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KLINISCHE WOCHENSCHRIFT II . J A H R G A N G Nr. i6 I6. A P R I L I932

0BERSICHTEN.

DIE B E D E U T U N G DER KONSTELLATION FOR DIE ENTSTEHUNG UND DEN V E R L A U F D E R

LUNGENTUBERKULOSE. Von

N. PH. TENDELO0. 0egstgeest .

Vide Naturerscheinungen scheinen auf dell ersten Anblick durch einen einzigen Faktor hervorgerufell zu werdell, wgh- rend sich aber bei fortgesetzter Forschung ergibt, dab sie durch ein Zusammentreffen mehrerer, mitullter zahlreicher Faktoren entstehen. Je welter man forscht, um so aus- gedehnter erscheint der Zusammenhang einer solchen Er- seheinung mit ihrer Umwelt zu sein. Die ihre Entstehung bewirkenden Faktoren beeinfiussen bzw gndern sich w/thrend der Wirkung, d. h. wghrend der Entstehung der Erscheinung, ein- oder gegenseitig. Sie sind alle unentbehrlich ffir die Ent- stehung einer genau best immten Erscheinung. Wir gewlnllen mallchmal die l~berzeugung, dab wir die Faktoren nur zu einem kleinen Teil kennen. Aber sofern sie sich uns zeigen, erkennell wir oft, dab sie in eiller best immten rgumlichen und zeitlicher~ Anordnung eine Konstellation bilden. Die durch eine bestimrnte r/iumliche und zeitliche Anordliung ihrer Faktoren yon bestimmter Stgrke gebildete Konstel- lation bedingt eille bestimmte Wirkung. Die Einwirkung sXmtlicher Faktoren aufeinallder bedeutet die Wirkung der Konstellatioll. Die ,,Ursache" einer Erscheinung ist ihre Konstellation.

Wit erkennen dies nicht allein bei Erscheinungen der toten, aber auch bei solchen der lebenden Natur, bei patho- logischen ebenso wie bei physiologischen Wirkungen. So auch bei Infektionen fiberhaupt und bei Tuberkulose als beson- derem Fall. Die Empfgnglichkeit ffir eine bestimmte In- fektion, und so auch die ffir Lungentuberkulose, stellt an und ffir sich eine I(onstellation allgemeiner Eigellschaften des Organismus mit 6rtlichen anatomischen bzw. Gewebs- eigenschaften der Lunge dar. Diese Konstellation weist nicht nur mehr oder weniger groBe individuelle Verschiedenheiten, sondern auch Schwankungen bei demselben Individuum auf, und zwar je nach seinem Alter, Ernghrungszustand, Er- mfidung, Ersch6pfung und augenblicklichen Zustand fiber- haupt. Dazu k6nnen dann lloch Ver/inderungen jener Eigen- schaften kommen durch exogene Schgdigungen, durch Gift- wirkung, andere Infektionen, klimatische Einflfisse usw.

Komplikationen, wie z. B. Grippe, k6nnei1 durch all- gemeine oder 6rtliche Anderuug der I(onstellation, wie z. B. durch Bronchitis (s. spXter), EinfluB ausfiben.

Allergie kann eine die Wirkung f6rdernde oder hemmende Rolle spielen als Faktor in der Konstellation, man mug sie aber nachweisen und ist bisher nicht berechtigt, sie je als alleinige Beherrscherin des Zustandes vorauszusetzen. Wir sind auch nicht berechtigt anzunehmen, dab jede vom Virus bewirkte VerXnderullg die tuberkul6sen Vorggllge beein- fiusse.

Schon mancher anscheillelld normale Mensch, der aus dem Tiefland ins Hochgebirge zieht oder umgekehrt, ffihlt sich unwohl, mitunter in einem solchen Mage, dab er heimkehrt. DaB nicht alle Kranken mit Lungentuberkulose den gleichen EinfluB einer gleichen KlimaverAnderung erfahren, kann somit nicht wundernehmen. Es ist dabei die Frage zu be- antworten, welche Unterschiede der illdividuellell Kon- stellation dafiir verantwortlich zu machen sind: Unterschiede der allgemeinen konstitutionellell Eigenschaften, der tuber- kul6sen Lungenvergnderungen, oder beides. Jedes Klima,

Klinische Wochenschrift, xr. Jahrg.

jede Wit terung stellt all und ffir sich eine Konstellation ~ugerer FaktoreI1 dar, die mit der Konstellation der in- dividuellen Faktoren eine Kollstellation bildet, welche die Wirkung bei dem Individuum bedingt. I n Davos versucht man die Eigenschaften des Luffkreises genau zu erforschen /DoR•O u. a.).

Die verschiedelien Faktoren einer Konstellation k6nnen sich ein- oder gegenseitig beeinflussen. Dies mfissen wir yon vornherein Ifir m6glich halten nach Analogie yon einigen Beobachtungen. Im allgemeinen dtirfte man dartiber einig sein, dab Anderungen des Allgemeinzustandes dell tuber- kul6sen Vorgang in der Lunge beeillflussen k6nnen und um- gekehrt. Aber auch die allgemeinen Erscheinungen wie der Schlaf, der ErnAhrungszustand und die Tgtigkeit verschie- dener Organe auBer der Lunge verm6gen sich ein- oder gegen- seitig zu Xndern. Auf diese Wirkungen gehen wir n i ch t ein.

Die gleichen Faktoren werden oft im nahezu gleichen Mal3e die Entstehung wie den Verlauf beeinflussen bei schein- bar gleicher Konstellation. Wir dfirfen dies jedoch nicht ffir alle ohne weiteres als notwendig voraussetzen, wie wir weiter unten ersehen werden.

Wir wenden im folgenden unsere Aufmerksamkeit auf die tuberkul6sen VerAnderungen der Lunge als Ausgangspunkt.

Zur 6rtlichell Konstellation geh6ren die 6rtIichen Eigen- schaften der Lunge im morphologischen und funktionellen Sinne und die Eigenschaften des Virus, die wit der I(firze wegeli als Virusst/irke andeuten. Diese umfal3t das Produkt der Bacillenzahl mit ihrer mittleren Virulenz, vermehrt mit etwaigem gelockertem ,,gel6stem" Gift; dabei bleibe dahin- gestellt, ob es sich um einen eillzigen oder um mehrere che- mische Stoffe handelt. Wir dfirfen i l i c h t einseitig ohne weiteres entweder den Eigenschaften des Orgallismus oder denen des Virus die krallkhaften Erscheinungen zuschreiben; wir mfissell im Gegenteil immer die Konstellation aller menschlichen und Viruseigenschaften m6glichst vollst~ndig zu bestimmen suchen. Delln sie allein bedingt s~mtliche Erscheinungen, wenn auch in bestimmtell Fgllen mensch- liche, in anderen bakterielle Faktoren besonders augenfAllig erscheinen. Wit k6nnen dies auch so ausdrficken: die augen- blicklichen Erscheinungen werden bedingt durch das Verh~ltnis von Viruseigenschaften (Virusst~rke) zur 6rtlichen Empfgng- lichkeit als Audruck der I(onstellation s~mtlicher allgemeiner ulId 6rtlicher menschlicher Eigenschaften, die ffir die Ent- stehung bzw. den Verlauf der Tuberkulose yon Bedeutllng sind.

Finden wir bei der Autopsie mehr als einen tuberkul6sen Herd im I(6rper, oder genauer: in der Lunge, so k6nnte die Best immung des relativen Alters dieser Herde fiber ihren genetischen Zusammenhang entscheiden, weil ein jfingerer Herd nicht der Ursprulig eines Alteren sein kalln. Er muB freilich andererseits nicht aus dem Alteren Herd, sondern er kalln auch unabhgngig davon entstanden sein. Es k6nnte auch ein Herd metastat isch aus einem anderen hervorgegangen sein, ohne dab ein verschiedenes Alter nachweisbar ware.

Die Beantwortung der Frage nach dem relativen Alter ist aber sehr hgufig nicht so sicher m6glich, wie sie auf den ersten Ablick vielleicht erscheinen mag. Die dazu in Betracht kommenden Merkmale der Herde sind zum Teil anatomischer, zum Teil histologischer Natur.

Zu den anatomischen Merkmalen geh6rt die relative Gr6fle der Herde, die man nicht seltell hat entscheiden lassen, als ob gr6Bere Herde sicher Alter w~ren als kleinere; man hat dies sowohl ffir K~tseherde, fibr6se Herde als auch fiir Ge- schwfire gelten lassen. Es ist aber eine willkfirliche Voraus-

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setzung, dab ein gr6gerer Herd Mter W~tre als ein kleiner Herd gleicher oder ungleicher Natur. Sie w~re nur dann berechtigt, wenn die Faktoren fiir die nach ether best immten Zeit er- reichte Gr6Be iiberall und immer gleich wAren. Dies trifft aber keineswegs tiberall und immer, ja vielmehr nur ausnahmsweise zu, ebenso ftir tuberkul6se und nichttuberkul6se infekti6se Entziindungsherde wie iiir ]31astome:

Ein scirrh6ser Iirebs der Brustdriise kann kleiner sein als das metastatische GewAcks in region~ren Lymphdrtisen oder im Oberschenkelknochen. Metastatische Krebsknoten in der Leber kSnnen bedeutend gr6ger sein als das primAre Magen- carcinom. Und wir haben bisher keinen Grund fiir die uln- gekehrte Annahme, dab n~mlich das Femur- bzw. Leber- carcinom primgr und der Brustdrtisen- bzw. Magenkrebs sekundAr ware, oder dab kein Zusammenhang zwischen diesen GewAchsen bet einem Individuum best~nde.

Mit nichttuberkul6sen infekti6sen Entzfindungsherden ist es nicht anders : der prim~re Herd kann, mug aber nicht gr68er sein als der metastatische. Nach einer winzigen Verletzung der Hand kann eine Lymphadenitis axillaris mit starker Anschwellung der Lymphdriisen erfolgen; bet Abdominal- typhus mit nicht ausgedehnten DarmverAnderungen k6nnen die mesenterialen Lympkdriisen so stark anschwellen, dab der Kliniker eine 13auchgeschwulst annehmen zu miissen glaubt usw.

Auch bet Tuberkulose kommen ~ihnliche VerhAltnisse vor. So entstand bet einer Frau, im Anschlug an eine Probe- laparotomie unter Chloroformnarkose wegen einer klinisch unklaren Lebertuberkulose, eine akute Pneumonie, die sich bet der Autopsie, 5 Wochen spAter, als eine kiisige tuber- kulSse Aspirationspneumonie, so grog wie eine kr~iftige Mannsfaust, am Ende des lateralen caudalen Hauptbronckus, herausstellte. Sie war wohl yon ether klinisch latenten hasel- nuBgroBen Kaverne im kranialsten Viertel der anderen Lunge aus entstanden. Ftir die Annahme eines anderen Ursprungs der kAsigen Aspirationspneumonie ergaben sick keine An- haltspunkte. Ferner begegneten mir bet anderen Autopsien als h6ckstwahrscheinliche Quelle ether ausgedehnten ge- schwiirigen Darmtuberkulose ein paarmal eine etwa erbsen- groBe Kaverne im kranialsten Viertel ether Lunge.

Diese Beispiele wAren unschwer zu vermehren. Sie weisen darauf hin, dab die relative Gr613e mehrerer Herde keinen zuverlAssigen Magstab ihres relativen Alters darstellt.

So ware es willkfirlich, ohne weiteres vorauszusetzen, dab eine best immte ]~lastomzelle in allen Geweben einen gleich geeigneten NAhrboden linden sollte. Wir bekommen denn auch vielmehr oft den Eindruck, dab versehiedene Gewebe einen verschiedenen N~hrboden darstellen, dab die scirrh6se Form in straffem Bindegewebe, der epithelreiche Krebs hingegen in lockerem, blutreichem ]3indegewebe, mitunter als Teile des gleichen GewAchses, entsteht usw.

Ahnliches gilt fiir die Ents tehung und das Fortschreiten eines infektiSsen, auch eines tuberkul6sen Entziindungsherdes. Sein Umfang an einem best immten Zeitpunkt wird bedingt durch die GrSl3e des Gebietes, wo das Virus in ausreichender StArke zun~ichst zur Einwirkung gelangte, und dutch seine nachtrAgliche Verbreitung oder Schwund. , ,In ausreichender StArke" bedeutet: mit t t insicht auf die 6rtliche Empf~ing- lichkeit des Gewebes ftir entztindliche Sch~digung. Sowohl diese GrSBe als auch die Gelegenheit zur nachtrAglichen Ver- breitung oder zum Schwund kSnnen bedeutende 6rtliche Unterschiede aufweisen, sogar in demselben Organ wie in der Lunge.

Was best immt denn das Gebiet, wo die infektiSse Ent- ztindung zuerst entsteht, was bes t immt ihre nachtrAgliche Verbreitung oder Sckwund ?

Das Gebie~ der einsetzenden tuberkul6sen Entzi~ndung wird bes t immt durch die Verbreitung des tuberkulSsen Virus in. ausreichender StArke; ausreichend mit Hinsicht auf die ent- ziindungserregende Eigenschait und die 6rtliche EmpfAnglich- keit des Gewebes. Diese Verteilung des Virus hAngt aber nicht nur yon der zugeftihrten ganzen Menge, sondern auch yore Zufuhrweg ab, ob hAmato-, lympho-, broncho- oder aerogen.

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Der Umfang des einsetzenden Herdes ist damit bestimmt. Der Umfang, den der Herd dann rasch oder langsam ge-

winnt, kAngt gleichfalls ab yon der Verbreitung des Virus in ausreichender StArke und yon der Empf~nglichkeit des davon erreichten Gewebes, die sehr verschieden sein kann und sich wAhrend der Infektion Andern kann. Die Ver- breitung des Virus allein in das umgebende Gewebe findet vielleicht auch s ta t t durch Wachstum, aber vor allem durch Verschleppung durch den Gewebesaft (lymphogen) oder in best immten FAllen bronckogen, wohl selten h~matogen (s. unten).

Die ]3eobachtung hat gelehrt, dab der Tuberkelbacillus sich in der Regel vermehrt , wenn er Gewebsver~nderungen hervorruft, obwohl auch totes Virus (nicht fortschreitende) VerAnderungen zu bewirken vermag. Augerdem kann die Virulenz des Tuberkelbacillus im entztindeten menschlichen Gewebe zu- oder abnehmen, wie ORTH und LYDIA tlABINO- WlTSCH nachgewiesen haben. Es kann sick somit die tuber- kul6se Virusst~rke wAhrend einer Infektion im menschlichen Gewebe ~ndern, Ahnlich wie bet Versuckstieren, auch mi t anderen Virus, festgestellt worden ist. Die M6glichkeit einer exogenen tZeinfektion ist unter best immten UmstAnden auBerdem zu beriicksichtigen. Ihre Verwirklichung ist aber auch autoptisch schwer nachweisbar.

Die 6rtliche Gewebsempf~nglichkeit wird bedingt durch eine Konstellation yon allgemeinen und 6rtlichen Faktoren, die ebenfalls w~hrend einer infekti6sen tuberkul6sen Ent- ztindung VerAuderungen erleiden k6nnen. Diese 6rtlichen Faktoren k6nnen wir als physikalische und chemische bzw. physikochemische unterscheiden. Zu den physikalischen Fak- toren geh6ren die Verteilung und Bewegungsenergie der ein- und ausgeatmeten Luft, des ]3lutes, des Gewebesafts und der Lymphe. Sie beeinflussen die Verteilung kleinster K6rper- chen und gel6sten Giftes und die physikalische Gelegenheit zu ihrer Anh~ufung und Einwirkung auf das Gewebe, auch die physikalische Gelegenheit zu Wechselwirkung. Die physi- kalische Gelegenheit zu aero-, broncho- und lymphogener In- fektion ist eine 5rtlich verschiedene.

Die chemischen Faktoren umfassen den Gehalt an O~, CO~ und anderen fiir den Stoffwechsel des Menschen und des Tuberkelbacillus erforderlichen oder dadurch entstandenen, zum Tell giftigen Stoffen. Indem die Zu- und Abfuhr yon ]31ut, Gewebesaft und Lymphe den Gehalt all jenen Stoffen mitbedingen, hAngen die chemischen Faktoren mit den physikalischen zum Teil zusammen. Von dieser DurchstrS- mung Yon Blut und Gewebesatt wird noch die 1Rede seth.

Fiir imsere m6glichst genaue Einsicht in die Entstehung und den Verlauf der Lungentuberkulose, sofern sie yon 6rt- lichen Faktoren abh~ingen, ist es erforderlich, jene physikali- schen und chemischen Faktoren auseinanderzuhalten. Denn trotz ihres Zusammenhangs miissen sie nicht immer im gleichen Sinne ge~indert werden und auch nicht immer den tuber- kul6sen Vorgang im gleichen Sinne beeinflussen.

Fragen wit zunAchst, was wit yon ihrer Rolle bet der Entstehung der pri- mdren Lungenherde wissen.

Wir dfirfen als gesichert anneh- men, dab diese Herde bet Erwaehsenen in der weitaus tiberwiegendenlViehrheit im kranialsten Viertel der Lunge ge- funden werden, d. h. im kranialsten Lungenteil, der caudal abgegrenzt wird durch eine FlXche, die annAhernd be- s t immt wird durch den Angulus der 5 -R ippe , den lateralsten Tell der 3- Rippe und parasternal durch den 2. Rippenknorpel. Caudal yon der Abb. i. Kranialstes Viertel 2. t i ippe nimmt die H~ufigkeit der (gestrichelt). prim~ren Herde ab. Wennwir aberdie prim~ren Herde in 2 Gruppen verteilen, je nachdem sie be- schr~nkt bleiben oder zu einer klinisch meistens erkennbaren fortsckreitenden Tuberkulose werden, k6nllen wir sagen, dab eine sichere Beobachtung einer prim~ren fortschreitenden

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Tuberkulose bei Erwachsenen, caudal vom kranialsten Viertel, bisher nicht bekannt geworden ist, somit kaum je vorkommen dfirfte. Bei Kindern sind die Verh~ltnisse etwas andere -- wir gehen darauf jedoch nicht ein.

Wie verstehen wir nun diese Bevorzugung des kranialsten Viertels beim Erwaehsenen ? Welche 1Rolle spielt der Zufuhr- weg dabei ?

H~matogene Miliartuberkulose beim Menschen und beim Kaninchen bevorzugt keinen Lungenteil. Lymphogene Tuber- kulose yon einem extrapulmonalen Herd aus dfirfte irgendwo in dem n~Lchstliegenden Lungenteil entstehen. So kommt vielleicht ausnahmsweise sekund~re lymphogene retrograde Tuberkulose des zentralen Lungenteils, yon einer region~ren Lymphdrfise ausgehend, vor. Ausreichende Beobachtungen fehlen aber. Das w~ren aber auBerdem alle sekund~re Lungen- tuberkulose. So bleibt die Annahme einer aerogenen Ent- stehung der primXren Lungentuberkulose ffir weitaus die Mehrheit der FXlle fibrig. Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen, sei hier nur bemerkt, dab bisher keine t3eob- achtung ihr widerspricht.

Welchen physikalischen und welchen chemischen Faktoren kommt die entscheidende Bedeutung zu, wenn auch immer die Konstellation entscheidet ?

Die physikalische Gelegenheit zu aerogener Anh~ufung eingeatmeter winziger K6rperchen yon niedrigem spezifischem Gewicht ist im kranialsten Viertel am gr6Bten -- da fallen durchschnittlich die meisten Teilchen auf die Alveolenwand nieder --, ebenso die physikalische Gelegenheit zu ,,lympho- gener" Anh~tufung in den Gewebespalten.

Von den Forderungen, die der Tuberkelbacillus dem N~hr- boden setzt, wissen wir recht wenig; noch weniger wissen wir yon der chemischer~ Zusammensetzung des Lungengewebes mit Hinsicht auf jene Forderungen und yon ihren Abwei- chungen durch Einwirkung des Tuberkelbacillus. Wir dfirfen aber annehmen, dab der Gehalt an freiem Sauerstoff dem Tuberkelbacillus ebensowenig gleicllgfiltig ist wie im toten N~hrboden. Nun ist freilich die Lfiftung der kranialen Lungenbl/~schen, ihre ~uBere Atmung also, als geringer als die der kaudalen mit ihren gr6Beren Atembewegungen vor- auszusetzen. Das bedeutet aber nicht ohne weiteres geringere innere Atmung, d. h. dab kraniales Lungengewebe weniger Sauerstoff bekommen sollte als caudales. Das Lungen- gewebe bekommt nicht allein geradeswegs aus der Alveolen- luft, sondern auch mit dem Blur aus der linken Herzkammer. Sauerstoff. Dies ist eine verwickelte Frage, die noch der ]3eantwortung harrt ; ferner erheischt der EinfluB der Strom- geschwindigkeit des Blutes auf die aus der Alveolenluft auf- genommene Sauerstoffmenge genaue Forschung. Die Stroln- geschwindigkeit des Blutes, die auch ffir die Abfuhr be- s t immter Stoffe yon Bedeutung sein dfirfte, ist schwer in dell gesonderten Lnngenteilen zu bestimmen.

Vergegenw~rtigen wir uns den Sitz kleiner, dazu in Be- t racht kommender prim~rer Tuberkuloseherde, so linden sich diese nicht allein ganz fiberwiegend im kranialsten V i e r t e l , sondern daselbst, ebenso wie auch in anderen Lungenteilen, meistens peribronchial, perivascular oder an anderen Stellen, wo sich auch eingeatmete Staubteilchen yon niedrigem spezifischem Gewicht sehr oft anh~ufen, ohne irgendeine bekannte chemisehe AffinitXt. Das sind Stellen, wo die physikalische Gelegenheit zu lymphogener Anh~ufung in den Gewebespalten, somit aueh zu lymphogener Infektion gr613er ist als in der fibrigen Lungengegend.

Wir dfirfen nach den vorliegenden Ergebnissen folgendes almehmen: Atmet ein nichttuberkul6ser Mensch in der Um- gebung eines Kranken mit oftener Tuberkulose einer Lunge oder der Luftwege Tuberkelbacillen, in trockenen Staub- te i lchen oder in feinsten Tr6pfchen in der Luft schwebend, ein, so f~llt alles oder ein Teil in den ,,oberen", ein anderer Teil in den tieferen Luftwegen, und der fibrige Teil, wenn es einen solchen gibt, in den Lungenbl~schen nieder, sofern die ~3acillen nicht mit der ausgeatmeten Luft mitgenommen werden. Das VerhXltnis der StXrke des in die Gewebespalte aufgenommenen nnd an einer Stelle festgelegten Virus zur 6rtlichen EmpfXnglichkeit des Gewebes entscheidet, ob

fiberhaupt Infektion erfolgt, und wenn ja, welchen Umfang der Herd erreicht. Diese Virusstgrke dfirfte meistens so ge- ring sein, dab entweder gar kein oder nur ein beschr~nkter Herd entsteht. Schon aus der gr6Bten physikalischen Ge- legenheit im kranialsten Viertel verstehen wir ohne weiteres nicht allein die fiberw~ltigende Mehrheit aller prim~ren Herde in diesem Lungenteil, sondern auch die Erfahrung, dab die fortschreitende Tuberkulose bei Erwachsenen immer oder fast immer daselbst entsteht. Wir mfissen freilich hinzu- ffigen, dab 6rtliche Unterschiede der chemischen Faktoren, die aul3erdem die Infektion f6rdern oder hemmen, wahrschein- lich sind. Aus der geringen Virusmenge, die in das Lungen- gewebe aufgenommen werden dfirfte, verstehen wit, dab eine prim~re, sofort fortschreitende Lungentuberkulose bei Erwachsenen, auch im kranialsten Viertel, nach den bisher vorliegenden Krankengeschichten nicht h~ufig ist. Oft geht im Gegenteil l~beranstrengung, Ersch6pfung, Hungerzust~nde, best immte Infektionskrankheiten, Erk~ltung usw. dem ersten klinischen Nachweis der Lungentuberkulose vorauf.

Der Verlau] einer Lungentuberkulose kann sich sehr ver- schieden gestalten. Nur in seltenen F~tllen schreitet sie ohne Mitwirkung besonderer Faktoren yore Anfang an bis zum t6dlichen Ende unaufhaltsam fort. Sehr hiiufig kommen offenbar, nach der autoptischen Erfahrung, Herde zu einer gewissen latenten Ausbildung, um dann auszuheilen. Die klinisch erkennbaren F~tlle weisen bekanntlich recht mannig- faltige Verschiedenheiten auf, die zum Teil dem Fortschreiten der Gewebsver~nderungen ohne weiteres, zum Teil hinzu- kommenden ~uBeren Fak toren oder sonstigen Verwicklungen zuzuschreiben sind. Immer ist die IKonstellation m6glichst vollst~ndig zu berficksichtigen, weil derselbe Faktor bei ver- schiedenen Konstellationen eine andere, sogar eine entgegen- gesetzte Bedeutung gewinnen Icann, Wir mfissen dies aus Beobachtungen auf anderem Gebiet schon yon vornherein ableiten. Auch die St~rke des Faktors ist dabei yon Be- deutung. Die individuell ungleiehe Wirkung der gleichen Klimaver~Lnderung oder anderer therapeutischer MaBnahmen stellen t3eispiele ffir Lungentuberkulose dar. So muB ein best immter Faktor nieht immer die Entstehung oder den Verlauf im gleichen Sinne beeinflussen.

Wir wollen zun~chst die jortsehreitenden Ver~nderungen eines Herdes betrachten. Es kann sieh ein Herd vergr6Bern, und zwar wohl weniger durch Wachstum von ]3acillen in das anstof3ende Gewebe, als dutch ihre Verschleppung durch den Gewebesatt. Das Blut dtir~te nur ausnahmsweise Bacillen gerade in das anstoBende Gewebe und nicht weiter versetzen. t3ronchogene Verschleppung kann sieh auf die Umgebung beschr~nken oder in gr6Berem Abstande erfolgen, und zwar durctl EinflieBen, Einhusten oder Ansaugung.

Es kommt zur lymphogenen Verschleppung yon Bacillen oder ,,gel6stem" Virus in die n~chste Umgebung eines Herdes, per continuitatem, an auf die Bewegungsenergie 1/2 m . v ~ des Saftes aus dem Herd in die kollateralen Gewebespalte. Hier macht sich jedoch ein wichtiger Gegensatz geltend zwischen der Bedeutung dieser Bewegungsenergie des Ge- webesaftes ffir die lymphogene Entstehung und ffir die lympho- gene Vergr6flerung eines Herdes per continui tatem: je kleiner die Bewegungsenergie an einer gewissen Stelle ist, um so leichter wird sich da Virus anh~uien und, ceteris paribus, ein Herd bilden; um so weniger Gift wird dann abet in das an- stoBende Gewebe verschleppt werden. Und diese verschlep- pende ]3ewegungsenergie des Gewebesaftes, der den Herd gleichsam ausspfilt, wird dutch Verengerung der Spalte im Herd (durch Druck yon Exsudat oder sich anh~ufende Zellen oder Bindegewebsfasern oder Hyalin) noch mehr ab- nehmen.

So wird Vergr613erung des Herdes ausbleiben, und zwar um so eher, als -- aul3erdem dnrch schwache Aussptilung durch Gewebesaft bei fehlender oder schwacher Durch- blutung des Herdes -- die I3acillen im Herde latent werden und schlieBlich zugrunde gehen. Dadurch wird zun~chst Stillstand und sodann Heilung m6glich und bleibt Ver- gr613erung aus, trotz der groBerl physikalischen Gelegenheit zu lymphogener Infektion im anstoI3enden Gewebe.

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Je gr6ger hingegen die Bewegungsenergie des Saftes, um so leichter wird Gift iortgeschwemmt. Ha t sie aber im an- stoBenden Gewebe einen hohen Weft, so wird damit die physikalische Gelegenheit zum Hai ten des ausgespfilten Virus im anstol3enden Gewebe so klein, dab Vergr6Berung des Herdes ebenfalls ausbleibt.

Zwischen diesen ~uBersten FMlen muB es ein Optimum der I3ewegungsenergie des Gewebesaftes im Herde und in seiner n ichs ten Umgebung geben, das am meisten die Ver- gr6Berung des Herdes per continuitatem I6rdert. DaB bei dieser optimalen Bewegungsenergie abet Vergr6Berung am leichtesten erfolgen wird, dfiriten wit nur dann annehmen, wenn auch die fibrige ffir die Infektion erforderliche Kon- stellation gleichbliebe. Das wissen wir jedoch nicht. Wir verfiigen aber fiber einige in dieser Hinsicht bedeutsame Beobachtungen.

Zunichst sehen wir h iuf ig bei allgemeiner h~imatogener Miliartuberkulose yon l~ngerer Dauer freilieh eine ann~hernd gleichmiBige Verteilung der Tuberkel in alien Lungenteilen, aber eine Abnahme ihrer durchschnittl ichen Gr6Be in kranio- caudaler Richtung. Diese Abnahme wi re sehon durch die Zunahme der Bewegungsenergie des Gewebesaftes in der gleiehen Richtung ohne weiteres erklirlich. Auch trotz einer etwaigen geringeren Zunahme der biochemischen In- fekti0nsgelegenheit in der gleiehen Richtung w~ire die Ab- nahme der mitt leren Gr613e aus einer zunehmenden Aus- spfilung erM~irlich.

Sodann hat die therapeutische Ruhigstellung der Lunge bekanntlich besonders dann eine heilende Wirkung, wenn die Atembewegungen ganz oder nahezu aufgeh6rt haben. Und die Bewegungsenergie des Gewebesaftes h~ilt im allgemeinen ceteris paribus gleichen Schritt mit der Gr6Be der Atem- bewegungen. Wir mfissen jedoch bedenken, dab auBerdem auch der Sauerstoffgehalt des zusammengezogenen oder zu- sammengedrfickten Lungengewebes betr~chtlich abnimmt, ven6se Stauung mit Anhiufung yon best immten Stoffen erfolgt und die Konstellation auch in anderen Hinsichten durch Bindegewebsbildung usw. bedeutend ge~indert wird. AuBerdem I6rdert schon Ruhigstellung des Gewebes an und f fir sich die Heilung, ihnl ich wie bei anderen Entzfindungen und bei Gelenktuberkulose.

Drit tens scheinen auch Erfahrungen fiber das Zusammen- treffen von gewissen Pneumonokoniosen und fortschreitender Lungentuberkulose beim Menschen auf die Bedeutung der ]3ewegungsenergie des Gewebesaftes hinzudeuten. Wir ver- m6gen jed0ch den EinfluB yon pneumonokoniotischen Ge- websver~inderungen auI die Ents tehung und den Verlauf yon Lungentuberkulose noch nicht ausreichend zu beurteilen. Eine grol3e Schwierigkeit l iegt schon darin, dab wir manchmal nicht wissen, was ~ilter ist, die pneumonokoniotischen Ge- websverXnderungen oder die Tuberkulose. Augerdem mag die Ansteckungsgefahr mitunter, unabh~ngig yon pneumono- koniotischen Gewebsver inderungen, bei einer Gruppe yon Arbeitern viel gr6ger sein als bei einer anderen. Wir mfissen ferner auch bier den Gegensatz berficksichtigen, dab t3inde- gewebsbildung einerseits einen vorhandenen tuberkul6sen Herd zur Ausheilung bringen kann, andererseits aber dutch Verringerung der Atembewegungen die physikalische Gelegen- heit zu lymphogener Infektion vergr6Bert. Schliel31ich mfissen

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wir yon vornherein eine verschiedene Wirkung verschiedener Staubarten ffir wahrscheinlich halten. Die Befunde mehrerer Forscher an Menschen und Versuchstieren ifihren zur Annahme einer die Tuberkulose I6rdernden Wirknng best immter Staub- arten, Welligstens bei best immten Konstellationen.

Die Natur der Gewebsver(~nderungen ist yon groBer Be- deutung ffir den Verlauf. Vorwiegend exsudative Ver~nde- rungen k6nnen durch Resorption nahezu ganz sehwinden oder allm~hlich prdifera t iven Platz machem oder in Ver- k i sung fibergehen. So kann kollaterale, vorwiegend ex- sudative Entzfindung eine sehr verschiedene Bedeutung ge- winnen. Es braucht nicht betont zu werden, dab besonders Erweichung verk~isten Gewebes nicht allein zu ausgedehnter kollateraler Entzfindung, sondern auch durch Einbruch des Herdes in die Luftwege, die Blutbahn oder an einer ser6sen Oberil~che zu mehr oder weniger ausgedehnter Metastasen- bildung Ifihren kann.

Die Natur der Gewebsverinderungen wird bedingt durch das 6rtliche Verh~ltnis der Virusst irke zur Gewebsempfiing- lichkeit iiir best immte Entzfindungsformen. Darauf weisen die Ergebnisse der Versuche fiber kollaterale Entziindung hin, und daraus verstehen wir auch den Fund yon Kn6tchen verschiedener histologischer Natur nebeneinander bei all- gemeiner h~imatogener Miliartuberkulose.

Sowohl die 6rtliche Virusst~irke als die 6rtliche Gewebs- empfinglichkeit kann aber durch hinzutretende allgemeine oder 6rtliche Faktoren geinder t werden. Nicht allein be- s t immte Stoffwechselst6rungen und Ersch6pfungszust~inde, sondern auch gewisse Infektionskrankheiten, Erk~iltung und atmosphirische Einflfisse verm6gen den tuberkul6sen Vor- gang sowohl durch allgemeine Xnderung des Organismus als auch durch 6rtlich besehrinkte Wirkung anzufachen. So ist es bei Grippe oder Erk~ltung usw. auch yon Bedeutung, ob eine akute Bronchitis entsteht, die absteigt, so dab die Ent- zfindung die Bronclaien entlang oder durch peribronchiale, kollaterale, exsudative Entzfindung oder Hyper~mie den tuberkul6sen Herd erreicht und anfacht oder nicht.

Wir fassen zusammen: Sowohl die allgemeinen als auch die 6rtlichen Faktoren k6nnen eine verschiedene, sogar eine entgegengesetzte Bedeutung in der Konstellation haben und in allerlei Abstufungen eintreten. Das Lungengewebe kann mancherlei Verschiedenheiten des Blut- und Saftgehalts und ihrer Stromgeschwindigkeit, des Gehalts an Sauerstoff, Kohlensiure und anderen ffir die Assimilation und Ti t igkei t unentbehrlichen bzw. durch Dissimilation oder sonstige Spaltnngen entstandenen, zum Teil giftigen Stoffen auf- weisen. Es ist nicht anzunehmen, dab diese Faktoren in Grad oder StXrke immer gleichen Schritt miteinander halten; im Gegenteil. So ergeben sich zahllose verschiedene Kon- stellationen als m6glieh. Sie k6nnen sich w~hrend des Ver- laufs for twihrend mehr oder weniger indern.

Die Widersprfiche fiber die Bedeutung best immter Fak- toren fiir den Verlauf einer Lungentuberkulose sind, wie

�9 andere Widersprfiche, allein durch genauen Vergleich der Konstellationen in den verschiedenen F~illen zu 16sen. Ebenso verm6gen wit den Erfolg oder den MiBerfolg einer Behand- lung ausschlieBlich aus den verschiedenen t(onstellationen zu verstehen. Denn durch seine Konstellation ist jeder Fall ein besonderer Fail.

ORIGINALIEN.

OBER INSULINTOLERANZ. V o n

W. FALTA und R. BoLLz~. Aus der I. Medizinischen Abteiltmg des Kaiserin Elisabeth-Spitals in Wien

(Vorstand: Prof. Dr. W. FALTA).

Schon die an unserer Anstal t durchgeffihrten Unter- snchungen yon t~ADOSLAV 1 hat ten gezeigt, dab nach einmaliger Zufuhr einer gewissen Menge yon Insulin (z 4. kl. E.) im nfich-

ternen Zustand die blutzuckerherabsetzende Wirkung des Insulins bei nichtdiabetischen Individuen verschieden ist. WAhrend in der groBen Mehrzahl der F~lle die Blutzucker- kurve nur wenig absinkt, wobei sowohl in der IZaschheit des Absinkens, wie in der Dauer der Wirkung, Verschiedenheiten existieren, gibt es F~lle, bei denen die Wirkung nahezu aus- bleibt und solche, bei denen die Wirkung ganz ungew6hnlich stark ist und schwere hypoglyMimische Anfiille auftreten. Wir verweisen als Beispiel auI den mitgetei l ten Tall yen


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