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SCHILLER Monolog für einen Mann von Daniel Call Alle Rechte vorbehalten Unverkäufliches Manuskript Das Aufführungsrecht ist allein zu erwerben vom Verlag __________________________________________________________________________________________ g a l l i s s a s theaterverlag und mediaagentur GmbH wielandstr. 17 – 10629 berlin fon: 030-31 01 80 60 20 – fax: 030-31 01 80 60 10

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Page 1: EIN GEDICHT FÜR DICH · Arschloch. Ich freue mich nicht mehr auf die Welt. Und ich gewinne alles, wenn ich sie vor der Zeit verlassen darf. Frei will ich sein. Frei, frei, frei…

SCHILLER Monolog für einen Mann

von

Daniel Call

Alle Rechte vorbehalten Unverkäufliches Manuskript

Das Aufführungsrecht ist allein zu erwerben vom Verlag __________________________________________________________________________________________

g a l l i s s a s

theaterverlag und mediaagentur GmbH wielandstr. 17 – 10629 berlin

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SCHILLER Monolog für einen Mann

von

Daniel Call

Alle Rechte vorbehalten Unverkäufliches Manuskript

Das Aufführungsrecht ist allein zu erwerben vom Verlag __________________________________________________________________________________________

g a l l i s s a s

theaterverlag und mediaagentur GmbH wielandstr. 17 – 10629 berlin

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Bitte beachten Sie folgende Hinweise: Als unverkäufliches Manuskript vervielfältigt. Dieses Buch darf weder verkauft noch verliehen noch sonst irgendwie weitergegeben werden. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung, Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen und sonstige Medien, der mechanischen Vervielfältigung und der Vertonung, vorbehalten. Dieses Buch darf zu Bühnenzwecken, Vorlesungen und sonstigen Aufführungen nur benutzt werden, wenn vorher das Aufführungsrecht einschließlich des Materials rechtmäßig von uns erworben ist. Das Ausschreiben der Rollen ist nicht gestattet. Übertretung dieser Bestimmungen verstößt gegen das Urheberrechtsgesetz. Wird das Stück nicht zur Aufführung angenommen, so ist das Buch umgehend zurückzusenden an: g a l l i s s a s theaterverlag und mediaagentur GmbH Wielandstr. 17 – 10629 Berlin

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Die Bühne

Sitzmöbel – Sessel, Fauteuil, Chaiselongue oder Ähnliches. Ein Tisch, der auch als

Schreibpult dient. Kann ein Stehpult, auch Sekretär sein. Darauf Tintenfass und

Federkeil, einige Bücher, verschiedene Requisiten, irgendwo im Raum verteilt.

Auf dem Boden zerknülltes Papier – viele Knäuel – Hunderte, Tausende – die von

der Spielfläche in den Zuschauerraum branden. Man hat das Gefühl, über einen

laubraschelnden Herbstboden zu gehen. Auf jedem der zerknüllten Blätter steht je

nur ein handschriftlicher Satz: „Ich lebe.“, „Ich liebe.“ und „Ich bin frei.“

Für Eric.

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AKT 1

1.Szene: Das übermächtige Grau

Unter Musik fährt der herbstgelbe Raum ins Dunkel. Im Black vernehmen wir

raschelnde Schritte, die Stimme Schillers.

STIMME SCHILLER Der Verirrte tritt wieder in das Geleise der Gesetze. Die Tugend geht

siegend davon. Wer nur so billig gegen mich handelt, mich ganz zu lesen,

mich verstehen zu wollen, von dem kann ich erwarten, dass er nicht den

Dichter bewundere, aber den rechtschaffenen Mann in mir hochschätze.

Langsames Licht. Schiller steht da, mit dem Rücken zum Publikum. Noch wirkt er

etwas müde, matt. Im Laufe des Spiels gewinnt er an Energie. Als würde Wort für

Wort die Kraft in seine Glieder zurückkehren.

SCHILLER

Vielleicht sind auf der Welt ja noch mehr solcher Zirkel, die mich

unbekannt lieben. Die sich freuen, mich zu kennen. Dass in 100 oder mehr

Jahren, wenn auch mein Staub schon lange verweht ist, man mein

Andenken segnet. Mir noch im Grabe Tränen und Bewunderung zollt.

Dann, meine Teuersten, freue ich mich meines Dichterberufs. Ich

versöhne mich mit Gott und meinem oft harten Verhängnis.

Langsam wendet er sich um.

Der Tod ist eine Sache zwischen mir und mir. Der Beginn ist immer

schwieriger als der Schluss. Das Ende ist die einzig verbindliche, uns alle

einende Wahrheit. Vor dem Ende habe ich mich nie gescheut.

Nun blickt er ins Publikum.

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SCHILLER als Räuber Moor

Man könnte mich darum bewundern. (Nach einigem Nachsinnen:) Ich

erinnere mich, einen armen Schelm gesprochen zu haben, als ich

herüberkam, der im Taglohn arbeitet und elf lebendige Kinder hat. Man

hat tausend Louisdore geboten, wer den großen Räuber lebendig liefert.

Dem Mann kann geholfen werden.

Das hat ihm gefallen. Er rührt sich.

SCHILLER

Gestatten, Schiller. Johann Christoph Friedrich, genannt Fritz. Das Licht

der Welt erblickte ich am 10. November 1759 in Marbach, als Sohn von

Johann Caspar und Elisabeth Dorothea Schiller, geborene Kodweiß. Kod

mit *d*, also nicht *Kotweiß* im Sinne von „was der Scheiß weiß“, was

zwar historisch gesehen eine heitere Grille böte, aber leider nicht den

Tatsachen entspricht. Die Wirklichkeit hinkt, wie meist, dem literarischen

Effekt hinterher. Kein Anlass des Bedauerns. Wäre der Alltag das

vielbeschworene Abenteuer, er bedürfte keiner romantischen Verklärung.

Nur wo Grau herrscht, ist ein Bedürfnis nach Farbe.

Das Grau ist ein mächtiges, allzu mächtiges Element. Und mir vertraut von

früh an. Jeder, der das zweifelhafte Vergnügen genoss, die saftigsten

Jahre der Jugend in einem Loch wie Stuttgart zu fristen, weiß, wovon ich

spreche. Dort, wo man sagt: „Wenn’s Ärschle brummt, ischt’s Herzle

g’sund“. Als sei ein Pfurz aus heißer Rosette Indiz seelischer Wohlfahrt!

Hier kriecht das Blut mit grauer Zähigkeit durch die Adern. Nichts pulsiert,

alles suppt. Ich besuche die Karlsschule. Der Vater erhofft sicheren Grund

für eine bürgerliche Existenz. Das Gegenteil wird daraus werden.

Ist die köstlichste Lust jugendlicher Erfüllung eigentlich stets die

Enttäuschung des Erzeugers? Rennt man lebenslang an gegen Väter wie

gegen Wände?

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Der Rektor der Militärakademie ist der Herzog Carl Eugen höchstselbst.

Pikanterweise nennt er patriarchalisch waltend seine Schüler gern *seine

Söhne*. Apart, denn unter den frühen Jahrgängen der Karlsschule

befindet sich eine stattliche Anzahl seiner leiblichen Kinder; Ergebnisse

der Hurerei, der er unterdes abgeschworen hat. Die Schule ist ein Institut,

in der alles außer Theologie studiert wird. Ein Komplex aus studium

generale; Kriegsschule, Verwaltungsakademie, Vorklinikum, Kunst- und

Musikhochschule. Alles kann man werden – Minister, General, Arzt, aber

auch Schauspieler oder Musiker.

Als ich zu diesem bildenden Gesamtbrei stoße, verfügt die Schule noch

nicht über ihr späteres Ansehen, und der Herzog muss noch Zöglinge

werben. Dies tut er über ein beliebtes Mittel der Regierenden – die

sogenannte *Erpressung zur Freiwilligkeit*. Wer sich weigert, den Spross

der Schülervernichtungsanstalt zu übereignen, dem droht Ungnade.

Zweimal widersteht Johann Caspar, beseelt vom Wunsche, der kleine

Fritz möge eines Tages das Feld der Theologie beackern – beim dritten

Werben jedoch knickt er ein.

Es folgt das Grau. Übermächtig und erstickend. Die Tore des Instituts

öffnen sich Frauenzimmern nur, ehe sie anfangen, interessant zu werden,

und wenn sie aufgehört haben, es zu sein. Acht Jahre ringt mein

Enthusiasmus mit der militärischen Regel. Acht Jahre versuche ich,

Verhältnissen zu entfliehen, die mir Folter sind.

SCHILLER als Franz Moor

Weil ich Langeweile hab' und eben am Schachbrett keinen Geschmack

finde, will ich mir einen Spaß machen, mich mit Pfaffen herumzubeißen.

Mit dem leeren Schrecken wirst Du meinen Mut nicht entmannen. Ich weiß

wohl, dass derjenige auf Ewigkeit hofft, der hier zu kurz gekommen ist.

Aber er wird garstig betrogen. Ich hab's immer gelesen, dass unser

Wesen nichts ist als Sprung des Geblüts, und mit dem letzten Blutstropfen

zerrinnt auch Geist und Gedanke. Er macht alle Schwachheiten des

Körpers mit. Wird er nicht auch aufhören bei seiner Zerstörung? Nicht bei

seiner Fäulung verdampfen? Lass einen Wassertropfen in Deinem

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Gehirne verirren, und Dein Leben macht eine plötzliche Pause, die

zunächst an das Nichtsein grenzt, und ihre Fortdauer ist der Tod.

Empfindung ist Schwingung einiger Saiten, und das zerschlagene Klavier

tönet nicht mehr. Wenn ich meine sieben Schlösser schleifen lasse, wenn

ich diese Venus zerschlage, so ist's Symmetrie und Schönheit gewesen.

Siehe da! Das ist eure unsterbliche Seele!

Er lacht, kehrt dann in die Erinnerung an seine Jugend zurück.

SCHILLER

Mein kränklicher und schwächlicher Leib lässt es nicht zu, meine Gaben

so anzuwenden, wie ich es will. Die Neigung zur Poesie beleidigt zudem

die Gesetze des Instituts und widerspricht dem Plan seines Stifters. Da

der Herzog kein Freund der Dichtkunst ist, muss man sein dichterisches

Treiben geheim halten.

Ein beliebter Fehlgriff der Herrschenden ist, den Widerspruch zu

unterdrücken. Denn der Widerspruch wuchert gern im Schatten und treibt

dort die tollsten Blüten. Wieder eine Bestätigung der alten Wahrheit, dass

das Zepter nicht zwangsläufig mit Klugheit gekoppelt ist.

Wir rotten uns zusammen in süßgeheimen Zirkeln und huldigen unserem

Messias Klopstock. Klopstock – Gott der Erweckungsbewegung.

Klopstock – das Dichtergenie, das neue Sprachräume öffnet. Wir sind

wahre Klopstock-Jünger, und wir saugen sie in uns ein, die

Klopstockischen Gefühle, Bilder und Vorstellungen. Klopstock ist keine

Anschauung, Klopstock ist eine Religion – wenn auch, zugegeben, mit

ziemlich albernem Namen. Im Klopstockizismus ist der Klopstock-Anbeter

praktizierender Klopstockizist. Klopstockeliker? Klopstockologe?

Klopstockolik?

Kurze Verwirrung. Dann besinnt er sich.

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„Willkommen, o silberner Mond, Schöner, stiller Gefährt der Nacht! Du entfliehst? Eile nicht, bleib, Gedankenfreund! Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur hin.

Des Maies Erwachen ist nur Schöner noch, wie die Sommernacht, Wenn ihm Tau, hell wie Licht, aus der Locke träuft, Und zu dem Hügel herauf rötlich er kömmt.

Ihr Edleren, ach es bewächst Eure Male schon ernstes Moos! O wie war glücklich ich, als ich noch mit euch Sahe sich röten den Tag, schimmern die Nacht.“*

* Friedrich Gottlieb Klopstock, „Die frühen Gräber“

Kurz lässt er die Verse Klopstocks nachwirken.

Gedichte wie Gebete. Unsere Andachtsstunden beflügeln uns. Und befreit

wagen wir selbst erste Schritte der Dichtkunst:

„DER ABEND, von Johann Christoph Friedrich Schiller

Die Sonne zeigt, vollendend gleich dem Helden, Dem tiefen Tal ihr Abendangesicht, (Für andre, ach!, glücksel’gre Welten Ist das ein Morgenangesicht).

Blablabla…“

Eindeutiger Beweis, dass nicht jeder Befreiungsschlag sogleich versierte

Volte ist. Aber ist so ein kolossales Scheitern nicht gesünder als das

Unterlassen des Versuchs?

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Freilich darf mir die Nachwelt den Vorwurf machen, dass ich die Finger

nicht von der Poesie ließ, wiewohl ich ein lausiger Lyriker bin. Meine

Fertigkeit besteht zweifelsfrei im Dialog. Der Erste spricht zum Zweiten,

dieser trägt es dem Dritten zu, der Dritte dem Vierten und jener schließlich

wieder dem Ersten, bei dem die Information, die er zu Beginn gab, völlig

neugestaltet wieder ankommt. Nicht einmal der anfangs geäußerte

Gedanke ist übriggeblieben. So wird die Verfälschung zur Wahrheit. Gibt

es Faszinierenderes als solche Ränke – menschlich, allzu menschlich?

Womit wir bei der Thematik der Dissertation angelangt wären, die ich als

Abschlussarbeit meines Medizinstudiums schreibe:

„Über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner

geistigen.“ Commercium mentis et corporis.

Zur Medizin habe ich von der Juristerei gewechselt, habe sogar drei

Preise eingeheimst, habe auf wundersame, vielleicht bewundernswerte

Weise es vermocht, zu kaschieren, dass auch die Medizin meine Sache

nicht ist. Mit der Dissertation betreibe ich meine Entlassung aus der

Schule. Doch der Herzog genehmigt die Veröffentlichung nicht.

(Als Herzog Carl Eugen:) „Es wird auch noch recht gut vor ihm sein, wenn

er noch ein Jahr in der Akademie bleibt, wo inmittelst sein Feuer noch ein

wenig gedämpft werden kann, sodass er alsdann einmal, wenn er fleißig

zu sein fortfährt, gewiss ein recht großes Subjektum werden kann.“

Arschloch.

Ich freue mich nicht mehr auf die Welt. Und ich gewinne alles, wenn ich

sie vor der Zeit verlassen darf. Frei will ich sein. Frei, frei, frei…

Er scheint wie in sich versunken. Es ertönt eine Fanfare.

Endlich, im Dezember 1780, ist es soweit. Ich werde aus den eisernen

Klauen der Karlsschule entlassen. Der Herzog weist mir eine Stelle als

Medicus eines in Stuttgart stationierten Regiments zu, das ebenso

miserabel beschaffen ist wie meine Besoldung.

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Stuttgart haftet an mir wie eine Syphilis. Oder ist das Leben selbst die

Krankheit, die auf Linderung hofft, weil sie nicht geheilt werden kann?

Die Armut ist von besonderer Gewalt. Das Elend reizt an zur munteren

Selbstzerstörung. Wo sich alles taub anfühlt – was bleibt dort als die

Suche nach dem Kitzel?

Das Wirthaus heißt mir neue Heimat. Ich saufe, spiele, hure. Wenn man

eh nichts hat, warum dann nicht aus dem Vollen schöpfen?

Eingepresst in eine Uniform alten preußischen Schnitts sind die Beine wie

zwei Zylinder von einem größeren Diameter als die in knappen Hosen

eingepressten Schenkel. Kurzum: Ich sehe aus wie ein Storch und diene

in den Kneipen und Kaschemmen als dankbares Unterhaltungsprogramm.

Wer kein Narr ist, der kann sich ruhig zu solchem machen.

Dabei bumse ich nun regelmäßig ein Weib von großer Herzensgüte, doch

gar schröcklicher Hässlichkeit. Luisen Vischer. Eine aufgedunsene Mumie

mit schwimmenden Augen, die sich weder durch Talent noch Geist

auszeichnet. Wenigstens ist sie beschränkt musikalisch, und ihr Geklimper

inspiriert mich im Zustand der Volltrunkenheit zu dem einen oder anderen

erbärmlichen Vers:

„Seelenvolle Harmonien wimmeln, Ein wollüstig Ungestüm, Aus den Saiten wie aus ihren Himmeln Neugeborne Seraphim; Wie des Chaos Riesenarm entronnen, Aufgejagt vom Schöpfungssturm der Sonne Funkend fuhren aus der Finsternus Strömt der goldne Saitenguss. Mädchen sprich! Ich frage, gib mir Kunde: Stehst mit höhern Geistern Du im Bunde? Ists die Sprache, lüg mir nicht, Die man in Elysen spricht?

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Neuer Geister Sonnensitze Winken durch zerrissner Himmel Ritze – Überm Grabe Morgenrot! Weg, ihr Spötter, mit Insektenwitze! Weg! Es ist ein Gott - - - - “*

* Friedrich Schiller, „Laura am Klavier“

Ja, nach solch erbaulichem Gereime hat man das Bedürfnis, sich das

Maulwerk mit Seifenlauge auszuspülen. Ein Sehnen, das mich übrigens

auch anhaucht, wenn mir Luisen auf nüchternen Kopf einen Kuss abtrotzt.

O, sie ist ein wahrhaft mitleiderregendes Frauenzimmer von geradezu

entstellter Beschaffenheit, bei der man nicht weiß, ob man weinen oder ihr

ins Gesicht schlagen soll, wenn sie einen anblickt wie die Kuh, die

dringlich gemolken werden will. Aber Versagen verbindet. Unser Elend

schweißt uns zusammen.

Sie hängt an mir, klebt an mir wie Wurmschleim, ist mir abwechselnd

Kummerkissen oder Zielscheibe meiner Verachtung, und jede meiner

Äußerungen – ob Wort, ob Flatulenz – bedeutet ihr göttliches Evangelium.

Was mich an sie bindet? Mich, den Freigeist, an diese fleischgewordene

Notdurft? Außer der Gewissheit, immer ein wärmendes Feuer und eine

willige Stute zu haben ist es wohl jenes Bewusstsein, selbst als staubige

Motte neben jenem erbärmlichen Grottenolm zu schillern wie der prächtige

Falter. (Er kichert.) Schiller schillert…

Wieder scheint er in sich zu versinken.

Das Gute an Talsohlen ist, dass man tiefer nicht sinken kann. Aber wie es

mir gelingt, in jenem trüben Tümpel aus Ekel, Selbsthass und Suff das

Werk zu vollenden, das mir nachhaltig zum Durchbruch verhelfen soll –

das ist selbst mir ein Rätsel. Doch wie durch Zauberhand – mit teils

wütendem, teils zärtlichem Federstrich während unbewachter Aufenthalte

in der Krankenstube skizziert – entstehen *Die Räuber*…

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2.Szene: Schicksal, gute Mutter

SCHILLER als Räuber Mohr

Meine Unschuld! Meine Unschuld! Seht! Es ist alles hinausgegangen, sich

im friedlichen Strahl des Frühlings zu sonnen. Warum ich allein die Hölle

saugen aus den Freuden des Himmels? Dass alles so glücklich ist, durch

den Geist des Friedens alles so verschwistert! Die ganze Welt eine

Familie und ein Vater dort oben. Mein Vater nicht – ich allein der

Verstoßene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen – mir

nicht der süße Name Kind – nimmer mir der Geliebten schmachtender

Blick – nimmer, nimmer des Busenfreundes Umarmung. (Wild

zurückfahrend:) Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt –

angeschmiedet an das Laster mit eisernen Banden – hinausschwindelnd

ins Grab des Verderbens auf des Lasters schwankendem Rohr – mitten in

den Blumen der glücklichen Welt ein heulender Abbadonna!

Er wirkt auf seltsame Weise befreit. Es ertönt leiser Applaus, im Crescendo zu

tosendem Jubel wachsend.

SCHILLER

Aus was will der Dichter schöpfen, wenn nicht aus sich selbst? Aber

genügt das? Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, jedoch

Meisterschaft schon.

Man spricht von mir als „teutschem Shakespeare“, nachdem *die Räuber*

im Mannheimer Nationaltheater ihre Uraufführung erleben. Uraufführung?

Weit gefehlt! Eine Genesis, eine Neuerfindung, ein Triumphzug!

Das Theater gleicht einem Irrenhaus, rollende Augen, geballte Fäuste,

heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fallen einander

schluchzend in die Arme, Frauen wanken, einer Ohnmacht gleich, zur

Türe. Es ist eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln

eine neue Schöpfung hervorbricht.

Der Applaus verstummt.

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Jetzt werden mir Stuttgart und alle schwäbischen Szenen erst recht

unerträglich und ekelhaft. Meine Knochen haben mir im Vertrauen gesagt,

dass sie nicht in Schwaben verfaulen wollen. Ein zweites Mal reise ich

nach Mannheim, und zwar ohne Beurlaubung durch den Herzog. Luisen,

die Mumie, begleitet mich; mit ihr ein weiteres Weib, und sie bezeugen

meinen Ruhm.

Wochen sind seit meiner Rückkunft vergangen, da zitiert mich Carl Eugen

zu sich. Droht mir mit Festungshaft und Entlassung des Vaters. Angst will

er schüren, doch er erntet nur Abscheu. Es wird immer deutlicher:

Mir bleibt kein Ausweg als die Flucht.

SCHILLER als Franz Mohr

Frisch also! Mutig ans Werk! Ich will alles um mich her ausrotten, was

mich einschränkt, dass ich nicht Herr bin. Herr

„Jetzt gib mir einen Menschen, gute Vorsicht – ich bitte Dich um einen

Freund.“

muss ich sein, dass ich das

mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht.

Er lacht verwegen, bereitet sich vor zur Flucht. Es ertönt „An die Freude“ von

Beethoven.

SCHILLER

* Das Schicksal erweist sich endlich als gute Mutter und schickt

mir Streicher. Streicher, mein Streicher. Wie selbstverständlich stellt er mir

seine Existenz zu Diensten, wirft all seine Lebenspläne über den Haufen

und macht sein Dasein ganz zu dem meinen.

„Wem der große Wurf gelungen Eines Freundes Freund zu sein; Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja – wer auch nur eine Seele Sein

* Friedrich Schiller, Don Carlos

nennt auf dem Erdenrund!

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Und wer’s nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund!“

Gut, das mit dem holden Weib steht noch aus – aber mit Streicher steht

des Freundes Freund mir wacker zur Seite. Mit ihm schmiede ich

Fluchtpläne. Eigentlich will er ja nach Hamburg, aber es kostet mich

keinen Wimpernschlag, ihn von der Dringlichkeit Mannheims zu

überzeugen.

„Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elisium, Wir betreten feuertrunken Himmlische, Dein Heiligtum. Deine Zauber binden wieder Was der Mode Schwert geteilt; Bettler werden Fürstenbrüder, Wo Dein sanfter Flügel weilt.“

Schillers Flucht wird als Räuberpistole aus dem dichterischen Heldenleben

in die Ewigkeit eingehen – jawohl! Und rascher als vermutet bietet sich die

günstige Gelegenheit: Der russische Großfürst und künftige Zar Paul

besucht nebst seiner Gattin, einer herzoglichen Nichte, den

württembergischen Hof. Ein prächtiger Empfang wird ihnen bereitet, der in

einem großen Fest auf der Solitude gipfelt. Den Trubel nutzen wir, um

unbeachtet aus Stuttgart zu entkommen. Als Dr. Ritter und Dr. Wolf

verlassen wir am Abend des 22. September 1782 die Stadt. Schon am

nächsten Morgen erreichen wir die Grenze zur Kurpfalz.

„Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt! Brüder – überm Sternenzelt Muss ein lieber Vater wohnen.“

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Er wirkt einigermaßen atemlos. Ein wenig scheint die Freude aus ihm abzufließen.

Die Musik verklingt.

Ich folge mir selbst auf Schritt und Tritt. Wie ein Schutzteufel. Gib Obacht,

kleiner Geist – vielleicht überraschst Du Dich ja selbst.

Mit meinem zweiten Manuskript, dem *Fiesco*, werde ich die Räuber bei

weitem übertreffen. Es soll ein ganzes, großes Gemälde des würkenden

und gestürzten Ehrgeizes werden; ein republikanisches Trauerspiel.

Schon während des Fußmarsches höre ich gewaltig die Kassen klingeln.

Mannheim wird mein Leben endlich wenden, ich weiß es genau. Man wird

nichts Besonderes, man ist *besonders* erschaffen. Stürmen und

drängen? Nicht *bewegen* heißt die Devise, sondern *erschüttern*. Der

Zuschauer ist kein Beisitzer. Er ist Kombattant, Freund oder Feind, ganz

gleich. Hauptsache die Herzen stocken, die Seelen erbeben. Hauptsache,

es tut sich was.

SCHILLER als Fiesco

Leben heißt träumen; weise sein heißt angenehm träumen. Kann man das

besser unter den Donnern des Throns, wo die Räder der Regierung ewig

ins gellende Ohr krachen, als am Busen eines schmachtenden Weibs?

Gianettino Doria mag über Genua herrschen. Fiesco wird lieben!

Die kurze Wucht verfliegt.

SCHILLER

Kaum in Mannheim angelangt rät man mir, die Stadt sogleich auch wieder

zu verlassen, da man ein Auslieferungsverlangen Carl Eugens fürchtet.

Das Schicksal des Dichters Schubart sitzt mir drohend im Nacken, der seit

seiner hinterhältigen Gefangennahme 1777 auf dem Hohenasperg in

Festungshaft sitzt. Also machen Streicher und ich uns auf den Weg nach

Frankfurt, zu Fuß und völlig mittellos. Mag sein, ich hörte die Kassen einst

klingeln – doch offenbar hörten sie mich nicht.

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3.Szene: Gedanken, von Gedanken gelockt

SCHILLER als Fiesco, am Fenster

Was ist das? Der Mond ist unter. Der Morgen kommt feurig aus der See.

Wilde Phantasien haben meinen Schlaf aufgeschwelgt – mein ganzes

Wesen krampfig um eine Empfindung gewälzt. Ich muss mich im Offenen

dehnen. (Er macht die Glastüre auf. Stadt und Meer von Morgenrot

überflammt. Fiesco mit starken Schritten im Zimmer.) Dass ich der größte

Mann bin im ganzen Genua? Und die kleineren Seelen sollten sich nicht

unter die große versammeln? Aber ich verletze die Tugend? (Steht still.)

Tugend? Der erhabene Kopf hat andre Versuchungen, als der gemeine.

Sollt' er Tugend mit ihm zu teilen haben?

Diese majestätische Stadt! (Mit offenen Armen dagegen eilend:) Mein!

Und drüber empor zu flammen, gleich dem königlichen Tag – drüber zu

brüten mit Monarchenkraft – all die kochenden Begierden – all die

nimmersatten Wünsche in diesem grundlosen Ozean unterzutauchen?

Gewiss! Wenn auch des Betrügers Witz den Betrug nicht adelt, so adelt

doch der Preis den Betrüger. Es ist schimpflich, eine Börse zu leeren – es

ist frech, eine Million zu veruntreuen, aber es ist namenlos groß, eine

Krone zu stehlen. Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde.

Je größer die Geste, desto desillusionierter wird Schiller von seinem Fiesco

hinterlassen.

SCHILLER

Für den *Fiesco* will Intendant Dalberg nichts springen lassen, trotz

inniglicher Bitte meinerseits. Große Umarbeitungen seien nötig, das Werk

theatertauglich zu gestalten. Theatertauglich! Als hätte dieser Ignorant

auch nur den blassesten Schimmer, was ein Stück zum Stück macht.

Der *Fiesco* ist ein Meisterwerk, ich bin überzeugt. Zudem politisch! Viel

politischer als *die Räuber*, die ich langsam schon zu verfluchen beginne,

weil sie zum Maß aller Dinge verklärt werden. Als solle man einen Autor

an dem festmachen, was er schuf, nicht an dem, was er schafft.

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Page 20: EIN GEDICHT FÜR DICH · Arschloch. Ich freue mich nicht mehr auf die Welt. Und ich gewinne alles, wenn ich sie vor der Zeit verlassen darf. Frei will ich sein. Frei, frei, frei…

O, diese Bürokraten! Substituten und Kalfaktoren schwingen sich auf zu

Richtern der Kunst! Mit welchem Recht denn? Welchen Fähigkeiten?

Habe ich mir von Mannheim etwa zuviel versprochen?

Gottlob, mein Streicher, hab ich Dich. Du bist mir treu ergeben. Ein wenig

erinnerst Du mich bisweilen an Kuh Luisen, nur dass Du kein Weib bist,

was sich in vielerlei Hinsicht als Vorteil erweist. Mit dem Darlehn Deiner

Mutter, das sie Dir nach Frankfurt überwies, kommen wir fürs erste über

die Runden. Beziehen ein Zimmer in Oggersheim, im Gasthaus *Viehhof*,

wo wir in einem Bett schlafen, was Dir auf sonderliche Weise zu gefallen

scheint…

Während Du die Tastatur Deines Klaviers niederzuringen suchst, lege ich

den Grundstein meines neuen Werks, der *Louise Millerin*. Tage der

Sorglosigkeit verleben wir hier, Augenblicke der Bohème. Doch das

Schicksal ist mir nicht hold. Mannheim, die Stadt, die mir ein neues Leben

verhieß, schenkt mir doch nur die Freiheit des Elends. Der *Fiesco* wird

endgültig abgelehnt. Der Verkauf seines Verlags deckt gerade mal die

Schulden beim Oggersheimer Wirt und versorgt mich mit bescheidener

Reisekasse. Wird die Odyssee denn nie ein Ende nehmen?

„Auch ich war in Arkadien geboren, Auch mir hat die Natur An meiner Wiege Freude zugeschworen, Auch ich war in Arkadien geboren, Doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur. Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder, Mir hat er abgeblüht. Der stille Gott – o weinet meine Brüder – Der stille Gott taucht meine Fackel nieder, Und die Erscheinung flieht.“*

* Friedrich Schiller, „Resignation – eine Phantasie“

Schillers Laune scheint auf dem Tiefpunkt. Doch er ist ein Stehaufmännchen.

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Asyl finde ich auf dem Gut der Freifrau Henriette von Wolzogen in

Bauerbach. Als Schiffbrüchiger, der sich mühsam aus den Wellen

kämpfte, lande ich endlich am Ufer. Ja, hier, allein in der ländlich-

winterlichen Abgeschiedenheit Thüringens, komm ich endlich bei mir an.

Keine Bedürfnisse ängstigen mich mehr, kein Querstrich von außen soll

meine dichterischen Träume, meine idealistischen Täuschungen stören.

Ich lese, schreibe, lese, und… langweile mich zu Tränen!

Ja, gibt es hier, in diesem gottvergessenen Kaff, keine Möglichkeit, wieder

Menschen, das echte Ebenbild Gottes, zu erblicken? Wie soll ein Mann

produktiv sein ohne Geselligkeit? Das Genie schrumpft zusammen, wenn

ihm der Stoß von außen fehlt. Mühsam muss ich eine dichterische

Stimmung hervorarbeiten, die mich bei einem guten denkenden Freunde

sonst in zehn Minuten anwandelt. Gedanken lassen sich nur durch

Gedanken locken – und unsere Geisteskräfte müssen wie die Saiten eines

Instruments durch Geister gespielt werden.

Wenigstens die *Louise Millerin* vermag ich zu vollenden, das bürgerliche

Trauerspiel, und beginne mit dem *Don Karlos*, dem heroischen

Trauerspiel. Wenn die eigene Existenz einem Trauerspiele gleicht, was

soll man anderes hervorbringen als selbiges?

Immerhin die Charaktere, die ich erschaffe, umgeben mich. Plappernde

Geburten meiner Phantasie. Solange ich bei mir bleibe, bin ich in bester

Gesellschaft.

Was heißt Freundschaft, was platonische Liebe? Eine wollüstige

Verwechslung der Wesen, zuletzt nur ein glücklicher Betrug? Erschrecken,

entglühen, zerschmelzen wir für das Fremde, uns ewig nie eigen

werdende Geschöpf? Gewiss nicht. Wir leiden alles jenes nur für uns, für

das Ich, dessen Spiegel jenes Geschöpf ist.

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4.Szene: Kaltes Fieber

SCHILLER als Ferdinand

Haben wir an die Welt keine Forderung mehr, warum denn ihren Beifall

erbetteln? Warum wagen, wo nichts gewonnen wird und alles verloren

werden kann? Wird dieses Aug nicht eben so schmelzend funkeln, ob es

im Rhein oder in der Elbe sich spiegelt, oder im baltischen Meer? Werden

wir die Pracht der Städte vermissen? Wo wir sein mögen, geht eine Sonne

auf, eine unter – Schauspiele, neben welchen der üppigste Schwung der

Künste verblasst. Werden wir Gott in keinem Tempel mehr dienen, so

ziehet die Nacht mit begeisterndem Schauern auf, der wechselnde Mond

predigt uns Buße, und eine andächtige Kirche von Sternen betet mit uns.

Werden wir uns in Gesprächen der Liebe erschöpfen? Ein Lächeln ist Stoff

für Jahrhunderte, und der Traum des Lebens ist aus, bis ich diese Träne

ergründe.

Er fällt in sich zusammen, wirkt blass, aber nicht gänzlich hoffnungslos.

SCHILLER

Ich kehre zurück nach Mannheim. Mit Dalberg habe ich neue Bande

geknüpft. Es geht mir um eine feste Honorierung. Das Theater soll sich

erklären, sich bekennen. Drei Stücke biete ich ihm an; den *Fiesco*, die

*Louise Millerin*, den *Don Carlos*. Ich bin wild entschlossen, dem

Intendanten meine Meinung zu geigen – über menschliche Niedertracht,

Untreue, Versagung. Kein Blatt will ich vor den Mund nehmen! Doch bevor

ich ausholen kann, habe ich schon einen Vertrag in der Tasche, über 300

rheinische Gulden Jahressalär plus Einnahmen aus den Aufführungen.

Wer weiß, vielleicht ist der Herr Direktor doch nicht so ein Arsch?

Hab ich erst einmal Geld in der Tasche, dann wird sie mir rasch zu

schwer, und ich muss es mit vollen Händen ausgeben. Man sagt mir eine

Neigung nach, mir bloße Möglichkeiten als gewiss einzubilden. Komme,

was da wolle – Hauptsache, es kommt.

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Ehe ich die Anstellung als Theaterdichter feudal zu feiern vermag, rafft

mich das kalte Fieber. Über Monate macht es mir zu schaffen. Ich nehme

Chinin, fresse Fieberrinde wie Brot. Doch das schlimmste ist die grausame

Diät – Wassersuppe heute, Wassersuppe morgen, allenfalls gelbe Rüben

oder saure Kartoffeln. Ich fürchte, dass mir dieser Winter auf Zeitlebens

einen Stoß versetzt.

Der *Fiesco*, aufs Prächtigste umgesetzt, fällt durch und verschwindet

nach drei Vorführungen in der Versenkung. Wenigstens die *Millerin*, was

unterdes auf Anraten Ifflands *Kabale und Liebe* heißt, wird unter lautem

Beifall und den heftigsten Bewegungen der Zuschauer gespielt.

So sehr ich versuche, mich anzugleichen – es aufrichtig und ehrlich

versuche – immer wieder scheitere ich. Selbst am vollkommensten Rund

ecke ich an. Eigentlich sollte ich mich am Zielpunkt meiner Träume

wähnen, doch ich erkenne nichts als Schuldenlast, Krankheit, Mangel und

diese widerliche Mühe, meine Dramen den Wünschen des Theaters

anzupassen und mich mit den Schauspielern herumzuärgern, die

entweder zu blöd sind oder zu störrisch oder beides, einen gescheiten

Satz in die Fresse zu kriegen. Tausend wilde Affekte zerren mich herum.

SCHILLER als König Phillipp

Jetzt gib mir einen Menschen, gute Vorsicht –

Du hast mir viel gegeben. Schenke mir

Jetzt einen Menschen. Du – Du bist allein,

Denn Deine Augen prüfen das Verborgne,

Ich bitte Dich um einen Freund; denn ich

Bin nicht, wie Du, allwissend. Die Gehilfen,

Die Du mir zugeordnet hast, was sie

Mir sind, weißt Du. Was sie verdienen, haben

Sie mir gegolten. Ihre zahmen Laster,

Beherrscht vom Zaume, dienen meinen Zwecken,

Wie Deine Wetter reinigen die Welt.

Ich brauch Wahrheit – ihre stille Quelle

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Im dunkeln Schutt des Irrtums aufzugraben,

Ist nicht das Los der Könige. Gib mir

Den seltnen Mann mit reinem, offnem Herzen,

Mit hellem Geist und unbefangnen Augen,

Der mir sie finden helfen kann – ich schütte

Die Lose auf; lass unter Tausenden,

Die um der Hoheit Sonnenscheibe flattern,

Den Einzigen mich finden.

Er wirkt sichtlich erholt.

SCHILLER

Endlich wieder ein kolossales Weib bestiegen. Kein liederliches

Frauenzimmer, sondern eine adlige Dame mit wuchtigem Busen und

ebensolcher Verständigkeit. Charlotte ist verheiratet mit dem Offizier

Heinrich von Kalb, selbstverständlich unglücklich. Etwas wild

Idealistisches haftet ihr an, abgerissen von ordinären Begriffen und

Konventionen. Sie ehrt in mir das unentwickelte, noch mit dem Stoffe

unsicher kämpfende Talent. Nicht durch das, was ich war und was ich

geleistet habe, bin ich ihr wert, sondern durch das, was ich noch werden

und leisten kann.

„Nein, länger, länger werd ich diesen Kampf nicht kämpfen, Den Riesenkampf der Pflicht. Kannst Du des Herzens Flammentrieb nicht dämpfen, So fordre, Tugend, dieses Opfer nicht. Sieh, Göttin, mich zu Deines Thrones Stufen, Wo ich noch jüngst, ein frecher Beter, lag, Mein übereilter Eid sei widerrufen, Vernichtet sei der schreckliche Vertrag, Den Du im süßen Taumel einer warmen Stunde Vom Träumenden erzwangst,

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Mit meinem heißen Blut in unerlaubtem Bunde Betrügerisch aus meinem Busen rangst. Sie sieht den Wurm an meiner Jugend Blume nagen Und meinen Lenz entflohn, Bewundert still mein heldenmütiges Entsagen Und großmutsvoll beschließt sie meinen Lohn. Misstraue, schöne Seele, dieser Engelsgüte! Dein Mitleid waffnet zum Verbrecher mich, Gibt’s in des Lebens unermesslichem Gebiete, Gibt’s einen andern schönern Lohn – als Dich?“*

* Friedrich Schiller, *Freigeisterei der Leidenschaft*

Charlotte vermittelt einen Besuch am Darmstädter Hof, wo ich den ersten

Akt aus dem *Don Carlos* vortrage. Unter den Zuhörern: Carl August von

Weimar, der mir den Titel des Weimarischen Rats verleiht.

Ich weiß, dass ich mir Mannheim endlich und endgültig aus dem Herzen

reißen muss. Ich habe keine Seele hier; keine einzige, die die Leere

meines Herzens füllte. Keine Freundin, keinen Freund – und was mir

vielleicht noch teuer sein könnte, davon scheiden mich Konvenienz und

Situationen.

Nach Leipzig werde ich gehen, es zum Ziel meiner Existenz, zum

beständigen Ort meines Aufenthalts machen. Dort schreibe ich dann als

Weltenbürger, der keinem Fürsten dient. All meine Verbindungen sind

aufgelöst. Das Publikum ist mir jetzt alles: Mein Studium, mein Souverän,

mein Vertrauter. Vor diesem Tribunal will ich mich stellen. An keinen

andern Thron mehr appellieren als an die menschliche Seele. Ich werde

glücklich sein, denn ich war es noch nie.

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5.Szene: Gespanne gespannt

SCHILLER

Ich sehne mich nach einer bürgerlichen, häuslichen Existenz. Das ist das

einzige, was ich jetzt noch hoffe. Die Jahre in Leipzig und Dresden

verliefen unstet. Langsam beschleicht mich das Gefühl, diese

Ruhelosigkeit möchte mit mir zu tun haben und nicht mit den Orten, wohin

es mich verschlägt. Komme ich irgendwo an, bin ich mit einem Fuße

schon wieder woanders. Wobei das Anderswo nur solange ein

glückverheißender Sehnsuchtspunkt bleibt, bis es zum Hier wird.

Bin ich zu dieser Existenz verdammt? Lebe ich ein falsches Leben? Zur

falschen Zeit am falschen Ort? Bin ich im Voraus oder im Hintertreffen?

Und zuförderst: Finde ich Antwort oder werfe ich bloß neue Fragen auf?

Wenigstens habe ich in Körner einen neuen Freund und einen würdigen

Nachfolger Streichers gefunden. Ohne mich, mein Lieber, sollst Du

ebenso wenig Deine Glückseligkeit vollendet sehen können wie ich die

meine ohne Dich! Und wenn ich mich durch Deine Augen betrachte – nun,

das wirkt sich eher tröstend aus.

Eine Zeitlang habe ich mich königlich bei Körner und seinem jungen Weib

als Hausgenosse eingenistet, und manches haben wir miteinander

angestellt – doch dann ergriff wieder dies Unstete Besitz von mir.

In jedes Weib, das meinen Weg kreuzt und bei deren Anblick nicht

sogleich die Milch säuert oder der Wein in Essig kippt, bin ich auf Anhieb

ganz toll und blind verliebt. Es ist sonderbar: Ich verehre, ich liebe die

herzlich empfindende Natur, und eine Kokette, jede Kokette, kann mich

fesseln. Jede hat eine unfehlbare Macht über mich, durch meine Eitelkeit

und Sinnlichkeit. Entzünden kann mich keine, aber beunruhigen genug.

Schließlich verschlägt es mich nach Weimar – ein Residenzstädtchen,

verglichen mit Dresden. Doch endlich finde ich Umgang mit den Großen

der Literatur, mit Wieland und Herder, und auch Charlotte von Kalb treffe

ich wieder.

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O, welch außerordentliches Weib! Die Vertrautheit, die wir in Mannheim

genossen, ist sofort wieder da – als hätte ich sie erst gestern verlassen.

Mit jedem Fortschritt unseres Umgangs entdecke ich neue Erscheinungen

in ihr, die mich, wie schöne Partien einer weiteren Landschaft,

überraschen und entzücken. Von ihrem Mann lebt sie getrennt. Wir haben

uns vorgesetzt, kein Geheimnis mehr aus unserem Verhältnis zu machen,

und schon bald sind wir Gesprächsthema Nummer 1 unter den

Weimaranern.

Ich bin wer. Nicht Charlottes wegen finde ich Einlass ins feine Weimar,

sondern weil ich inzwischen einen Namen habe. Friedrich Schiller ist nicht

mehr der wilde Autor von einst. Und – wer weiß? – vielleicht kommt es ja

hier und mit Charlotte endlich zu der Vereinigung, den häuslichen

Freuden, nach denen ich mich ein Leben lang schon sehne?

SCHILLER als König Phillipp

Ich heiße

Der reichste Mann in der getauften Welt;

Die Sonne geht in meinem Staat nicht unter –

Doch alles das besaß ein Andrer schon,

Wird nach mir mancher Andre noch besitzen.

Das ist mein eigen. Was der König hat,

Gehört dem Glück. Elisabeth dem Philipp.

Hier ist die Stelle, wo ich sterblich bin.

Er verfällt in Melancholie.

SCHILLER

Die Wintermonate verbringt Charlotte mit ihrem Mann auf ihrem Erbgut

Kalbsreith. Versprechen zerbrechen…

Mein Gemüt ist verwüstet, mein Kopf verfinstert. Eine philosophische

Hypochondrie verzehrt meine Seele, alle ihre Blüten drohen abzufallen.

Ich bin bis jetzt als ein isolierter fremder Mensch in der Natur herumgeirrt.

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Alle Wesen, an die ich mich fesselte, haben etwas gehabt, das ihnen

teurer war als ich, und damit kann mein Herz sich nicht behelfen. Eine

fatale Verkettung von Spannung und Ermattung ergreift von mir Besitz, ein

Opiumschlummer und Champagnerrausch.

Dem Ertrinkenden erscheint alles als Rettungsanker. Bei mir treten sie

gleich in Herden auf. Zum einen bietet mir die Universität Jena eine

Geschichtsprofessur an, zum anderen treten die Schwestern Lengefeldt in

mein Leben und befruchten es aufs Köstlichste.

Ein reicher Mann nennt zwei Weiber sein eigen, ein kluger keines.

Die Schwestern sind unterschiedlicher, als zwei Menschen überhaupt sein

können. Lottchen, die Jüngere, ist eher hager und bohnig und einfach in

Empfinden und Denken. Caroline, eine verheiratete von Beulwitz, ist

proper-rustikal; sie drängt es zur Zergliederung der eigenen Innerlichkeit.

Beide zusammen ergeben eine schweißtreibende Allianz. Was soll man

sich mit einer

Freilich, die Ehe ist von einer Endgültigkeit, die mir nicht behagen will.

Was ist, wenn der Überdruss wieder einmal meiner habhaft wird?

Stute zufriedengeben, wenn man ein Gespann haben kann?

Freilich verlangen sie dem Bock einiges an Stehvermögen ab, aber

schließlich bin ich noch keine Dreißig und stehe voll im Safte!

Körner nölt aus der Ferne wie eine eifersüchtige Xanthippe, so als sei ich

ihm versprochen. Ihn zu beschwichtigen schreibe ich ihm:

„Mein Herz ist frei, Dir zum Troste. Ich habe es redlich gehalten, was ich

mir zum Gesetz machte und Dir angelobte. Ich habe meine Empfindungen

durch Verteilung geschwächt, und so ist das Verhältnis innerhalb der

Grenzen einer herzlichen vernünftigen Freundschaft.“

„Die Empfindungen durch Verteilung geschwächt!“ Als sei so eine

Doppelliebe bloß die Hälfte! In Wahrheit schmieden wir schon Pläne, wie

wir die holde Dreisamkeit dauerhaft praktizieren mögen. Ha! Das wird ein

rechter Saustall werden, mit mir als Keiler mittendrin…

Der Gedanke erfreut ihn, doch gleich kehrt die alte Angst zurück.

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Könntest Du mir innerhalb eines Jahres eine Frau von 12000 Talern

verschaffen, lieber Körner, mit der ich leben, an die ich mich attachieren

könnte – so wollte ich Dir in 5 Jahren eine Fridericiade, eine klassische

Tragödie und, weil Du doch so darauf versessen bist, ein halb Dutzend

schöner Oden liefern, und die Akademie in Jena möchte mich dann am

Arsch lecken.

„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, Bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben! Der Dichtung heilige Magie Dient einem weisen Weltenplane, Still lenke sie zum Ozeane Der großen Harmonie!“*

* Friedrich Schiller, „Die Künstler“

Als die Kalbsche von meiner Verbandelung mit Lottchen und Caroline

einen Wind bekommt und wohl auch begreift, wie ernst es mir mit dieser

Menage ist, beginnt das traurige Drama der Herzen. Sie bittet mich um

eine Aussprache, die ich ihr natürlich nicht gewähre – zu den beiden

Kühen eine Dritte hinzuzufügen, würde selbst meine Energien

übersteigen. Also beginnt sie, über die Schwestern zu tratschen. Und was

machen Frauenzimmer, sobald sie sich angegriffen fühlen? Sie beißen

zurück. Wären wir in Italien, wo das Klima die Menschen noch lebhafter

macht, ein Dolchstich würde die Sache entscheiden.

Unerbittlich hacken die Kampfhennen aufeinander ein, wobei sich Frau

von Kalb als das Gegenteil der feinen Dame erweist, die sie doch immer

scheinen wollte. Pathologisch. Leidenschaft und Kränklichkeit zusammen

führten sie ja früher schon manches Mal an die Grenzen des Wahnsinns.

O, ich erkenne nun: Sie war nie wahr gegen mich, als etwa in einer

leidenschaftlichen Stunde; mit Klugheit und List wollte sie mich

umstricken!

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Ich jedenfalls bin gewillt, mein Leben in Gemeinschaft mit diesen beiden

Frauen einzurichten – wie immer das gehen mag. Frei und sicher bewegt

sich meine Seele unter ihnen, und immer liebevoller kommt sie von der

einen zur anderen zurück. Sie sind derselbe Lichtstrahl, derselbe Stern,

der nur verschieden widerscheint aus verschiedenen Spiegeln.

Ich schäme mich für nichts in diesem Leben – dafür ist hinterher immer

noch Zeit genug. Am 20. Februar 1790 geben Lottchen und ich uns in der

Dorfkirche von Wenigenjena das Jawort.

SCHILLER als Ferdinand

Ich fürchte nichts – nichts – als die Grenzen Deiner Liebe. Lass auch

Hindernisse wie Gebirge zwischen uns treten, ich will sie für Treppen

nehmen und drüber hin in Deine Arme fliegen. Die Stürme des widrigen

Schicksals sollen meine Empfindung empor blasen, Gefahren werden

Dich nur reizender machen. Also nichts mehr von Furcht, meine Liebe. Ich

selbst – ich will über Dir wachen wie der Zauberdrach über unterirdischem

Golde. Mir vertraue dich! Du brauchst keinen Engel mehr – ich will mich

zwischen Dich und das Schicksal werfen – empfangen für Dich jede

Wunde – auffassen für Dich jeden Tropfen aus dem Becher der Freude –

Dir ihn bringen in die Schale der Liebe. An diesem Arm sollst Du durchs

Leben hüpfen. Schöner, als er Dich von sich ließ, soll der Himmel Dich

wieder haben und mit Verwunderung eingestehn, dass nur die Liebe die

letzte Hand an die Seelen legte.

Wie so oft folgt auf das Hochgefühl tiefe Wehmut.

SCHILLER

Hach, der Gedanke an Jena ist mir widerlich. Welch böser Genius gab mir

ein, mich dort zu binden? Die Wohnung ist zu klein für Lottchen, Caroline

und mich. Aus dem Trio wird ein Duett. Ich habe nichts, gar nichts dadurch

gewonnen, aber unendlich viel verloren…

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6.Szene: Vater im Vaterland

SCHILLER

Seitdem ich die Freiheit des Geistes zu schätzen weiß, war ich dazu

verurteilt, sie zu entbehren.

Jena lässt sich wider Erwarten gut an. Caroline ist eine Zeitlang auf

Besuch bei uns, und mein Leben pendelt beneidenswert zwischen den

beiden Frauenzimmern. Sogar die Vorlesungen machen mir Vergnügen.

Eine ruhige, gleichförmige Glückseligkeit ergießt sich sanft und still über

alles, was ich sehe und mir vornehme. Ich beschließe gar, die Finger von

der Dramatik zu lassen, bis ich der griechischen Tragödie mächtig bin und

meine dunklen Ahnungen von Regel und Kunst in klare Begriffe

verwandelt habe. Die Historie soll obenan stehen. Ich sehe nicht ein,

warum ich nicht, wenn ich ernstlich will, der erste Geschichtsschreiber in

Deutschland werden kann…

Schreibe ich Geschichte oder was Geschichte hätte sein sollen?

Entwerfe ich Skizzen oder male ich aus? Wie soll der Weg des Menschen

verlaufen? Leicht oder schwer? Bewahrend oder gestaltend?

Die Entscheidung triffst Du nicht, sie trifft Dich.

Entgegen meinen Vorhaben gärt der Plan zu einem Trauerspiel in meinem

Kopfe. Lange habe ich nach einem Sujet gesucht, das begeisternd für

mich wäre, endlich hat sich eins gefunden, und zwar ein historisches – der

Wallenstein. Doch dann werde ich in tragischer Ironie aus allen süßen

Träumen gerissen und von einem heftigen Katarrhfieber angegriffen, einer

hitzigen Brustkrankheit, die mich dem Tode naheführt. Auf kurze

Genesung folgt ein fürchterlicher Rückfall mit Erstickungen, sodass ich

von allen Meinigen schon Abschied nehme und jeden Augenblick

hinzusinken glaube.

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„Die Muse schweigt, mit jungfräulichen Wangen, Erröten im verschämten Angesicht, Tritt sie vor Dich, ihr Urteil zu empfangen, Sie achtet es, doch fürchtet sie es nicht. Des Guten Beifall wünscht sie zu erlangen, Den Wahrheit rührt, den Flimmer nicht besticht, Nur wem ein Herz empfänglich für das Schöne Im Busen schlägt, ist wert, dass er sie kröne.“

Dieser schreckhafte Anfall hat mir innerlich sehr gut getan. Ich habe dabei

dem Tod mehr als einmal ins Gesicht gesehen, und mein Mut ist dadurch

gestärkt worden. Mein Geist ist heiter. Vielleicht ist es ja das alte Wort von

dem Abgrund, in den man blickt und der zurückblickt, welches mir den

Boden, den ich langsam wieder gewinne, als so köstlich, so

außerordentlich erscheinen lässt. Obwohl ich meine Lehrtätigkeit

aufgeben muss, wiewohl ich mit dem Schreiben aussetze, drängt es mich

nach Geselligkeit. Das Leben ist ein Geschenk, viel mehr noch eine

Chance. Es bietet Gelegenheit.

„Der Lenz erwacht, auf jugendlichen Triften Schießt frohes Leben jugendlich hervor, Die Staude würzt die Luft mit Nektardüften, Den Himmel füllt ein muntrer Sängerchor, Und jung und alt ergeht sich in den Lüften, Und freuet sich, und schwelgt mit Aug und Ohr. Der Lenz entflieht! Die Blume schießt in Samen, Und keine bleibt von allen, welche kamen.“ *

* Friedrich Schiller, „Abschied vom Leser“.

Aus Dänemark erreicht mich das Angebot eines mehrjährigen,

großzügigen Stipendiums. Das, wonach ich mich schon lebenslang aufs

Feurigste sehnte, wird jetzt erfüllt. Ich bin auf lange, vielleicht auf immer,

alle Sorgen los. Es heißt die Unabhängigkeit des Geistes. Kopenhagen

stellt mir auf drei Jahre jährlich tausend Taler zum Geschenk in Aussicht.

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Dabei kann ich bleiben, wo ich bin, und darf mich von meiner Krankheit

erholen. Ich habe die nahe Aussicht, mich ganz zu arrangieren, meine

Schulden zu tilgen und nach den Entwürfen meines Geistes zu leben.

Ich habe endlich die Muße, zu lernen und zu sammeln und für die Ewigkeit

zu arbeiten. Mein Gemüt ist heiter und der Kopf kann Beschäftigung

ertragen. Ich bin voll Ungeduld, etwas Poetisches vor die Hand zu nehmen

– besonders juckt mir die Feder nach dem Wallenstein. Die Kritik muss mir

jetzt selbst den Schaden ersetzen, den sie mir zugefügt hat. Die Kühnheit,

die lebendige Glut, die ich hatte, eh mir noch eine Regel bekannt war,

vermisse ich schon seit mehreren Jahren. Die Phantasie erhält ihre vorige

Freiheit zurück und setzt sich keine andern als freiwillige

Das täuscht die hoffende Seele nicht.“

Schranken. Jetzt

bin ich frei, und will es für immer bleiben.

„Es reden und träumen die Menschen viel Von bessern künftigen Tagen, Nach einem glücklichen goldenen Ziel Sieht man sie rennen und jagen, Die Welt wird alt und wird wieder jung Doch der Mensch hofft immer Verbesserung! Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein, Sie umflattert den fröhlichen Knaben, Den Jüngling begeistert ihr Zauberschein, Sie wird mit dem Greis nicht begraben, Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf, Noch am Grabe pflanzt er – die Hoffnung auf. Es ist kein leerer schmeichelnder Wahn, Erzeugt im Gehirne des Toren. Im Herzen kündet es laut sich an, Zu was Besserm sind wir geboren, Und was die innere Stimme spricht,

*

* Friedrich Schiller, „Hoffnung“

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In diesen Tagen hört man allerhand von der Französischen Revolution.

Freunde und Kollegen reisen nach Frankreich und kommen ganz beglückt

zurück. Von Sonnenaufgang ist die Rede, Enthusiasmus des Geistes und

der Versöhnung des Göttlichen mit der Welt. Mich selbst hat die

Nationalversammlung mit den Rechten des *Citoyen Francais*

ausgezeichnet, weil sie mich für einen Vorkämpfer der Freiheit und

Menschenrechte erachtet. Und während ich noch an einer

Verteidigungsschrift für den französischen König bastle, dessen

Unverletzlichkeit doch von der revolutionären Verfassung garantiert wird,

ist Ludwig XVI. schon einen Kopf verkürzt. So zeigt er sich wohl, euer

legendärer *Terreur*! Eure Revolution ist gescheitert! Ich mag keine

französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln mich diese elenden

Schinderknechte an. Aber was will man schon erwarten? Soll eine

Revolution gelingen, so müsste der Mensch zum Staatsbürger taugen.

Alle Verbesserung im Politischen muss von der Veredelung des

Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer

barbarischen Gesellschaft der Charakter veredeln? Der Versuch des

französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen

und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die

Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht. Allein die Kunst kann,

mitten unter einem barbarischen und unwürdigen Jahrhundert, rein wie

eine Himmlische wandeln. Die Kunst, nicht veränderlich durch entarteten

Zeitgeschmack, sondern in den Urgesetzen des Geistes gegründet.

Nach jener flammenden Rede schwächelt er ein wenig.

Der Winter weckt die Krankheit wieder. Beschwerden werden beharrliche

Begleiter. Auch Lottchen kränkelt. Zudem wird sie fett. Gottlob stellt sich

heraus, dass sie an nichts Ernstem laboriert. Sie ist schwanger. Ich blicke

einer der schönsten Lebensfreuden, nach der ich mich gesehnt, entgegen.

Der Schwabe, den ich abgelegt zu haben glaubte, regt sich nun mächtig.

Elf Jahre bin ich davon abgetrennt gewesen, und Thüringen ist das Land

nicht, worin man Schwaben vergessen kann. Nun, da ich Vater werde,

zieht es mich zurück ins Vaterland.

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Carl Eugen lässt mich wissen, er werde meine Anwesenheit, so ich

anreise, wohlwollend ignorieren. Doch ich traue dem Braten nicht und

mache zunächst in Heilbronn, an der Grenze zu Württemberg, Station.

Dort gefällt es uns nicht – wie auch? – und wir ziehen weiter nach

Ludwigsburg, wo Carl Friedrich Ludwig am 14.Oktober 1793 das Licht der

Welt erblickt. Ein gnädiger Gott will es, dass Carl Eugen nur zehn Tage

später den Löffel abgibt. Der alte Herodes ist tot, der Weg in die Heimat

frei. Im Frühjahr kehre ich nach Stuttgart zurück, das ich doch vor beinahe

12 Jahren, für immer wie ich dachte, hinter mir gelassen. Die Künste

blühen hier in einem für das südliche Deutschland nicht gewöhnlichen

Grade. Es tut wohl, wieder unter denkenden Menschen zu sein.

„Vertraute Lieblinge der sel’gen Harmonie, Erfreuende Begleiter durch das Leben, Das Edelste, das Teuerste, was sie, Die Leben gab, zum Leben uns gegeben! Dass der entjochte Mensch jetzt seine Pflichten denkt, Die Fessel liebet, die ihn lenkt, Kein Zufall mehr mit eh’rnem Zepter ihm gebeut, Dies dankt euch – eure Ewigkeit, Und ein erhabner Lohn in eurem Herzen. Dass um den Kelch, worin uns Freiheit rinnt, Der Freude Götter lustig scherzen, Der holde Traum sich lieblich spinnt, Dafür seid liebevoll empfangen!“*

* Friedrich Schiller, „Die Künstler“

Im Mai reise ich zurück nach Jena. Das Nest mausert sich indes zur

Hauptstadt der Philosophie und des Idealismus. Und ein Weiteres erwartet

mich dort. Ein Mensch, der mir zum Seelenfreund soll werden. Goethe.

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AKT II

1.Szene: Verwandte Seelen

SCHILLER „Selig, welchen die Götter, die gnädigen, vor der Geburt schon Liebten, welchen als Kind Venus Arme gewiegt, Welchem Phöbus die Augen, die Lippen Hermes gelöset, Und das Siegel der Macht Zeus auf die Stirne gedrückt! Ein erhabenes Los, ein göttliches ist ihm gefallen, Schon vor des Kampfes Beginn sind ihm die Schläfe bekränzt. Eh er es lebte, ist ihm das volle Leben gerechnet, Eh er die Mühe bestand hat er die Charis erlangt.“

Eigentlich ist mir Goethen ein widerlicher Mensch. Schon mehrfach ist er

mir über den Weg gelaufen. Eine Kluft herrscht zwischen unseren

Denkweisen. Seine Welt ist nicht die meinige. Unsere Vorstellungsarten

sind völlig verschieden. Besonders eklig ist mir die Abgötterei, die um

diese Person betrieben wird. Öfter um ihn zu sein, würde mich unglücklich

machen. Er hat auch gegen seine nächsten Freunde kein Moment der

Ergießung. Er ist an nichts zu fassen. Ein Egoist in ungewöhnlichem

Grade. Er macht seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott,

ohne sich selbst zu geben, ganz auf den höchsten Genuss der Eigenliebe

kalkuliert.

„Neigungen haben die Götter, sie lieben der grünenden Jugend Lockigte Scheitel, es zieht Freude die Fröhlichen an. Nicht der Sehende wird von ihrer Erscheinung beseligt, Ihrer Herrlichkeit Glanz hat nur der Blinde geschaut, Gerne wählen sie sich der Einfalt kindliche Seele, In das bescheidne Gefäß schließen sie Göttliches ein. Ungehofft sind sie da, und täuschen die stolze Erwartung, Keines Bannes Gewalt zwinget die Freien herab.“

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Wie leicht ward Goethes Genie von seinem Schicksal getragen, und wie

muss ich bis auf diese Minute noch kämpfen. Er besucht mich zum

Gespräch und will mit mir über Kant streiten. Doch ist mir Streit wider die

Natur. Ich bin ein ruhender Mensch, der nicht viele Worte braucht.

Ihm

Krönte doch selber den Gott nur das gewogene Glück.“

dagegen fehlt meine herzliche Art, sich zu irgendwas zu bekennen.

Seine Vorstellungsart ist zu sinnlich und betastet zuviel. Eine ganz

besondere Mischung von Hass und Liebe ist es, die er in mir erweckt.

Wie Brutus gegen Cäsar – ich könnte seinen Geist umbringen und ihn

wieder von Herzen gernhaben.

„Wem er geneigt, dem sendet der Vater der Menschen und Götter Seinen Adler herab, trägt ihn zu seinem Olimp, Unter die Menge greift er mit Eigenwillen und welches Haupt ihm gefället, das flicht er mit liebender Hand Jetzt den Lorbeer und jetzt die Herrschaft gebende Binde,

*

* Friedrich Schiller, „Das Glück“

Nun will es der Zufall, dass wir, nach meiner Rückkunft aus Stuttgart,

gemeinsam einem Vortrag der Naturforschenden Gesellschaft in Jena

beiwohnen. Im Hinausgehen bricht er, schon wieder!, einen Streit vom

Zaume! Als sei alles in ihm auf Widerspruch ausgerichtet! Nichts hat er

von meiner Besonnenheit, meiner natürlichen Friedfertigkeit. Alles deckt er

zu mit Wortgewalt. Doch diesmal lasse ich ihn nicht entkommen, diesmal

biete ich Paroli. Er faselt von seinen Studien zur Morphologie der Pflanzen

und macht sich furchtbar wichtig. Doch was mir nur *Idee* scheint, nennt

er schon *Erfahrung*. Wir setzen den Disput über Tage hinweg fort, ein

Wort gibt das andere, und bald schon sind wir bei Kunst und Kunsttheorie

angelangt, und – was soll ich sagen? Nun endlich kommt er mir in

Vertrauen entgegen.

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O, welch außergewöhnliche Seele! Ich würde mich freuen, wenn ich ihm

mehr sein könnte. Die Liaison mit einem Dichter ist weitaus erquicklicher

als die mit einem Frauenzimmer. Sie hat ein Leben lang Bestand und

kennt keinen Betrug. Goethe erscheint mir als griechischer Geist, der in

die nordische Schöpfung geworfen. Mit jenen Tagen in Jena ist eine neue

Epoche angebrochen. Nach jenem unvermuteten Begegnen scheint es so,

als wenn wir miteinander fortwandern müssten. Endlich scheint sie erfüllt,

die lang gesuchte Zweiheit! Zwei gegensätzliche Naturen, aus deren

Wechselwirkung Fruchtbarkeit erwächst!

„Nicht vom Kampf die Glieder zu entstricken, Den Erschöpften zu erquicken, Weht hier des Sieges duft’ger Kranz. Mächtig, selbst wenn eure Sehnen ruhten, Reißt das Leben euch in seine Fluten, Euch die Zeit in ihren Wirbeltanz. Aber sinkt des Mutes kühner Flügel Bei der Schranken peinlichem Gefühl, Dann erblicket von der Schönheit Hügel Freudig das eflog’ne Ziel.“*

Weil er der Glückliche ist, kannst Du der Selige sein.“

Hach, gegen Goethen bin und bleibe ich nur ein poetischer Lump. Unser

schönes Verhältnis gleicht einer Religion. Alles, was in mir Realität ist, will

ich zum reinsten Spiegel des Geistes ausbilden, mir diese Freundschaft zu

verdienen. Mit ihm, ich ahne es, gelingt es mir, das Ideal der Schönheit zu

teilen. Und was ist die Schönheit anderes als die Freiheit in der

Erscheinung?

„Freue Dich, dass die Gabe des Lieds vom Himmel herabkommt, Dass der Sänger Dir singt, was Dir die Muse gelehrt, Weil der Gott ihn beseelt, wird der Hörer zum Gotte,

*

* Friedrich Schiller, „Das Ideal und das Leben“ * Friedrich Schiller, „Das Glück“

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2.Szene: Wo das Gute fließt

SCHILLER

In Cotta habe ich nun endlich doch auch einen Verleger entdeckt, der

meinen Neigungen entgegenkömmt. Er hat ein edles Wesen, ein treues

Herz und offenes Ohr. Zudem verfügt er über die nötige Penunze, mich

auch nach Auslaufen der dänischen Gelder gesund zu halten.

Cotta schlägt mir vor, die Redaktion einer politischen Tageszeitung zu

übernehmen. Aber da scheue ich mich, da sträubt sich alles in mir. Die

politische Schriftstellerei würde ich nicht aus Neigung, sondern aus purer

Spekulation erwählen. Ich lehne dankend ab, jedoch habe ich einen

Gegenvorschlag in petto, den ich schon lange auf dem Herzen trage:

Ein großes, vierzehntägiges Journal, an dem 30 oder 40 der besten

Schriftsteller Deutschlands arbeiten – ein Journal, das die ersten Köpfe

der Nation vereinigt. Die Begründung einer Einheit, mit der die Deutschen

zwar keine politische, aber eine Kulturnation würden. Diese Schrift dürfte

den Namen ihres Verlegers unter den deutschen Buchhändlern

unsterblich machen!

Von solcher Werbung überwältigt schlägt Cotta ein, und ich mache mich

daran, Dichter zu akquirieren. *Die Horen* soll die Zeitschrift heißen – was

dem Zeitgeist angehört soll hinübergeleitet werden zum Zeitengrund.

Nichts Politisches schwebt mir vor. Alles, nur das nicht! Man bleibe mir

vom Leibe mit dem Lieblingsthema des Tages, der Revolution! Darüber

herrsche gestrenges Stillschweigen! Die politische Welt soll unter der

Fahne der Wahrheit und Schönheit vereinigt werden.

Die Horen sind die Töchter des Zeus und der Themis. Eunomia steht für

das Gesetz, Dike für die Gerechtigkeit, Irene für den Frieden. Die Horen

sollen den Geist der Zeitschrift regieren – die welterhaltende Ordnung, aus

der alles Gute fließt!

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Hier tritt der Dichter an sein Publikum wie der Erzieher zum Zögling. Wenn

schon eine Revolution, dann eine von oben. Veränderung? Gern!

Aber nicht gegen den Fürsten durch das Volk, sondern durch den Fürsten

für das Volk. Der Machthaber sei souverän, der Schriftsteller schöpfe sein

Publikum!

Eine gewisse Feurigkeit ist entstanden, die allerdings, nicht untypisch für Schiller,

sogleich wieder einen gewissen Dämpfer erfährt. Allerdings verfällt er nicht sogleich

in schwermütige Resignation, eher in die geschäftige Arroganz und Überforderung

des Herausgebers.

Die Anzahl der Abonnenten ist zu Anfang recht ansehnlich. Die Disziplin

der Mitarbeiter allerdings lässt zu wünschen übrig. Die meisten Beiträger

sind säumig, Kant und Garve liefern vorsichtshalber gar nichts – trotz

Zusage! Und allein mit dem eifrigen Schlegel, Freund Goethe und mir lässt

sich ein solches Journal auf die Dauer nicht füllen. Zudem klagt Cotta über

die allzu schwere Kost, die wir den Leutchen vorsetzen. Na, dann wollen

wir doch mal sehen, ob wir das Publikum, oder ob es uns bezwingt!

Schließlich bin ich der Herausgeber, und ich bestimme, was gelesen wird

und was nicht!

Es siegt nun doch die Resignation.

Ach, ich bin der *Horen* überdrüssig. Ich will keinem fremden Gesetz

gehorchen. Ich will mich mir selbst überlassen. Ich mag den Bedürfnissen

einer Leserschaft nicht hinterher rennen.

Zudem sind die guten Mitarbeiter, bei allem Prunk den wir dem Publikum

vormachen, wenig. Keine Unterstützung, nirgends. Bald schreiben nur

noch Frauenzimmer für das Blatt – Goethe spöttelt schon über ein

„weibliches Zeitalter“. Ich muss mich doch wundern, wie unsere Weiber

jetzt, auf bloß dilettantischem Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit

sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommt. Es geht dem Ende

zu, eindeutig. Nach dem dritten Jahrgang werden die *Horen* eingestellt.

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Wurde ich von der Sonne geküsst oder von totkaltem Schatten

verschlungen? Wie viel muss der Mensch zerschlagen, bis er lernt, sich zu

lieben?

Er scheint erneut auf dem Tiefpunkt angekommen. Wieder sind es die Worte, die ihn

Stück für Stück aufrichten.

„Fest gemauert in der Erden Steht die Form, aus Lehm gebrannt. Heute muss die Glocke werden. Frisch Gesellen, seid zur Hand. Von der Stirne heiß Rinnen muss der Schweiß, Soll das Werk den Meister loben, Doch der Segen kommt von oben.“

Mit Michaelis vereinbare ich die Herausgabe eines Musenalmanachs für

das Jahr 1796. Darin enthalten Gedichte nebst Illustrationen und

Kompositionen einzelner Liedtexte. Mir bedeutet diese Entreprise eine

unbedeutende Vermehrung meiner Last. Aber für meine ökonomischen

Zwecke desto glücklicher, weil ich sie auch bei schwacher Gesundheit

fortführen und mir dadurch meine Unabhängigkeit sichern kann.

„Zum Werke, dass wir ernst bereiten, Geziemt sich wohl ein ernstes Wort; Wenn gute Reden sie begleiten, Dann fließt die Arbeit munter fort. So lasst uns jetzt mit Fleiß betrachten, Was durch die schwache Kraft entspringt, Den schlechten Mann muss man verachten, Der nie bedacht, was er vollbringt.

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Das ist's ja, was den Menschen zieret, Und dazu ward ihm der Verstand, Dass er im innern Herzen spüret Was er erschafft mit seiner Hand.“

Freilich bin ich nach wenigen Jahren die Sache leid. Ich will mit dem

Mittelmäßigen und Schlechten, das von 20 oder 30 Versemachern in

Deutschland geliefert wird, nichts mehr zu schaffen haben. Zudem fehlt

mir zum Lyrischen gänzlich die Neigung. Und ohne diese kann ich nichts

leisten. Ich sehne mich zurück nach der Dramatik.

„Was in des Dammes tiefer Grube Die Hand mit Feuers Hülfe baut, Hoch auf des Turmes Glockenstube Da wird es von uns zeugen laut. Noch dauern wird's in späten Tagen Und rühren vieler Menschen Ohr Und wird mit dem Betrübten klagen Und stimmen zu der Andacht Chor. Was unten tief dem Erdensohne Das wechselnde Verhängnis bringt, Das schlägt an die metallne Krone, Die es erbaulich weiterklingt.“

Zum letzten Jahrgang, 1800, liefere ich noch drei Gedichte, darunter das

*Lied von der Glocke*.

„Denn wo das Strenge mit dem Zarten, Wo Starkes sich und Mildes paarten, Da gibt es einen guten Klang. Drum prüfe, wer sich ewig bindet, Ob sich das Herz zum Herzen findet!“

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Auf seltsame Weise spaltet das Gedichtlein sein Publikum. Humboldt

bescheinigt der *Glocke* einen gewissen Meistersingercharakter, Garve

sieht in ihr gar eines der vortrefflichsten poetischen Stücke, welches je in

unserer Sprache erschienen. Caroline Schlegel dagegen berichtet, sie und

die Ihrigen seien bei der Lektüre vor Lachen vom Stuhl gefallen.

„Freiheit und Gleichheit! hört man schallen, Der ruh’ge Bürger greift zur Wehr, Die Straßen füllen sich, die Hallen, Und Würgerbanden ziehn umher, Da werden Weiber zu Hyänen Und treiben mit Entsetzen Scherz, Noch zuckend, mit des Panthers Zähnen, Zerreißen sie des Feindes Herz. Nichts Heiliges ist mehr, es lösen Sich alle Bande frommer Scheu, Der Gute räumt den Platz dem Bösen, Und alle Laster walten frei.“

Volksmäßig soll die Dichtung sein. Der einfache Mensch von Herz und

Phantasie, aber ohne verfeinerte Ausbildung, soll die Stimme eines

höheren Wesens vernehmen. Und diese Stimme muss verständlich sein.

„Gefährlich ist's, den Leu zu wecken, Verderblich ist des Tigers Zahn, Jedoch der schrecklichste der Schrecken, Das ist der Mensch in seinem Wahn. Weh denen, die dem Ewigblinden Des Lichtes Himmelsfackel leihn! Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden Und äschert Städt und Länder ein.“

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Aus Ruhe heraus will ich endlich dichten. Nicht aus der Ruhe der Trägheit,

sondern der Ruhe der Vollendung. Gleichgewicht, nicht Stillstand. Keine

Leere, sondern Vermögen.

„Jetzo mit der Kraft der Stranges Wiegt die Glock mir aus der Gruft, Daß sie in das Reich des Klanges Steige, in die Himmelsluft. Ziehet, ziehet, hebt! Sie bewegt sich, schwebt, Freude dieser Stadt bedeute, Friede sei ihr erst Geläute.“*

* Friedrich Schiller, „Das Lied von der Glocke“

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3.Szene: Der kurze Imperativ

SCHILLER

Manchmal fühle ich mich wie der letzte Mensch auf Erden. Ist denn das

Los des Künstlers zwingend die eisige Einsamkeit? Warum versteht

ausgerechnet den

Freilich ist man isoliert, da droben! Doch wenn Goethe und ich uns nicht

zu Richtern aufschwingen, meinethalben auch Scharfrichtern – wer denn

dann? Geistige Aristokratie wird allzu gern mit Arroganz verwechselt. Man

sollte diese Erzphilister, die sich doch Menschen zu sein einbilden, nicht

kaum ein Mensch, der für nichts anderes lebt, als sich

verständlich zu machen?

Die Sommer verbringen wir im Gartenhaus vor der Stadt, das ich mir mit

Hilfe Cottas leisten konnte. Die Wintermonate plagen mich meine Leiden.

Jena ist schon ein erbärmliches Kaff. Ich habe keinen Menschen hier.

Lottchen ist meistenteils schwanger. Daraus ist ihr kein Strick zu drehen,

schließlich ist sie ein Weib und zur Vermehrung bestimmt.

Schlaflosigkeit plagt mich, die Nacht wird zum Tage, der Tag zur Nacht.

Humboldt weiß mich bisweilen aufzumuntern, doch schließlich beraubt

auch er mich seiner Gegenwart und verlässt die Stadt. O, wäre der

Verkehr mit Goethe nicht, ich wäre schlechterdings ganz allein.

Es gibt so wenig gehaltreiche Menschen, dass man, wenn man sich

glücklicherweise gefunden, desto näher rücken sollte. Überhaupt bin ich

aller Menschen müde – nur Goethens nicht. Ich kann ihnen einfach nichts

abgewinnen. Hölderlin bin ich gewogen – aber auch er taugt nicht zum

Geistesverkehr. Mit Schlegel habe ich gebrochen – der ist mir zu modern

und taumelig. Und Herder? Ach, man höre mir auf mit Herder!

Mir ist, als würde ich mit Goethe auf dem Gipfel stehen und auf die übrige

literarische Welt dort unten hinab sehen. Mit Hochmut hat das nichts zu

tun! Derlei nennt sich *Höhenbewusstsein*.

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so gut traktieren. Käme es auf sie und ihre Hohlköpfe an, sie würden alles

Genialische in Grund und Boden stampfen.

Vor allem Herder! Herder! Der ist nun wirklich eine pathologische Natur.

Was der schreibt ist wie ein Krankheitsstoff, was diese auswirft, ohne

gesund zu werden. Dilettantismus. Die zeitgenössische Kunst ist ein

Gräuel. Umso schrecklicher, als die Leute mitunter recht artig pfuschen,

sobald man ihnen Pfusch durchgehen lässt. Überhaupt ist es eine

erbärmliche Sache um die deutsche Schriftstellerei heutzutage.

Und das Publikum? Das Publikum!

Das einzige Verhältnis zum Publikum, das einen nicht reuen kann, ist der

Krieg. Jawohl, hören Sie gut zu, Freund Goethe! Ich weiß, Ihnen wird

immer ganz mulmig, wenn ich energisch werde. Aber was gesagt werden

soll, soll gesagt werden. Man muss die Zuschauer inkommodieren, ihnen

ihre Behaglichkeit verderben, sie in Unruhe setzen. Eine Kriegserklärung

muss getroffen werden, und „Weimar gegen den Rest der Welt“ muss sie

heißen!

Ich will mehr mit Ihnen zusammen sein, lieber Goethe. Was heißt, ich will?

Ich muss! Die Phantasie braucht Anregung von außen. Ich kann die

Anstrengung nicht mehr leisten, die es braucht, meine isolierte Existenz zu

überwinden.

Charlotte von Kalb gibt ihre Weimarer Wohnung auf und bietet sie mir an.

Ich greife freudig die Gelegenheit beim Schopfe. Die Jahrhundertwende

werde ich als Ihr Nachbar verleben, mein geliebter Freund!

Ich wusste es! Ich habe es gewusst! Der Umzug soll mein Leben aufs

Herrlichste verändern! Endlich wieder unter Menschen! Mit Goethe

verbringe ich Nächte der Geistergespräche. Zudem steht er dem hiesigen

Theater vor, wo ich ihm Helfer sein kann. Vor allem im Umgang mit den

Schauspielern, da habe ich noch aus Mannheimer Zeiten einen reichen

Erfahrungsfundus.

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Beim Schauspielervolk ist ja mit Vernunft und Gefälligkeit nichts

auszurichten. Es gibt nur ein einziges Verhältnis zu ihnen – den kurzen

Imperativ.

SCHILLER als Kapuziner

Heisa, juchheia! Dudeldumdei!

Das geht ja hoch her. Bin auch dabei!

Ist das eine Armee von Christen?

Sind wir Türken? sind wir Antibaptisten?

Treibt man so mit dem Sonntag Spott,

Als hätte der allmächtige Gott

Das Chiragra, könnte nicht dreinschlagen?

Ist's jetzt Zeit zu Saufgelagen?

Zu Banketten und Feiertagen?

Quid hic statis otiosi?

Was steht ihr und legt die Hände in Schoß?

Die Kriegsfuri ist an der Donau los,

Das Bollwerk des Bayerlands ist gefallen,

Regenspurg ist in des Feindes Krallen,

Und die Armee liegt hier in Böhmen,

Pflegt den Bauch, lässt sich's wenig grämen,

Kümmert sich mehr um den Krug als den Krieg,

Wetzt lieber den Schnabel als den Sabel,

Hetzt sich lieber herum mit der Dirn',

Frisst den Ochsen lieber als den Oxenstirn.

Die Christenheit trauert in Sack und Asche,

Der Soldat füllt sich nur die Tasche.

Es ist eine Zeit der Tränen und Not,

Am Himmel geschehen Zeichen und Wunder,

Und aus den Wolken, blutigrot,

Hängt der Herrgott den Kriegsmantel runter.

Den Kometen steckt er wie eine Rute

Drohend am Himmelsfenster aus,

Die ganze Welt ist ein Klagehaus,

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Die Arche der Kirche schwimmt in Blute,

Und das römische Reich – dass Gott erbarm!

Sollte jetzt heißen römisch Arm,

Der Rheinstrom ist worden zu einem Peinstrom,

Die Klöster sind ausgenommene Nester,

Die Bistümer sind verwandelt in Wüsttümer,

Die Abteien und die Stifter

Sind nun Raubteien und Diebesklüfter,

Und alle die gesegneten deutschen Länder

Sind verkehrt worden in Elender –

Woher kommt das? das will ich euch verkünden:

Das schreibt sich her von euern Lastern und Sünden,

Von dem Gräuel und Heidenleben,

Dem sich Offizier und Soldaten ergeben.

Denn die Sünd' ist der Magnetenstein,

Der das Eisen ziehet ins Land herein.

Auf das Unrecht, da folgt das Übel,

Wie die Trän' auf den herben Zwiebel,

Hinter dem U kömmt gleich das Weh,

Das ist die Ordnung im ABC.

Nicht ohne Genugtuung lässt er den wuchtigen Monolog nachwirken.

SCHILLER

Aus dem *Wallenstein*. Auf den darf man sich freuen. Nichts ist mir in

meinem Leben so gut gelungen. Allerdings musste ich das Monstrum

dreiteilen. In Weimar erblickt es das Bühnenlicht, Teil für Teil für Teil.

Ich darf behaupten, es ist mir Großes gelungen. Habe ich mich nach dem

*Don Carlos* zwischen den Gattungen wechselnd als Erzähler, Historiker,

schließlich gar als Lyriker betätigt, so habe ich nun zu meiner

Urbestimmung zurückgefunden. Ich bin heimgekehrt. Mein Leben ist ein

Drama, so soll es auch mein Schaffen sein.

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Lottchen hat unterdes unser drittes Kind zur Welt gebracht – nach Karl

und Ernst nun ein Töchterchen; Caroline. Danach fiel sie wochenlang ins

Nervenfieber, litt an Ohnmacht, Apathie und Delirien. Und als sei da ein

unsichtbarer Wettkampf zwischen uns im Gange, werde auch ich in der

Folge tödlich krank.

SCHILLER als Maria Stuart

Wohltätig heilend nahet mir der Tod,

Der ernste Freund! Mit seinen schwarzen Flügeln

Bedeckt er meine Schmach. Den Menschen adelt,

Den tief Gesunkenen, das letzte Schicksal.

Die Krone fühl ich wieder auf dem Haupt,

Den würd’gen Stolz in meiner edeln Seele!

Schiller wirkt erschöpft.

SCHILLER

Maria Stuart. So spricht die Todgeweihte im Kerker. Dann schreitet sie

erhobenen Hauptes aufs Schafott. So muss man dem Tod begegnen! Mit

offenem Visier und heiterem Sinn!

Er baut sich wieder auf, jedoch schleppender, nicht mehr ganz die alte Höhe

erreichend.

Die *Maria Stuart* wird ebenfalls in Weimar uraufgeführt; natürlich

erfolgreich. Ich will nun freier phantasieren. Der historische Stoff soll nur

noch Grundlage sein. Eigentlich ist mir nach Oper. Der Oper erlässt man

ja nun wirklich jede servile Naturnachahmung. Obgleich bloß im Namen

der Indulgenz, so könnte sich auf diesem Wege doch das Ideale aufs

Theater stehlen. Keine Trauerspiele mehr – Wortopern.

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SCHILLER als Jungfrau von Orléans

Mit Deinem Blick fing Dein Verbrechen an,

Ein blindes Werkzeug fordert Gott,

Mit blinden Augen musstest Du’s vollbringen!

Sobald Du sahst, verließ Dich Gottes Schild,

Ergriffen Dich der Hölle Schlingen!

Er scheint höchst zufrieden.

SCHILLER

Als ich – inzwischen wieder soweit genesen, kürzere Reise anzutreten –

von Freund Körner aus Dresden zurückkehre, besuche ich in Leipzig eine

Vorstellung der *Jungfrau von Orléans*. O, welch ein Tumult. Mit Pauken

und Trompeten werde ich empfangen. Nach dem ersten Akt skandiert das

Publikum meinen Namen, und als ich hervortrete und mich bedanke, da

nehmen die Menschen die Hüte vor mir ab und rufen „Vivat! Es lebe

Schiller!“ Ist mir fast peinlich…

Der schnelle und entschiedene Erfolg, den meine neuesten Stücke beim

Publikum haben, ermutigt mich, bei Cotta um eine Erhöhung der

Honorierung für die künftigen zu bitten. Umstandslos geht er darauf ein.

Sein kurzzeitiger Stolz, mit Anflug von Hochmut, verwelkt, weicht einer gewissen

Weinerlichkeit.

Hach, Geld könnte ich jetzt leicht erwerben, wenn ich nur noch die

Kühnheit und den Leichtsinn der Jugend beim Arbeiten hätte. Eigentlich

geht es mir nur noch darum, mir einen alten Wunsch zu erfüllen. Ich will

ein eigenes Haus besitzen. Auf der Esplanade werde ich fündig. Ein

Anwesen, wie für mich erbaut. Die dafür notwendigen 4200 Reichstaler –

ja, so teuer wohnt man in unserem schlechten Nest! – kann ich mit Hilfe

einiger Darlehn aufbringen. Weimar werde ich wohl nicht mehr verlassen.

Hier will ich leben und sterben.

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4.Szene: Das letzte Schillern

SCHILLER als Tell

Durch diese hohle Gasse muss er kommen,

Es führt kein andrer Weg nach Küssnacht. Hier

Vollend ich's. Die Gelegenheit ist günstig.

Dort der Holunderstrauch verbirgt mich ihm,

Von dort herab kann ihn mein Pfeil erlangen,

Des Weges Enge wehret den Verfolgern.

Mach deine Rechnung mit dem Himmel Vogt,

Fort musst Du, Deine Uhr ist abgelaufen.

SCHILLER

Eigentlich wollte ich für die Vollendung des *Wilhelm Tell* in die Schweiz,

von dort aus weiter nach Italien reisen. Doch die Krankheit, mein

beharrlichster Begleiter, lässt ja nicht einmal mehr Katzensprünge zu.

Carl August hat beim Kaiser in Wien meine Nobilitierung bewirkt. Mir ist

das ziemlich gleichgültig. Allein für Lottchen freut mich, dass sie nun

wieder adelig ist – hatte sie ihren Stand ja durch die bürgerliche Heirat

eingebüßt. Jetzt hat sie offiziellen Zutritt zum Hof und ist recht in ihrem

Element, da sie mit ihrer Schleppe dort herumschwänzeln darf.

Doch was soll mir alles dies bedeuten?

Ich bin ganz trüb. Es ist ein so kläglicher Zustand in der Poesie, der

Deutschen und der Ausländer – man kann nur auf bessere Zeiten hoffen.

An ein Zusammenhalten ist nicht zu denken – jeder steht für sich und

muss sich seiner Haut wehren. Auch Goethe geht mir auf den Docht. Der

schlendert nur so dahin. Er ist zu einem Mönch geworden, der nur noch

Sinn für die eigene Beschaulichkeit hat. Er denkt, wir sollten nichts

anderes tun als in uns verweilen, um irgendein leidliches Werk nach dem

andern hervorzubringen. Allein kann ich nichts machen. Oft treibt es mich,

mich nach einem anderen Wohnort und Wirkungskreis umzusehen. Wenn

es nur irgendwo leidlich wäre, ich ginge fort!

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Es gefällt mir jeden Tag schlechter hier, und ich bin nicht gewillt, in

Weimar zu sterben. Nur in der Wahl des Orts, wo ich mich hinbegeben

will, kann ich mir noch nicht einig werden.

Iffland, Direktor des Berliner Nationaltheaters, fleht mich förmlich an, ihn

zu besuchen. Als die Gesundheit es zulässt, gebe ich dem Drängen nach

und reise mit der Familie auf einige Wochen nach Berlin.

O, mit welcher Zuneigung werde ich empfangen! Einige meiner Dramen

werden hier aufgeführt, das Publikum feiert mich, und von amtlicher Seite

werden mir verlockende Angebote im Falle einer Übersiedlung

unterbreitet.

Ich muss zugeben, der Gedanke ist verlockend. Es ist ein neues Gefühl,

sich in einer fremden und größeren Stadt zu bewegen. Vielleicht kann es

ja auch meine Bestimmung sein, für diese größere Welt zu schreiben?

Meine dramatischen Werke auf sie wirken zu lassen? In Weimar sehe ich

mich in solch kleinen Verhältnissen, dass es ein Wunder ist, wie ich nur

einigermaßen etwas leisten kann, das für die größere Welt ist. Auch kann

ich in Berlin eher Aussichten für meine Kinder finden, und mich vielleicht,

wenn ich erst dort bin, auf manche Art verbessern.

Ach, wie soll ich mich bloß entscheiden? Zurück in Weimar wäge ich das

Für und Wider ab. Besteht denn dieses ganze verdammte Leben aus

einer einzigen Zerrissenheit? Kann denn nicht alles einfach - - - einfach

sein?

Berlin böte Verbesserung, auf der anderen Seite begebe ich mich ungern

in neue Verhältnisse. Das schreckt meine Bequemlichkeit. Ich mache die

Entscheidung vom Herzog abhängig. Wenn er mir einen nur etwas

bedeutenden Ersatz anbietet, so habe ich doch Lust, in Weimar zu

bleiben.

Er wartet gespannt. Dann steht ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

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SCHILLER

Der Herzog erhöht meine Besoldung beträchtlich. Dies fixiert nun auf

immer meinen Lebensplan.

Was ist das nur immer mit mir? Wieso nicht einmal, ein einziges Mal,

zufrieden sein und glücklich? Wieso nicht sagen: „Ich lebe, ich liebe, ich

bin frei – der Tod hält mich nicht auf“? Oder hält er mich doch, der alte

schwarze Vater?

Kurze Stille.

Lottchen bringt unser viertes Kind zur Welt; Emilie. Ich erleide eine starke

Kolik. Die Ärzte haben keine Hoffnung, doch noch tobt in mir der

Überlebenswille. Es wäre traurig für mich, so Hals über Kopf davon zu

müssen. Ich habe doch noch leidlich Freude am Leben. Und solange ich

zur Tätigkeit tauge, habe ich auch noch ein Gefühl des Daseins. Aus der

Tätigkeit wächst die Kraft, und aus der Kraft erwächst das Weiterleben.

Fünfzig will ich doch noch werden, mehr verlange ich nicht.

„Rettung vor Tirannenketten Großmut auch dem Bösewicht, Hoffnung auf den Sterbebetten, Gnade auf dem Hochgericht! Auch die Toten sollen leben! Brüder trinkt und stimmet ein, Allen Sündern soll vergeben Und die Hölle nicht mehr sein.“

Der Winter schleppt das Fieber wieder ein. Ich habe Mühe, meine

Mutlosigkeit zu bekämpfen, die das schlimmste Übel in meinen

Umständen ist. Ich habe mich darauf eingerichtet, auch beim Kranksein

noch leidlich zu existieren. Ich habe noch immer überlebt. Gebt mir bloß

Märchen und Rittergeschichten. Da liegt doch der Stoff zu allem Schönen

und Großen.

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„Eine heitre Abschiedsstunde! Süßen Schlaf im Leichentuch! Brüder – einen sanften Spruch Aus des Totenrichters Munde!“*

Nun blickt er ins Publikum. Eine Frauenstimme erklingt.

FRAUENSTIMME

Eine Woche später begann sein Sterben mit dem gewohnten

Katarrhfieber. Er selbst schien sich auch nicht bedenklicher krank zu

fühlen als bei ähnlichen Anfällen. Am sechsten Abend fing er an, oft

abgebrochen zu sprechen, doch nie besinnungslos. Am Abend des achten

Mai 1805 hörte ich die letzten, an mich gerichteten Worte…

SCHILLER

Immer besser, immer heitrer.

FRAUENSTIMME

In der nächsten Früh trat Besinnungslosigkeit ein. Er sprach nur noch

unzusammenhängende Worte, meistens Latein. Am Nachmittag tat er den

letzten Atemzug. Er ist heiter von uns gegangen. Er muss unendlich

gelitten haben und schweigend, so zeigte sich’s. Sein Mut, mit dem er das

Leben ertrug, ist auch mir eine schöne Lehre für das meinige.

Schiller blickt ins Publikum, lächelnd, entspannt. Das Licht blendet langsam aus.

* Friedrich Schiller, „An die Freude“

ENDE

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