ein plädoyer für die subjektivistische stochastik

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89 Dieter Wlckmann Ein Plidoyer fUr die subjektivistische Stochastik Habilitationsschrift, RWTH-Aachen, Padagogische Fakultat, Approbation am 19.12.1984 Die heutzutage weltweit anerkannte und angewandte, sogenannte klassische Statistik hat als Fundament den frequentistischen Wahr- scheinlichkeitsbegriff. Dieser versteht sich objektivistisch, was Wahrscheinlichkeit eine objektive Eigenschaft eines stochastischen Systems ist, die unabhangig von einem erkennenden Subjekt existiert; nichtsdestoweniger ist sie eine theoretische insofern ihr numerischer Wert p unbekannt ist. Wahrschein- lichkeit P ist stets Wahrscheinlichkeit von Ereignissen E: P(E)=p, wahrend p seIber eine irgendwie nahegelegte Hypothese ist, die wahr oder falsch ist, wobei es uns versagt ist zu wissen, ob sie wahr oder falsch ist. Folgerichtig enthalt man sich im klassi- schen Verstande jeglicher Aussagen liber Hypothesen und konstruiert stattdessen unter der Bezeichnung "Hypothesentesten" ein Prlifver- fahren, das vorschreibt, bei welchem Stichprobenbefund die anste- hende Hypothese "zurlickgewiesen" bzw. "beibehalten" werden solI. Das Ergebnis dieser Handlungsvorschrift hat nur frequentistisch einen Sinn: In fortwahrender Wiederholung der Prlifung, stets unter der Annahme, die Hypothese sei wahr, nahert sich der Anteil der falschlichen Rlickweisungen der vorab festgesetzten Wahrscheinlich- keit a. Was aber im Einzelfall der Fall ist, kann nicht Gegenstand des Interesses sein. Ganz ahnlich ist die Situation beim Schatzen: Hier gibt der einem Konfidenzintervall I zugeordnete Wert y nicht die Wahrscheinlichkeit an, mit der eine zu schatzende 8 in I liegt, vielmehr ist y - analog zu a frequentistisch zu interpre- tieren. Jedermann, der sich in Bereichen statistischer Anwendung (in Soziologie, Psychologie, Medizin, ... ) umgesehen hat oder in schulischem wie hochschulischem Rahmen lehrend tatig war, wird be- statigen, wie schwer man sich in der Interpretation statistischer Resultate tut, wie oft man dem frequentistischen Geist nicht ent- spricht oder gar direkt Fehler macht. Der Grund daflir ist darin zu sehen, die klassische Theorie weitgehend auf in der Praxis ge- gebene Fragen nicht antworten kann, sie meist in Strenge gar nicht anwendbar ist und doch unter dem Druck der Probleme angewandt

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Page 1: Ein Plädoyer für die subjektivistische Stochastik

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Dieter Wlckmann

Ein Plidoyer fUr die subjektivistische Stochastik

Habilitationsschrift, RWTH-Aachen,

Padagogische Fakultat, Approbation am 19.12.1984

Die heutzutage weltweit anerkannte und angewandte, sogenannte

klassische Statistik hat als Fundament den frequentistischen Wahr-

scheinlichkeitsbegriff. Dieser versteht sich objektivistisch, was

hei~t, da~ Wahrscheinlichkeit eine objektive Eigenschaft eines

stochastischen Systems ist, die unabhangig von einem erkennenden

Subjekt existiert; nichtsdestoweniger ist sie eine theoretische

Gro~e, insofern ihr numerischer Wert p unbekannt ist. Wahrschein-

lichkeit P ist stets Wahrscheinlichkeit von Ereignissen E: P(E)=p,

wahrend p seIber eine irgendwie nahegelegte Hypothese ist, die

wahr oder falsch ist, wobei es uns versagt ist zu wissen, ob sie

wahr oder falsch ist. Folgerichtig enthalt man sich im klassi-

schen Verstande jeglicher Aussagen liber Hypothesen und konstruiert

stattdessen unter der Bezeichnung "Hypothesentesten" ein Prlifver-

fahren, das vorschreibt, bei welchem Stichprobenbefund die anste-

hende Hypothese "zurlickgewiesen" bzw. "beibehalten" werden solI.

Das Ergebnis dieser Handlungsvorschrift hat nur frequentistisch

einen Sinn: In fortwahrender Wiederholung der Prlifung, stets unter

der Annahme, die Hypothese sei wahr, nahert sich der Anteil der falschlichen Rlickweisungen der vorab festgesetzten Wahrscheinlich-

keit a. Was aber im Einzelfall der Fall ist, kann nicht Gegenstand

des Interesses sein. Ganz ahnlich ist die Situation beim Schatzen:

Hier gibt der einem Konfidenzintervall I zugeordnete Wert y nicht

die Wahrscheinlichkeit an, mit der eine zu schatzende Gro~e 8 in I liegt, vielmehr ist y - analog zu a frequentistisch zu interpre-tieren. Jedermann, der sich in Bereichen statistischer Anwendung

(in Soziologie, Psychologie, Medizin, ... ) umgesehen hat oder in

schulischem wie hochschulischem Rahmen lehrend tatig war, wird be-

statigen, wie schwer man sich in der Interpretation statistischer

Resultate tut, wie oft man dem frequentistischen Geist nicht ent-

spricht oder gar direkt Fehler macht. Der Grund daflir ist darin zu

sehen, da~ die klassische Theorie weitgehend auf in der Praxis ge-

gebene Fragen nicht antworten kann, da~ sie meist in Strenge gar

nicht anwendbar ist und doch unter dem Druck der Probleme angewandt

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wird. Denn meist ist nicht die "long run"-Situation, sondern nur

eine Stichprobe (oft sehr beschrankten Umfangs) gegeben, aus der

man entnehmen machte, (a) beim Schatzen: mit welcher Wahrschein-

lichkeit e in I liegt, und (b) beim Hypothesenprufen: mit welcher

Wahrscheinlichkeit die Hypothese zutrifft. Dieser Begriff von Wahr-

scheinlichkeit ist jedoch nicht-frequentistisch, ist vielmehr ein

Ausdruck von und fur (Un-)Sicherheit, die nicht stochastischen

Systemen, sondern Menschen eigen ist, weshalb man von der subjek-

tivistischen Interpretation spricht.

Die o.a. Schrift fuhrt die skizzierte Kritik aus, indem sie auf

den unendlichen RegreE hinweist, in den man bei klassischer Argu-

mentation aufgrund endlicher Stichproben gerat, sowie durch Auf-

zeigen dessen, was in objektivistisch orientierter Modellbildung

notwendigerweise subjektivistisch ist, und stellt dem klassischen

Konzept das auf der subjektivistischen Auffassung von Wahrschein-

lichkeit beruhende Bayessche gegenuber. Die "neobayesianische"

Theorie, als deren ubergreifendes Ziel die Mathematisierung des

induktiven SchlieEens anzusehen ist, hat Ende der Zwanzigerjahre,

also etwa zeitgleich mit der klassischen, entscheidende Fort-

schritte erfahren, hat sich jedoch - wohl aus philosophischen Grun-

den, aber auch wegen Fehlauffassungen - nicht recht durchsetzen kannen. Doch weist die zunehmende Anzahl von Publikationen und in-

ternationalen Kongressen zur Bayes-Statistik aus, daB diese an Bo-

den gewinnt. Die Schrift versucht darzulegen, daB das (Neo-)Bayes-

sche Konzept intuitiver, flexibler, umfassender und allgemein

adaquater in der Anwendung und somit im besonderem in der Schule

zur einfuhrenden Vermittlung stochastischer Ideen geeigneter als

das klassische ist. Sie versteht sich als Grundlagenstudie zur Ent-

wicklung eines Stochastik-Curriculums im "Bayesschen Geiste". Sie

wird zur Zeit zur Veraffentlichung uberarbeitet. (Jetzige Fassung:

260 Schreibmaschinenseiten, etwa 150 Literaturangaben.)

Priv.-Doz. Dr. D. Wickmann Sem. f. Mathematik und ihre Didaktik FB 9: Padagogische Fakultat der RWTH-Aachen AhornstraBe 55 5100 Aachen