Transcript
Page 1: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der

Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno Facharbeit im GK Philosophie, Stufe 12

2009 Weser–Gymnasium Vlotho

Angefertigt von: Levin Freudenfeld, Teodor Pcelarov

Gutachter: Herr Westkamp

Abgegeben am: 27.04.2009

Page 2: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 1.1 Die Kritische Theorie und die Frankfurter Schule 1.2 Begriff der Aufklärung

2. Kulturindustrie und Antisemitismus 2.1 Kulturindustrie 2.1.1 Jenseits von Kunst und Ästhetik – Kultur und Ware 2.1.2 „Weil Sie es sich wert sind“ – Die Rolle des Konsumenten 2.1.3 Individualisierungskritik 2.1.4 Kulturindustrie – Das System

2.2 Elemente des Antisemitismus 2.2.1 Die Formen des Antisemitismus 2.2.1.1 Der faschistoide Antisemitismus 2.2.1.2 Der liberale Antisemitismus 2.2.1.3 Der herrschaftliche Antisemitismus 2.2.1.4 Der kapitalistische Antisemitismus 2.2.1.5 Der christliche Antisemitismus 2.2.1.6 Der politische Antisemitismus 2.2.2 Die Bedeutsamkeit der Reflexion 2.2.3 Das Ende des Antisemitismus 2.2.4 Antisemitismus im 21. Jahrhundert

3. Ergebnisse

3.1 Erkenntnisse aus der Analyse 3.2 Was ist aus der Aufklärung geworden? Mediografie

2

2 3

5

5

5 9 10 11

13

13 13 14 15 17 18 18 19 20 21

23

23 23

25

Page 3: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

2

1. Einleitung

Mit der vorliegenden Arbeit verfolgen wir das Ziel, die grundlegenden Elemente der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno aufzuschlüsseln und unsere Ergebnisse auf die heutige Situation zu beziehen und zu bewerten. Das Thema des Werkes ist die instrumentelle Vernunft und ihr rückläufiges Moment in der Aufklärung, die erst die Dialektik der Aufklärung hervorruft. Wir fokussieren unsere Arbeit auf die beiden Abschnitte „Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug“ und „Elemente des Antisemitismus – Grenzen der Aufklärung“. Als Leitbegriffe dienen dabei die Dialektik und der Tauschbegriff. Grundlage unserer Arbeit ist die überarbeitete Ausgabe aus dem Jahr 1969. Zunächst geben wir den Inhalt der „Kulturindustrie“ (2.1) und der „Elemente des Antisemitismus“ (2.2) wieder und beziehen Beispiele und Thesen daraus auf die heutige Zeit. Damit bezwecken wir, den kapitalismus– und sozialkritischen Tenor des Werkes aufzugreifen und seine Relevanz bezüglich der heutigen Zeit zu verdeutlichen. Als Einleitung dient eine Darstellung des Hintergrundes der Entstehung der „Dialektik der Aufklärung“, in der wir über die Autoren Theodor Wiesengrund–Adorno und Max Horkheimer und ihre Kritische Theorie, welche von der Frankfurter Schule vertreten wird, berichten. 1.1 Die Kritische Theorie und die Frankfurter Schule Die Frankfurter Schule ist eine Gruppierung von Geistes– und Sozialwissenschaftlern, die am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main forscht und in der Sozialphilosophie die Kritische Theorie vertritt. Die Kritische Theorie wird der traditionellen gegenübergestellt hinsichtlich ihrer praktischen Anwendung auf die Gesellschaft. Die Kritische Theorie soll mit ihrer Dialektik die Konflikte und den Wandel der Gesellschaft aufzeigen und die Gesellschaft zum Besseren verändern, während die traditionelle Theorie lediglich die gegebene Gesellschaft betrachte und ihre Dynamik analysiere. Ziel der Frankfurter Schule ist es, mit ihrer Arbeit eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erreichen. Mithilfe der Analysemethoden von Marx, Hegel und Freud versucht die Kritische Theorie die Totalität dieser gesellschaftlichen Verhältnisse begrifflich aufzuschlüsseln1

Den Autoren wird ein wesentlicher Einfluss auf die 68er–Stundentenbewegung zugerechnet, obwohl sie sich mehrmals gegen diese Behauptung aussprachen

. Die „Dialektik der Aufklärung“ sollte anlässlich des 50. Geburtstags Friedrich Pollocks, dem Mitbegründer des Instituts für Sozialforschung, herausgegeben werden. Inspiriert zu dieser Arbeit wurden die Autoren von der weltpolitischen Situation dieser Zeit. Schließlich erschien die erste Ausgabe des Werkes verspätet im Jahr 1947.

2

1 http://www.tu–harburg.de/rzt/rzt/it/kritik/node6.html 2 http://www.philolex.de/frankfur.htm

.

Page 4: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

3

1.2 Begriff der Aufklärung Im Folgenden werden wir den Begriff der Aufklärung inhaltlich umreißen. Das erste Kapitel besteht im Wesentlichen aus zwei Thesen: „[S]chon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“ (S. 6). Diese Thesen verdeutlichen bereits die Dialektik im Begriff der Aufklärung. Die erste These begründen Horkheimer/Adorno dadurch, dass sie das Bestehen eines Zusammenhangs zwischen Zauberei, Religion und dem Positivismus – welchem sie sich besonders entgegenstellen, speziell die Wissenschaft betreffend – aufzeigen. Die Zauberei als Mythos enthalte bereits das Moment der Aufklärung: „Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären“ (S. 14). Hier wird ferner der Übergang vom Mythos zur Aufklärung deutlich. Die Zauberei gehe über in das Ritual, das bereits theoretische Elemente aufweise, welche durch die Abstraktion von der Natur entstünden. Da die Fähigkeit des Abstrahierens dem Menschen innewohne, sei es somit nur ein Übergang vom Mythos zur Aufklärung, wobei in dem Mythos bereits die Aufklärung präsent sei. Damit distanziere sich der Mensch umso weiter von der Natur und damit vom Mythos: „Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität. Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, womit sie ihre Macht ausüben“ (S. 15). Dies sei im Übergang vom Ritual zur Religion ersichtlich: Die olympischen Götter repräsentieren als bloße Abstrakta die Natur, anstatt sie zu verkörpern (S. 14). Ihnen sei die Natur unterworfen, die Unterwerfung des Menschen werde durch den Begriff der Opfergabe dargestellt. Das Opfer hat nach Horkheimer/Adorno einen besonderen Stellenwert. Gerade in diesem liege der Ursprung des Tausches, der rationalen Seite des Opfers, die Subjekt–Objekt–Relation, d.h. die Distanzierung des Menschen von der Natur und somit schließlich die Naturbeherrschung durch Selbsterhaltung. All dies wird im ersten Exkurs am Beispiel des homerischen Epos der Odyssee dargelegt. Während das Opfer eine Verbindung zum Absoluten, zum Beispiel zu einer Gottheit, darstelle, werde es gleichzeitig auch geheiligt. Zunächst sei nur ein opferwürdiges Lebewesen wie der Mensch den Göttern entsprechend (S. 58). Zusätzlich wohne aber auch der rationale Gedanke des Tausches dem Opfer inne: Durch die Natur des Menschen, durch den Willen, sich der Natur überzuordnen, nutze er das Opfer, um als naturnotwendig angesehene Handlungen, etwa Kannibalismus, zu kanalisieren und dessen Bedeutung umzuinterpretieren (S. 59). Darin erweise sich der Schritt zur Ersetzung der Opfergaben. Menschenopfer würden beliebig austauschbar und ließen sich beispielsweise durch Tieropfer ersetzen. Dadurch sei das Opfer von Anfang an nicht bloß eine Hingabe für das Absolute, sondern werde zu einem Tausch, der mehr Gewinn verspreche, als geopfert werde (S. 16). Dieser Widerspruch zum eigentlichen Gedanken des Opferns, das Opfer sei heilig und unaustauschbar, werde durch den Tauschbegriff erzeugt. Das Opfer sei beliebig und diene nur noch dem aus ihm resultierenden Vorteil. Neben dem Mittel und dem Zweck, den der Mensch in das Opfer hineindenke, sei

Page 5: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

4

auch der Dualismus von Subjekt und Objekt in diesem enthalten. Das Subjekt, das Ich, konstituiere sich erst in dem Opfer, das Odysseus in seiner Reise ständig darbringen müsse, um sein Überleben und damit sein Selbst zu sichern. Durch Triebunterdrückung, wie etwa in der Episode der Lotophagie, stähle Odysseus sein Ich. Dies lässt sich mithilfe der Methode der Psychoanalyse Freuds erklären. Das Über–Ich, hier der Wunsch zur Heimkehr, zwingt das Ich, das Es – in dem Sinne die unmittelbare Lust – zu unterdrücken (S. 70). Dieser „Tausch“ werde dadurch rational, dass die innere Natur des Selbst überwunden und gleichzeitig beherrscht werde. Aus der Psychoanalyse Freuds leiten Horkheimer/Adorno ebenfalls die äußere Naturbeherrschung ab. Diese finde sich im Übergang vom Opfer zum Tausch wieder. Dadurch, dass das Opfer austauschbar und somit zum Tauschobjekt werde, sei die Rationalität durch die Liquidierung der Besonderheit der Opfergabe erst erkauft: „Die Substitution beim Opfer bezeichnet einen Schritt zur diskursiven Logik hin. Wenn auch die Hirschkuh, die für die Tochter, das Lamm, das für den Erstgeborenen darzubringen war, noch eigene Qualitäten haben mußten, stellten sie doch bereits die Gattung vor. Sie trugen die Beliebigkeit des Exemplars in sich“ (S. 16). Diese Liquidierung der Besonderheit allgemein werde von der Wissenschaft vollzogen: „Die Vielheit der Gestalten wird auf Lage und Anordnung, die Geschichte aufs Faktum, die Dinge auf Materie abgezogen. Auch Bacon zufolge soll zwischen höchsten Prinzipien und Beobachtungssätzen eindeutige logische Verbindung durch Stufen der Allgemeinheit bestehen. [...] Die formale Logik war die große Schule der Vereinheitlichung. Sie bot den Aufklärern das Schema zur Berechenbarkeit der Welt“ (S. 13). Hier ist die zweite These präsent: „Aufklärung schlägt in Mythologie zurück“3

3 siehe S. 3 in dieser Arbeit

. Die wechselseitige Beziehung von Mythologie und Aufklärung wird (auf S. 18) deutlich: Die Aufklärung bestehe in der Widerlegung und Entzauberung von Mythen. Sie richte über diese, was sie aufgrund fehlenden reflexiven Charakters selbst zum Mythos werden lasse: „Die Mythologie selbst hat den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt, in dem mit unausweichlicher Notwendigkeit immer wieder jede bestimmte theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind“ (S. 17). Anhand unserer Ausführung sind die Begriffe des Opfers, des Tausches und der Dialektik der Aufklärung deutlich geworden. Diese bilden das Fundament, auf welches sich unsere weiteren Ausführungen stützen werden. Mit den Abschnitten „Kulturindustrie“ und „Elemente des Antisemitismus“ wird die Aufklärung analysiert und im Abschluss bewertet.

Page 6: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

5

2. Kulturindustrie und Antisemitismus 2.1 Kulturindustrie „Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit“4

Horkheimer/Adorno verwenden den paradoxen Begriff „Kulturindustrie“, um die Verwertung und Bearbeitung der ihr gegenübergestellten bürgerlichen Kultur zu beschreiben. Kultur sei in dem Zeitalter der Industrie und der Massenmedien von diesen abhängig und müsse sich ihnen fügen, um überhaupt bestehen zu können (S. 130), sie sei ohnehin zu liberalistisch und „jüdisch“ (was in den Augen der Autoren als schlecht angesehen wird). Man spricht schon von einem Warentypus, der nach der Kulturindustrie noch nicht entsprechend verarbeitet wurde. Etwa das Fehlen von klassischer, „bürgerlicher“ Musik im Fernsehen – stattdessen wird für sie in „Nischen“ geworben – bezeugt den Selektionsmechanismus, den Prozess der Auswahl passender Kulturwaren. Die Verarbeitung der Kultur sei deswegen ein Mechanismus, da die sogenannten Exekutivgewaltigen automatisch nach Profitmaximierung streben würden. Unpassende, von dem Publikum unerwünschte Ware, welche durch Statistiken ermittelt wird, werde ausselektiert (S. 130). Alles laufe nach Schemata ab, um eine Vereinheitlichung zu erreichen (S. 131). Betrachtet man diese These heute, so lässt sich folgendes feststellen: In der Popkultur des einundzwanzigsten Jahrhunderts gleicht das eine Lied dem anderen. Alles reduziert sich auf einheitlichen Rhythmus, markante Beats und eine leicht erkennbare Melodie. Filme sind ebenfalls davon betroffen, wie auch Horkheimer/Adorno konstatieren. Alles reduziere sich auf einen Maßstab des Wertes: „Der einheitliche Maßstab des Wertes besteht in der Dosierung der conspicuous production, der zur Schau gestellten Investition“ (S. 131 – S. 132). So werden also die Produktionskosten für die Verfilmung von „Herr der Ringe“ nicht verschwiegen, Schauspieler werden danach befragt, wie schwer es gewesen sei, die Manns darzustellen. Der Konsument verfolgt die Protokollierung aller Vorgänge in der Kulturindustrie, manchmal bezahlt er auch dafür. Sogenannte

– Das ist die Antwort auf die damalige soziologische Meinung, man sei in ein kulturelles Chaos übergegangen. Horkheimer/Adorno meinen hiermit den Zusammenhang zwischen der bürgerlichen Kultur und der Industrie im Kapitalismus, die die bürgerliche Kultur in eine industrielle verarbeite. Kunst werde zur „Kulturware“, die allen anderen gleiche. Die Gesellschaft, das Publikum in dieser Hinsicht, sei in die Kulturindustrie bereits völlig integriert und lasse sich durch die Reklame, die Medien und den daraus resultierenden Amusement verwalten, was sie schließlich zur Unfreiheit führe. Man habe nur die Freiheit zum „Immergleichen“: Aufklärung, also die Entzauberung mythischer und reaktionärer Elemente, werde zum „Massenbetrug“. Im Folgenden werden die Thesen über die Kulturindustrie auf wesentliche Elemente untersucht, darunter die Kulturware, das Individuum als Konsument und schließlich das gesamte System, welches die Prozesse leitet. 2.1.1 Jenseits von Kunst und Ästhetik – Kultur und Ware

4 Dialektik der Aufklärung, S. 128

Page 7: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

6

„Extras“ in der DVD sind gefüllt mit derartigen Schaustellungen. „Die Übereinstimmung von Wort, Bild und Musik gelingt um so viel perfekter als im Tristan“ (S. 132), da die Produktion mithilfe neuer Technik, die immerwährend verbessert wird, bis auf kleinste Details alles anpassen kann, was der Konsument sehen oder hören soll. Man spricht mittlerweile von pre– und post–production in der Film– und Musikbranche. Alles wird vorab geplant und danach abgestimmt. Der kantische Schematismus (die Tafel der Kategorien: 1. Quantität, 2. Qualität, 3. Relation, 4. Modalität; In ihr sind die reinen Verstandesbegriffe enthalten) werde dadurch pervertiert: „Für den Konsumenten gibt es nichts mehr zu klassifizieren, was nicht selbst im Schematismus der Produktion vorweggenommen wäre“ (S. 133). Zu den Schemata gehören auch Stereotype und Clichés. Alles soll wiedererkennbar sein, sogar durchschaubar (siehe S. 133). Die Kulturindustrie habe aber auch das Detail überwunden. Dieser Widerspruch ist lediglich paradox, denn das Detail wurde einfach zur „Formel“, eben jenem Schema, das ständig verwendet werde. Damit werde es vereinheitlicht, um sich nicht abzuheben. Disharmonien in der Musik der Moderne wurden nicht entschuldigt, sondern begrüßt. In der Popkultur wurden sie später somit lediglich zum Begleitmittel, etwa der Überbrückung von einer Strophe zur anderen. Dieser einheitliche Charakter des Details zieht sich bis heute in den Medien hindurch. Horkheimer/Adorno verstehen darunter die Totalität der Kulturindustrie: „Ganzes und Teile schlägt sie gleichermaßen“ (S. 134). Sie erweitern die Kulturware um noch eine Eigenschaft. Den Produkten selbst wohne die Eigenschaft inne, die Fantasie und Vorstellungskraft des Menschen zu lähmen. Dafür nehmen Horkheimer/Adorno den Film als Beispiel, der das Sehen und Hören bereits vorwegnehme (S. 134). Ein Derivat des Films, heute betrachtet, ist das Computerspiel, das, neben dem Sehen und Hören, noch um eine weitere Eigenschaft, den Konsumenten fordert, nichts zu verpassen: die Interaktion fordert von dem Spieler meist eine schnelle Antwort auf die verschiedensten Signale. Spontaneität wird zur bewussten Ausnahme beim Spielen. Die Programmierung setzt bereits dem Spiel Grenzen und leitet den Spieler zu den gewünschten Handlungen: „Die Anspannung freilich ist so eingeschliffen, daß sie im Einzelfall gar nicht erst aktualisiert zu werden braucht und doch die Einbildungskraft verdrängt“ (S. 135). Zudem übertreffe die Übersetzung von allem die Strenge und Geltung jedes wirklichen Stils (S. 135). Das CD–Cover von Nikolai Tokarew ist ein Beispiel von vielen, in dem sich die mechanische Übersetzung der Paganini–Variationen im Fachenglischen und in dem gestellten Porträt manifestiert. Die gezwungene Vorstellung, das „Altmodische“ der breiten und jungen Masse zugänglich machen zu müssen (etwa die Überzeugung, der Profit liege in der jungen Generation), ist der Beweis für die obige These. Aber selbst Produkte der Kulturindustrie werden nochmals übersetzt. Klingeltöne verschiedenster „Blockbuster“ werden über Fernsehen und Internet angeboten, mit der Besorgnis, die Filme würden sonst in Vergessenheit geraten. Da freut sich der Produzent schon, wenn zumindest die Melodie von „The time of my life“ nachgesungen wird, zur Rettung der Reminiszenz, die Profit auf Dauer verspricht.

Page 8: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

7

„Was nicht konformiert, wird mit einer ökonomischen Ohnmacht geschlagen, die sich in der geistigen des Eigenbrötlers fortsetzt“ (S. 141): Waren, die nicht im System integriert seien, würden nicht gekauft, da sie nicht über die Kulturindustrie reklamiert würden. Über ihre Existenz wisse der Konsument nicht einmal Bescheid. Unter diese Kategorie fallen sogenannte no name–Produkte, ohne Markennamen, die in der Werbung im Fernsehen ständig genannt würden. Erlaubt sei nur das, was einheitlich dem System angepasst sei. Kultur als solche müsse durch den Prozess der Vereinheitlichung, damit sie erst angenommen werde: Sie müsse nämlich reproduzierbar sein. Die Digitalisierung von Konzerten, Theaterstücken und sonstigen Aufführungen spricht für sich: Nur die Wenigsten haben die Möglichkeit, diese direkt zu erleben. Das Ziel ist aber die Masse: an Medien kommt der Konsument auch nicht vorbei, schließlich werden Nachrichten und andere kulturelle „Events“ ausgestrahlt. Die Entwertung der Kunst Kunst als solche habe ihren Charakter verloren. Die Autoren meinen dabei nicht den Verkauf von Kunst, sondern ihre Form unter der Kulturindustrie. Grundsätzlich gehen sie davon aus, dass die (bürgerliche) Kunst ein aufklärerisches Moment und Autonomie besitze, doch beide Eigenschaften von der Kulturindustrie entwurzelt würden: „Mit der Billigkeit der Serienprodukte de luxe aber und ihrem Komplement, dem universalen Schwindel, bahnt eine Veränderung im Warencharakter der Kunst selber sich an“ (S. 166). Hier sei der Schwindel nicht „das Neue“, sondern dass er sich einbekenne und dass die Kunst ihrer eigenen Autonomie abschwöre (S. 166). Sie füge sich in die Konsumgüter ein, was ihrem eigentlichen Charakter widerspreche. Darin gehe auch die Aufklärung verloren und werde schließlich zum „Massenbetrug“. Doch haben selbst „reine“ Kunstwerke einen Warencharakter, der eine Form von Dialektik aufweise. Auch die bürgerliche Kunst trage den Widerspruch in sich, sowohl autonom als auch an den Markt gebunden zu sein. Gerade diese Einheit mache sie zu authentischer Kunst: „Der Ideologie verfallen gerade jene, die den Widerspruch verdecken, anstatt ihn ins Bewußtsein der eigenen Produktion aufzunehmen [...]“ (S. 166). Damit habe die Kunst auch einen Zweck, der sich sowohl im Gebrauchswert als auch im Tauschwert manifestiere. Durch die Kulturindustrie jedoch werde der Gebrauchswert, also der eigentliche Nutzen des Kunstwerks an sich, etwa sein Genuss, komplett in den Tauschwert umgewandelt. Der kulturelle Gehalt werde damit ausgelöscht und biete somit keinen kritischen Charakter, der die Kultur maßgebend beeinflusse. Der eigene Zweck erlaubte es der Kunst und Kultur, sich von den Werten der Gesellschaft abzusetzen und neue Ideen zu erschaffen. Dieser Zweck werde nun in Zwecklosigkeit annihiliert: „Die Zwecklosigkeit des großen neueren Kunstwerks lebt von der Anonymität des Marktes“ (S. 166). Pointiert ausgedrückt bedeutet es für Horkheimer/Adorno, dass der Zweck der Kulturwaren in Zwecklosigkeit ruhe und dass der Nutzen der Waren letztlich im Nutzlosen liege, der wiederum vom Nutzen subsumiert werde, was seinen neuen dialektischen Charakter wiederum völlig wegschaffe (S. 167).

Page 9: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

8

Das aufklärerische Moment ist somit in reinen Konsum übergegangen: „Indem das Kunstwerk ganz dem Bedürfnis sich angleicht, betrügt es die Menschen vorweg um eben die Befreiung vom Prinzip der Nützlichkeit [entspricht der Autonomie], die es leisten soll“ (S. 167). Beispiele in der heutigen Popkultur gibt es genügend. Der kritische Text eines Lieds wird nicht als solcher erkannt, sondern verschmilzt mit der Musik und wird zur reinen Unterhaltung. Demonstrationslieder stehen als solche vor den Demonstranten, anstatt selbst kritisch zu sein. Gesungen werden sie schließlich, um etwas anderes darzustellen als sich selbst. Der nächste Punkt konkretisiert dies: „[...] anstelle des Genusses tritt Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn anstelle der Kennerschaft. Der Konsument wird zur Ideologie der Vergnügungsindustrie, deren Institutionen er nicht entrinnen kann“ (S. 167). Somit habe alles unter der Kulturindustrie nur einen Wert, sofern man es eintauschen könne und nicht, ob es selbst wert sei. Diese Erkenntnis lehnt sich stark an die Analyse Marx‘ an. Für den Kapitalismus sei nämlich die Produktion der Waren bereits darauf ausgerichtet, dass sie getauscht werden und nicht gebraucht. Der Verkauf bestimme den Warencharakter. Horkheimer/Adorno erweitern dies auf die ganze Kultursphäre, die unter der Kulturindustrie völlig verwertet werde (S. 167). Diese „Verdinglichung“ und Entfremdung des aufklärerischen Moments führe zu weiteren Konsequenzen, die sich in Form von Prämien niederschlügen. Kunst werde zur Prämie, weil man die Medien nutze und somit die Kulturindustrie unterstütze. „Die Symphonie wird zur Prämie dafür, daß man überhaupt Radio hört, und hätte die Technik ihren Willen, der Film würde bereits nach dem Vorbild des Radios ins Apartment geliefert“ (S. 170) – Und gerade heute ist dies möglich geworden. Dank des Internets scheint nichts mehr unmöglich zu sein. Der Kinofilm, der gerade seit zwei Wochen im Kinosaal zu sehen ist, kann nun gemütlich ins Wohnzimmer heruntergeladen werden. Dieses „commercial system“, wie die Autoren es nennen, nähert sich der Subsumtion von Aufklärung allgemein. Aufklärung scheint nur noch das angebliche Bescheidwissen über ein Dostojewski–Roman in kurzen Sätzen, meist nur von einem Radiosprecher vorgetragen, zu sein. Der Betrug wird sichtbar, gar durchschaubar, aber gekauft wird trotzdem. Der letzte Schritt der Kulturware ist die bloße Werbung für diese. Ihr Verheiß wird zur Ware selbst, zur Reklame, die später aufgeschlüsselt wird. Nach obigen Ausführungen ist nun deutlich geworden, dass die Aufklärung heute völlig in Konsum ungewandelt wurde. Nur eine selbsternannte Minderheit von Personen, etwa die Anhänger der Kritischen Theorie, ist sich dessen bewusst und kann sich anscheinend doch der Kulturindustrie entziehen, entgegen der Meinung der Autoren. Die Frage ist nur, wie lange noch. Das wichtigste Gut der Aufklärung, die Kunst, sei also verdinglicht und verwertet worden. Ihr kritischer Charakter sei übergegangen in Unterhaltung und Konsum. Der Motor der zivilisatorischen Gesellschaft, die Sublimierung, sei damit auch annihiliert und biete keine Entwicklung mehr. An dieser Stelle trete die „Volksverdummung“ ein.

Page 10: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

9

Die instrumentelle Vernunft, die in der Einleitung analysiert wurde, ordnet nach Werten. Getauscht wird, um mehr zu bekommen, als geopfert wurde. Dies schlägt nun um in den Gedanken des Kapitalismus. Produziert wird, um zu verkaufen, nicht um zu gebrauchen. Dieses Prinzip endet schließlich in der Aufnahme des Anschlags vom 11. September 2001 in die Kultur. Einige Filme wurden bereits produziert. Der Kulturindustrie ist nun nichts zu schade. 2.1.2 „Weil Sie es sich wert sind“ – Die Rolle des Konsumenten Zunächst scheint es erstaunlich zu sein, dass der Konsument bereit ist, Kulturwaren zu kaufen. Doch die Autoren konstatieren genau in diesem Verhalten den Beweggrund. Die Standards der Kulturprodukte, die Vereinheitlichung also, seien aus den Bedürfnissen der Konsumenten hervorgegangen: „[D]aher würden sie so widerstandslos akzeptiert“ (S. 129). Dabei soll die Manipulation nicht als einziger Grund gelten, warum die Konsumenten das System akzeptieren: „Die Verfassung des Publikums, die vorgeblich und tatsächlich das System der Kulturindustrie begünstigt, ist ein Teil des Systems, nicht dessen Entschuldigung“ (S. 130). Auch in dieser Sphäre habe die instrumentelle Vernunft sich als Ziel vorgenommen, die Konsumenten zu klassifizieren und organisieren, dies diene der „lückenloseren Quantifizierung“ (S. 131). Jedes Produkt habe also einen gewissen Käufer im Sinn. Serien „für Frauen“ und nun auch Kosmetika „for men“ als Kulturprodukte dienen also der Erfassung jedes Konsumenten, sie sind im Voraus geplant. Auch wenn sie nun differenzierter seien, so bleiben sie unter sich gleich (S. 131). Sie bieten nicht nur an, was der Konsument sehen möchte, sie erzeugen und antizipieren bereits den Wunsch. Konsumiert wird, was angeboten wird, und das möchte man schließlich. Im Film sind computeranimierte Wesen täuschend echt, die Szene wird unglaubwürdig glaubwürdiger und die Schauspieler perfekter verkleidet. Alles folgt dem aristotelischen Ideal des Theaters: Die Illusion muss perfekt sein, sodass der Zuschauer sich ihr völlig hingibt. Die Welt soll auf der Leinwand neu entdeckt werden: „Das Leben soll der Tendenz nach vom Tonfilm nicht mehr sich unterscheiden lassen“ (S. 134). Dies resultiere aus der Auslöschung der Spontaneität und Fantasie, die bereits im vorigen Kapitel untersucht wurde. Das Ziel sei erreicht, wenn der Konsument das Irreale mit dem Realen identifiziere (S. 134). Fantasy–Filme heute sind nicht mehr surreal, man denkt, die Handlung spielt sich irgendwo in einem realen Ort ab. Dazu verhelfen vor allem die Filmtechniken, die tagtäglich verbessert werden: „Das ist das Ideal des Natürlichen in der Branche. Es macht um so gebieterischer sich geltend, je mehr die perfektionierte Technik die Spannung zwischen dem Gebilde und dem alltäglichen Dasein herabsetzt“ (S. 136). Der Konsument soll glauben, in den Kulturwaren einen Gebrauch finden zu können. Ob der Gebrauchswert dem Tauschwert auch nur nahe kommt, ist nicht von Belang.

Page 11: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

10

Das Amusement halte die Menschen an der Kulturindustrie fest, die sich von ihr weiter versorgen lassen. Zerstreuung wird zum Prinzip erhoben. Zusätzlich jedoch sei das Amusement „die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus“ (S. 145). Diese These wird jedoch durch den Inhalt der Kulturwaren wieder aufgehoben. Die Freizeit, die nach der Arbeit folgt, werde mit denselben Kulturwaren gefüllt wie der Arbeitsvorgang zu deren Erstellung selbst: „Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße“, und daran kranke das Amusement5

„Das Prinzip der Individualität war widerspruchsvoll von Anbeginn“

. Denn in der Freizeit möchte man sich erholen, anstatt den gesamten Prozess nochmal zu wiederholen. Demnach werden die Kulturwaren angepasst. Sie würden bereits so produziert, dass sie keine Anstrengung mehr benötigten: „Jede logische Verbindung, die geistigen Atem voraussetzt, wird peinlich vermieden. Entwicklungen sollen möglichst aus der unmittelbar vorausgehenden Situation erfolgen“ (S. 145). 2.1.3 Individualisierungskritik

6

Die instrumentelle Vernunft ziele auf den Profit ab. Damit reduziere auch die Kulturindustrie die Menschen zu Kunden und Angestellten. Sie nutze auch für ihre Ideologie die Gegensätze Natur und Technik, je nachdem, was gerade benötigt werde: „Als Angestellte werden sie an die rationale Organisation erinnert und dazu angehalten, ihr mit gesundem Menschenverstand sich

. Die Autoren erkennen in der Individualität einen Widerspruch, der sich folgendermaßen beschreiben lässt: Das Individuum sei bereits ein bloß ersetzbares Gattungswesen, das getäuscht werde, individuell zu sein. Am Beispiel des Films steht der Schauspieler eben für denjenigen, der ihm zuschaut und seine Rolle ersetzen könnte (S. 154). Aber zudem rede sich das Individuum ein, dass nur einer „das große Los“ ziehen könne: „nur einer ist prominent, und haben selbst mathematisch alle gleiche Aussicht, so ist sie doch für jeden Einzelnen so minimal, daß er sie am besten gleich abschreibt und sich am Glück des anderen freut, der er ebenso gut selber sein könnte und dennoch niemals selber ist“ (S. 154). Die heutigen Reality–Shows erwecken das Gefühl von hautnaher „Menschlichkeit“, die dort porträtiert wird, wie sie etwa die Super–Nanny verkörpert, und die Zuschauer glauben, sich als einer von vielen zu wissen, der die Chance hat, seine Kinder vor dem ganzen Publikum von eben derjenigen verkörperten Menschlichkeit untersuchen zu lassen. Die Reality–Shows bezeugen bereits die Fungibilität der Darsteller in diesen. Denn, so Horkheimer/Adorno, jeder könnte Hilfe brauchen, sei es im Fernsehen oder im Radio: „Die Kulturindustrie hat den Menschen als Gattungswesen hämisch verwirklicht. Jeder ist nur noch, wodurch er jeden anderen ersetzen kann: fungibel, ein Exemplar“ (S. 154). Gleichzeitig werde ihnen vermittelt, so zu sein, wie sie sind, und im Umschlag darauf, dass es ihnen nicht helfen werde, dieses Glück des „Gewinners“ zu erreichen (S. 154 – 155). Jeder verstehe diesen Hinweis, da „die Kräfte der Gesellschaft schon so weit zur Rationalität entfaltet sind, daß jeder einen Ingenieur und Manager abgeben könnte“ (S. 155).

5 Dialektik der Aufklärung, S. 145 6 Dialektik der Aufklärung, S. 164

Page 12: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

11

einzufügen. Als Kunden wird ihnen Freiheit der Wahl, der Anreiz des Unerfaßten, an menschlich–privaten Ereignissen sei’s auf der Leinwand sei’s in der Presse demonstriert“, doch „Objekte bleiben sie in jedem Fall“ (S. 155). Bestes Beispiel sind Bewerbungen, in denen peinlichst darauf geachtet wird, seine Natürlichkeit in Form von profitablen Fähigkeiten zu ummanteln und seine Freizeit in Form von sozialem Interesse darzustellen, das der Überzeugung dient, dem Geschäftsführer gegenüber loyal zu sein. Ohnehin ist der Mensch heute dazu bestimmt, für sich selbst zu werben, angefangen bei den soft und hard skills. Ersetzbar wird der Mensch dadurch, dass alles auf die Formel der Praktikabilität reduziert wird. Ersetzbar ist der Angestellte ebenso wie der Star im Film. Das Einsetzen des Moderators sowohl in einer „Wissenssendung“, die sich ohnehin nur noch mit dem Essen und dessen Genuss beschäftigt, als auch in einer Revue–Sendung bekräftigt die Formel. „Jeder muß zeigen, daß er sich ohne Rest mit der Macht identifiziert, von der er geschlagen wird“ (S. 162). Gemeint ist die gesellschaftliche Macht, die Totalität, die nun über das Individuum verfüge. Die Identifikation mit dem Allgemeinen, der Gesellschaft in dieser Instanz, zerstöre bereits das Individuum an seinem Begriff. Die Kulturindustrie habe auch Einfluss darauf, die Individualität in Pseudoindividualität zu verwandeln: „Das Individuelle reduziert sich auf die Fähigkeit des Allgemeinen, das Zufällige so ohne Rest zu stempeln, daß es als dasselbe festgehalten werden kann“ (S. 163). Reduziert werde auf Stereotypien, auf Aussehen, Sprache und Verhalten. Der Widerspruch in der Individuation liege darin, dass der Mensch das Produkt der Gesellschaft sei, aber von ihr zum Individuum entfaltet werde, doch auf Kosten der Individuation selbst (S. 164). Dieses Kapitel hat nun aufgezeigt, dass das Individuum als solches in der Kulturindustrie nicht existiert. Interessanterweise wird es zu einem geformt, das am Ende doch nur fungibel ist. Die Standardisierung verdinglicht den Menschen ebenfalls und hinterlässt nur noch Stereotypien, gleichsam die Details im Film und im Radio. Individualität bedeutet in der Kulturindustrie Macht und Reichtum, Eigenschaften, die nicht jeder hat und haben kann. Zugleich wird die Hoffnung gemacht, diese doch vielleicht zu erlangen. Am Ende wird in der Zeitschrift „Revue“ darüber geschrieben, welcher Lippenstift zu welchem Typ passt. Die Werbung für den perfekten Lippenstift steht gleich daneben. So wird für den Konsumenten und nicht für das Individuum gesorgt. 2.1.4 Kulturindustrie – Das System „Film, Radio, Magazine machen ein System aus“ (S. 128). Horkheimer/Adorno konkretisieren das System als die Interdependenz von Manipulation von Gesellschaft und dem rückwirkenden Bedürfnis dieser (S. 129). Ferner habe die instrumentelle Vernunft die Aufklärung in Mythologie umgewandelt, da sie den reflexiven Charakter so zerstört habe, dass sie aufgrund der Abstraktion zur „einen Logik“ geworden sei, die alles verwerfe, was sie nicht darstellen und für sich gebrauchen könne. Erst daraus habe sich die Technik entwickelt, die auf Naturbeherrschung aus sei, da der Mensch glaube, seine eigene und die äußere Naturbeherrschung sei der Sinn der Aufklärung. Diese Festgefahrenheit der instrumentellen Vernunft münde

Page 13: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

12

schließlich in den Positivismus, der nun alles verwerfe und als Schein denunziere, was seinen Kriterien nicht entspreche. Die Konsequenz wäre somit die Vormachtstellung der positivistischen Wissenschaft und der Technik, alles zu rationalisieren und einen eigenen Nutzen daraus zu ziehen. Damit würden die ökonomisch Stärksten, die die Kulturindustrie leiten, letztlich die Macht über die Gesellschaft gewinnen, die sie mit Kulturwaren manipulierten und dazu bringen würden, sich diesem System widerstandslos auszuliefern (S. 129). Dabei bilden die Kulturindustrie, geleitet von Kapitalisten, die sich zusammenfinden (doch zugleich konkurrieren sie), um ihren Profit zu maximieren, ihre Kulturwaren, vermittelt durch Medien und Werbung, und die Gesellschaft dieses System. Darin werde die Gesellschaft zu Konsumenten reduziert und objektifiziert7

„Die Befreiung, die Amusement verspricht, ist die von Denken als von Negation“ (S. 153). Das Ergebnis findet sich in der Kulturindustrie selbst. Die Reklame geht mit ihren Produkten spöttisch um. Während sie für das Produkt wirbt, erhält sie selbst einen Warencharakter. Dass sie schon als solche erkannt wird, macht sie zu einem Produkt. Ihr ehemaliger Nutzen wurde zum Indikator für den Kauf eines Produkts: „Reklame ist heute ein negatives Prinzip, eine Sperrvorrichtung: alles, was nicht ihren Stempel an sich trägt, ist wirtschaftlich anrüchig“ (S. 171). Man darf sogar sagen, dass das Produkt gar nicht erst

, die das zu kaufen haben, was ihnen geboten werde. Alles werde berechnet, selbst die Spontaneität werde damit ausgelöscht (S. 130). Der positivistische Charakter überziehe alles und jeden: „Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet“ (S. 134). So wird Mozart zu „Rock me Amadeus“ und Chopin zu „I like Chopin“. Die Redundanz wird zum obersten Mittel für die Herstellung, denn „[d]ie Maschine rotiert auf der gleichen Stelle“ (S. 142). Was nicht konformiere, werde als Risiko betrachtet. Was nicht berechenbar und kontrollierbar sei, werde verworfen oder berechenbar und kontrollierbar gemacht. Das sei die Funktion dieses Filters. Die „echte“ Welt als eine reproduzierbare zu verkaufen, das ist die ἀρχία derselben. Das „Ideal des Natürlichen“ soll die Menschen noch an das erinnern, wovon sie sich zu trennen versuchen (S. 136). Ob man dem Lärm in der Klasse durch eigene Seitengespräche entgegenwirken will oder die fabrizierte Klassik der „verkommenen“ Popmusik vorzieht, egal. Ironie ist es trotzdem. Es ist unmöglich, sich von der Idee des Neuen zu lösen. Das Neue wird aber von der Kulturindustrie maßgeblich erfunden, wenn es denn als solches bezeichnet werden kann. Der Mensch soll nicht darauf kommen, dass er immer gleiche Waren kauft. Diese, als Vermittler, sind schon so konzipiert, dass sie auch nur das verbreiten, was mit einem Prüfzeichen „made by Culture Industries“ versehen wurde. Nicht das Attentat in Winnenden ist der Skandal, sondern dessen Zurschaustellung im Fernsehen, Radio, Magazin. Ohnehin wird nur gerne Kulturnahes produziert, das Fremde wird als solches entlarvt und kulturnah gemacht. Nahezu heldenhaft wird über die Armut in Afrika berichtet, gleich nach „Wer wird Millionär?“. Das Banale ist der Reiz, mitzumachen. Das schlägt wiederum in Banalität um.

7 Diese Prozesse entstammen der instrumentellen Vernunft

Page 14: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

13

auffällt, wenn es keinen eigenen Slogan oder Jingle besitzt. Es ist völlig von der Sphäre der Kulturindustrie ausgenommen. Die Sprache selbst wird zum Mittel für die Kulturindustrie. An ihr vollziehe sich der gleiche Prozess wie an der Aufklärung. Die Sprache erstarre zur Formel, sie solle nur noch bezeichnen anstatt bedeuten (S. 173). Damit füge sie sich lückenlos der Reklame. Nicht durchsichtig, sondern undurchdringlich werde sie. Die Sprache wird zum reinen Signifikanten reduziert, der ohne sein Komplement ein reines Nichts ist. Dessen Arbitrarität ist das Markenzeichen der Positivisten. Nach unseren Ausführungen hat sich herausgestellt, dass die Kulturindustrie ein geschlossenes System bildet. In ihr hat der Mensch kaum Aussichten auf Individualisierung. Grundsätzlich zielt sie darauf ab, Profit zu machen. Dabei sind die Mittel egal. Die Medien verbreiten die Kulturwaren noch schneller und ermöglichen eine permanente Verbundenheit zu den Kulturwaren. Der Mensch gerät in Verblendung, der er schwer entkommen kann. Er fügt sich ihr stattdessen und sieht sich von der Kulturindustrie bedient. Die Reklame hat mehr Einfluss, als sie haben sollte. „Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglicht, daß die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen. Das ist der Triumph der Reklame in der Kulturindustrie, die zwangshafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren“ (S. 176). 2.2 Elemente des Antisemitismus Im folgenden werden wir den Abschnitt: „Elemente des Antisemitismus – Grenzen der Aufklärung“ näher erläutern. Hierzu werden wir den Gedankengang der Autoren beschreiben und analysieren, des Weiteren ihre Thesen kritisch betrachten und einen Bezug zur heutigen Zeit herstellen. Ich werde insbesondere auf die Beziehung des Tausches und des Opfers sowie die Dialektik der Aufklärung in Bezug auf den Antisemitismus eingehen. 2.2.1 Die Formen des Antisemitismus Der Antisemitismus hat nach Horkheimer/Adorno verschiedene Aspekte. Sie nennen den faschistoiden, liberalen, herrschaftlichen, kapitalistischen, christlichen und politischen Antisemitismus. Diese sind jedoch eng miteinander verwoben und existieren nebeneinander. Die Autoren beginnen mit der Nennung zweier grundlegender Thesen über den Ursprung des Antisemitismus: Die erste bezeichnet ihn als „Schicksalsfrage der Menschheit“, die zweite als „bloße[n] Vorwand“ (S. 177). 2.2.1.1 Der faschistoide Antisemitismus Die erste These wird von Horkheimer/Adorno dem Faschismus zugeschrieben, er habe „sie wahr gemacht“ (S. 177). Die Schicksalsfrage der Menschheit finde sich im Faschismus insofern wieder, indem die Faschisten die Juden als

Page 15: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

14

„Gegenrasse, das negative Prinzip als solches“ (S. 177) sähen, ihre Auslöschung werde glorifiziert und sei in ihrer Ideologie fest verankert (S. 177). Die Autoren gehen insbesondere auf den ökonomischen Aspekt des Antisemitismus im Faschismus ein. Der Antisemitismus soll die Herrschenden stärken, indem sich die Untergebenen, das Volk, gegen die Juden verschwören. Die Herrschenden projizieren ihre eigenen, vom Volk als negativ, schlecht und böse angesehenen Eigenschaften auf die Juden (S. 177), die Autoren bezeichnen die Verfolgung und den Mord an den Juden deshalb als Opfer, welches ständig wiederholt werde, obwohl weder das Motiv noch der Zweck für die Ausführenden nachvollziehbar seien (S. 177). Dieser Vorgang diene einzig und allein den Herrschenden zur Festigung ihrer Macht. Dass es das jüdische Volk und nicht irgendeine andere Minorität treffe, begründen Horkheimer/Adorno mit einem ganz und gar ökonomischen und pragmatischen Argument: „Den Arbeitern, auf die es zuletzt freilich abgesehen ist, sagt es aus guten Gründen keiner ins Gesicht; die Neger will man dort halten, wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden [...]“ (S. 177). 2.2.1.2 Der liberale Antisemitismus

Die liberale These, der Antisemitismus sei lediglich ein Vorwand, ist nach Horkheimer/Adorno „wahr als Idee“ (S. 177). Diese These beinhalte des Weiteren die Bedingung, dass die „Einheit der Menschen“ (S. 177) in der betreffenden Gesellschaft bereits anerkannt sei. Diese Einheit der Menschen entspringt dem Gedanken der Aufklärung, welche stetig an der Reduktion von Unterschieden und einer vollkommenen Vereinheitlichung interessiert ist. Die Autoren zeigen auf, dass dadurch bereits der Gedanke der Einheit aller Menschen in das Gegenteil umschlage, womit die Dialektik der Aufklärung aufgegriffen wird. Durch die verfrühte Annahme, die Einheit aller Menschen sei bereits erreicht, werde diese erst verhindert (S. 177). Da diese Einheit noch nicht erreicht ist, sie allerdings als wahr bezeichnet wird, sei sie nichts anderes als Mythos – eine Unwahrheit, eine Lüge, die von der Aufklärung entzaubert und widerlegt wird. Dies zeigt erneut die Dialektik der Aufklärung, die gleichzeitig der Mythos ist, den sie verdrängen will. Horkheimer/Adorno stellen des Weiteren die Theorie auf, in einer solchen Gesellschaft könne kein Kreislauf der Wut – wie in anderen Gesellschaften – entstehen, welcher sich an bestimmten Eigenschaften orientiere (S. 177), was der – angenommenen – Gleichheit aller Menschen entspringe. Da dieser Vorteil einer solchen Gesellschaft allerdings einem Irrglauben entspringt, ist er nicht sonderlich überzeugend und der Fortschritt der Aufklärung, die diese Gesellschaft hervorgebracht hat, ist letztendlich nur ein neuer Mythos. Dass jedoch das jüdische Volk sich nicht dem Rest der Gesellschaft anpasse, bringe es in ein gefährliches Verhältnis zur herrschenden Macht (S. 178). Jegliche Konflikte mit dieser könnten zur Auslöschung der Juden führen, da ihre einzige Verbindung zu ihr durch „Gier und Furcht“ (S. 178) bestehe, Gier der Herrschenden nach den Reichtümern der Juden und Furcht eben dieser vor dem Zorn der Bevölkerung – welcher nur von den Herrschenden im Zaum gehalten werden kann. Dies zeigt die von den Autoren angesprochene „dialektische Verschlingung von Aufklärung und Herrschaft“ (S. 178) sowie

Page 16: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

15

die Zweischneidigkeit des Fortschritts, der sowohl positiv als auch negativ sein könne. Dies untermauern sie mit Beispielen in der Historie: Die Juden hätten dies bereits bei den „großen Aufklärern wie den demokratischenVolksbewegungen“ zu spüren bekommen (S. 178). Horkheimer/Adorno weiten dies auch auf die Juden aus, die sich der Gesellschaft angepasst haben (S. 178), die also versuchten, diese negative Entwicklung der Gesellschaft, vorangetrieben von der Aufklärung, zu umgehen. Sie bezeichnen diese Anpassung durch die Unterdrückung der von der Aufklärung als typisch jüdisch erklärten Eigenschaften als „zweite Beschneidung“ (S. 178), welche sie in eine Gesellschaft integriere, die dabei sei, in vollkommene Unterdrückung umzuschlagen, indem sie sich als „hundertprozentige Rasse“ definiere (S. 178). Diese Unterdrückung schlussfolgern die Autoren aus dem Begriff der Rasse: Rasse sei Reduktion auf das Naturhafte, was jedoch nicht einer Reduktion auf das Besondere, sondern vielmehr auf die Gewalt entspreche – erzwungene Einzigartigkeit, die gerade deshalb vollkommen allgemein sei (S. 178), wodurch die Dialektik der Aufklärung sich wiederholt zeigt. Horkheimer/Adorno bezeichnen die Rasse des Weiteren als Mittel zur Erhaltung der eigenen Subjektivität in der Gesellschaft, diese jedoch werde zur Volksgemeinschaft, was auch die assimilierten Juden nicht verschone. Die Juden können sich zwar von ihrer eigenen Tradition abwenden und sich selbst verleugnen, nicht jedoch Teil einer anderen „Rasse“ werden, so sehr sie sich auch anpassen und verallgemeinern. Der Antisemitismus sei maßgeblich beteiligt an der Erhaltung der Ordnung in dieser Volksgemeinschaft, denn das wahre Wesen dieser Ordnung, so Horkheimer/Adorno, sei die Gewalt (S. 178) und dies zeige sich auch zur Zeit des Nationalsozialismus. 2.2.1.3 Der herrschaftliche Antisemitismus Im folgenden Teilabschnitt gehen die Autoren insbesondere auf die Dynamik von Antisemitismus, Herrschaft und Ordnung ein, die Gründe, aus welchen der Antisemitismus so schwer aufzuhalten sei. Einleitend wird der Aspekt der Nichtreflexion aufgegriffen, welcher letztendlich das Verhängnis der Aufklärung besiegelt: Die Herrschenden in einem System des Antisemitismus werfen ihren Gegnern das vor, was sie selbst praktizieren, in diesem Fall die Gleichmacherei (S. 179). Der Antisemitismus gründe sich nicht auf Rationalität, sie diene höchstens in der Anfangsphase zur Motivation für Teile der Bevölkerung, aber im Grunde genommen sei dem Volk immer bewusst gewesen, dass der Antisemitismus, die Verfolgung, die Morde, keinen wirtschaftlichen Vorteil für sie haben würden. Doch dies sei gerade das Moment, welches die Standfestigkeit des Antisemitismus ausmache: Die ökonomische Irrationalität festige den Glauben, die Ideologie sei wahr, und vernichte Einwände, sie sei auf wirtschaftlichen Profit aus. Es geht nicht um die Einzelpersonen und ihren persönlichen Gewinn bei der Sache, sondern um etwas Größeres, etwas, was alle betrifft und deshalb richtig und wichtig sein muss. Würde das Volk an einen rationalen Grund für die Verfolgung und Vernichtung der Juden glauben, so würde sich der Enthusiasmus und die Unterstützung im Allgemeinen immer weiter verringern, je weniger Profit sie bringen würde, das Volk sanktioniere seine „Wut durchs Kollektiv“ (S. 179), was den Antisemitismus zu einem Luxus für es mache (S.

Page 17: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

16

179). Doch die eigentlichen Gewinner des Antisemitismus seien die Herrschenden. Der Antisemitismus lenkt von den restlichen politischen Aktivitäten ab, gewährt den Regierenden freie Hand, entzieht sie der Aufsicht des Volkes und legitimiert nahezu jede Entscheidung. Die direkte Macht, die das Individuum auch im Staatsgebilde weiterhin besitze – in der Kritischen Theorie als Rackets bezeichnet – , die sich im respektablen Maß hielte, erhalte den Antisemitismus aufrecht, während er mit direkter Macht von nicht mehr respektablem Ausmaß ausgeführt werde (S. 179). Was die Beteiligten, sowohl als einzelne, individuelle Subjekte als auch als gesellschaftliche Objekte gesehen, zu diesen Handlungen antreibe, bleibe unersichtlich und sie seien nicht aufzuhalten, indem man sie aufkläre, selbst dann nicht, wenn sie selbst, als einzelne Subjekte, zu dieser Erkenntnis kämen (S. 179). Auch die Aufklärung des Kollektivs durch Gegenargumente, sowohl ökonomischer als auch politischer Art, sei keine Möglichkeit den Antisemitismus zu stoppen, denn die Rationalität der Herrschaft ist nach Horkheimer/Adorno der Ursprung des Antisemitismus, er sei von ihr in die Gesellschaft integriert worden (S. 179) und erhalte die neue Ordnung in dieser Volksgemeinschaft (S. 178). Horkheimer/Adorno stellen auch die Ähnlichkeit des Opfers und des Täters im Antisemitismus heraus. Beide gehörten zum selben Teil des Systems, sie seien die Unwissenden (S. 179 – 180). Der Kreislauf des Antisemitismus werde in Gang gesetzt, sobald die Menschen, die als gleich, einheitlich und von der Aufklärung ihrer Subjektivität beraubt, wieder von derselbigen als Subjekte angesehen werden. Wenn das Volk seine Gemeinschaft durch Gewalt seine Ordnung gegen die, die anders sind und damit ihre Gleichheit gewährleisten, zu bewahren versucht, werde das Schema des Antisemitismus deutlich. Die Autoren stellen ihn in direkten Zusammenhang mit dem Ritual, die Massenmorde an den Juden mit Ritualmorden (S. 180). Das Einzige, was den Antisemitismus aufhalten könne, sei die Wahrheit, die in diesen Ritualen jedoch ihre Ohnmacht unter Beweis stelle (S. 180). Rituale sind fester Bestandteil der Mythologie, der Antisemitismus entspringt der Aufklärung, im späteren Verlauf damit auch die Pogrome, welche nichts anderes als Ritualmorde seien, wodurch der Rückschlag von Aufklärung in Mythologie erneut offen gelegt wird. Die Aufklärung sucht die Wahrheit, um den Mythos zu zerschlagen, womit sie sich jedoch selbst widerlegen müsste. Der Antisemitismus sei ein Ventil (S. 180), so Horkheimer/Adorno. Diese These werde, zumindest teilweise, dadurch belegt, dass der Antisemitismus vollkommen intentionslos vollstreckt werde. Dies belege auch die auswechselbare Rolle der Juden, die Verfolgung und Vernichtung treffe jeden, der aus dem Muster der Rasse falle (S. 180). Die Autoren behaupten, dass weder die Ausführenden noch die, die sich dem Pulk anschließen, den genauen Grund für ihren Hass nennen könnten, allein die Herrschenden, die Auftraggebenden, kennen ihn, sie selbst aber „hassen die Juden nicht und lieben nicht die Gefolgschaft“ (S. 180). Das Volk aber folge der Ideologie immer weiter, denn insgeheim hoffe es noch immer auf die Erfüllung seiner Wünsche. Sobald die Rationalität als Argument wegfalle, verfalle es der Ideologie aber voll und ganz und die Vernunft habe endgültig verloren und sei nicht länger Teil der Begründung für sein Handeln (S. 180), wodurch der Antisemitismus weiter gegen Kritik immunisiert werde.

Page 18: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

17

Diese Entwicklung habe zur Folge, dass die Aufklärung nur noch von den Verzweifelten vertreten werde, die Vereinheitlichung von allem und jedem nehme seinen Lauf. Die Taten in der vom Antisemitismus beherrschten Volksgemeinschaft würden „autonomer Selbstzweck“ (S. 180) und versteckten ihre eigentliche Zwecklosigkeit. Dies impliziert einen Kreislauf, der stetig aufrecht erhalten wird und den direkten Zusammenhang von Totalität und Antisemitismus in sich trägt und offenlegt (S. 181). Horkheimer/Adorno fassen diesen Vorgang mit einem äußerst treffenden Satz zusammen: „Blindheit erfasst alles, weil sie nichts begreift“ (S. 181), das Volk verfalle dem Antisemitismus endgültig, weil es ihn nicht zu verstehen vermag. Auch der Liberalismus ist dialektisch als Produkt der Aufklärung. Er ermöglichte auch den jüdischen Mitgliedern der Gesellschaft Besitz, jedoch ohne sie darüber verfügen zu lassen, so Horkheimer/Adorno. Die Menschenrechte seien rein hypothetisch, eine weitere Täuschung der Aufklärung. Sie seien gedacht, um weitere leere Versprechen machen zu können, in diesem Fall „Glück auch dort [...], wo keine Macht ist“ (S. 181). Die Autoren sehen dies als weiteren Auslöser für die Wut des Volkes, sobald es einsehe, dass die Menschenrechte nicht wahr werden können, solange es Klassen gebe. Dies führe dazu, dass die Vorstellung, die Menschenrechte könnten doch wahr und Gesetz werden, als Lüge, als Mythos abgetan und verleugnet werde – ganz im Sinne der Aufklärung. Je mehr sie Realität werden, desto stärker werde der Glaube an die eigentliche Lüge, den Mythos, dass sie niemals wahr werden könnten. Die Dialektik der Aufklärung besiegelt ihr eigenes Schicksal: sie kritisiert alles, und was nicht unmittelbar bewiesen werden kann, wird als Mythos abgestempelt. Dabei merkt sie nicht, dass sie ihre eigenen Produkte und damit sich selbst widerlegt. Die Entsagung dieses möglichen Glücks schlage um in Hass auf diejenigen, die ihrer Meinung nach dieses Glück erlangen. Das, was sie nicht haben können, ziehe ihren Hass auf sich. Diejenigen, die die Natur beherrschen, sehnten sich danach, es nicht zu tun (S. 181), denn die Macht über etwas sei gekoppelt an die Entfremdung von selbigem. Die Herrschenden verkaufen dem Volk das Cliché vom jüdischen Bankier, welcher mit ihrem Geld den Bolschewismus finanziere, als reinste Wahrheit. Parallel dazu schüren sie den Hass auf die Intellektuellen, die denken, „[...]was die anderen sich nicht gönnen“ (S. 181) und auf Kosten der anderen lebten. Diese beiden Rollenbilder des Juden, die des Reichen und des Intellektuellen, verkörpern die Wunschvorstellungen des vom Hass der Herrschenden gelenkten Volkes, welche es sich jedoch nicht zugestehen möchte, wodurch die Spirale der Gewalt und des Hasses aufrecht erhalten und die Herrschaft erhalten werde. 2.2.1.4 Der kapitalistische Antisemitismus Einen besonders schwerwiegenden Aspekt des Antisemitismus habe das ökonomische Moment. Nicht in dem Sinne, der Antisemitismus selbst sei ökonomisch rational – dem wurde bereits zuvor widersprochen – aber in dem Sinne, dass die Gesellschaft, in der „nicht bloß mehr die Politik ein Geschäft ist, sondern das Geschäft die ganze Politik“ (S. 182), dies als schlechte und die Vernichtung legitimierende Eigenschaft an den Juden festmache. Dieses Gebot solle denen, die selbst „das Geschäft zum Absoluten erhoben haben“ (S. 182),

Page 19: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

18

zugute vollstreckt werden. Dass die Gesellschaft diesen Trug nicht erfasse, liegt laut Horkheimer/Adorno daran, dass sich die Herrschenden selbst als Teil derer, über die sie herrschen, sähen. Hierbei sprechen sie nicht nur von der Politk, sondern insbesondere von den Kapitalisten, den Firmeninhabern, den sogenannten Produzenten. Wieder einmal werde der Jude als Sündenbock benutzt, diesmal jedoch in einem viel größeren Sinn: Man bürdete ihm „das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse[...]“ (S. 183) auf. 2.2.1.5 Der christliche Antisemitismus Der völkische Antisemitismus sei mit der Zeit gegangen, er realisiere, dass es dem Großteil der Gesellschaft im Leben nicht mehr um das Seelenheil gehe, die Kirche habe an Einfluss verloren, auch für den Antisemitismus. Dessen ungeachtet sei die direkte Verbindung von Antisemitsmus und christlicher Kirche auf keinen Fall zu leugnen, allein die „schwerwiegende historische Tradition“ zeige dies: „Schwerlich aber ist die religiöse Feindschaft, die für zweitausend Jahre zur Judenverfolgung antrieb, ganz erloschen“ (S. 185). Mittlerweile sei die Religion keinesfalls aufgehoben worden, sondern vielmehr in die Kultur integriert, Horkheimer/Adorno sehen zum Beispiel Parallelen zum fanatischen Glauben, mit dem Führer und Anhänger sich rühmten, welcher derselbe sei wie der der frühen Christen, die versuchten, ihre Religion zu verteidigen: „[...] nur sein Inhalt ist abhanden gekommen“ (S. 185). Das einzige Überbleibsel dieses Glaubens sei der Hass gegen jene, die ihn nicht teilen: „Bei den deutschen Christen blieb von der Religion der Liebe nichts übrig als der Antisemitismus“ (S. 185). Wie auch die Aufklärung besiegelt die christliche Religion ihre Existenz, wenn sie ihr rückläufiges Moment nicht in ihrer Theologie aufnimmt. Wenn sie es nicht tut, müssen ihre Anhänger sich ihr eigenes ewiges Heil am Unheil derer, die nicht ihren Glauben teilen, beweisen. Dies bezeichne den religiösen Ursprung des Antisemitismus: „Die Anhänger der Vaterreligion werden von denen des Sohnes gehasst“ (S. 188). 2.2.1.6 Der politische Antisemitismus Der politische Antisemitismus basiere nach Horkheimer/Adorno auf Idiosynkrasie. Diese sei fest mit dem Besonderen, dem Andersartigen verbunden. Als normal gelte das Allgemeine, das Gleiche, das sich der Gesellschaft anpasse. Die Zivilisation unterbinde die Idiosynkrasie durch Mimikry, durch Nachahmung und Angleichung. In der frühen Phase der Zivilisation sei dies ganz simpel die organisierte Handhabe der Mimikry gewesen, die beispielsweise als Schutz diente, indem man sich der Natur anglich. In der späteren Phase der Zivilisation sei dies „die rationale Praxis, die Arbeit“ (S. 189). Die Menschen seien in ihrer Rolle als Arbeitende bestärkt worden durch die gesellschaftliche und individuelle Erziehung, gleichzeitig hindere diese sie, zum Beispiel durch religiöse Bildverbote oder aber auch „Pädagogik, die den Kindern abgewöhnt, kindisch zu sein“ (S. 190), welche in etwa in der Hitlerjugend angewandt wurde, daran, individuell zu werden, eigene Persönlichkeit zu entwickeln. All diese Ablenkung trage die Züge der Mimikry, welche sich sogar in der Wissenschaft wiederfinde. Wissenschaft sei nichts weiter als Wiederholung, quasi ein Ritual, eine Verallgemeinerung von eigentlich individuellen Vorgängen. Die mathematische Formel sei die

Page 20: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

19

elementarste Art von Mimikry. Technik vollziehe sie durch Automatisierung von ursrpünglich geistigen Vorgängen. Die Autoren sehen die Hetzreden als identisch mit dem Geheul des Opfers, wovon sich das Volk „[...] absichtlich in die Verzweiflung von Verfolgten versetzen[...]“ (S. 192) lasse, sich wehren zu müssen und damit im Recht zu sein. Dies ist erneut eine Mimesis, die Anpassung an das Opfer. Nach Horkheimer/Adorno sind alle Vorwände wie Ideologien nur dazu da, um das mimetische Verhalten zu rechtfertigen: „Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn immerzu“ (S. 193), dies erkläre auch die Formalien des Faschismus: Disziplin, Uniformen, das gesamte System, das vorgibt, irrational zu sein. All das diene nur zur Ermöglichung der Mimikry. „Die Totenköpfe und Vermummungen, der barbarische Trommelschlag, das monotone Wiederholen von Worten und Gesten [...]“ (S. 194) seien die Steigerung, die Fortsetzung des Rituals, „[...]die Mimesis der Mimesis“ (S.194). Damit dies alles geschehen könne, benötige man ein Opfer, eines, das durch seine Idiosynkrasie aus der vereinheitlichten Masse hervorsteche. Der Jude ermögliche jedem einzelnen Teil der Volksgemeinschaft durch seine Idiosynkrasie somit nicht nur das Gefühl, normal und gleich zu sein, sondern auch gleichzeitig das genaue Gegenteil, nämlich fremd und anders zu sein, womit wieder einmal die Dialektik ersichtlich wird. 2.2.2 Die Bedeutsamkeit der Reflexion „Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion“ (S. 195). Horkheimer/Adorno greifen hier wieder eine frühere These auf. Diese falsche Projektion sei das Gegenteil der echten Mimesis: Statt sich dem anderen anzupassen, werde das andere einem angepasst. Die Herrschenden drückten den Juden ihre Habgier, Machtgier und ihr Händlergebahren auf. Sie setzten jede Wahrnehmung mit Projektion gleich: Alles Wahrgenommene werde mit den Erfahrungen des Subjekts bewertet und beurteilt: „Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurücklässt[...]“ (S. 198). Alles, was wir wahrnehmen, spiegele also auch wider, was wir seien. Horkheimer/Adorno kritisieren an diesem Punkt den Positivismus: Werde die Verbindung von Außenwelt und dem Inneren des Subjekts bei der Wahrnehmung getrennt, so ende dies im bloßen Registrieren, das Ich erstarre und der Vorgang ende in permanenter Wiederholung. Die Autoren sehen die bewusste Projektion als einzige Möglichkeit und gleichzeitig Grundvoraussetzung für Versöhnung: Nicht in der begrifflichen Einheit von Wahrnehmung und Gegenstand, sondern in ihrem reflektierten Gegensatz zeige sich die Möglichkeit von Versöhnung an sich (S. 198). Bedeutend hierfür sei, dass dem Subjekt zwar die Außenwelt in seinem Bewusstsein selbst innewohne, es jedoch den Unterschied klar definieren könne. Aus diesem Grund sei dieses Reflektieren bewusste Projektion, Voraussetzung für die Vernunft. Das pathetische Moment des Antisemitismus sei nicht die Projektion selbst, sondern „der Ausfall der Reflexion darin“ (S. 199). Der Antisemitismus ist also nicht so schwer zu beenden, weil er die Eigenschaften der Herrschenden auf die Juden projiziert, sondern weil er vom Volk ohne Wertung, ohne eigene Meinung, angewandt wird. Das Volk sehe den Juden objektiv, registriere ihn und wende die gegebenen Vorurteile auf ihn an, anstatt ihn als Subjekt zu

Page 21: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

20

betrachten und zu reflektieren, die Möglichkeit der Versöhnung sei in dieser Art der Wahrnehmung nicht inbegriffen. Dies ist parallel zu Horkheimer/Adornos These bezüglich der Aufklärung zu betrachten: Die Aufklärung besiegle ihr eigenes Schicksal, wenn sie ihr rückläufiges Moment nicht in sich aufnehme, also reflexiv betrachte. Die falsche Projektion wohne dem Geist inne, was dazu führe, dass der Drang zur Selbsterhaltung alles zu beherrschen drohe, was sie überschreite, sprich die Kultur. Halbwissen könne zum Verhängnis werden, wenn man dennoch versuche, allem und jedem einen Sinn zu geben, denn dies würde es erst sinnlos machen. Als Beispiel nennen Horkheimer/Adorno hier den Teufelsmythos im Mittelalter, welcher es der Religion ermöglichte, über alles zu gebieten, indem sie damit den Halbwissenden eine „Rundumerklärung“ für das, was sie nicht begreifen konnten, zur Verfügung stellte (S. 205). Beim Antisemitismus verhielt es sich nicht anders: Die Bevölkerung suchte einen Sündenbock für ihre Situation, die Herrschenden opferten ihnen den Juden. Die Autoren sehen die Ursprünge für falsche Projektion beziehungsweise Paranoia, die zu dieser führt, in sämtlichen Richtungen von Wissenschaft und Religion. Die stetige Abnahme von Bildung, die Horkheimer/Adorno nennen, führe zu verbesserten Bedingungen für die Paranoia der Massen (S. 206). Doch auch wenn mit dem bürgerlichen Eigentum die Bildung zunehme und die Paranoia augenscheinlich verdränge, so sei dieser Aspekt den beiden zufolge nicht der Fall: „Da aber die reale Emanzipation der Menschen nicht zugleich mit der Aufklärung des Geistes erfolgte, erkrankte die Bildung selber“ (S. 207), die Bildung vermittele den Menschen Wissen, welches der falschen Projektion zugute komme. Auch die Dimension der Macht der Herrschenden im nationalsozialistischen Deutschland sei maßgeblich beteiligt gewesen am Antisemitismus: Es war nur von der Partei abhängig, welche Minderheit geopfert werden würde, um sich selbst und die Macht zu erhalten und die schrecklichen Folgen der eigenen Entscheidungen abzuwälzen. Die Juden seien aufgrund des aufkommenden Liberalismus und damit des Schwindens ihrer Sicherheit in den ökonomischen Machtpositionen, da sie damit auch an politischem Einfluss gewannen, als Opfer prädestiniert gewesen. Das stereotype Bild des Juden sei das perfekte Ziel gewesen, denn er verkörpere das, was sich die Bevölkerung selbst zu erlangen wünschte. Die Herrschaft könne nur so lange bestehen, „wie die Beherrschten selber das Ersehnte zum Verhassten machen“ (S. 209). Bei der Bestimmung des Juden als Opfer hilft die falsche Projektion: „[D]enn auch der Hass führt zur Vereinigung mit dem Objekt, in der Zerstörung. Er ist das Negativ der Versöhnung“ (S. 209). 2.2.3 Ende des Antisemitismus Einzig und allein die Beherrschten könnten den Antisemitismus beenden, indem sie sich von der Herrschaft losreißen und die Gewalt beenden würden. Dies würde die faschistoide Antisemitismus–These belegen, die Judenfrage sei die Schicksalsfrage der Menschheit, jedoch im dialektischen Sinn, da damit die faschistoide Herrschaft beendet würde. „Die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation ist die Gegenbewegung zur falschen Projektion[...]“ (S. 209), dies schlussfolgert sich aus der Definition der richtigen Projektion, in welcher das Subjekt beim Betrachten mehr gibt, als es nimmt, also nicht bloß registriert, sondern begreift und beurteilt. Die Emanzipation führt dazu, dass

Page 22: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

21

die stereotypen Rollenbilder abgelegt werden und dem Individuum Raum zur Projektion gegeben wird, die nicht bereits von außen vorbestimmt ist. Nach Horkheimer/Adorno sei Antisemitismus schon immer von stereotypen Denkmustern hervorgerufen und bestimmt worden, welche heute – im Gegensatz zum Antisemitismus – weiterhin bestünden (S. 210). Der Antisemitismus sei Teil eines größeren Ganzen geworden, „[...]eine Planke der Plattform[...]“ (S. 210), der Faschismus. Die Meinung, Erfahrung, das Wissen und das Urteil spielen im Antisemitismus keinerlei Rolle mehr, feste Vorurteile bestimmen die Wahrnehmung, „der Wahrnehmende ist im Prozess der Wahrnehmung nicht mehr gegenwärtig“ (S. 211). Je unwissender die Bevölkerung, desto besser für den Faschismus, Horkheimer/Adorno greifen auch diesen Aspekt auf: „Das ist das Geheimnis der Verdummung, die dem Antisemitismus zugutekommt“ (S. 212). Und auch die Verallgemeinerung, die Reduzierung auf das Objekt, ist dem Antisemitismus förderlich: „Der Mangel an Rücksicht aufs Subjekt macht es der Verwaltung leicht. Man versetzt Volksgruppen in andere Breiten, schickt Individuen mit dem Stempel Jude in die Gaskammer“ (S. 212). Den vernichtenden Stoß versetzen die Herrschenden dem jüdischen Volk allerdings erst nach der Verdrängung aus seiner ökonomischen Machtposition und damit der Verbindung zu den Herrschenden. Dass ein endgültiges Ende des Antisemitismus möglich sei, belege sich dadurch, dass das jüdische Volk als Opfer beliebig austauschbar sei. Dies zeigt auch wieder das von Horkheimer/Adorno insbesondere im Exkurs über Odysseus angesprochene Verhältnis von Opfer und Tausch. Das Opfer werde, sobald es fungibel sei, zum Tausch oder auch Handel, man löse es ein, mit dem Gedanken, mehr dafür zu erhalten, als man ursprünglich gegeben habe. Die Autoren bezeichnen allerding nicht nur den Antisemitismus selbst als antisemitisch, sondern bereits den Gedanken des Opfers oder des Tausches selbst. Dies sei aufgrund des Hasses auf all das, was anders sei, gegeben. Die Autoren stellen ebenfalls in Frage, was das Opfer sein sollte, müsste es schlechter sein als das, wofür es geopfert werde. Insbesondere im Faschismus sei dies ein kritischer Fall: „Sein Grauen ist das der offenkundigen und doch fortbestehenden Lüge“ (S. 217). Dies sei nur durch die vollkommene Einschränkung des Denkens der Beherrschten möglich. Horkheimer/Adorno beschließen dieses Kapitel mit einem erstaunlich hoffnungsvollen Satz: „Die ihrer selbst mächtige, zur Gewalt werdende Aufklärung selbst vermöchte die Grenzen der Aufklärung zu durchbrechen“ (S. 217). Dies greift den Gedanken, die Aufklärung müsse sich ihres rückläufigen Moments bewusst werden, auf, denn nur so könne sie ihre Einschränkungen überwinden und die Freiheit in der Gesellschaft – ihr erklärtes Ziel – erreichen. 2.2.4 Antisemitismus im 21. Jahrhundert Die Thesen Horkheimer/Adornos zum Antisemitismus bestätigen sich auch im aktuellen Antisemitismus nach dem Nationalsozialismus. Jedoch hat sich die offene und staatliche Form des Antisemitismus geografisch verlagert. Selbstverständlich gibt es auch in Europa weiterhin Antisemiten, jedoch wird er in der arabischen Welt, insbesondere im Iran, in Palästina und in anderen Staaten, die in Konflikt mit Israel leben, offen und politisch ausgeübt und propagiert. Der iranische Präsident Ahmadinejad rief 2007 zum 18. Todestag

Page 23: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

22

des Gründers der Republik Iran, Ayatollah Ruhollah Khomeini, zur Vernichtung Israels auf: „Wir stehen vor einem gewaltigen Wandel im Leben der Menschheit. Die verdorbene Macht wird bald verschwinden, mit Hilfe Gottes und des Standhaltens der Völker. Wir sehen die Zeichen dieses Verschwindens“8, so Ahmadinejad. Hier findet sich der faschistoide Gedanke, der Antisemitismus sei die Schicksalsfrage der Menschheit, von der Auslöschung der Juden sei das Wohl der Welt abhängig. Ahmadinejad sieht die Quelle allen Übels auf der Welt bei den westlichen Staaten und auch Israel. Das Sündenbock–Konzept ist also auch seiner Form des Antisemitismus nicht abhanden gekommen: „Die Wurzeln der Probleme, an denen die Welt heute leidet, sind gewachsen dank der Existenz korrumpierter Mächte auf der Welt“. Ahmadinejad benutzt auch den Begriff des Mythos9

Doch nicht nur der Iran ist offen antisemitisch, insbesondere in Palästina wird der Antisemitismus propagiert, er ist in die Bildung und Kultur integriert. So gab es beispielsweise eine Kindersendung

, jedoch bezeichnet er den Holocaust als solchen. Er wirft den Vergleich zur Gotteslästerung auf und beschuldigt den Staat Israel, eine „zionistische Propagandamaschine“ zu unterhalten, um das „Märchen vom Massaker an den Juden“ aufrecht zu erhalten. Dass der Holocaust mit Sicherheit keine erfundene Geschichte, sondern grausame Realität ist, vernachlässigt Ahmadinejad jedoch und bezeichnet die „Besetzung“ Israels, wie er es nennt, als nicht gerechtfertigt, selbst wenn der Holocaust kein Mythos sei.

10

8 http://berlin.mfa.gov.il/mfm/web/main/document.asp?DocumentID=116115&MissionID=88 24.04.2009 9 http://www.nzz.ch/2006/01/16/al/articleDHKOT.html 24.04.2009 10 http://www.matthiaskuentzel.de/contents/die–juden–ausloeschen 24.04.2009

, in welcher eine Zeichentrickfigur offen zu Hass und Gewalt gegen Juden aufrief. Dies spiegelt die von Horkheimer/Adorno angesprochene Verdummung der Menschen und Manipulation durch die Medien, die ihnen ein stereotypes Bild des Juden vorhalten und somit zur falschen Projektion beitragen, wider. Selbst das Verbot dieser Sendung wurde zu antisemitischer Propaganda genutzt: Die Figur wurde als Märtyrer dargestellt, indem sie von einem israelischen Beamten getötet wurde, womit wieder ein Aspekt des Antisemitismus nach Horkheimer/Adorno herausgestellt wird: der des Opfers. Nicht nur, dass die Juden für das Heil der Welt geopfert werden – durch das Opfer des Selbstmordattentäters wird dieses Opfer noch vergrößert, da der Attentäter aus der Sicht der Islamisten das Gute darstellt und weitaus besser ist als das Böse, der Jude. Der Märtyrer ist ähnlich dem Opfer des Gottmenschen Jesus eine Steigerung des Opfers. Anhand unserer Ausführungen hat sich herausgestellt, dass der Antisemitismus noch besteht und dass sich die Thesen bewahrheitet haben. Horkheimer/Adorno haben in ihren Thesen bezüglich des Antisemitismus in der Tat den Kern der Sache getroffen. Der Jude ist den Islamisten was der Ausländer den Nationalisten, er ist ein Sündenbock, fungibel, und dient allein der Kompensation, womit das Opfer zum Tausch wird. Es wird geopfert, um mehr zu erhalten, als man urspünglich gab.

Page 24: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

23

3. Ergebnisse 3.1 Erkenntnisse aus der Analyse Zum Abschluss unserer Ausführungen gelangen wir zu dem Ergebnis, dass die Aufklärung heute nicht ihrem ursprünglichen Ziel gerecht wird. Sie führt nicht zum Fortschritt, vielmehr ist sie eine Wiederholung und Erfindung von Mythen, die mit voller Ernsthaftigkeit entzaubert werden. Sie schafft sich selbst beständig neue Aufgaben, um ihre eigene Existenz zu rechtfertigen, ohne sich auf die eigentlichen Probleme zu konzentrieren. Der Tauschbegriff ist die rationalisierte Form des Opfers und findet sich in der Tat in der Gesellschaft wieder. Sowohl im Antisemitismus als auch in der Kulturindustrie spielt er eine elementare Rolle. 3.2 Was ist aus der Aufklärung geworden? Da die Kulturindustrie im Kapitalismus ihren Sitz eingenommen hat und die Aufklärung als solche in ihr nicht bestehen kann, scheint es aussichtslos zu sein, einen optimistischen Gedanken zu hegen. Obwohl im Laufe der Zeit sich die Menschenrechte mehr und mehr durchsetzen, erweckt es nur den Eindruck, dass die Gesellschaft sich emanzipiere. Jedoch ist es eine bloße Verschiebung in klinische Begrifflichkeiten, die, wie bereits herausgestellt, nur bezeichnen anstatt bedeuten. Allein schon die als natürlich aufgefassten Gegenbegriffe Tier–Mensch zeigen, dass wir durch Abstrakta auffassen. Die Umkehrung von Homosexualität als Krankheit in Homophobie als Krankheit bestätigt die Weiterführung dieses Kreislaufes der sich selbst widerlegenden Aufklärung. Im Grunde wird nur noch aufgehoben, was als „überholt“ und „reaktionär“ oder „mittelalterlich“ angesehen wird. Der Prozess findet kein Ende. Anstatt das bereits bestehende Stereotyp aufzuschlüsseln, wird dem einfach ein Gegenbegriff gegenübergestellt, so etwa der Übergang von „du Mädchen“ zu „du Schwuchtel“. Die Abstraktion schießt ins Perverse, wenn nur noch Gegensätze gebildet werden. Die Heteronormativität ist die Konsequenz der Kulturindustrie. Der Feminismus dreht die Begriffe Mann–Frau einfach um, ohne sie überhaupt zu hinterfragen. Was die Aufklärung vorher als Metaphysik denunzierte, schlägt in ihr selbst in Wortirrungen um. Der Maskulinismus ist dasselbe wie die Schule als Reaktion zur Arbeit. Die Menschen bestätigen die Produktion in der Kulturindustrie mit eigenen Begriffen. Was die Juden vor 70 Jahren waren, sind die Türken und Russen heute in Deutschland. Die Rassifizierung ist zum Volkssport geworden. Was als schlechte Eigenschaft an einem selbst angetroffen wird, wird beispielsweise auf die Nazis projiziert, um sich selbst zu schützen. Dies führt zu einem Selbstbetrug und verdeutlicht die Grenzen der Aufklärung. „Du dreckiger Jude“ gilt heute als simples Schimpfwort und seine Wurzel wird bewusst unterdrückt. Fraglich ist nur, ob diese Schimpfwörter noch bedeuten

Page 25: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

24

und nicht bereits zur bloßen Formel verkommen sind. All dies darf keineswegs als Phase in der Entwicklung gesehen werden, es ist bereits in der Mitte der Gesellschaft angelangt. Stereotype sind in der Alltagssprache so konform wie das „cool“ in der Jugendsprache. Wir beschäftigen uns nicht länger mit der Person hinter dem ersten Eindruck, ihrem Erscheinungsbild, sondern zwingen ihr die damit verbundenen Vorurteile auf. Der Absolutheitsanspruch der Vernunft ist grenzenlos. Er beginnt bereits in der Kindheitsphase: „Spiel nicht mit dem Essen!“ ist ein Aufruf zur instrumentellen Vernunft. Den Kindern wird der Erfahrungswert genommen und sie erhalten eine Vernunftformel. Dieser Aufruf wird in der Schule durch „Du lernst nicht für die Schule, sondern für dein Leben“ ironisch ersetzt. Die Problematik der instrumentellen Vernunft ist das Fehlen des reflexiven Charakters. Dies führt zum Umschlag von Aufklärung in Mythologie, welchen die Vernunft gar nicht erst wahrnimmt. Abstrahiert wird alles. Der Mensch kommt ihr als Objekt entgegen, die Natur in Form von mathematischen und physikalischen Gesetzen. Auf die Naturbeherrschung ist sie aus, obwohl sie von der Natur selbst beherrscht wird. Der Fortschritt liegt in der Technik, die Gesellschaft ist lediglich Beobachter. Sie ist mit dem Konsum der Produkte der Technik beschäftigt. Jedoch scheint das neue Medium Internet eine besondere Stellung in der Kulturindustrie einzunehmen. Statt dass es von einzelnen Personen geleitet und verwaltet wird, kann jeder Nutzer mit Internetzugang darauf zugreifen und eigene Informationen verbreiten. Es gibt tausende communitys, die gleiche Interessen verfolgen. Es wird kopiergeschütztes Material frei zur Verfügung gestellt, was dem Konzept der Kulturindustrie entgegenwirkt. Dennoch ist es nur eine andere Form der instrumentellen Vernunft. Die Kommunikation ist über digitale Schrift möglich, die bereits das Moment der Abstraktion besitzt. Deswegen herrschen so viele Kürzel in der virtuellen Welt, die schon von Anfang an als Formel dienen, der Prozess ist also bereits in den Worten enthalten. Ein solches Medium verlangt Prägnanz und Kompaktheit in der Information. Heute tritt die Sprache in Glyphen und Piktogrammen auf: Die gewünschte Durchschaubarkeit schlägt wieder um in Undurchdringlichkeit. Die Folge ist das strikte Abstrahieren und Stereotypisieren von allem. Einen Zugang zu der Welt erhalte man angeblich nur über das Internet, die aber bereits vernunftgerecht verwaltet wird. Man kann festhalten, dass die Aufklärung als Massenbetrug den Menschen keine Möglichkeit bietet, sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien. Die Kritik erscheint nur noch in der Entzauberung ihrer eigenen Mythen; diese sind ihr nicht bewusst geworden. „Wir hegen keinen Zweifel [...], daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal“ (S. 3).

Page 26: Kulturindustrie und Elemente des Antisemitismus in der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno

25

Mediografie

Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 17. Aufl. Frankfurt/M. (Fischer) 2008 http://berlin.mfa.gov.il/mfm/web/main/document.asp?DocumentID=116115&MissionID=88, 24.04.2009 http://www.matthiaskuentzel.de/contents/die–juden–ausloeschen, 24.04.2009 http://www.nzz.ch/2006/01/16/al/articleDHKOT.html, 24.04.2009 http://www.philolex.de/frankfur.htm, 24.04.2009 http://www.tu–harburg.de/rzt/rzt/it/kritik/node6.html, 24.04.2009


Top Related