erfolg und mißerfolg bei der kieferorthopädischen behandlung nach kiefergelenkfortsatzfrakturen

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Erfolg und Miflerfolg bei der kieferorthop/idischen Behandlung nach Kiefergelenkfortsatzfrakturen G. Sahm, Wiirzburg Poliklinikfat Kieferorthop/idie (Direktor: Prof.Dr. Emil Witt) der Bayerischen Julius,Maximilians-Univer- sit/it Wtirzburg Die meisten Publikationen fiber das Sp/itergebnis von Kiefergelenkfortsatzfraktu- ren bei Kindern stammen yon kieferchirurgischer Seite. Das fiberrascht, da zumin- dest ProblemfNle mit Funktions- und Wachstumsst6rungen in der Regel kieferor- thopfidisch betreut werden. Da m6gliche Sp/itfolgen, etwa eine Gesichtsasymmetrie, den Patienten schwer beeintrfichtigen, sollte der Behandlung yon Kiefergelenkfort- satzfrakturen kieferorthopfidischerseits mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Prognose yon Kiefergelenkfortsatzfrakturen hfingt yon verschiedenen Fakto- ren ab, die zu einem sehr grogen Teil nicht beeinflugt werden k6nnen. In der Litera- mr werden als bedeutsam erachtet: 1. Frakturtyp, 2. Alter des Patienten, 3. Schwere der Gelenkknorpelsch/idigung, 4. Schwere der Sch/idigung der Weichgewebe des Kiefergelenks, 5. Ausprfigung posttraumatischer lokaler Symptome: Odem, Schmerz, Beein- tr/ichtigung der Unterkieferbeweglichkeit usw., 6. fr/ihzeitige und m6glichst umfassende funktionelle Wiederherstellung. Zu 1: Bedeutung des Frakturtyps: Nach hohen Frakturen - die Fraktuflinie liegt nahe am Kapitulum - scheint eine bessere Remodellation im Sinne einer Restitutio ad integrum zu erfolgen als nach tiefen Frakturen [4, 6]. Allerdings ist bei hohen Frakturen die Gefahr einer Ankylose gr6ger, insbesondere wenn solche Frakturen nicht fachgerecht versorgt werden [2, 13]. Ungfinstig sind Luxationsfrakturen. Entsprechend dem Zug des M. pterygoideus lateralis erfolgt die Verlagerung des kleinen Fragments meist nach ventromedial. Bei diesen Patienten treten vermehrt unzureichende Remodellationen der Kiefergelen- ke und als Folge einer Wachstumsst6rung Gesichtsasymmetrien auf [2, 4, 7]. Noch ungiinstiger ist die Prognose in Ffillen, in denen neben der Luxation zus/itz- lich die Frakturst/impfe ohne Kontakt sind [11]. Zu 2: Das Alter des Patienten zum Zeitpunkt der Fraktur spielt eine wichtige Rol- le, da bis zur Pubertfit - bzw. etwa zum zw61ften Lebensj ahr [4] - in den meisten Fill- len ein gutes Remodellationsergebnis erwartet werden darf [8]. Zu 3: Nach Steinhardt [14] kann eine Stauchung des kondylfiren Knorpels zu einer Wachstumsst6rung f/ihren. Zu 4: Die Bedeutung yon Verletzungen der Weichgewebe des Kiefergelenks (Kapsel, Bandapparat, Diskus) ist in Anbetracht der Aufgaben dieser Strukturen of- fensichtlich. Dartiber hinaus schreiben Walker [16] und Boyne [1] der Gelenkkapsel im Rahmen der Remodellation der Kiefergelenke eine besondere Bedeutung zu: Sie Fortschr. Kieferorthop.49 (1988),557-567(Nr. 6) 557

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Page 1: Erfolg und Mißerfolg bei der kieferorthopädischen Behandlung nach Kiefergelenkfortsatzfrakturen

Erfolg und Miflerfolg bei der kieferorthop/idischen Behandlung nach Kiefergelenkfortsatzfrakturen

G. Sahm, Wiirzburg Poliklinik fat Kieferorthop/idie (Direktor: Prof. Dr. Emil Witt) der Bayerischen Julius,Maximilians-Univer- sit/it Wtirzburg

Die meisten Publikationen fiber das Sp/itergebnis von Kiefergelenkfortsatzfraktu- ren bei Kindern stammen yon kieferchirurgischer Seite. Das fiberrascht, da zumin- dest ProblemfNle mit Funktions- und Wachstumsst6rungen in der Regel kieferor- thopfidisch betreut werden. Da m6gliche Sp/itfolgen, etwa eine Gesichtsasymmetrie, den Patienten schwer beeintrfichtigen, sollte der Behandlung yon Kiefergelenkfort- satzfrakturen kieferorthopfidischerseits mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Die Prognose yon Kiefergelenkfortsatzfrakturen hfingt yon verschiedenen Fakto- ren ab, die zu einem sehr grogen Teil nicht beeinflugt werden k6nnen. In der Litera- mr werden als bedeutsam erachtet:

1. Frakturtyp, 2. Alter des Patienten, 3. Schwere der Gelenkknorpelsch/idigung, 4. Schwere der Sch/idigung der Weichgewebe des Kiefergelenks, 5. Ausprfigung posttraumatischer lokaler Symptome: Odem, Schmerz, Beein-

tr/ichtigung der Unterkieferbeweglichkeit usw., 6. fr/ihzeitige und m6glichst umfassende funktionelle Wiederherstellung. Zu 1: Bedeutung des Frakturtyps: Nach hohen Frakturen - die Fraktuflinie liegt

nahe am Kapitulum - scheint eine bessere Remodellation im Sinne einer Restitutio ad integrum zu erfolgen als nach tiefen Frakturen [4, 6]. Allerdings ist bei hohen Frakturen die Gefahr einer Ankylose gr6ger, insbesondere wenn solche Frakturen nicht fachgerecht versorgt werden [2, 13].

Ungfinstig sind Luxationsfrakturen. Entsprechend dem Zug des M. pterygoideus lateralis erfolgt die Verlagerung des kleinen Fragments meist nach ventromedial. Bei diesen Patienten treten vermehrt unzureichende Remodellationen der Kiefergelen- ke und als Folge einer Wachstumsst6rung Gesichtsasymmetrien auf [2, 4, 7].

Noch ungiinstiger ist die Prognose in Ffillen, in denen neben der Luxation zus/itz- lich die Frakturst/impfe ohne Kontakt sind [11].

Zu 2: Das Alter des Patienten zum Zeitpunkt der Fraktur spielt eine wichtige Rol- le, da bis zur Pubertfit - bzw. etwa zum zw61ften Lebensj ahr [4] - in den meisten Fill- len ein gutes Remodellationsergebnis erwartet werden darf [8].

Zu 3: Nach Steinhardt [14] kann eine Stauchung des kondylfiren Knorpels zu einer Wachstumsst6rung f/ihren.

Zu 4: Die Bedeutung yon Verletzungen der Weichgewebe des Kiefergelenks (Kapsel, Bandapparat, Diskus) ist in Anbetracht der Aufgaben dieser Strukturen of- fensichtlich. Dartiber hinaus schreiben Walker [16] und Boyne [1] der Gelenkkapsel im Rahmen der Remodellation der Kiefergelenke eine besondere Bedeutung zu: Sie

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folgern aus tierexpertmemellen Untersuchungen, dab die intakte Gelenkkapsel bei der allmfihlichen Wiederaufrichtung des kleinen Fragments als Ffihrung dienen kann.

Zu 5: Auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Ausprfigung lokaler Symptome und dem Remodellationsergebnis wird von Gilhuus-Moe [4] hingewle- sen.

Zu 6: Hinsichtlich der funktionellen Restitutio ist festzustellen, daB selbst nach schweren Luxationsfrakturen die ursprfingliche maximale Mund6ffnung, zumindest annfihernd wieder erreicht werden kann [11]. Eine noch lfingere Zeit nach der Frak- tur bestehende Einschrfinkung ist dann vermutlich durch Narbengewebe verursacht und kann einen ankytose~ihnlichen Effekt auf das Wachstum ausfiben. Dies wird yon Proffit [12] treffend als ,functional ankylosis" bezeichnet.

Das ursprfingliche Ausmag der maximalen Mund6ffnung sollte daher im Rahmen der funktionellen Behandlung bald wieder erreicht sein. Darfiber hinausgehend empfiehlt Gerry [3], kein Kindaus der Nachbehandlung zu entlassen, bei'dem neben der Rot~/tion nicht auch die physiologische Gleitbewegung der Kondylen wieder m6glich ist.

Die Bedeutung einer normalisierten Kiefergelenksfunktion fiir das Unterkiefer- wachstum kann auch aus dem Konzept der funktionellen Matrix [9] abgeleitet wer- den. Die wichtige Rolle, die der M. pterygoideus lateralis ffir das UnterkieferwaChs- tum zu spielen scheint, wird durch die tierexperimentellen Daten yon Stutzmann et al. [15] und Petrovic et al. [10] hervorgehoben. �9

Zusammenfassend lfiBt sich feststeUen, dab die Normalisierung der Kiefergelenks- funktion nicht nur eine Ankylose verhindert, sondern als Voraussetzung ftir ein weit- gehend normales Unterkieferwachstum auf der frakturierten Seite anzusehen ist.

In diesem Zusammenhang ist folgende von Lund [8] gemachte Beobachtung be- deutsam: Mit exzentrisch angefertigten posterior-anterioren Sch~idelaufnahmen, die einen Lgngeiwergleich der beiden Unterkieferhfilften zulieBen, konnte er zeigen, dab sieh bei einseitigen Kollumfrakturen mit Dislokation oder Luxation des kleinen Fragments der frakturbedingte Lfingenunterschied zwischen den Kieferhfitften im Laufe der Jahre deutlich verringerte. Bei einigen Ffillen war die frakturierte Seite in der Folge sogar lfinger als die nichtfrakturierte Seite.

Die Normalisierung der Funktion kann durch Obungen - also ohne kieferortho- p~idisches Gerfit - erreicht werden. Beispielsweise kann der Patient vor einem Spie- gel trainieren, den Mund m6glichst ohne Seitabweichung des Unterkiefers zu 6ffnen. Bei einseitiger Kollumfraktur lfigt man ihn auf der nichtfrakturierten Seite kauen.

Die apparativ-funktionelle Nachbehandlung erseheint in folgenden F~illen not- wendig (Auf die etwa notwendige Ruhigstellung soil hier nicht eingegangen wet- den.):

1. bei Verlagerung des distalen Fragments, wie sie sich beispielsweise in einem KreuzbiB, einer Mittellinienverschiebung (siehe auch Fall 1 der Kasuistik) oder einem frontal offenem BiB zeigt. Bei letzterem ist das kieferorthopfidische Gerfit nut an den endstfindigen Molaren abgestfitzt und wird in Kombination mit einer Kopf- Kinn-Kappe getragen;

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Kiefergelenkfortsatzfraktur

2. bei unsicherer Verzahnung und fehlender dentaler Absttitzung; 3. bei noch nicht eingetretener Normalisierung der Funktion; 4. bei Dysgnathien, die unabhfingig vonder Fraktur sowieso einer kieferorthop/i-

dischen Behandlung bedtirfen. Abgesehen von diesen speziellen Situationen ist eine apparativ-funktionelle Be-

handlung in nahezu allen Ffillen kindlicher Kollumfrakturen vorteilhaft: Obwohl bei einseitigen Kollumfrakturen auf der frakturierten Seite meistens ein

verstfirktes Wachstum zu beobachten ist [8], bleibt diese Unterkieferhfilfte in der Mehrzahl der F~lle doch kiirzer als die nichtfrakturierte. Analog daft angenommen werden, dab in den meisten Fallen beidseitiger Kollumfrakturen die Verktirzung des Unterkiefers nicht g/irtzlich durch vermehrtes Wachstum wieder ausgeglichen wird. Ein zus~itzlicher Wachstumsimpuls ist daher in den meisten FNlen auf der frakturier- ten Seite erwiinscht.

Als Behandlungsbehelfe bieten sich bimaxill~re Ger~te an. Wir verwenden vor- zugsweise Bionatoren: Wegen der F10gel, die ftir den Unterkiefer eine Ftihrung dar- stellen, sind sie AufbiBplatten iiberlegen. Andererseits sind sie nicht so volumin6s wie Aktivatoren und k6nnen daher auch tagsiiber getragen werden.

Bei der KonstruktionsbiBnahme wird bei einseitigen Kollumfrakturen die Mitte gering fiberkorrigiert, bei beidseitigen Kollumfrakturen der Unterkiefer ventral ein- gesteUt. Das enorme Unterkieferwachstum, das trotz beidseitiger Kollumfraktur auftreten kann, zeigen die Durchzeichnungen yon Fernr6ntgenbildem in Abbildung 1: Die Patientin erlitt im sechsten Lebensjahr (1976) beidseits hohe Kollumfraktu- ren. Auch ist es mOglich, Distatbisse geringen AusmaBes durch Ventralentwicklung des Unterkiefers zu korrigieren,

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Abb. 1. Patientin M. I. Die Obeflagerung der Fern- r6ntgenbilddurchzeiehnungen zeigt das enorme Unterkieferwachstum, das trotz beidseitiger hoher Kollumfrakturen stattgefunden hat: Unfall 1976 im Alter yon sechs Jahren, Nachuntersuchung 1985 im Alter von 15 Jahrem Funktionskieferorthopgdische Behandlung mit Bionator.

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Kasuisti~

Es w e r d e n - d e m T a g u n g s t h e m a ,,Mil3erfolg" e n t s p r e c h e n d - zwei Problemff i l le

vorges te l l t und d iskut ie r t . Z u r besse ren B e u r t e i l u n g de r K i e f e r g e l e n k s r e m o d e l l a t i o n

wurde e ine c o m p u t e r t o m o g r a p h i s c h e U n t e r s u c h u n g v o r g e n o m m e n . V o n ihr erhoff-

ten wi t uns w e i t e r e H inwe i se zur Klfirung de r U r s a c h e de r unbe f r i ed igenden Be-

hand lungsergebn i sse .

w . c . w.c. 8/78

O ~ an~ A 8;'/8 4~5~0 /@L Schgdel p.a. ~R

Abb. 2b A

Abb. 2a und 2b. Durchzeichnung des direkt nach dem Unfall zalgefertigten Orthopan~omogramms ( Abb. 2a. 8/1978) sOwie yon Kontrollaufnahmen. b) Durchzeichnung der posterior-anterioren Sch~idelaufnahme.

Abb. 3a Abb. 3b

Abb. 3a und 3b. Kreuzbil] und Mittellinienverschiebung als Folge der beidseitigen Kollumfraktur (a), Die Korrektur (b) erfolgte mit einem Bionator.

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Kiefergelenkfortsatzfraktur

Die Patientin W,C. erlitt im neunten Lebensjahr (1978) bei einem Fahrradsturz beidseits tiefe Kollumfrakturen mit Dislokation des rechten Gelenkk6pfchens nach medial und Luxation des linken nach ventromedial (Abb: 2a und 2b), Zusfitzlich er- litt sie eine Unterkieferquerfraktur sowie multiple Kronenfrakturen.

Nach intermaxiUftrer Verschntirung ffir drei Wochen wurde die Patientin wegen eines Kreuzbisses auf der rechten Seite und einer MitteUinienverschiebung (Abb. 3a) - beides hatte nach Angabe der Eltern vorher nicht bes tanden- an die Poliklinik f/Jr

Abb. 4. Bei maximaler Mund6ffnung (38 ram) be- tr~igt die Mittellinienverschiebung zirka 3 mm.

Abb. 5a Abb. 5b

Abb. 5c

Abb. 5a und 5b. Neutrale OkklusionsverhNtnisse bei maximaler Interkuspidation. - Abb. 5c. Deutli- che Diskrepanz (4 ram) zwiscben RKP und HIK (Abb. 5b.) auf der linken Seite.

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Kieferorthop~idie iiberwiesen. Durch funktionelle Behandhmg mit einem Bionator wurde der KreuzbiB innerhalb eines Jahres beseitigt. Abbildung 3b zeigt Modelle, die zwei Jahre nach dem Unfall angefertigt wurden. Wegen einer Seitabweichung nach links yon mehr als 10 m m bei maximaler Mund6ffnung ffihrten wit die kieferor- thopfidische Behandlung fort. Sie dauerte insgesamt sechs Jahre. Zus/itzlich mit einem anterior am Bionator angebrachten extraoralen Hochzug [17] gelang es sogar, die geringe Klasse-II-Beziehung zu korrigieren,

Bei der Nachuntersuchung sieben Jahre nach dem U n f a l l - das M/idchen war mitt- lerweile 16 Jahre alt - war keine Gesichtsasymmetrie zu erkennen. Bei maximater Mund6ffnung (38 rnm) lag eine Mittellinienabweichung von nur 3 m m vor (Abb. 4).

Abb, 6a : Abb.' 6b

Abb. 6c

Abb. 6a bis 6c. Die Computertomogramme zeigen die relativ gute Remodellation des rechten Kiefer- gelenks sowie die DoppelkOpfigkeit des linken Kon- dylus, wobei der mediale Kopf einer Nearthrose mit der Sch~idelbasis bildet.

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Kiefergelenkfortsatzfraktur

Abbl 7a Abb: 7b

Abb. 7a und 7b. Das axiale (a) und das koronare (b) Computertomogramm Zeigen die naliezu anatomische Remodellation neun Jahre nach beidseitiger, hoher Kollumfraktur (Patientin M. I., siehe auch Abb. 1).

S . R . S .R . 9 , 7 . 7 6

Panorama - A L S c h i i d e l p . a . R

9.7.76

30.7.76

Abb. 8b 20.8.76

\ t

•• 3.85 ~ 4 Abb. 8a

Abb. 8a. Durchzeichnung von Orthopantomogrammen. Das linke Kiefergelenkk6pfchen verlagerte sich in der Folge welter im Sinne einer vollst~indigen Luxation. - Abb. 8b. Durchzeichnung der direkt nach dem Unfall angefertigten posterior-anterioren Schadelaufnahme.

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Die maximale Pro- und Laterotrusion waren annfihernd normal. Auf beiden Seiten lag eine gute Klasse-i-Okklusion vor (Abb. 5a trod 5b). Die Diskrepanz zwischen RKP und HIK betrug auf der rechten Seite 1 mm und auf der linken Seite 4 mm (Abb. 5c).

Die Computertomogramme (Abb. 6a bis 6c) zeigen, dab der rechte Kondylus rela- tiv gut remodelliert und das K6pfchen zentriert ist. Der linke Kondylus weist zwei K6pfe auf. Dabei ist eine Caput-fossa-Beziehung mit entsprechend schmalem Ge- lenkspalt nur fiir das mediale K6pfchen (Nearthrose) sicher nachweisbar. Die ver- gr6Berte RKP-HIK-Distanz findet somit in einer atypischen Kiefergelenksremodel- lation ihr morphologisches Korreltat. Die Patientin wurde fiber das erh6hte Risiko des Auftretens yon Parafunktionen aufgekl~irt. Die Doppelk/Spfigkeit des Kondylus ist in diesem Fall ausgeprfigt, sie findet sich in abgeschw~ichter Form allerdings h~iu- tiger nach Kollumfrakturen (Sahm, Witt, in Vorbereitung).

Abb. 9. Deutliche Gesichtsasymmetrie als Folge der Wachstumshemmung nach Fraktur des linken Kon- dylus.

Abb. 10a ' Abb. 10b

Abb. 10a und 10b. Links neutrale (a), rechts wegen der Extraktion 31 mesiale Okklusionsverh~iltnisse (b).

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Kiefergelenkfortsatzfraktur

Zur besseren Beurteilung der Computertomogramme zeigen die Abbildungen 7a und 7b Bilder nahezu anatomisch remodellierter Kiefergelenke. Hierbei handelt es sich um dieselbe Patientin, auf die in Abbildung 1 Bezug genommen wird.

Der Patient S. R. hatte im zehnten Lebensjahr einen Fahrradunfall, bei dem er sich links eine tiefe Kollumfraktur mit Dislokation des Gelenkk6pfchens nach ven- tromedial zuzog (Abb. 8a und 8b). Der Vergleich der R6ntgenbilder (Abb. 8a) yore

Abb. 11a Abb. l lb

Abb. 11c Abb. l ld

Abb. l la und l ib. Starke Pneumatisation des Daches der linken Fossa mandibulae, das rechte Caput man- dibulae zeigt keinen Hinweis fiir degenerative Ver~inderungen (a). Das linke K6pfchen ist stark deformiert und liegt deutlich welter medial als das rechte (b). Die Streifen sind Artefakte. - Abb. l lc mad 1 ld. Auffal- lend ist die ausgepr~igte Asymmetrie des Unterkiefers sowie die Verdickung des linken Pfannendaches und die starke Pneumatisation in diesem Bereich.

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9.7. 1976, 30.7. 1976 und 20.8. 1976 zeigt, dal3 sich das K6pfchen weiter im Sinne einer Luxation verlagerte. Nach 20tfigiger intermaxill~rer Ruhigstellung und zehntfi- gigem Einhfingen yon Gummiz/igen wurde kieferchirurgischerseits eine Aufbil3- schiene eingegliedert, die der Patient neun Monate lang trug. Wegen einer starken Mittenabweichung zur frakturierten Seite bei Mund6ffnung wurde er zur kieferor- thopgdischen Behandlung iiberwiesen. Nach viermonatiger Bionatorbehandlung wurde zus~itzlich eine Multibandapparatur eingegliedert. Dies erwies sich als not- wendig, nachdem der Hauszahnarzt schon vor dem Unfall die Zfihne 24und 34 extra- hiert hatte und der beherde te 31 nicht zu erhalten war.

Leider wurde der Bionator wfihrend der zweij ghrigen Multibandbehandlung nicht gut getragen, jedoch besserte sich die Mitarbeit wieder nach der Entbfinderung. Die Wachstumsst6rung des linken Kondylus f/ihrte zu einer immer deutlicheren Ge- sichtsasymmetrie, so dal3 die funktionelle Behandlung bis zum 19. Lebensjahr fort- gesetzt wurde.

Die dargestellten Befunde wurden acht bzw. neun Jahre nach dem Unfall erho- ben. Das En-face-Photo (Abb. 9) zeigt eine ausgepr/igte Asymmetrie mit Verktir- zung des4inken Untergesichts als Folge der Fraktur. Die Okklusionsverhfiltnisse wa- ren gut (Abb. 10a und 10b), die maximale SKD betrug 49 mm. die maximale Latero- trusion zur gesunden Seite 9 turn, die Distanz RKP-HIK 1 ram. Die Computertomo- gramme (Abb. l l a bis l l d ) zeigen auf der gesunden rechten Seite normale Verh~ilt- nisse, wghrend das ehemals frakturierte linke Gelenkk6pfchen stark deformiert ist und deutlich welter medial liegt. Bemerkenswert ist diestarke Verdickung und Pneu- matisation des linken Pfannendaches. die zeigt, dab die remodellierenden Ver~nde- rungen sich nicht nut auf den Kondylus beschr/inkten.

Die Ursache der Wachstumsst6rung kann nicht mit Sicherheit benannt ~ werden. Zum einen war die funktionelle Nachbehandlung sicherlich nicht optimal. Wesent- lich scheint jedoch zu sein, dab das Kiefergelenkk6pfchen sich posttraumatisch of- fensichtlich noch welter nach medial verlagert hat, also eine Stabilisierung beispiels- weise durch:noch nicht zerrissene Kapselteile nicht stattgefunden hat. Eine kn6cher- ne KoCis6iidierung des kleinen Fragments in ausgeprfigter Dislocatio ad axim bedeu- tet eine entsprechende Verkt i rzungder betroffenen Unterkieferhfilfte, ferner, dab tier ffir das Unterkieferwachstum sehr wichtige kondylfire Knorpel seine Aktivit~t niCht in physiologischer Richtung entwickeln kann. Die bemerkenswerte Tatsache, dab eine so deutliche Anpassung im Bereich des Pfannendaches eingetreten ist, kann als Kompensationsversuch ftir das fehlende bzw. nur geringe kondy l~e Wachstum interpretiert werden.

Der Autor dankt Herrn Prof, M, Nadjmi. Leiter der Abteikmg ffir Neuroradiologie der Universitfit, ffir die Unterstfitzung bei der Anfertigung der Computertomogramme.

Zusammenfassung

In de1" Literatur diskutierte Faktoren, die das Remodellationsergebnis nach Kiefergelenkfortsatzfraktu- ren beeinflussen, weMen/ibersichtsm~il3ig dargestellt. Ferner werden verschiedene Aspekte der funktionel- len Nachbefiandlung diskutiert. Probleme, die bei mangelhafter Remodellation der Kiefergelenke nach Kollumfrakturen auftreten k6nnen, werden in der Kastfistik demonstriert. Die beiden vorgestellten Patien-

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K i e f e r g e l e n k f o r t s a t z f r a k t u r

ten erlitten in der Kindheit Kollumfrakturen. Die remodellierten Kiefergelenke wurden computertomogra- phisch untersucht.

Summary

An overview is given of the factors influencing remodelling following condylar fracture. Several aspectsof functional treatment are considered. Two case reports demonstrating the problems associated with inadequate condylar remodelling following childhood fractures are described. X-ray computed tomograms of the TMJ are presented. Causal factors for inadequate remodelling are mentioned.

R6sum6

En litt6rature, on discute des facteurs qui ont une influence sur le remodelage de l'articulation temporo- mandibulaire apr~s fracture du col. On 6tudie ensure plusieurs aspects d'un traitment fonctionnel postop6ratoire. On expose des probl~mes dfis a un remodelage insuffisant des ATM par des cas pratiques: Les deux patients pr6sent6s ont eu dans leur enfance une fracture du col. On examine le remodelage des articulations par la tomo-densito-m6trie.

Schrifttum

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