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Eine Wohltat nach manch anderem, was wirin den letzten Jahren erlebt haben.

An den Türen hängen noch dieWeihnachtssterne aus rotem undgoldfarbenem Stanniolpapier. Irgendwiewirken sie inzwischen etwas deplatziert. Mirbegegnet der sehr sympathische Pfleger, dersich immer so um meine Schwester bemüht.Er gehört zu den Menschen, dieunaufgefordert stets mehr tun, als sie tunmüssten. Er scheint auch gerade über dieSterne nachzudenken, denn er sagt zu mir:»Die kommen morgen weg. Dann hängen wirFrühlingsblumen aus Papier an die Türen.«

»Ich freue mich darauf«, sage ich. Zwarscheint der Frühling in endlos weiter Fernezu liegen, und draußen ist der Januar genausokalt, grau und trostlos, wie es nach meinemEmpfinden nur dieser Monat sein kann. Aber

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umso schöner, wenn man versucht, etwasFarbe in den Alltag zu bringen.

Ich betrete das Zimmer meiner Schwester.Die Tür ist nur angelehnt. Franziska, diegenau wie ich immer eher der ausgesprochenindividualistische Typ war – nie zu vielGemeinschaft ertrug und stets eine guteRückzugsmöglichkeit in Reichweite brauchte–, hält geschlossene Türen nicht mehr aus,zumindest nicht, wenn sie alleine ist. Manrespektiert das auf dieser Station, indemständig ein blaues Handtuch so von innerer zuäußerer Türklinke drapiert wird, dass die Türnicht zugehen kann. Ich nehme das Handtuchjetzt weg. Ich bin da, wir können die Türschließen.

Franziska schläft, sie bemerkt meinKommen nicht. Ich stelle die große Tasche,in der ich frische Wäsche und Zeitschriften

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für sie habe, auf einen Stuhl. Ziehe meinenMantel aus und husche so leise wie möglichzur Garderobe, um ihn aufzuhängen.Trotzdem hört sie mich jetzt. Sie schlägt dieAugen auf, braucht eine Sekunde, um denSchlaf abzuschütteln. Dann erhellt einwarmes, freudiges Lächeln ihr Gesicht.

»Du bist da«, sagt sie. »Schon lange?«»Eben gekommen.«Mit ihrem Lächeln umarmt sie andere

Menschen, es ist strahlend und echt. Immernoch, auch wenn sie sich sonst aufschreckliche Weise verändert hat. Bei einerGröße von 1,73 Meter ist sie auf 39 Kiloabgemagert, was ihren Kopf in eine Artlebenden Totenschädel verwandelt hat, andem die langen, noch immer leuchtendblonden Haare fast irritieren. Von ihremKörper ganz zu schweigen. Wenn ich ihr ein

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neues Nachthemd mitbringe und sie sichumzieht, muss ich mich wegdrehen, ichertrage den Anblick nicht. Sie sieht aus wiedie Frauen auf den Bildern, die nach derBefreiung von Auschwitz gemacht wurden.

In ihre Nase laufen zwei Schläuche, die siemit dem Sauerstoffgerät verbinden. IhreLuftnot ist in den letzten Jahren immerschlimmer geworden, aber zumindest konntesie noch im vergangenen November mit demAuto von München nach Wiesbaden zu mirkommen, um ihre Nachsorge in Mainzwahrzunehmen. Jetzt schafft sie es ohneSauerstoffgerät nicht mehr vom Bett bis zumBad.

Das ist es, was uns alle in diesem Winterverzweifeln lässt: Die Krankheit galoppiertplötzlich. Auf einmal überschlagen sich dieEreignisse. Wir verlieren die Kontrolle. Wir

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jagen hinterher, versuchen einen Dammbruchzu verhindern und haben doch das Gefühl,ständig zu spät zu sein. Sechs Jahre lang sindwir immer wieder aus jeder noch soaussichtslos erscheinenden Schlacht als –zumindest vorübergehende – Siegerhervorgegangen. Jetzt droht uns das Schicksalabzuhängen.

Trotz ihres Lächelns merke ich, dass dieskein guter Tag werden wird. Letzten Sonntag,am Neujahrstag, war ich auch hier, und allesverlief ganz harmonisch – gemessenjedenfalls an den mehr als unschönenUmständen. Ich wusch ihr die Haare, und wirmussten beide über die Turnübungen lachen,die ich dabei veranstaltete: Das kleine Bad,darin Franziska, ein Stuhl, auf dem sie sitzenkonnte, der Rollwagen, auf dem dasSauerstoffgerät stand. Für mich war