Die Wahl der Verfahren in der Praxis – aus kriminologischer Sicht
PD Dr. iur. Gwladys Gilliéron, LL.M.
SKG Jahresversammlung, 29. Mai 2015
Aufbau
• Einleitung
• Alternative Erledigungsformen
• Fehleranfälligkeit alternativer Erledigungsformen
• Schlussbemerkungen und Ausblick
Einleitung
• Ausgangslage: Überlastung der Strafjustiz
• Reaktion: Einführung alternativer Erledigungsformen
• Machtzuwachs der Staatsanwälte und zunehmende Wahrnehmung richterlicher Funktionen
• Fragliche Objektivität des Staatsanwaltes
Alternative Erledigungsformen
Schweiz
Deutschland Frankreich
Einstellung, Einstellung mit Auflage/Diversion
X
X
X
Absprachen
X X X Comparution sur
reconnaissance préalable de culpabilité
Strafbefehl
X
X
X
Beschleunigtes Verfahren
X
X Comparution immédiate
• Statistiken – Statistik der Staatsanwaltschaften
– Statistik der Strafgerichte
– European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics – 2014, 5. Auflage (2007-2011)
• European Sourcebook of Crime and Criminal Justice Statistics – Vorteil:
• Vergleichende Darstellung der europäischen Kriminaljustizsysteme
• Trendanalysen
– Nachteil: • Fehlen der Schweiz im Kapitel über die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft
• Kategorisierung lässt einzelne alternative Erledigungsformen verschwinden
Anwendungshäufigkeit alternativer Erledigungsformen
Erledigung anklagetauglicher Verfahren 2013 (BS/BL)
94.0%
5.8%
0.2%
BL
Strafbefehl Anklagen Anklagen im abgekürzten Verfahren
Quelle: Geschäftsbericht der Staatsanwaltschaft BL Quelle: Jahresbericht der Staatsanwaltschaft BS; interne Statistik der Staatsanwaltschaft BS
98.0%
2.0% 0.01%
BS
Strafbefehl Anklagen Anklagen im abgekürzten Verfahren
Erledigung anklagetauglicher Verfahren 2013 (D)
Quelle: Staatsanwaltschaftsstatistik des Statistischen Bundesamtes, Wiesbaden 2014
Anklage 16.5%
Antrag auf Erlass Strafbefehl
29.5%
Antrag auf Entscheid im
beschleunigten Verfahren
1.0%
Einstellung mit Auflage 10.0%
Einstellung ohne Auflage 43.0%
Erledigung anklagetauglicher Verfahren 2013 (F)
Quelle: Ministère de la Justice, Les chiffres-clés de la Justice 2014
Anklage 28.0%
Einschaltung eines Untersuchungsrichters
1.5%
Comparution sur reconnaissance
préalable de culpabilité
5.5% Strafbefehl
12.5%
Einstellung mit Auflage 41.5%
Einstellung ohne Auflage 11.0%
• Strafbefehlslastigkeit der Schweizer Praxis
• Mehrheitlich Verfahrenseinstellung mit oder ohne Auflage in Frankreich und Deutschland
• In den Kantonen BS und BL werden Anklagen im abgekürzten Verfahren kaum erhoben
Zwischenfazit
• SNF-Studie zu den Fehlurteilen
• Spruchkörper
• Ungenügende Abklärung des Sachverhalts
• Keine Anhörungspflicht
• Verhalten des Angeschuldigten
Fehleranfälligkeit des Strafbefehls
Mit Strafbefehl wurde Frau X wegen Verletzung einer Verkehrsregel im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 34 Abs. 4 SVG und Art. 12 Abs. 1 VRV mit einer Busse von CHF 450.- bestraft. Diese Verfügung wurde rechtskräftig. Die Gebüsste beantragte die Wiederaufnahme des Verfahrens. Sie führte aus, sie sei aus sprachlichen Gründen nicht in der Lage gewesen, die Verfügung anzufechten.
SNF-Studie zu den Fehlurteilen: Unterlassung der Einsprache aus sprachlichen Gründen
Mit Strafbefehl wurde X wegen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn mit einer Busse von CHF 120.- bestraft. Die Verfahrenskosten beliefen sich auf CHF 42.-. Der Strafbefehl erwuchs unangefochten in Rechtskraft. Im Wiederaufnahmeverfahren machte X geltend, dass das inkriminierte Auto nicht ihres sei. Anhand der Radarfotos gehe hervor, dass die Immatrikulation nicht eindeutig erkennbar sei. So konnte es sich anstatt von BE um GE handeln. Ferner handelte es sich beim Lenker um einen Mann und nicht um X. Das Wiederaufnahmeverfahren wurde gutgeheissen, X freigesprochen und die Verfahrenskosten in der Höhe von CHF 222.- wurden X auferlegt.
SNF-Studie zu den Fehlurteilen: Abklärung des Sachverhalts
Mit Strafbefehl wurde AF wegen Fahrens ohne Versicherungsschutz im Sinne von Art. 96 Ziff. 2 SVG zu einer Gefängnisstrafe von 15 Tagen und einer Busse von CHF 500.- verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde auf eine Probezeit von zwei Jahren aufgeschoben. Der Staatsanwalt reichte ein Wiederaufnahmegesuch ein mit der Begründung, dass es sich beim Fehlbaren nicht um AF handle. Der wahre Fehlbare gab zu, sich bei der Polizei mit dem zuvor gestohlenen Fahrausweis von AF ausgewiesen zu haben.
SNF-Studie zu den Fehlurteilen: Abklärung des Sachverhalts (Fehlerhafte Polizeiakten)
• Druck des Angeklagten sich zu belasten
• Dem Geständnis wird Glauben geschenkt, obwohl Zweifel an Täterschaft und Schuld des Angeklagten bestehen
• Risiko, dass der Richter durch die Absprache voreingenommen ist
Fehleranfälligkeit der Absprachen
Gründe für die Ablehnung:
- zu wenig weitreichende Geständnisse
- keine Einigung betr. Strafmass
- Kurz vor Anklageerhebung eingereichte Anträge
- Tod des Beschuldigten vor Abschluss des Vorverfahrens in einem Fall (a.V. war genehmigt)
Erfahrungen im Kanton BS mit dem abgekürzten Verfahren (2011-2014)
15
13
7 8 8
6
4 3
2011 2012 2013 2014
Anzahl Anträge auf Durchführung des abgekürzten Verfahrens und Ablehnung durch die Staatsanwaltschaft
Anträge auf Durchführung abgekürztes Verfahren Ablehnung durch Stawa
Quelle: Interne Statistik der Staatsanwaltschaft BS
• Befragung von Richtern, Staatsanwälten und Verteidigern
• Häufige Anwendung in Wirtschafts-, Umwelt- und Betäubungsmittelstrafsachen
• Inhalt: ein mit einem Rechtsmittelverzicht verbundenes, die Beweisaufnahme verkürzendes Geständnis; Strafrabatt bis zu einem Drittel der zu erwartenden Strafe
Empirische Untersuchungen zu den Absprachen in D
• Studie von Prof. Karsten Altenhain (2012) weist auf eine erhöhte Gefahr von Fehlurteilen hin:
• Stichprobe: 334 Richter, Staatsanwälte, Verteidiger aus Nordrhein-Westfalen
• Den Juristen zufolge unterbleibt die Erforschung der materiellen Wahrheit durch das Gericht häufig
• 28% der Richter räumen ein, dass sie allenfalls teilweise Geständnisse überprüfen
• Kontrolle beschränkt sich auf einen Abgleich mit den Akten
• Mehr als die Hälfte der Rechtsanwälte berichten von wahrscheinlichen Falschgeständnissen ihrer Mandanten
Empirische Untersuchungen zu den Absprachen in D
• Staatsanwalt als Strafverfolger und Richter
• Gefahr von Fehlurteilen in alternativen Strafverfahren
• Fehlende empirische Untersuchungen zu den Absprachen in der Schweiz und Frankreich
• Durchführung vergleichender Untersuchungen zur Absprachenpraxis
Schlussbemerkungen und Ausblick
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!