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Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

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Page 1: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Einführung in die Sprachvermittlung

9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen

Sprache

Page 2: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Ist die Wort-und-Regel-Theorie universell gültig?

• Universalien der Sprache (248f.)• Sprachtypologie: Klassifizierung von Sprachen

nach ihrer Struktur • Ausgangsfrage: Abkopplung der Regularität von

der Häufigkeit? (254)• Beispiele: Pluralbildung in Deutsch,

Niederländisch / Französisch, Ungarisch, Arabisch, Hebräisch / Klassifikatoren von Nomina in Chinesisch und Arupesh (Neuguinea)

Page 3: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Sprachtypen• isolierend: jedes Morphem bildet ein eigenes

Wort, auch Grammatische Morpheme wie „Präteritum“, „Plural“ oder „Steigerung“ werden mit eigenen Wörtern ausgedrückt

• agglutinierend: „anklebend“: grammatische Bedeutung werden jeweils in eigenen Suffixen an die Stämme angehängt

• flektierend: grammatische Bedeutung werden durch Suffixe oder Stammänderungen ausgedrückt; ein Morphem kann verschiedene Funktionen haben (Synkretismus); in einem Morphem können verschiedene Funktionen gleichzeitig ausgedrückt sein (-st = 2.Person+Singular)

Page 4: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Sprachtypen und Sprachwandel

isolierend

agglutinierend

flektierend

kombinierend

analytisch =zerlegend

synthetisch = zusammensetzend

1SG+geh+PRÄT 1SG+ geh-PERF geh-PRÄT-1S geh.PRÄT.1SG3 Wörter 2 Wörter 1 zergliederb. 1 nicht–zerglie-

Wort derb. Wort wo xing le bin gegangen git-ti-m ging

Chinesisch Deutsch Türkisch Deutsch

Page 5: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Universalgrammatik

• Idee einer angeborenen Grammatik, die allen Menschen gemeinsam ist

• Problem: wie kann Sprachverschiedenheit erklärt werden (warum haben Chinesen keine morphologischen Gene? S. 283)

• Trennung von allgemeinen Universalien (Prinzipien) und sprachspezifischen Ausprägungen (Parameter)

• Pinker: abgeschwächte Theorie der Universalgrammatik: nur sehr allgemeine Prinzipien, z.B. Wörter und Regeln – Thema: Welcher Regelbegriff?

Page 6: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Regelbegriffe• Regel als Default:

„…Flexionsmuster, das die Sprecher auf beliebige Wörter einer Kategorie anwenden können, auch wenn das betreffende Wort nie mit diesem oder irgendeinem anderen Muster im Gedächtnis gespeichert worden ist.“ (253)

= psychologische Definition (257)

• Regel als Mehrheitsfall, nach dem sich die meisten Wörter einer Kategorie richten

• Kann immer auch aufgrund der Häufigkeit der Fälle durch Analogien und Muster erschlossen werden.

• „Menschen richten sich, wie Miusterassoziatoren , nach Zahlen oder Häufigkeiten.“ (254) (stützt konnektionistische Theorie)

Page 7: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Pluralbildung im Deutschen

1. 2. + Umlaut:

3. -e

4. -e + Umlaut

5. -er

6. -er + Umlaut

7. -(e)n

8. -s

der Daumen – die Daumen

die Mutter - die Mütter

der Hund – die Hunde

die Kuh – die Kühe

das Kind – die Kinder

der Wald – die Wälder

die Straßen – die Straßen

das Auto – die Autos

„Die Autoren von deutschen Sprachbüchern haben heldenhafte Anstrengungen unternommen, in dieses Durcheinander eine Ordnung zu bringen, doch… gibt es mehr Gegenbeispiele als Beispiele.“ (S. 263)

Page 8: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Verteilung des s-Plurals• s-Plural: nur 4% der Nomina (von 25.000 types)• Häufig bei Fremdwörtern• Häufig bei Eigennamen• Im Lexikon auch in Nachbarschaft von anderen

Pluralsuffixen (Schecks – Flecken, Labels – Kabel, Relings – Ringe)

• Akronyme: PC‘s, GmbH‘s• Fehlen im Innern von Komposita• Häufig an zweisilbigen Nomina mit Vollvokal in

der 2. Silbe• = Präferenz für nicht kanonische Stämme des

Deutschen! (263-269)

Page 9: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Erklärungen des s-Plurals

Pinker / Wunderlich• Minority Default• Einzige reguläre Form• Einzige produktive Form• Übertragung anderer

Pluralformen auf Pseudowörter wegen Assoziatismus

Köpcke / Eisenberg / Bybee• Ein Schema neben

mehreren Schemata• Mehrere reguläre Formen• Mehrere produktive

Formen• Übertragung bei

Pseudowörtern folgt zugrundeliegenden Schemata

Page 10: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Vergleich: engl. Präteritum / deutscher Plural

• Default (-ed) = häufigste Form

• Nur reguläre Form produktiv

• Nur reguläre Form Suffix, irreguläre Formen nur stammverändernd

• S-Plural relativ seltene Form

• Mehrere produktive Formen (-en, -e)

• Überwiegend Suffigierung (Stammveränderung marginal)

Sprachtypologisch sehr unterschiedliche Fälle. Pinkers Erklärung wird hier vielfach infrage gestellt. Die Kritik hat Rückwirkungen für den Regelbegriff!

Page 11: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Eisenberg, Peter: Grundriss der deutschen Grammatik. Band I: Das Wort, S. 158

Page 12: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Systematik der Pluralformen nach Eisenberg• S-Plural nicht beliebig, sondern bevorzugt an

Wörter mit Vollvokal (vV) in der unbetonten zweiten Silbe (1= Pinker 8)

• Pluraltyp an Genusunterscheidung gebunden (Fem / Mask+Neut)

• Bei Mask außerdem Unterscheidung von starker (3) und schwacher Flexion (4)

• -en ist regulär für Feminina, (2+4 = Pinker 7)-e für Maskulina und Neutra (3 = Pinker 3/4) [Umlaut lexikalisch geregelt!]

• Wortbildungssuffixe (auch bei Fremdwörtern) nehmen –en (Feminina) oder –e (Maskulina)-heit / -keit / -ung / -(er)ei / -tion / -tät // -ling

Page 13: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Systematik der Pluralformen II

• Markierte (irreguläre) Formen verhalten sich spiegelbildlich zu unmarkierten (reguläre):(4) - schwache Maskulina (auf Konsonant oder auf -e) nehmen –en (n)

• (5) - einsilbige Feminina nehmen –e [immer mit Umlaut, Teilgruppe von Pinker 4](6) – einsilbige Neutra dominieren bei –er [immer mit Umlaut! Pinkers Gruppen 5+6 fallen zusammen, wenn man die phonologische Umlautregel berücksichtigt ]

Page 14: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Phonologisches Kriterium der Pluralbildung • Pluralformen enden zweisilbig mit Betonung auf der ersten Sil-

be (Trochäus: Einheit von betonter (S‘) u.unbetonter Silbe (S0))• einsilbige Feminina der Gruppe (2) bilden daher immer

silbischen Plural (-en)• zweisilbige Feminina der Gruppe (2) bilden Plural nur mit (-n)• einsilbige starke Maskulina und Neutra (3) bilden Plural auf –e• Maskulina auf –e bilden Plural mit –n (schon zweisilbig)

S‘ S0

A R A R

N E

H u n d eB ü ch er

Page 15: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Irreguläre Pluralformen• Mutter / Tochter: einzige Feminina, die nur mit Umlaut

Plural erzeugen; größer ist Gruppe der Maskulina (Pinkers Gruppe 2)

• Maskulina auf Pseudosuffix (-er, -el): ohne Pluralmarkierung (konform mit Silbenregel) (Pinkers Gruppe 1)

• Maskulina mit –er-Plural (kleine Gruppe) (in Pinkers Gruppe 6)

• Lexikalisierter Umlaut in Gruppe 3 (nur Maskulina: Bach – Bäche neben Schaf – Schafe) (in Pinkers Gruppe 4)

FAZIT: Nur ein kleiner Teil der Nicht-s-Plurale im Deutschen ist in demselben Sinne wie bei den Präteritumsformen irregulär und daher Teil des Lexikons!

Page 16: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Signalstärke der Pluralmarkierungen

• „Salienz ist die Bestimmung des Ausmaßes, mit dem eine morphologische Markierung vom Hörer identifizierbar ist, also ihre akustische Prominenz.“

• „Signalvalidität meint die Frequenz, mit der ein bestimmtes Merkmal in der Kategorie auftaucht, die mit der Zielkategorie kontrastiert.“

Köpcke, Klaus-Michael: Schemata der Pluralbildung im Deutschen. Tübingen 1993, S. 82

Page 17: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Signalstärken der Pluralsuffixe (Köpcke)

Markie-rung

Salienz Type Fre-quenz

Token Frequenz

Validität Silben-bildend

-(e)n

-s

-e

-er

Umlaut

+

+

+

+

-

+

-

+/-

-

-

+

-

+

-

-

+

+

-

-

+/-

+ / -

-

+

+

-

1. Salienz: Suffixe sind wahrnehmbarer als Stammveränderungen (Umlaut). (??)

2. Validität: -s und –n selten Endung im Singular –e / -er auch dort häufig

Page 18: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Köpcke, 1993, S. 184

Pseudowortexperiment:

1. Sprecher behandeln alle Suffixe (bis auf –lein) zu 90% und mehr als regulär: „der Klirmling / die Schergung / das Quettchen…“

2. Nomina auf Schwa (Woge, Hase) erhalten in sehr hohem Maße den –n-Plural„der Knumpe“ „die Muhre“

Page 19: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Köpcke, 1993, S. 184

Pseudowortexperiment:

3. Nomina auf Vollvokal: Generalisierung von –s etwas niedriger; Alternative: Generalisierung von –n mit Vokalausfall: Pizza – Pizzen / Pizzas

4. Nomina mit Pseudosuffix: -en: Endungslosigkeit dominant bei Maskulina / Neutra auf –en („Wagen“), -er (Koffer“), bei –el („Säbel“) etwas schwächer. Endung –n bei Feminina auf –el („Gabel“) ; nicht regelkonform: Feminina auf –er („Kiefer“)

Page 20: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Köpcke, 1993, S. 184

Pseudowortexperiment:

3. Einsilbige Nomina: Größter Einfluss irregulärer / konkurrierender regulärer Muster: a) Maskulina: stark 59% vs. schwach 21%Übergeneralisierung von -enb) Feminina: Sogwirkung der Familie: Hand / Hände (27%) c) Neutra: Sogwirkung der Familie: Tuch / Tücher (14%); Übergeneralisierung von –en; -e- Suffix eher untergeneralisiert

Page 21: Einführung in die Sprachvermittlung 9. Pinker: Kapitel 7: Die Schrecken der deutschen Sprache

Deutsche Plurale und die Wort- und Regeltheorie

• Erklärung des s-Defaults unbefriedigend• Reines Auswendiglernen oder Muster-

Assoziieren der anderen Formen nicht bestätigt• Regularisierung von –en als stärkstes Pluralaffix

(neben Ausbreitung des –s)• Relative Stabilität von –e (zur Herstellung von

Zweisilbigkeit)• Einzelne Familiencluster mit irregulären Formen

wirken assoziativ (-er; Umlaut+ -e)„Multiple Regularitäten“ / Regeln eines mittleren

Abstraktionsgrades