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  • Per Olov Enquist

    Das Buch von Blanche undMarie

    Romanbersetzt aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt

    ISBN-10: 3-446-20569-1ISBN-13: 978-3-446-20569-7

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  • Ich schreibe dies als Antwort auf die Frage, wann ich meine Mutterdas letzte Mal sah. Es war am 26. Juli 1876 um vier Uhr amNachmittag. Sie verschwand hinab in die Umarmung des Flusses, alswrde sie verschlungen von der Liebe des Flusses. Und erinnere ichmich, da ich da, von einer groen Feierlichkeit ergriffen, wnschte,einmal, um meiner Mutter willen, die die Liebe nie erleben durfte, dieendgltige Erzhlung ber die Liebe schreiben zu knnen, ber diean der Oberflche wirkliche, aber auch ber die Phantomliebe. Dieallein den Verstmmelten vorbehalten war, den zu einem TorsoReduzierten, denen, deren Aufgabe deshalb um so grer sein mu,nmlich die des Erinnerns und Gedenkens. In dem Augenblick, alssie verschwand (und darin liegt die Antwort auf meine Frage), wardie begonnene Erzhlung da. Die den sen Gestank von Tod enthlt.Die Wut auf die Lebenden. Die Verlockung der Lust, die ihr ihrganzes Leben lang verwehrt war, und von der ich so sehr wnsche,sie htte sie erleben drfen. Ach! ich schreibe dies in Verzweiflungund Sorge, oh, wie ich wnsche, sie htte dies, das ihr verwehrtwurde, erleben drfen. Aber jetzt nur Trauer angesichts der Liebe, diesie nie erleben durfte. Die dies schrieb, hie Blanche Wittman. Siewar eine schne Frau mit weichem, fast kindlich unschuldsvollemGesicht, einer Andeutung von Wangengrbchen, anscheinenddunklem und ziemlich langem Haar, das ist alles, was man auf demGemlde, das existiert, erkennen kann, und auf der einzigenFotografie. Sie hat hnlichkeit mit jemandem. Die Geschichte istkurz zusammengefat folgende. Sie kam als Achtzehnjhrige insSalptrire-Krankenhaus in Paris und wurde mit nervsen oder, wieman spter feststellte, hysterischen Symptomen als Patientinaufgenommen. Sie war frher anders behandelt worden, alsostaccato!, doch nun wurde sie vom Schlo umarmt. Ihre Melancholieuerte sich in somnambulen Krmpfen, die sich jedoch nach einerStunde lsten; man stellte schnell fest, da es sich nicht um einenTyp von Epilepsie handelte, sondern eben um Hysterie. Der Chef desKrankenhauses, ein Professor Charcot spter berhmt als der erste,der verschiedene Formen von Sklerose, u.a. multiple Sklerose undgewisse neurasthenische Erkrankungen (Charcots disease)diagnostiziert hatte , wurde von einer eigentmlichen Bindung ansie, fast Ergebenheit fr sie, ergriffen, und sie wurde seineLieblingspatientin. Sie wirkte bei den Experimenten mit sich selbst

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  • mit. Charcot war bei ihrer Begegnung dreiundfnfzig Jahre alt. Erbenutzte den Ausdruck Experiment und glaubte nicht, da es ihreFhigkeit zur theatralischen Gestaltung bestimmterwissenschaftlicher Probleme war, die ihn fesselte. Auf die Frauen, dieer whrend der Experimente mit Hysterie vorfhrte, spter u.a. JaneAvril, hatte er keine Lust versprt. Er gibt nie zu, nicht vor der letztenReise nach Morvan am Ende seines Lebens, da er Lust auf Blancheversprte; aber sie geht im Fragebuch davon aus, als sei es eineselbstverstndliche Tatsache. [...] Charcot besa die Kindlichkeiteines Entdeckungsreisenden und Forschers. Er bekannte sich zu denIdealen der Aufklrung, meinte aber, da Erfinder, Untersucher,Physiker und Entdeckungsreisende jetzt neue und geheimnisvolleLandschaften erforschen sollten. Die Psyche der Frau war ein solcherKontinent, nicht wesensverschieden von der des Mannes, abergefhrlicher. Die Frau war das Tor, schreibt er, durch das man in dendunklen Kontinent eindringen mute. Dieser war reicher undrtselhafter als der des Mannes. Jane Avril findet sich auf vielen vonToulouse-Lautrecs besten Zeichnungen: dnn, tanzend, einmal mitabgewandtem Gesicht, doch manchmal, meistens, im Halbprofilsichtbar, wie eine, die viel gesehen, aber beschlossen hat, sichabzuwenden. Mit Blanche als Figurantin wurde der Eintritt in dieNatur der Frau und des Menschen jeden Freitag spter Dienstag um 15.00 Uhr vor einem speziell geladenen Publikum in Szenegesetzt. Charcot hatte einen sterreichischen Assistenten mit NamenSigmund. Das Jahr bei Charcot sollte alles prgen, was dieser sptertat; seine bersetzungen von Charcots Vorlesungen ins Deutschesind bezaubernd. Freud meinte, da Charcot sein Leben vernderthabe. Er kann auch Blanche gemeint haben. Sigmund konnte sich ingewissem Sinne nie ganz von seinem Expeditionsleiter befreien. Sieglaubten beide, den Punkt in der Landschaft gefunden zu haben, vondem aus die Erzhlung betrachtet werden konnte, und setzten vondort aus nicht nur die Natur der Frau in Szene, sondern auch die derLiebe, die ein religiser Ritus war, und ein Machtspiel. Natrlichtraten auch andere Hysterikerinnen bei Charcots Vorfhrungen auf.Doch Blanche ist die einzige, die erwhnt wird. Warum sollte danicht Charcot selbst gebrandmarkt werden! Wie ein Tier! In ihrerJugend, schreibt Blanche, hatte sie einen franzsischen Roman berein junges dnisches Mdchen gelesen, eine Zwlfjhrige, die den

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  • dnischen Knig Christian den Vierten eingefangen und von sichabhngig gemacht hatte, wie von Drogen. Man glaubte, er seiAlkoholiker, aber tatschlich war er nur von ihr versklavt worden!Hoppla!, wie auch Blanches Onkel einmal ausgerufen hatte. Dieseshoppla. Wie eine Brandwunde. Der Roman hatte in den ersten Jahrendes 17. Jahrhunderts gespielt. Dieses dnische Mdchen, das Kniginwurde, war zuerst jung gewesen, dann gealtert, und schlielich war esihr gelungen, ihren Gatten, den dnischen Knig Christian denVierten, zu vernichten. Er war da von der Liebe gefangen gewesen.Es war ein verabscheuenswerter Roman, der eine richtige Fragegestellt hatte, aber an der Antwort gescheitert war. Am Ende diesesRomans fand sich der Satz Wer kann die Liebe erklren? Doch werwren wir, wenn wir es nicht versuchten? Sie schreibt, da sie dieseFeststellung komisch gefunden habe, aber beruhigend. Ich verstehesie nicht. Gerade jetzt mag ich sie nicht, ihre Arroganz und Hrte. Esist wie ein Klo im Hals. Wir fangen bald an, wiederholt sie stndig,wie eine Hoffnung. Warum nicht? Diese Hoffnung ist das einzige,was uns am Leben hlt. Ich finde eine Notiz auf einem Zettel, ichmu sie einmal geschrieben und dann vergessen haben: DasFragebuch ist wie Drogen. Zauberei. Amor Omnia Vincit. Wiekonnte sie? 7. Wache oft in der Nacht auf und kann mich nicht davonfreimachen. Das ist vielleicht ihre Absicht. Blanche fat mich an derHand und fhrt mich abwrts. Zuerst khl und unschuldsvoll, bis ichruhig bin. Dann wird es schlimmer. So wollte sie wohl auch Mariehelfen. Langsam, an der Hand halten, eine Begleiterin, hinab zumMittelpunkt der Erde, hin zur letzten Expedition, dann hinaus ausdem Dschungel, ans Ufer des Flusses, und zur Nacht in Morvan. Dietheatralischen Inszenierungen vor Publikum wurden fr ProfessorCharcot nach und nach immer qulender. Er schien Blancheauszuliefern, wurde aber selbst ausgeliefert. Das wissenschaftlicheSchema mit den Druckpunkten, die mit einem Stift auf dem Krperder Frau angezeichnet wurden, die Anflle, Zuckungen, Melancholie,Lhmungen oder Liebe hervorrufen sollten, war am Ende sovollendet, und die von gehorsamen Patientinnen gestalteten Resultatewaren so gelungen, da er fand, da er sehr einsam war. Da war es zuspt. Er war in ihrer Macht. Auf diese Weise erinnerte sie an diejunge dnische Knigin, deren Namen sie indessen vergessen hatte.Sechs Jahre lang war Blanche der groe theatralische Star in der

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  • Salptrire, der auf seine Weise das wissenschaftlicheVergngungsleben von Paris dominierte, auf die gleiche Weise wiedie verstoene Jane Avril Moulin Rouge dominierte. Jane tanzte undwurde abgebildet. Der Tanz, den sie in der Salptrire erfunden undgeschaffen hatte, der Tanz, von dem alle verhext waren, obwohl mannicht begriff, warum, hie Der Tanz der Irren. Man mu sich zumIrren machen, hatte Charcot zu ihr gesagt. Jane wurde oft gesehen,aber nie abgebildet, bevor sie die Salptrire verlie und weltberhmtwurde. Es gibt andrerseits nur ein knstlerisches Gemlde, dasBlanche darstellt. Sie wird darauf als ohnmchtig abgebildet. Blanchettete ihren Geliebten, Professor Charcot, im August 1893. EinigeJahre spter verlie sie das Krankenhaus und nahm eine Anstellungbei der polnischen Physikerin Marie Skodowska Curie an underhielt als erstes die Aufgabe, mit Pechblende zu arbeiten. Da diesesMineral Radium ausstrahlte, war unbekannt, sie wurde zuAmputationen gezwungen, am Ende war sie ein Torso. Im Zeitraumzwischen ihrer ersten Amputation und ihrem Tod schreibt sie dasFragebuch. Es ist das Buch von Blanche und Marie. Marie Curieliebte sie, auch nachdem sie in einen Torso verwandelt worden war.Marie hatte auch einen Geliebten; er lie sie im Stich, was ihrenzweiten Nobelpreis, den in Chemie, gefhrdete. In ihrenAufzeichnungen, die sie Das Fragebuch nannte, schreibt Blanche,da sie auf dem Hhepunkt von Maries schwerster Krise nach derRckkehr aus England und am selben Tag, an dem sie die Nachrichterhielt, da ihr Geliebter aufgegeben und eine andere gefunden hatte zum ersten Mal von ihrer endgltigen Abrechnung mit ProfessorCharcot erzhlte. Es war das erste Mal, da sie es jemandem erzhlte.Sie schreibt, sie habe es getan, um Maries Naivitt zu verringern, umsie dazu zu bringen, sich auf ihre Fe zu stellen und zu gehen. DerAusdruck nimmt sich eigentmlich aus bei einer Beinlosen, aber erkehrt mehrfach wieder. Sie schreibt: Ich erklrte Marie, als sie inTrnen aufgelst an meinem Bett sa und mich mit ihrer rechtenHand streichelte, die verkmmert war, fast zerfressen von der hartenArbeit, die sie mit dem Radium durchgefhrt hatte, ich erklrte ihr,da ich ihn


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