersphantastischer Texte entspräche. Des Weiteren verweist Brittnacher auf den Schrecken alsAusdruck großer Intensität des Erlebens, „den tendenziell immer auch eine Dimension desPlötzlichen und Unvorhergesehenen charakterisiert“.8 Der Schrecken als überwältigendeErfahrung des Schocks tritt beispielsweise in Baudelaires Großstadtlyrik in Erscheinung.Todorov kritisiert dieses, seines Erachtens spekulative Kriterium der Angst und gibt zubedenken, „daß [damit] die Gattung eines Werkes von der Nervenstärke seines Lesersabhängt“. Die Wirkungskraft der Texte auf die Psyche der Leser während der Lektüre istheterogen. Aufgrund seiner Beobachtung, dass die Texte Prinzessin Brambilla (1820) vonE. T. A. Hoffmann und Véra (1874) von Villiers de L’Isle-Adam diese Bedingung nicht er-füllen, schlussfolgert er: „Die Angst ist zwar oft mit dem Fantastischen verbunden, nichtaber eine seiner notwendigen Bedingungen [. . . ].“9 Um den Unterschied zwischen „derklassischen fantastischen Erzählung“10 und vor allem Kafkas Literatur zu verdeutlichen,führt er Jean-Paul Sartre mit Aminadab oder Das Phantastische als Sprache (1943) an:

Ich setze mich, bestelle einen Milchkaffee, der Kellner läßt mich die Bestellung dreimalwiederholen und wiederholt sie selbst, um jeden Irrtum auszuschließen. Er eilt davon, über-mittelt die Bestellung einem zweiten Kellner, der sie notiert und an einen dritten weitergibt.Schließlich kommt ein vierter zurück und sagt: „Bitte schön“, indem er ein Tintenfaß auf

2007 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 45) [Zugl.: Frankfurt/Main, Univ., Diss., 2005],S. 493. Dies.: Sechs Zehen, drei Füße und zwei zitternde Hände des Einarmigen. . . Narra-torische Irritationen in Klaus Hoffers Roman „Bei den Bieresch“, in: Affekte, hg. v. AntjeKrause-Wahl u. a., Bielefeld 2006, S. 74–85.

6 Caillois 1974, S. 56.7 Brittnacher, Hans Richard: Kap. 3.3.1: Affekte, in: Ders.; May, Markus (Hg.): Phantastik. Ein

interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2013, S. 514–521, hier S. 516. Vgl. Kierke-gaard, Sören: Der Begriff Angst, Reinbek b. Hamburg 1960; EA: Vigilius Haufniensis (Pseud.):Begrebet Angest, Kopenhagen 1844.

8 Brittnacher 2013, S. 518.9 Todorov 1992, S. 35.10 Ebd., S. 155.

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meinen Tisch stellt. „Ich hatte doch einen Milchkaffee bestellt“, sage ich. – „Richtig“, sagter im Weggehn.11

Kreuzer greift Todorovs Beobachtung auf und gibt zu bedenken, dass „statt Angst undGrauen eher eine diffuse Irritation“12 hervorgerufen wird. Es sei daher angemessener,neophantastische Texte mit narrativen Kriterien zu beschreiben, auch wenn „es rezepti-onsästhetisch naheliegt, das Neophantastische plakativ durch den Wegfall des maxima-listischen Angstkriteriums zu begründen“.13 Die Ersetzung von Affekten, wie Angst undSchrecken, durch Irritation darf nicht als grundlegendes Genremerkmal begriffen werden.

Ein weiteres rezeptionsästhetisches Genremerkmal ist das Unschlüssigkeitskriterium.Es bezeichnet die Unentschiedenheit des Lesers gegenüber der „Motivierung“14 des phan-tastischen Elementes. Phantastische Texte bieten eine doppelte Interpretation der erzähl-ten Welt. So kann einerseits das phantastische Ereignis tatsächlich vorliegen und anderer-seits beispielsweise durch eine mögliche Sinnestäuschung aufgrund von Drogeneinflussoder durch Betrug motiviert sein. Der Leser ist unschlüssig, ob wunderbare Ereignissevorliegen oder ob sich natürliche Erklärungen für die Geschehnisse finden lassen.15

Bereits Todorov bestimmte die Ambivalenz des Textes als konstitutive Bedingungder Phantastik und begründete damit die minimalistische Genredefinition: „Zuerst ein-mal muß der Text den Leser zwingen, die Welt der handelnden Personen wie eine Weltlebender Personen zu betrachten, und ihn unschlüssig werden lassen angesichts der Frage,ob die evozierten Ereignisse einer natürlichen oder einer übernatürlichen Erklärung be-dürfen.“16 Dass „die binnenfiktionale Existenz des ‚Übernatürlichen‘ in Zweifel gezogenwird“17, definiert Durst in Anlehnung an Todorov als grundlegendes Genremerkmal. DieUnentschiedenheit zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden Erklärungsweisen be-zieht Durst in seine Überlegung ein und entwickelt ein Modell zur Veranschaulichung derAmbivalenz phantastischer Texte. Er lokalisiert das Phantastische auf einem Spektrumzwischen Normrealität (reguläres System) und Abweichungsrealität (wunderbares Sys-tem) als Spektrumsmitte (Nichtsystem). Das Phantastische versteht er als sogenanntenSystemsprung, als Wechsel von einer zur anderen Seite des Spektrums. Im Gegensatzzu wunderbaren Texten wird der labile Zustand des Systemsprungs aufrechterhalten. Dasrealitätssystemische Rätsel, ob das reguläre oder das wunderbare System vorliegt, ist un-lösbar. Auch „bei jeder neuen Lektüre“ bleibt „[d]ie evozierte Ambivalenz und mit ihr dieSituation des Sprungs [. . . ] weiterhin vorhanden“.18

11 Sartre, Jean-Paul: Aminadab oder Das Phantastische als Sprache, in: Ders.: Gesammelte Werke.Schriften zur Literatur, Bd.1: Der Mensch und die Dinge. Aufsätze zur Literatur 1938–1946,hg. v. Lothar Baier, Hamburg 1986, S. 93–106, hier S. 97; EA: Aminadab ou du fantastiqueconsidéré comme un langage, in: Cahiers du Sud, 1943, Nr. 255/256, S. 299–371. Sartre veran-schaulicht an diesem Beispiel, dass Texte ohne das Erscheinen von phantastischen Elementendas Phantastische auf der Ebene der Sprache hervorrufen können.

12 Kreuzer 2007, S. 487.13 Ebd., S. 492.14 Durst 2007, S. 202.15 Vgl. ebd., S. 202 f.16 Todorov 1992, S. 33.17 Durst 2007, S. 39.18 Ebd., S. 149.

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Kreuzer bestimmt zudem die Eigenart neophantastischer Texte in Abgrenzung zur tra-ditionellen Phantastik anhand der Vielfältigkeit von Interpretationen, mithilfe derer dasrealitätssystemische Rätsel zu lösen ist. Dadurch wird eine Offenheit erreicht, die dieAmbivalenz aufrechterhält. „Die klaren Fronten der traditionellen Phantastik – die trotzder phantastischen Unsicherheit noch auf ein intersubjektiv einheitliches phantastischesNichtsystem und damit auf eine Interpretation hinausgelaufen sind – weichen einer ten-denziellen Interpretationsoffenheit und -vielfalt.“19 Der entscheidende Unterschied zurtraditionellen Phantastik liegt im Umgang mit der Ambiguität und der Vielfalt der Inter-pretationen. So „wird die (post)moderne Pluralität als Spiel empfunden“. Die „Freude amDurchspielen konträrer fiktionaler Möglichkeitsformen“20 begleitet den Rezeptionspro-zess und verdrängt Affekte, wie Furcht und Angst. Die Leichtigkeit des Spiels rückt dieTexte näher an den Magischen Realismus lateinamerikanischer Literatur.21

Das reguläre System bestimmt Durst nicht wie Todorov aus dem Vergleich von fikti-onsinterner und fiktionsexterner Realität. Er definiert es ausschließlich literaturimmanentmit der textinternen Normrealität und deren literarischen Konventionen:

Die Leserschaft eines realistischen Romans mag dessen erzählte Welt im Einklang mit ihrereigenen Wirklichkeit sehen, doch sind solche subjektiven Anschauungen literaturwissen-schaftlich unhaltbar, denn die Wahrheit der Literatur ist die Wahrheit ihrer Verfahren. DieLiteratur des Realismus definiert sich deshalb ebensowenig in ihrer Nähe zur außerlitera-rischen Wirklichkeit, wie die Literatur des Wunderbaren sich aus ihrer Entferntheit vondieser herleitet. Stattdessen normiert sich der eine Pol des Spektrums in seiner Differenzzum anderen. Das Wunderbare ist also nur insofern eine Abweichung vom Realistischen,wie das Realistische eine Abweichung vom Wunderbaren ist. Naturwissenschaftliche Ge-setze haben hiermit nichts zu tun, denn die realistische Realität ist eine Konvention undbirgt unbemerkt zahllose Wunderbarkeiten, die allerdings konventionell entschärft sind unddaher nicht als wunderbar wahrgenommen werden. Die Konvention des Erzählens täuschtüber das auch hier vorhandene Wunderbare hinweg. Das literarische Wunderbare existiertausschließlich vor dem Hintergrund eines sich selbst als wunderlos ausgebenden (in Wahr-heit jedoch selbst wunderbaren) regulären Realitätssystems. [Herv. im Original]22

Kreuzer kritisiert diese idealisierte Auffassung von Literatur. Ohne den Erfahrungshori-zont der eigenen Lebenswelt kann der Leser im Rezeptionsvorgang die fiktionsinternenwunderbaren Ereignisse nicht entstehen lassen. „Die fiktiven Welten der Literatur werdenvielmehr zwangsläufig auf der Kontrastfolie der außerliterarischen Wirklichkeit entfaltet,was eine notwendige Vergleichbarkeit impliziert – egal, ob Analogien oder Differenzenbeobachtet werden.“23 Da die fiktionsexterne Wirklichkeit in den Prozess des Lesens ein-fließt, ist sie letztendlich auch an der Konstitution des Textes beteiligt. Kreuzer plädiertdaher berechtigterweise dafür, die „außerliterarische Realität als Hintergrundfolie der li-terarischen Fiktion anzuerkennen“.24

19 Kreuzer 2007, S. 492.20 Kreuzer, Stefanie; Bonacker, Maren: Kap. 8.4: Deutschsprachige Phantastik, in: Brittnach-

er/May (Hg.) 2013, S. 170–177, hier S. 171.21 Vgl. ebd., S. 170–177.22 Durst 2007, S. 117 f.23 Kreuzer 2007, S. 31 f.24 Ebd., S. 35.

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Das Spezifische an Kreuzers Konzept ist ihre Beobachtung, dass in neophantastischenTexten die literarischen Verfahren, die die Ambivalenz der Texte hervorrufen, modifiziertund neu konturiert werden. Sie richtet ihr Augenmerk daher auf die erzählerischen Stra-tegien, die beim Leser die Frage entstehen lassen, ob eine Aussage wahr oder falsch ist.Phantastik ist für Kreuzer „somit nicht allein eine Frage der erzählten Welt oder der Ge-schichte, sondern maßgeblich eine Frage der Darstellung und Vermittlung.“ Sie verweistinsbesondere auf die Erzählhaltung, „von der wiederum die textimmanente Problematikder Wahrheitsfrage abhängig“25 ist. Textintern kann die Stimmigkeit der Textaussagenaufgehoben sein. Der Leser kann die Glaubwürdigkeit eines Erzählers, der von wunder-baren Ereignissen erzählt, infrage stellen. Die Formulierung eines eindeutig wunderbarenoder eines regulären Systems wird somit unterbunden. Die Destabilisierung des Erzählersist eine notwendige Bedingung der phantastischen Literatur, um die Unschlüssigkeit desLesers und somit die Labilität des phantastischen Nichtsystems aufrechtzuerhalten.

Grundlage dieser Gedanken zur Destabilisierung der Figuren und Erzähler bilden dieminimalistischen Genretheorien von Thomas Wörtche und Uwe Durst.26 InsbesondereIch-Erzähler und Erzähler mit einer auf eine Figur begrenzten Perspektive besitzen keine„systemklärende Autorität“27 und können die konsekutive Unsicherheit des Phantasti-schen erzeugen. Durst erläutert, dass die Schwierigkeiten, den Erzähler zu destabilisierenund den phantastischen Zweifel hervorzurufen, geringer sind, je „begrenzter die Per-spektive ist“, „weil es immer Geschehnisse und Zusammenhänge geben kann, die sichseiner Perspektive entziehen“.28 Dagegen muss eingewandt werden, dass einem auktoria-len Erzähler gleich einem Ich-Erzähler nicht immer bedingungsloses Vertrauen geschenktwerden kann. Allerdings sollte bedacht werden, dass keine statischen Grenzen zwischenden einzelnen Erzählsituationen bestehen. Narrative Texte, beispielsweise die Prosa vonKafka, bieten im seltenen Fall Erzählertypen in Reinform an. Eine solche Typologiekann daher nur der Beschreibung einzelner Erzähleinheiten dienen. Gegenpositionen bie-ten diskursanalytische Ansätze zur Erzähltechnik, wie Joseph Vogls Untersuchung zuKafkas Erzählstimme. Er bezieht sich auf Gilles Deleuze und Félix Guattari und greiftunter anderem dessen Aspekt der ‚Vielheit von Stimmen‘ auf. Indem sich in KafkasTexten Wahrheitsansprüche relativieren und Identitäten der Personen und Perspektivenunsicher sind, wird einer kollektiven Stimme das Wort gegeben – der ‚vierten Person‘.29

Kreuzers Überlegung ist zuzustimmen, „dass gerade durch subtile Durchbrechungen der

25 Ebd., S. 54.26 Vgl. ebd., S. 55–58. Zur folgenden Darstellung von Dursts Auseinandersetzung mit Wörtche

siehe Durst 2007, S. 185–201. Wörtche, Thomas: Phantastik und Unschlüssigkeit. Zum struk-turellen Kriterium eines Genres. Untersuchungen an Texten von Hanns Heinz Ewers und GustavMeyrink, Meitingen 1987 (Studien zur phantastischen Literatur 4) [Zugl.: Konstanz, Univ.,Diss., 1986/87].

27 Durst 2007, S. 189.28 Ebd.29 Vgl. Vogl, Joseph: Vierte Person. Kafkas Erzählstimme, in: DVjs 68, 1994, H. 4, S. 745 f. Vgl.

Albert, Claudia; Disselnkötter, Andreas: „Tatort Sprache“. Erlebte Rede und Subjektpositionin der Erzählprosa von Marieluise Fleißer, Franz Kafka und Robert Walser, in: Jahrbuch zurLiteratur der Weimarer Republik 5, 1999/2000 (Frauen in der Literatur der Weimarer Republik),S. 253–281, hier S. 259–263.

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vorherrschenden Erzählsituation oder durch die Variation mehrerer Erzählweisen phan-tastische Unschlüssigkeit erzeugt werden kann“.30

Wörtche unterscheidet Destabilisierungsverfahren auf makro- und mikrostrukturel-ler Ebene. Sie würden die Gültigkeit des Wunderbaren einschränken und das Erzählterelativieren. Auf mikrostruktureller Ebene benennt er sogenannte Modalisationen, wieKonstruktionen mit ‚es scheint als‘ oder ‚ich glaubte‘. Zudem kann eine „grammatischeZerrüttung [Herv. im Original] der Erzählerrede“31 beispielsweise durch Anakoluthe dieAutorität des Erzählers infrage stellen. Auf makrostruktureller Ebene verhindern wider-sprüchliche Perspektiven auf das Erzählte eine gültige Durchdringung der erzählten Welt.Alle Behauptungen über wunderbare Ereignisse verlieren so ihre absolute Gültigkeit. Die-se Destabilisierungsverfahren können das Wunderbare nicht gänzlich widerlegen und einreguläres System erzeugen.

Diese von Wörtche beschriebenen Verfahren erweitert Kreuzer durch das Konzeptdes unzuverlässigen Erzählers nach Martínez und Scheffel, um die Spezifik neophantas-tischer Texte zu beschreiben.32 Die Parallele des unzuverlässigen Erzählers zu Wörtchesund Dursts Theorie liegt zum einen in den Verfahren und zum anderen in dem erzeugtenZweifel des Lesers, inwieweit er dem Erzähler Glauben schenken kann. Die Grundan-nahme von Martínez und Scheffel liegt ebenfalls darin, dass in der fiktionalen Redezwischen wahren und falschen Aussagen unterschieden werden kann. Insbesondere mi-metisch teilweise unzuverlässiges und mimetisch unentscheidbares Erzählen können am-bivalente Interpretationen der erzählten Welt hervorrufen. Der Zweifel des Lesers beziehtsich dabei auf mimetische Sätze, das heißt auf grundlegende Angaben des Erzählers überdie Beschaffenheit und die Begebenheit der Textwelt. Diese sind in Abgrenzung zu reinenKommentaren oder subjektiven Einschätzungen des Erzählers zu verstehen, die auf dieelementare Darstellung der erzählten Welt keinen Einfluss haben. Wenn die mimetischenÄußerungen irreführend oder gar falsch sind, ist zu fragen, ob die fiktionale Welt dennocherschlossen werden kann. Kann der Leser eindeutigen Rückschlüsse über die fiktionaleWelt ziehen, liegt keine phantastische Destabilisierung vor. Beispielsweise liegt textinterneine Begründung für das Erzählverhalten vor, wenn ein Erzähler lügt, um einen Mord zuverbergen. Ist jedoch die fiktionale Welt, die sich hinter den irreführenden Berichten derErzählinstanzen verbirgt, weitgehend instabil, bleibt die Ambivalenz des Textes aufrecht-erhalten. Das heißt, es werden beispielsweise keine Gründe für die Falschaussagen desErzählers ersichtlich. Insbesondere beim mimetisch unentscheidbaren Erzählen werdendurch diskrepante Erzähler- und Figurenperspektiven instabile fiktionale Welten erzeugt.Bezüglich der sich widersprechenden Erzählinstanzen kann nicht zwischen glaubwürdigund weniger glaubwürdig unterschieden werden. Durch die Multiperspektivität ergebensich mehrere gleichberechtigte Lesarten des Textes, die eine eindeutige Interpretation imSinne des regulären und des wunderbaren Systems verhindern. Als rezeptionsästhetischeReaktion wird phantastische Unsicherheit hervorgerufen.33

30 Kreuzer 2007, S. 56.31 Durst 2007, S. 191.32 Kreuzer bezieht sich auf die Ausgabe Martínez, Matías; Scheffel, Michael: Einführung in die

Erzähltheorie, 2., durchges. Aufl. München 2000; EA: ebd. 1999.33 Vgl. Kreuzer 2007, S. 59–67.

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Diese Arbeit zieht die textuellen Indikatoren des unzuverlässigen Erzählers nach Ans-gar Nünning34 heran. Nünnings Zusammenstellung beinhaltet auch die von Wörtche be-schriebenen Textsignale auf makro- und mikrostruktureller Ebene und die von Kreuzerherangezogene Kategorie der Multiperspektivität. Für die zu untersuchenden literarischenTexte sind folgende Indikatoren von Interesse:35

• explizite Widersprüche des Erzählers, interne Unstimmigkeiten innerhalb des nar-rativen Diskurses

• Divergenzen zwischen der Selbstcharakterisierung des Erzählers bzw. Fremdcha-rakterisierung durch andere Figuren

• verbale Äußerungen und Körpersprache anderer Figuren als Korrektiv• multiperspektivische Auffächerung des Geschehens und Kontrastierung unter-

schiedlicher Versionen desselben Geschehens• Häufung von sprecherzentrierten Äußerungen sowie linguistische Signale für Ex-

pressivität und Subjektivität• syntaktische Anzeichen für einen hohen Grad an emotionaler Involviertheit• eingestandene Unglaubwürdigkeit, Erinnerungslücken und Hinweise auf kognitive

Einschränkungen• paratextuelle Signale

In der traditionellen Phantastik hingegen werden „offensichtliche Verfahren zur Destabi-lisierung fiktionaler Erzähler und Figuren – etwa durch Wahnsinn oder Rauschzustände–“36 verwendet. Rauschzustände werden in diesen Texten meist durch Alkohol oder ande-re Drogen hervorgerufen. In der Neophantastik bewirken Destabilisierungsverfahren, wieModalisationen, multiperspektivische Durchkreuzung von Erzähl- und Figurenperspekti-ven und unzuverlässiges bis unentscheidbares Erzählen, die Irritation.37 Den Fokus, derin der bisherigen Phantastikforschung auf der erzählten Welt und der motivischen Ge-staltung lag, lenkt Kreuzer somit auf „die sprachliche Gestaltung und die erzählerischenVerfahren“.38 Durch die Untersuchung von Textstrukturen und -strategien, die eine Funk-tion der Leserlenkung besitzen, öffnet sich das Konzept der Texttheorie und schließt sichstrukturalistischen Theorieansätzen an.

Als Charakteristikum des Neophantastischen betrachten Barbetta und Kreuzer dieMetapher. Diese ist im neophantastischen Text das Phantastische selbst und die Folgedavon „ist das Überblenden einer wortwörtlichen und einer übertragenen Ebene“.39 DieMetapher entzieht sich einer eindeutigen Interpretation. Ihr Sinn verflüchtigt sich, so-bald man ihn zu fassen versucht. Gerade mit dieser Unbestimmtheit, Ambiguität und

34 Nünning, Ansgar: Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv-narrato-logischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens, in: Unreliable Narration. Studienzur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur,hg. v. dems., Trier 1998, S. 3–39.

35 Zitiert nach ebd., S. 27 f.36 Kreuzer 2007, S. 492.37 Vgl. ebd., S. 491.38 Ebd., S. 490.39 Barbetta 2002, S. 83.

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Relativität der Antworten spielen die Texte: „Nicht die Bedeutungen bzw. Interpreta-tionen, die die Metapher des Neo-Phantastischen erlaubt, sind an sich die tiefgehendenBotschaften des Textes, sondern diese Vielzahl selbst als Bekundung einer unlösbarenParadoxie.“40 Todorov hingegen bestimmt für die traditionelle Phantastik die wörtlicheBedeutung des phantastischen Ereignisses als grundlegende Bedingung für die Existenzdes Phantastischen innerhalb der Fiktion. Wenn das übernatürliche Ereignis „auf nichtsÜbernatürliches verweist“, so Todorov, „dann ist kein Raum mehr für das Fantastische“.41

Ein weiteres Merkmal der Neophantastik ist die Intertextualität. Die Texte enthal-ten „Anspielungen auf traditionelle Genrestrukturen“, die ein „ironisches Spiel“ mit denTraditionen des Phantastischen treiben. Autoreflexive Elemente werden genutzt, um li-terarische Mittel, die das phantastische Genre in den unterschiedlichen Formen prägen,offenzulegen und zu hinterfragen. Weiterhin zeichnen sich die Texte durch die soge-nannte Mehrfachcodierung aus. Neben der Bestimmung als phantastischer Roman stehtbeispielsweise eine weitere Lesart als Kriminalroman, historischer Roman oder Entwick-lungsroman. Zudem kann eine labyrinthische Erzählweise beziehungsweise die „Rhizom-Struktur“42 die Destabilisierung des Erzählers und die phantastische Irritation bewirken.43

Zur Textkomposition der Neophantastik zählt Lachmann die Paradoxie: „Für die Li-teratur, besonders der Neophantastik, stellen die Paradoxa, gerade als Erzeugnisse derLogik, eine gewaltige Provokation dar.“44 Bietet die traditionelle Phantastik Auflösungs-und Argumentationsstrukturen, verzichtet die Neophantastik auf eine klärende Vermitt-lung. Die Paradoxie erscheint, so Alfred Blüher,

als theoretisch-stilistisches Mittel in Gestalt des Oxymorons, der sinnreich pointierten For-mulierung zweier sich widersprechender Begriffe, als beunruhigende Widersprüche im Er-zählverfahren, in der Textorganisation des narrativen Diskurses, der sich auf diese Weiseselbst in Frage stellt und dekonstruiert, sowie als rekurrente Thematisierung kontradiktori-scher, logisch unvereinbarer Erzählinstanzen, Figuren, Handlungen und Situationen, die denSpielregeln der psychologischen Wahrscheinlichkeit zuwiderlaufen und eine textautonome,trans-mimetische Welt des Phantastischen erzeugen, die sich hierdurch grundlegend von derherkömmlichen mimetischen Konzeption phantastischer Erzählungen unterscheidet.45

Ein neophantastischer Text zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass er Versatz-stücke der traditionellen Phantastik aufgreift und spielerisch in neue Zusammenhängebringt. Insbesondere Raum- und Zeitbrechungen, Metamorphosen des Unbelebten sowieMotive, wie der Doppelgänger und die Bilderfrau, verwendet auch Fries in seinen litera-rischen Arbeiten. Die Motive werden für zeitgenössische Problemkreise modifiziert undbilden spezifische Erscheinungsweisen aus. Neophantastische Texte arbeiten insbeson-dere mit Anspielungen auf Texte der traditionellen Phantastik. Deshalb darf neben der

40 Ebd., S. 72.41 Todorov 1992, S. 60. Vgl. Kreuzer 2007, S. 492.42 Kreuzer 2007, S. 493.43 Vgl. ebd., S. 491–493. Zur Intertextualität und Auseinandersetzung mit dem traditionellen Gen-

re siehe auch Barbetta 2002, S. 80 f.44 Lachmann 2002, S. 109.45 Blüher, Karl Alfred: Paradoxie und Neophantastik im Werk von Jorge Luis Borges, in: Das

Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, hg. v. Roland Hagenbüchle, Tü-bingen 1992 (Stauffenburg-Colloquium 21), S. 531–549, hier S. 539 f.

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„literarische[n] Verfasstheit der Texte“ auch „fiktionsimmanent [. . . ] die Beschaffenheitder von ihnen erzeugten Welten“46 nicht vernachlässigt werden.

Dass Kreuzer den Begriff der Neophantastik mit den Epochen Moderne und Postmo-derne verknüpft, provoziert eine Diskussion um Epochengrenzen. Die Autorin differen-ziert zwischen einer modernen und einer postmodernen Neophantastik, indem sie ihrenKriterienkatalog anhand der Merkmale der jeweiligen Epoche erarbeitet. Silvio Viettahingegen verlegt die Anfänge der ästhetischen Moderne in die deutsche Frühromantik.Die Texte von Autoren, wie E. T. A. Hoffmann, werden jedoch der traditionellen Phantas-tik zugeordnet. Die ästhetische Moderne als Makroepoche bestimmt Vietta anhand vonLeitlinien, wie Autonomie, Reflexivität, Freiheit und Selbstbestimmung, sowie anhandder Erfahrungen des Nihilismus, der Desillusion und der Dekonstruktion.47 Vietta gibt zubedenken, dass die Wurzeln der ästhetischen Moderne bereits in der älteren europäischenKulturgeschichte liegen. Beispielsweise verfolgt Carsten Zelle den Begriff des Hässlichenals einen Leitbegriff der modernen Ästhetik bis zu Aristoteles zurück.48 Etymologisch be-trachtet, leitet sich der Begriff der Moderne von lateinisch ‚modernus‘ ab. Papst Gelasiusverwendete ihn bereits im 5. Jahrhundert für Aktuelles und Gegenwärtiges. Er steht für dieAbgrenzung des Neuen vom Traditionellen. Zu erwähnen ist auch die Querelle des An-ciens et des Modernes im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts. Ähnlich verhält es sichmit dem Begriff der Postmoderne. Das von Kreuzer genannte Genremerkmal Intertextua-lität lässt sich auf Cervantes und seinen Roman Don Quijote (1605–1615) zurückführen.

Zudem muss eingewandt werden, dass eine Unterscheidung in traditionelle Phantas-tik und Neophantastik nicht trennscharf vollzogen werden kann. Formen phantastischenErzählens, die Kreuzer eindeutig der Neophantastik zuordnet, sind bereits in Texten des19. Jahrhunderts zu beobachten. In E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen Der goldne Topf(1814) wird durch eine „ironisch-autoreflexive Geste die Erzähler-Autor-Figur“49 cha-rakterisiert. Nicht Anselmus’ phantastische Geschichte ist das zentrale Thema des Textes,sondern das Dichten selbst. Des Weiteren werden in Edgar Allen Poes Texten die Ambiva-lenz und die damit für die Phantastik einhergehende konstitutive Vielzahl der Deutungenaus der unzuverlässigen Erzählerperspektive hervorgerufen. In The Fall of the House ofUsher (1839) wird durch diese Form phantastischen Erzählens die Glaubwürdigkeit desErzählers infrage gestellt und dem Leser seine interpretatorische Souveränität genom-men. Die Erzählhaltungen, die Mehrdeutigkeiten und die selbstreflexive Dichte von PoesTexten nehmen Kreuzers neophantastische Kategorien Autoreflexivität, erzählerische Un-zuverlässigkeit und ironische Erzählweise vorweg.50

46 Kreuzer 2007, S. 17.47 Vgl. Vietta, Silvio; Kemper, Dirk (Hg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und

Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1997. Vgl. Vietta, Silvio: Ästhetik derModerne. Literatur und Bild, München 2001, S. 15 f.

48 Vgl. Zelle, Carsten: Ästhetik des Hässlichen. Friedrich Schlegels Theorie und die Schock- undEkelstrategien der ästhetischen Moderne, in: Vietta/Kemper (Hg.) 1997, S. 197–233.

49 Brittnacher, Hans Richard; May, Markus: Kap. 5: Romantik. 5.1: Deutschland, in: Britt-nacher/May (Hg.) 2013, S. 59–67, hier S. 62.

50 Vgl. Murnane, Barry: Kap. 5: Romantik, 5.2: England/USA, in: Brittnacher/May (Hg.) 2013,S. 67–73; hier S. 72.

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