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Fach: Pädagogik-Psychologie Kurs: PA1L2A Datum:Lehrkraft: N. Mönke

Lerngebiet 9 – Handlungsansätze in der sozialen Arbeit vergleichen

Fallbeschreibung „Tim“1

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Tim (12 Jahre) wächst mit drei älteren und zwei jüngeren Geschwistern und seinen Eltern in einer Kleinstadt in Brandenburg auf. Die Familie lebt in einer kleinen Wohnung in der Nähe des Gewerbegebietes. Er teilt sich sein Zimmer mit einem Geschwister. Er findet die Wohnung schlecht, weil sie so klein ist.

Tims Vater hat einen Hauptabschluss und eine abgeschlossene Ausbildung als Gerüstbauer. In den letzten Jahren war er immer wieder arbeitslos und begann während der ersten langen Phase der Arbeitslosigkeit Alkohol zu trinken. Darauf folgten Ehekonflikte und Verschuldung der Familie. Die Mutter leidet seitdem unter gesundheitlichen Problemen, die sie auf die hohe Konfliktbelastung zurückführt. Die familiäre Situation ist seitdem angespannt. Der Vater ist seit längeren wieder arbeitslos, hat das Trinken jedoch nahezu eingestellt. Durch die Hartz-Reformen hat sich die finanzielle Lage der Familie leicht verschärft, weil die Zuverdienstmöglichkeiten der Mutter rechtlich eingeschränkt sind.

Tim gilt zuhause als schwieriges Kind, das aus Protest lange einnässte, wenig Selbstvertrauen zeigt und sich oft ungerecht behandelt fühlt. Er selbst äußert, dass er sich in seiner Familie überhaupt nicht wohl fühlt, nicht gelobt wird und stets der Schuldige sei, wenn etwas vorfällt. Geliebt fühlt er sich vor allem von seinen Großeltern väterlicherseits, zu denen er trotz der räumlichen Entfernung so oft wie möglich Kontakt hat. Tim ist oft traurig und zieht sich bei Problemen in sein Zimmer zurück. In der Schule, wenn Kinder angeben und die Sachen anderer Kinder schlecht machen, geht er den Konflikten aus dem Weg und versucht die Kinder zu ignorieren. Tim leidet unter psychosomatischen Symptomen, er hat häufig Kopf- und Magenschmerzen und es geht ihm oft insgesamt schlecht.

Vom dritten bis sechsten Lebensjahr besuchte Tim ganztätig den Kindergarten. Dort fiel auf, dass er über einen geringen Wortschatz verfügte und wenig grammatikalische Kenntnisse hatte. Trotz dieser Defizite erhielt er keine sprachliche Förderung. Nach Angaben seiner Mutter war der Übergang in die Grundschule besonders schwierig, und Tim kam im ersten Schuljahr oft weinend nach Hause. Später fühlte Tim sich nach eigenen Angaben in der Schule wohl, auch wenn seine Leistungen nur mittelmäßig waren und er vor allem nicht so gut lesen konnte. Tim erhielt in der Grundschule Förderunterricht. Er bekam von der Grundschule die Empfehlung „Hauptschule“ und besucht auf Rat eines Lehrers eine weiter entfernt liegende Hauptschule, weil er auf der gewünschten Gesamtschule keinen Platz bekommen hat und die Mutter die nahe gelegene Hauptschule wegen ihres schlechten Rufs meiden wollte. Frau P. bedauert sehr, dass sie sich bei der Platzvergabe an der Gesamtschule nicht durchsetzen konnte, und hofft, dass Tim vielleicht später den Sprung auf die Realschule schafft. Sie kann ihm bei seinen Hausaufgaben allerdings wegen fehlender eigener Kenntnisse nicht helfen. Tims Befinden ist nach einem sehr schwierigen Übergang in seiner Schule gegenwärtig besser, und seine Noten im Halbjahreszeugnis sind zufriedenstellend.

Tim findet seine Klassenlehrerin nett und sucht in der Pause oft ihre Nähe. Laut Aussage der Lehrerin ist Tim im Unterricht kaum wahrzunehmen, „so still, dass ich manchmal nicht merke, ob er anwesend ist.“ Tim ist in der Schule noch nie negativ aufgefallen und hat bisher nur einmal verbotenerweise einen Gameboy mitgebracht. Er gilt als der ruhigste Junge in der Klasse. Tim mag Physik, Erdkunde, Biologie, Mathematik und sehr gerne Kunst. Probleme hat er in Deutsch und Englisch und sagt dazu: „Beim Diktat krieg ich schon ein komisches Gefühl.“ Zurzeit bekommt er täglich eine Stunde Förderunterricht. Zusätzliche Arbeitsgruppen gibt es an der Schule für diese Altersstufe nicht. Besonders mag Tim die schulischen Ausflüge, z. B. ins Schwimmbad. Tim besucht außerhalb der Schule keinen Hort und keinen Verein.

1 Zentralabitur Niedersachsen Pädagogik-Psychologie 2008, Aufgabe 2; Quelle: AWO-Bundesverband e.V. (Hrsg.): Zukunftschancen für Kinder. Wirkung von Armut bis zur Grundschulzeit. Bonn/Berlin, Frankfurt a. M. 2005, S. 184 ff. (leicht verändert)

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Lerngebiet 9 – Handlungsansätze in der sozialen Arbeit vergleichen

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Zuhause sieht er sehr viel fern, ebenso, wenn er seinen besten Freund besucht. Dort kann er auch mal in Ruhe am Computer spielen. Darüber hinaus hat er noch Kontakt zu zwei Jungen aus der Nachbarschaft, mit denen er manchmal auf der Straße Fußball spielt.

Frau P. würde gern wieder als Putzhilfe arbeiten, zum einen, um die finanzielle Situation der Familie abzusichern, zum anderen, um selbst mehr Außenkontakte und Ablenkung von den familiären Problemen zu haben. Sie trifft ab und zu Geschwister und andere Verwandte, hat daneben aber nur wenig soziale Kontakte. Frau P. erhält nach eigenen Aussagen wenig Unterstützung von ihrem Ehemann und erlebt diese Beziehung als belastend, da er unter der Last eigener Probleme und seiner Arbeitslosigkeit zusätzlich zu den Kindern ihre Aufmerksamkeit erfordert. Konflikte zwischen dem Ehepaar bzw. zwischen den Eltern und älteren Kindern führen zurzeit zu Spannungen. Die Kinder streiten zuhause sehr viel, worunter Frau P. leidet. Sie hat ein großes Bedürfnis zu verhindern, dass die Kinder auf die schiefe Bahn geraten. Sie möchte den Kindern vertrauen, kontrolliert sie jedoch sehr stark. Die älteren Kinder reagieren auf ihre Appelle mit Trotz. Bei Schulkonflikten werfen sie ihr vor, dass sie selber keinen Schulabschluss hat.

Frau P. kann aufgrund ihrer sehr guten Kompetenzen in der Haushaltsführung die Versorgung der Kinder mit Nahrung und Kleidung angemessen gewährleisten und schafft es so, eine Struktur in den alltäglichen Ablauf zu bringen. Sie weiß auch, dass sie sich in Notfällen immer an ihre eigene Mutter wenden könnte, die sie dann mit dem Notwendigsten unterstützen würde. Sie möchte das aber möglichst vermeiden, weil diese nur wenig Rente bezieht. Die Versorgung der großen Familie steht dementsprechend im Mittelpunkt der mütterlichen Bemühungen und beansprucht viel Zeit. Die Kosten für die Schule der Kinder (z. B. Fahrkarten, Bastel-, Kakaogeld, Projektwoche) bringt sie zwar regelmäßig auf, merkt aber spürbar, wie sehr ihr dieses Geld an anderen Stellen fehlt. Die materielle Armut dauert in der Familie bereits lange an und beeinflusst immer mehr Lebensbereiche negativ. So müssen alle Familienmitglieder auf die bislang schon seltenen Fahrten an die See ganz verzichten.

Finanziell kann Tim mit seinen Klassenkameraden nicht mithalten. Er leidet darunter, dass er oft die Kleidung seiner älteren Geschwister auftragen muss. Tim kann auch an vielen Aktivitäten außerhalb der Schule nicht teilhaben und nimmt dies sehr genau wahr. Er weiß, in welcher Höhe andere Kinder Taschengeld erhalten, er selbst bekommt nur unregelmäßig kleine Geldbeträge von seiner Mutter. Er kauft dann ein Magazin oder Süßigkeiten, gibt aber auch nicht alles sofort aus. Er wünscht sich schon lange ein Fahrrad und streitet mit seinem Vater, weil er es nicht kauft.

Frau P. bemüht sich sehr darum, die Notlage der Familie nach außen nicht sichtbar werden zu lassen. Trotz langjähriger extremer Belastung nimmt die Familie keine professionelle Hilfe in Anspruch.

Aufgabenstellung:

Stellen Sie sich vor, die Klassenlehrerin von Tim aus dem Fallbeispiel und ein Sozialarbeiter aus dem Stadtteil entwerfen ein sozialpädagogisch begründetes Konzept zur weiterenUnterstützung für Tim.

Entwickeln und begründen Sie Vorschläge für ein lebensweltorientiertes Vorgehen.


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