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GESPRÄCHEDUISBURGER

Ausgabe 1 – Dezember 2010

Spitzenmanageran der Universität

Duisburg-Essen

Dr. Klaus Engel, Evonik Industries AG

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Duisburger Gespräche Herausgeber: Universität Duisburg-Essen Fakultät für Ingenieurwissenschaften Lotharstraße 1, 47057 Duisburg Telefon: 0203/ 379-3254, Telefax: 0203/ 379-1654 Internet: www.uni-due.de/iw Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur nach Rücksprache mit dem Herausgeber

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Dr. Klaus Engel, Vorstandsvorsitzender Evonik Industries AG Zwischen Prügelknabe und Problemlöser:

Deutschlands Industrie und Technik im 21. Jahrhundert

Den Menschen aus dem Ruhrgebiet wird gerne nachgesagt, dass sie handfest und bisweilen auch hemdsärmlig sind. Sie wis-sen, wie man es anpackt, um Lösungen für die Praxis zu liefern. Und gleichzeitig besitzt das Ruhrgebiet eine dichte Hochschulland-schaft. Ich arbeite in Essen, und ich bin in Duisburg geboren. Sie sehen also, ich habe durchaus schon einen längeren Bezug zu der Kombi-nation Duisburg-Essen, die sich ja auch im

Namen dieser Uni-versität wider-

spiegelt. Sie ziehen hier

gemeinsam an einem Strang, um das große Thema For-schung, Wis-sen und In-

novation vo-ranzubringen.

Und Sie ziehen dabei am sel-

ben Ende des

Stranges – wie wir wissen, ist das auch im Ruhrgebiet unter Nachbarn nicht immer selbstverständlich. Das zeichnet diese Region aus. Darauf dür-fen wir ruhig stolz sein. Das Ruhrgebiet ist alles andere als das deutsche Museum für Industriegeschichte des 20. Jahrhunderts. Das Ruhrgebiet ist trotz aller Schwierigkei-ten und tiefgreifenden Veränderungen eine Region, die auch im 21. Jahrhundert eine Hauptrolle in der deutschen Wirtschaft spielt. Dieses Stück Nordrhein-Westfalen war lange Zeit die Herzkammer der deut-schen Schwerindustrie.

Zwischen Duisburg und Dortmund haben Hunderttausende in Konzernen, Unterneh-men und Betrieben hart gearbeitet. Sie ha-ben nach dem Krieg mit Kohle, Chemie und Stahl wesentlich dazu beigetragen, dass Deutschland wirtschaftlich wieder auf die Beine kam. Die Menschen aus dem Ruhr-gebiet hatten angesichts der großen Aufga-ben und der enormen Herausforderungen kaum Zeit, sich damals groß Gedanken darüber zu machen – aber heute wissen

Evonik Industries AG

Mitarbeiter: rund 39.000

Umsatz: 13,1 Mrd. EUR (2009)

Hauptsitz: Essen

Standorte: weltweit in über 28 Ländern

Geschäftsfelder: Chemie, Energie, Immobilien

Kernkompetenzen: Kreativität, Spezialistentum, Selbsterneuerung, Verlässlichkeit

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wir: Ohne sie wäre das deutsche Wirt-schaftswunder so nicht möglich gewesen. Das Wunder von Bern übrigens auch nicht. Wer hochkonzentriert an seinen Aufgaben arbeitet und Spitzenleistungen in Branchen wie Chemie, Stahl und Kohle liefert, der erntet Achtung und Wohlstand. Doch er muss auch besonders aufpassen, wenn sich die Anforderungen wandeln, wenn sich die Märkte und globalen Megatrends verän-dern. Wer die Zeichen der Zeit nicht recht-zeitig erkennt, bekommt massive Probleme. Das kann bis zu der Frage gehen: Hat eine ganze Region überhaupt noch eine Zu-kunft? Stirbt sie flächendeckend wirtschaft-lich ab? Oder reißt sie sich am Riemen und kämpft ernsthaft und ehrgeizig um neue Perspektiven? Wer einmal historische Bilder von einst florierenden Industriezentren in England gesehen hat, der weiß, wie rapide es abwärts gehen kann und wie mühevoll es ist, wieder zu Kräften zu kommen. Das Ruhrgebiet musste und muss ähnlich schwerwiegende Probleme lösen. Wir ha-ben allerdings auch Antworten gefunden. Teils waren es sehr schmerzliche Antwor-ten. Aber die Region hat sich nicht aufge-geben. Sie hat bei dem Wandel der Struktu-ren Blessuren erlitten, Schrammen und Beulen bekommen. Aber sie steht. Und langsam, noch viel zu langsam, kommt auch in anderen Regionen, Bundesländern und Staaten die Botschaft an, dass es hier im Ruhrgebiet keine Briketts regnet, und dass die Menschen auch nicht mit einfa-chem Billigstahl von der Rolle ihre Häuser decken. Wir können da schon noch mehr. Das Ruhrgebiet ist eine der stärksten In-dustrieregionen Europas. Wir haben mo-derne Industrie, die vor allem eines nicht ist: old economy. Evonik zum Beispiel entwickelt, produziert und vermarktet im Ruhrgebiet Hightech-Chemieprodukte. Damit sind wir konkur-renzfähig – und auch in globalem Maßstab überaus erfolgreich. Wir betreiben hier leis-tungsfähige ressourcenschonende Kraft-werke und bieten zukunftsorientierten Wohnraum für zehntausende von Men-schen. Spezialisierung und Differenzierung sind ein Schlüssel für unseren Erfolg. So hat Evonik in seinem Geschäftsfeld Chemie nicht jene Produkte im Fokus, die jeder

überall anbieten kann. Wir liefern vielmehr Innovationen, Lösungen und Produkte, die nur Wenige liefern können. Es ist auch kein Zufall, dass ein Herzstück unserer strategi-schen Forschung, die Creavis Technolgies & Innovation, in Marl angesiedelt ist. Diese Fabrik für Geistesblitze entwickelt neue Produkte für wachstumsstarke Zukunfts-märkte und baut so neue profitable Ge-schäfte außerhalb des bestehenden Portfo-lios für Evonik auf. Die Creavis ist unsere strategische Forschungs- und Entwick-lungseinheit. Sie sehen also: Wir trauen uns und dieser Region viel zu – im besten Sinne. Auch wer sich die Stahlbranche im Ruhrge-biet heute ansieht, erkennt sehr schnell: Dort geht es um moderne, neue Qualitäts-produkte, die Spitzen-Know-how erfordern. Auch industrienahe, solide Dienst-leistungen haben im Ruhrgebiet eine Hei-mat. Ein aktuelles Musterbeispiel findet sich hier in Duisburg. Das Logistikzentrum Logport macht klar, dass Industrie und Dienstleister gemeinsam wirtschaftliche Chancen ausnutzen können und dadurch Wachstum und Arbeit entsteht. Auf Logport arbeiten derzeit mehr als 3000 Menschen. Win-Win durch Wandel, darum geht es uns hier in der Region. Von Johann Wolfgang von Goethe stammt der schöne Satz: „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.“ So gesehen hat das Ruhrgebiet auch aus anderen Teilen der Welt reichlich Baumate-rial zur Verfügung gestellt bekommen. Noch vor wenigen Jahren etwa war es angesagt, auf traditionellen Wirtschaftsbranchen her-umzutrampeln – zu alt, zu schwerfällig, zu wenig innovativ seien sie. In großen Fi-nanzhäusern hatten oftmals junge Analys-ten Oberwasser, die mit großem Selbstbe-wusstsein und, wie es scheint, wenig Wis-sen über die Praxis auftraten. Sie verdien-ten viel Geld und sie hatten der Welt auch viel mitzuteilen. Substanz war sekundär, Phantasie populär. Allein die Idee, ein klei-nes Internet-Startup-Unternehmen könnte einmal ganz groß herauskommen, beflügel-te die Aktienkurse. Wer Einwände erhob oder Skepsis signalisierte, drohte schnell

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als Miesmacher von vorgestern abgestem-pelt zu werden. Längst ist klar: Diese Rech-nung ist nicht aufgegangen. Und wie von Geisterhand fanden sich schnell wieder Scharen von Experten, Er-klärern und Entschuldigern, die plötzlich ganz genau wussten, warum das Platzen der Internetblase und des so genannten Neuen Marktes eigentlich von vorneherein jedem hätte klar sein müssen. Eine sinnvol-le Lehre immerhin konnte man aus dieser finanziellen Achterbahnfahrt ziehen: Sub-stanz zählt. Diese Erkenntnis freut mich sehr. Im Bewusstsein ist uns allen auch die globale Finanzkrise, die sich zu einer globa-len Wirtschaftskrise entwickelte. Es waren enorme Anstrengungen von Bür-gern, Politik und nicht zuletzt der Wirtschaft nötig, um einen globalen Absturz zu verhin-dern. Ich erspare Ihnen, nochmals die teils extremen Verrenkungen aufzuzählen, zu denen sich auch der Staat genötigt sah, um das Schlimmste zu vermeiden. Und es zeig-te sich in dieser Krise erneut: Substanz zählt.

Besichtigung des ZBT, 22.11.2010

Deutschland ist vergleichsweise gut aus der Krise gekommen, weil wir rechtzeitig massiv gegengesteuert haben. Wir haben nicht bloß diskutiert, sondern wir haben gemein-sam Antworten mit Substanz gegeben. Das hat geholfen. Ein Beispiel dafür ist die Kurzarbeit. Sie wurde als wirkungsvolles Instrument genutzt, um leistungsfähige, hochqualifizierte Fachkräfte auch in den vergangenen harten Monaten in den Unter-nehmen zu halten. Die Krise hat uns nicht das fachliche Rückgrat gebrochen, das für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands auf den Weltmärkten so wichtig ist. Wir ha-ben uns intensiv darum gekümmert, unsere eingespielten Mannschaften und damit un-

ser Spitzen-Know-how an Bord zu halten. Das zahlt sich jetzt aus. Gewonnen haben dabei alle Beteiligten. Möglich gemacht hat das ein Zusammenspiel von Unternehmen, Gewerkschaften, Mitarbeitern und Politik. Das war gelebte soziale Marktwirtschaft made in Germany. Manche Menschen nennen so et-was auch schlicht: Gemeinsinn. Ein Wort übrigens, die im großen Meer der mitunter recht aggressiv vorgetragenen Einzelinteressen unterzugehen droht. Ge-meinsinn. Natürlich stehe ich hier vor Ihnen als ein Mann, der die Interessen eines gro-ßen Wirtschaftsunternehmens vertritt. An-dere vertreten andere Interessen. Und in einer pluralistischen Gesellschaft sollte ge-nau daraus Fortschritt erwachsen. Das schließt konstruktiven Streit und heftige Debatten nicht aus. Es ist gut, wenn wir aus unterschiedlichen Positionen und mit ver-schiedenen Ansichten und Meinungen um eine gemeinsame Lösung ringen, die dann mehrheitsfähig und gesellschaftlich akzep-tiert ist.

So funktioniert Demokratie, von der der frühere britische Premier Winston Churchill ja einmal sinngemäß gesagt hat, sie sei die schlimmste Form von Regierung – mit Aus-nahme aller anderen.

Mit Sorge beobachte ich aber jene Tenden-zen in unserer Gesellschaft, die auf eine Fundamental-Opposition bei wichtigen Themen und Herausforderungen unserer Zeit hinauslaufen. Ich denke dabei zum Beispiel an die teils sehr emotional geführ-ten Auseinander-setzungen um neue In-dustrieprojekte. Beachtliche Teile der deut-schen Wirtschaft im 21. Jahrhundert müs-sen heute beobachten, dass die ihnen an-gemessene Rolle und Funktion in der Ge-sellschaft bezweifelt oder sogar angefeindet wird. Zwischen Prügelknabe und Prob-lemlöser – das ist die Situation in der deutschen Industrie und Technik unserer Zeit. Die Auseinandersetzungen wirken sich nicht zuletzt auch auf unsere Hochschulen

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und Forschungseinrichtungen aus: Exemp-larisch nenne ich hier nur die Stichworte Gentechnik, Biotechnik, Nanotechnologie. Es geht mir um einen offenen gesellschaftli-chen Dialog über die Rolle der Industrie in Deutschland und über die Bedeutung von Innovationen für unseren Standort. Ich er-kenne dabei an, dass auch die Umweltbe-wegung und der starke gesellschaftliche Druck in den vergangenen Jahrzehnten der deutschen Industrie Impulse gegeben ha-ben, für die man dankbar sein kann. Deutschland kann heute Umwelt-technologien vermarkten, die weltweit ih-resgleichen suchen. Deutschland hat heute eine führende Stellung auf diesem Markt. Wir müssen den konstruktiven Zusammen-stoß der gesellschaftlichen Interessen und Kräfte anerkennen, der dazu beigetragen hat. Wir müssen aber auch sehen, dass man für die Lösungen der aktuellen globa-len Probleme auch Substanz braucht. Und die kommt, ob man es nun mag oder nicht, aus dem Wissen, aus der Forschung und aus der Industrie. Es funktioniert nicht, ein-fach nur Forderungen aufzustellen und gleichzeitig die nötigen praktischen Schritte auszublenden, nur weil diese Schritte auch Belastungen, Mühen und Aufwand verursa-chen. Die Industrie sucht auch in Deutschland den wirtschaftlichen Erfolg. Das ist absolut legi-tim und dafür muss sie sich auch nicht rechtfertigen oder gar entschuldigen. Aber auf diese Rolle darf man die Industrie auch nicht reduzieren. Nach meinem Verständnis ist die moderne Industrie unserer Zeit vor allem auch eines: ein Problemlöser. Sie liefert die nötigen Antworten, um große Herausforderungen unserer Zeit anzuge-hen. Dazu nur ein Beispiel: Wer den CO2-Ausstoß im Straßenverkehr durch Elektro-autos senken will, wer die individuelle Mobi-lität in Ballungsräumen und Megacities schlechthin zukunftsfähig machen möchte, kommt ohne Forschung, Innovation und praktische Anwendungen aus der lndustrie nicht aus. Wer nur ein paar grüne Visionen äußert, bleibt auf Dauer bei Rot an der Am-pel stehen. Nur wenn wir den Schlüssel auch herumdrehen und demnächst Elektro-autos aus industrieller Serienfertigung in Bewegung setzen, wird sich der gewünsch-te positive Effekt für die Umwelt einstellen. Auf dieser Basis bin ich bereit zum Dialog

und zur kritisch-konstruktiven Auseinander-setzung. Ein Urteil lässt sich widerlegen, aber niemals ein Vorurteil, hat Ma-rie von Ebner-Eschenbach einmal gesagt. Ein Satz, der die aktuelle Problematik auf den Punkt bringt. Es gilt ein Abgleiten Deutschlands in eine Verweigerungs-gesellschaft zu vermeiden, die ihre eigenen wirtschaftlichen Grundlagen und Chancen zerstört. Der Wohlstand unseres Landes fußt trotz aller Einschnitte und Rückschläge noch immer auf einer Vorsprungsgesell-schaft: Die Tatsache, dass wir technolo-gisch immer wieder die Nase vorn haben und Qualität produzieren, ist die Grundlage dafür. Maschinenbau und Chemie sind gute Beispiele. Wir legen in unserem Land gro-ßen Wert auf gute Produkte. Technische Reife, aber auch Nachhaltigkeit gehören dazu. So ist es in vielen Bereichen gelun-gen, durch eine nachhaltige Produktion wirtschaftliche Vorteile mit ökologischen Vorteilen fest zu verbinden. Diese Verbin-dung hat Sinn und einen einfachen Namen: nachhaltiger Fortschritt. Nachhaltigkeit ist eine Voraussetzung für dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg. Evonik selber strebt als Unternehmen nach wirt-schaftlichem Erfolg, der nachhaltig ist und eine Basis für Beschäftigung darstellt. Des-halb liefern wir praxistaugliche Antworten auf die großen globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Der Schutz von Um-welt und Klima ist eine solche globale Her-ausforderung. Ressourceneffizienz, Ernäh-rung und Gesundheit für eine weiterhin wachsende und älter werdende Weltbevöl-kerung sind es ebenfalls. Die chemische Industrie in Deutschland hat das Konzept der Nachhaltigkeit in die Praxis gebracht. So setzt die Branche Rohstoffe und Energie immer sparsamer ein. Um das gleiche Pro-dukt herzustellen, ist im Vergleich zu 1990 heute 15 Prozent weniger Ausgangsmateri-al und nur die Hälfte an Energie nötig. Au-ßerdem machen nachwachsende Rohstoffe bereits 13 Prozent der Rohstoffbasis der Chemie aus. Evonik ist erfolgreich in der Lithium-Ionen-Batterietechnik. Unser Unter-nehmen ist damit einer der führenden Weg-

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bereiter für Elektrofahrzeuge. Diese werden Mobilität ohne Auspuff möglich machen. Ein anderes Beispiel: Unsere Aminosäuren lie-fern einen wichtigen Beitrag zur Eiweißver-sorgung in der Ernährung der Weltbevölke-rung. Und hier in Duisburg bauen wir eines der weltweit modernsten Steinkohlekraftwerke – mit deutlich höherem Wirkungsgrad, weni-ger Brennstoffverbrauch und geringerem CO2-Ausstoß als in herkömmlichen Anla-gen. Gäbe es solche Steinkohlekraftwerke überall, könnten die klimaschädlichen CO2-Emissionen weltweit um rund zwei Milliar-den Tonnen jährlich reduziert werden. Au-ßerdem besitzt Evonik im wachstumsstar-ken Zukunftsmarkt für erneuerbare Ener-gien eine gute Ausgangsposition und ver-fügt in Deutschland bei Grubengas, Bio-masse und Geothermie über eine führende Stellung. Allein im vergangenen Jahr hat Evonik 300 Millionen Euro für Forschung & Entwicklung aufgewendet. Dieses nach wir vor hohe Niveau unter-streicht die besondere Bedeutung, die wir unserer Forschung und Entwicklung als Basis für künftiges profitables Wachstum beimessen. Insbesondere in der Spezial-chemie sind immer neue anspruchsvolle Produkte und Anwendungen unverzichtbar, um im weltweiten Wettbewerb dauerhaft bestehen zu können. Unser globales F&E-Netz des Geschäftsfeldes Chemie umfasst mehr als 35 Standorte mit rund 2300 F&E-Mitarbeitern. Wir arbeiten an insgesamt rund 500 Forschungsprojekten. Davon liegt bei jedem fünften Projekt der Fokus auf Ressourceneffizienz. Wir kooperieren mit rund 250 Hochschulen und wissenschaftli-chen Einrichtungen. Rund ein Fünftel unse-res Chemie-Umsatzes basiert auf Produk-ten, Anwendungen und Verfahren, die jün-ger sind als fünf Jahre. Diese und viele andere Beispiele zeigen: Es ist nicht sinnvoll, sich neuen technischen Möglichkeiten und industriellen Ansätzen einfach zu verschließen. Auch bleibt es eine Tatsache, dass es ohne Produktion auch keine Produkte gibt, die nachhaltigen Fort-schritt ermöglichen. Wer sich verschließt, der setzt auch jede Chance aufs Spiel, positiven Einfluss auf

die globalen Trends und Entwicklungen zu nehmen. Wer bestimmte Forschungsgebie-te aus unseren Hochschulen und Unter-nehmen am liebsten ganz heraushalten will, vergibt nicht nur wirtschaftliche Erfolgs-chancen. Er nimmt sich auch die Möglich-keit, mitzubestimmen, wohin die Reise geht und wie sicher die Fahrt sein soll. In unserer Gesellschaft hat die Vermeidung von Risi-ken große Bedeutung. Mit Augenmaß ist diese Haltung wohlbegründet und richtig. Doch auch hierbei gilt es in der Realität zu bleiben. Ein Leben ganz ohne Risiken und Neben-wirkungen ist nicht möglich. Ein verantwor-tungsbewusstes und kluges Risiko-Management hingegen ist möglich – und es ist auch geboten. Ohne eine sachliche Be-trachtung der Chancen und Risiken von Schlüsseltechnologien und Infrastrukturpro-jekten ist Deutschland nicht zukunftsfähig. Wir brauchen einen gesellschaftlichen Kon-sens über notwendige Infrastruktur und neue Technologien. Dieser Konsens muss tragfähig, er muss belastbar sein. Lassen Sie mich deshalb kurz und ganz konkret einige Punkte benennen, mit denen sich unsere Gesellschaft und damit auch unsere Industrie dringend beschäftigen müssen: 1. Das Problem der Selbstverständlichkeit

In modernen Volkswirtschaften wie Deutschland ist Spitzentechnik jederzeit und überall verfügbar – rund um die Uhr, schnell und außerordentlich zuverlässig. Eine sehr leistungsfähige Industrie mit High-tech-Produkten sorgt dafür. Die Wirtschaft stellt Güter und Dienstleistungen bereit und garantiert damit Millionen von Menschen auch ein hohes Maß an Verlässlichkeit und Komfort im Alltag. Die Menschen vertrauen darauf, dass alles klappt.

Das ist gut so, aber dieses Vertrauen kann auch vergesslich machen: Denn die so an-genehme Verlässlichkeit, der vergleichs-weise hohe Lebensstandard, erfordert einen hohen Aufwand – Top-Wissen, Arbeit, Ka-pital, Rohstoffe und Platz. Strom hat einfach jederzeit aus der Steckdose zu kommen. Wenn aber der tatsächliche technische und ökonomische Aufwand und das nutzbare Ergebnis nicht mehr im Bewusstsein der Bürger logisch verbunden sind, entsteht ein

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Problem – das Problem der Selbstverständ-lichkeit. 2. Neue globale Konkurrenz

Wir sprechen über die Globalisierung der Weltwirtschaft – und beziehen uns dabei auf einen nur scheinbar neuen Trend. Tat-sächlich gibt es Handel, Spezialisierung und Austausch über Grenzen hinweg schon seit Jahrtausenden und zum Vorteil von Millio-nen von Menschen. Beispiele finden sich bereits in den Wirtschaftsströmen Roms oder in den Aktivitäten der Hanse. Schon Anfang des 19. Jahrhundert hat der Wirt-schaftswissenschaftler David Ricardo dazu grundlegende Erkenntnisse zu Papier ge-bracht.

Eine seiner Kernbotschaften: Spezialisie-rung und Handel erhöhen den Wohlstand über Grenzen hinweg und für alle Beteilig-ten. Neu an der Globalisierung der Welt-wirtschaft im 21. Jahrhundert ist also etwas ganz anderes: Die Zahl der wirtschaftlichen Weltmächte nimmt zu. Länder wie China, Indien oder Brasilien stehen heute für eine wirtschaftliche Kraft, die in beeindruckendem Maße und atembe-raubendem Tempo wächst. Sie sind dabei keineswegs nur neue Märkte für die alten Platzhirsche, sondern treten selbstbewusst und ehrgeizig in den Wettbewerb – mit Pro-dukten, die oft zu relativ niedrigen Kosten produziert inzwischen immer ausgereifter und immer hochwertiger sind. Neu ist also nicht die Globalisierung an sich, neu ist schlicht die verschärfte globale Konkurrenz. 3. Das Nachbarschaftsproblem

In Deutschland gedeiht schon seit geraumer Zeit eine Kultur der Partikularinteressen. Eigennutz tritt an die Stelle von Gemein-wohl. Vernunft endet häufig am Garten-zaun. Die tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen der vergangen Jahrzehnte haben viele Vorteile gebracht, den Men-schen deutlich mehr Individualität, Freiraum und Freiheit ermöglicht. Gleichzeitig gingen viele vertraute Elemente, ging viel von der gemeinsamen Identität verloren. Was ist heute noch über alle Zweifel erhaben? Wel-che Institution, welche Vorbilder genießen heute noch allgemeines Vertrauen? Wenn schon gemeinsame Werte rar geworden

sind, können dann Ablehnung und Streit vielleicht noch Identität stiften? Die Zahl der Zivilprozesse in Deutschland ist jedenfalls hoch. Was bei absurden Streitigkeiten unter Nachbarn um ein kleines Stück Zaun an-fängt, setzt sich fort in der Abneigung gegen auch gesellschaftlich sinnvolle Projekte aus Industrie und Technik – moderne Chemie-parks, hocheffiziente Kraftwerks-Neubauten zum Beispiel, Flughäfen, Windräder, Ha-fenanlagen und vieles mehr. Selbstver-ständlich hat jeder Bürger das Recht, seine Interessen zu wahren und seine juristischen Möglichkeiten auch bis zur letzten Instanz auszuschöpfen. Doch wenn in der Indust-rienation Deutschland die Grundakzeptanz dafür wegbricht, dass unser Lebensstan-dard auch hier in unserem Land erwirtschaf-tet werden muss, dann haben wir ein Prob-lem. Wohlstand für alle ist nicht erreichbar, wenn niemand mehr die Grundlagen dafür akzeptiert. Urlaubsreisen mit dem Flugzeug sind ohne Startbahnen nicht möglich. Hohe Sicherheit bei der Autofahrt ist ohne Pro-dukte aus der Chemie nicht möglich. Strom aus der Steckdose ist ohne Kraftwerke auf Dauer nicht möglich. 4. Das Zeit- und Komplexitätsproblem

Niemals in der Geschichte der Menschheit waren so viele Informationen für so viele Menschen so einfach verfügbar. Und nie-mals in der Geschichte der Menschheit war die Technik so komplex wie heute. Beide Entwicklungen führen dazu, dass auch die Wahrnehmung der Menschen immer selek-tiver wird. Aus der Masse von Informatio-nen, Fakten und Zusammenhängen ragen dabei gerade die scheinbar einfachen, pla-kativen und provozierenden Aussagen her-vor. Sie aber bergen die Gefahr, dass Tat-sachen auf der Strecke bleiben, und dass Vernunft und technisches Wissen, zum Bei-spiel aus der Chemie oder aus dem Ma-schinenbau, gegen starke Widerstände kämpfen müssen. Trotz sachlich überzeu-gender Argumente. Emotionen oder Miss-trauen tun dann noch ihr Übriges. Derartige Kämpfe um gesellschaftliche Akzeptanz sind alt, aber sie haben unter den heutigen Bedingungen einer komplizierten Informati-onsgesellschaft eine neue Ebene erreicht. 5. Das Nanogramm-Problem

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Wer bessere Lebensbedingungen und ei-nen nachhaltigen Schutz der Umwelt errei-chen will, der darf nicht an der Landesgren-ze anhalten. Die Verständigung auf interna-tionale, möglichst sogar globale Standards und die Vereinbarung gemeinsamer Ziele bringt mehr, als der verbissene Kampf um die Rolle des Klassenprimus. Es ist weder wirtschaftlich noch umweltfreundlich, in ei-nem Land isoliert bei Grenzwerten um die siebte, achte Stelle hinter dem Komma zu ringen, während ein paar hundert Kilometer jenseits der Grenze noch hohe Emissions-werte vor dem Komma zu finden sind.

Besichtigung des Instituts für Verbrennung und Gasdynamik, 22.11.2010

6. Das Bildungsproblem

Aus Wissen wächst Wohlstand. Inzwischen schließen Jahr für Jahr zehntausende von neuen Maschinenbauern, Chemikern, Bio-logen und Wirtschaftswissenschaftlern ihr Studium an Universitäten der neuen großen Wirtschaftsnationen ab. China oder auch Indien sind nur zwei Beispiele dafür. Gleichzeitig beeinflussen in Deutschland unter anderem die demografische Entwick-lung, die optimierungsbedürftige schulische Vorbildung und das Interesse vieler Schul-abgänger die Zahl der Studienanfänger in

naturwissen-schaftlichen und technischen Fächern. All diese Punkte gehören zu einer nüchternen Analyse. Es reicht aber nicht, nur auf die Schwierigkeiten und Herausfor-derungen hinzuweisen. Wir müssen auch Antworten erarbeiten. Deshalb möchte ich an dieser Stelle gerne ein paar Denkanstö-ße geben, welche Schritte uns weiterbrin-gen könnten: Erster Denkanstoß Nötig ist eine umfassende Akzeptanzoffen-sive, die selbstbewusster als bisher deutlich macht, dass Industrie und Technik nicht die Totengräber unserer Zukunft sind, sondern die Anbieter von Lösungen, die uns genau diese Zukunft sichern. Hier muss auch die Industrie noch initiativer werden, im Bündnis mit der Belegschaft, und den Dialog suchen.

Wir benötigen eine breit angelegte auch von der Politik, Gewerkschaften und anderen gesellschaftlich bedeutenden Organisatio-nen mitgetragene Informations-Kampagne in Deutschland, die vor Augen führt, wel-chen positiven Beitrag zum Beispiel die Chemische Industrie für unsere Gesell-schaft leistet. Zu einer solchen Diskussion gehört auch, dass Risiken von industrieller Tätigkeit offen und ehrlich benannt werden, aber eben auch die positiven Effekte nicht unter den Tisch fallen.

Wir dürfen dabei auch offensiv die Frage stellen, wer die Verantwortung dafür über-nimmt, wenn sich Deutschland aus der Gruppe der modernen, leistungsfähigen Industriegesellschaften „aus technischen Gründen“ verabschieden muss. Zweiter Denkanstoß Deutschland bezieht wirtschaftlichen Wohl-stand aus der Fähigkeit, industrielle, techni-sche und wissenschaftliche Spitzenleistun-gen zu liefern.

Die immer komplexere globale Wirtschaft bietet Deutschland die Chance, sich als Spezialist noch stärker zu spezialisieren –

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mit hochwertigen Produkten und Dienstleis-tungen, die zielgenaue Antworten auf die globalen Megatrends liefern. Dazu gehören Ressourceneffizienz, Ge-sundheit und Ernährung und die Globalisie-rung von Technologien. Wie erwähnt, hat Evonik bereits eine ganze Reihe von sol-chen Antworten entwickelt. Damit sind wir nicht allein – und damit müssen wir weiter-machen.

Dritter Denkanstoß Wir müssen unsere Anstrengungen in For-schung und Lehre noch weiter intensivieren. Wir müssen deutlich machen, dass ein na-turwissenschaftlich-technisches Studium einen zukunftsorientierten, wirtschaftlichen Kern für den Wohlstand der kommenden Generationen darstellt. Dafür müssen wir auch neue Anreize und Grundlagen schaf-fen. Wir sollten dabei auch ohne falsche Scheu und Vorurteile Wissen in unser Land einladen. Evonik Industries ist mit seinen Industrieaktivitäten in rund 100 Ländern weltweit und in Deutschland an 80 Standor-ten vertreten. Wie sind ein Unternehmen mit hoher Wertschöpfung und damit wichtig für den Arbeitsmarkt und die regionale Wirt-schaftskraft. Doch das allein reicht uns nicht aus, wir fühlen uns auch – in enger Koope-ration mit unseren Betriebsräten – als Teil der regionalen und örtlichen Gemeinschaft. Das Leben einer Stadt hört eben nicht an den Evonik-Werkstoren auf. Es gehört zu unseren Überzeugungen, dass wir transpa-rent über die Arbeit an unseren Standorten informieren. Der offene Diskurs über die Arbeit eines großen Industriekonzerns ist wichtig, denn nur dadurch können die all-gemeine Bedeutung klargemacht und Vor-urteile weiter abgebaut werden. Ergänzend zu den verschiedenen Aktivitäten, die vor Ort schon durchgeführt werden, wollen wir

eine systematische Evonik-Bildungsoffensive entwickeln. Evonik In-dustries möchte jungen Menschen die inte-ressanten Seiten von Naturwissenschaft und Technik näherbrigen. So werden wir - zunächst an unseren größeren Standorten - zusätzliche Bildungsprogramme und –initiativen gestalten, um dadurch junge Menschen zu fördern.

Lassen Sie mich ein Gesamtfazit ziehen:

1. Wir kommen gesellschaftlich und wirt-schaftlich nur mit Lösungen weiter, die Sub-stanz haben: Sie müssen sachlicher Kritik und auch nachvollziehbaren, bohrenden Fragen standhalten.

2. Die Industrie ist sicherlich kein Prügel-knabe für realitätsferne Phantasten. Sie darf sich aber auch nicht auf das bequeme Sofa der Selbstzufriedenheit setzen. Auch wer Probleme lösen kann, muss das den Men-schen und der Gesellschaft vermitteln.

3. Dafür brauchen wir noch stärker als bis-her einen frühen, offenen und ehrlichen Dialog mit den Bürgern. 4. Einen Dialog, der einen möglichst breiten gesellschaftlichen Konsens zum Ziel hat – und der auf diese Weise Akzeptanz schafft für sinnvolle und notwendige Projekte. Wer Forschungsthemen oder Industrievorhaben ablehnt, der muss sich dann auch in die Verantwortung und Pflicht nehmen lassen. Es reicht nicht Nein zu sagen. Es gilt, dann Alternativen zu präsentieren – und zwar realistische.

Wir benötigen auch hier die Neuentdeckung des Gemeinsinns.

5. Technik ohne den Menschen ist seelen-los. Der Mensch ohne Technik dagegen ist hilflos.

Für all das ist viel Kraft nötig, und es geht hier um einen langen Weg.

Die Maschinenbauer unter Ihnen wissen genau, was das bedeutet: jede Menge Arbeit.

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