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Seite – 1 –Artikel und Beiträge GM Gerald HertneckFinale Einheit von Raum und Zeit, erstmals erschienen als Artikel im

Schachkultur-Magazin KARL, Ausgabe 02, 2008

Wer das Schachspiel wegen seiner geisti-gen Genüsse liebt, muss das Endspiel mit seinem hochgradig analytischem und vor allem ästhetischem Reichtum geradezu an-beten. Denn erst in dieser Partiephase tre-ten die elementaren Wirkungsmechanismen auf den 64 Feldern am klarsten hervor. Oft genug entscheidet ein einziges Tempo über Sieg oder Remis, und so muss jeder Zug genauestens bedacht werden. Bemerkens-wert ist darüber hinaus, dass das Material im Endspiel völlig neue Wirkungsmög-lichkeiten entfaltet. Ein kleiner Bauer, der die ganze Partie über mehr oder weniger unbeachtet auf seinem Posten stand, läuft jetzt zu Hochform auf. Und die Könige, die sich noch im Mittelspiel ängstlich hin-ter ihrem Schutzwall versteckten, brennen jetzt geradezu darauf, aktiv in den Kampf einzugreifen. Schwerfiguren wie die Dame sind meist schon getauscht, sodass sich die aktiven Möglichkeiten reduziert haben. Mit dem verbliebenen Material müssen beide Parteien so ökonomisch wie möglich umge-hen. Im Extremfall sind sogar alle Schwer- und Leichtfiguren getauscht, und es ist ein reines Bauernendspiel entstanden, in dem erneut ganz eigene Gesetzmäßigkeiten gelten.

Viele großen Meister waren sich der Be-deutung des Endspiels bewusst. So führt Capablanca in seinen LETZTEN SCHACHLEK-TIONEN aus: es ist klar „dass man um sein Spiel zu verbessern, vor allem das Endspiel studieren muss; denn während Endspiele aus sich heraus studiert und beherrscht werden können, müssen Mittelspiel und Eröffnung in Verbindung mit dem End-spiel studiert werden.“ Capablanca geht sogar so weit, zu behaupten, dass „diese offensichtliche Tatsache von beinahe allen Schachautoritäten (seiner Zeit) nicht be-achtet worden ist – mit trüben Ergebnissen für die große Mehrheit der Schachspieler.“

Schließlich beklagt Capablanca, dass nur wenige Meister mit Ausnahme von Euwe (mehrere Endspielwerke) und Fine (BASIC CHESS ENDINGS, New York 1941) sowie Ra-binowitsch (ENDSCHPIL, LENINGRAD 1927 – nur in russischer Sprache) systematische Endspielwerke verfasst haben. Aus heutiger Sicht kann man beruhigt feststellen, dass die in den 30er und 40er Jahre des letzten Jahrhunderts noch bestehenden Defizite in der Endspielliteratur inzwischen abgebaut sind, und dass fast alle großen Meister der heutigen Zeit das Endspiel mit derselben Kunstfertigkeit behandeln, wie Eröffnung und Mittelspiel.

Interessant ist, dass die Endspielliteratur historisch schwer in Gang gekommen ist, obwohl bereits vor über 1000 Jahren arabi-sche Mansubensammlungen in Handschrif-ten veröffentlicht wurden. Diese Mansuben waren jedoch taktischer Natur, und hatten in der Regel die Mattsetzung zum Ziel. Man kann sie daher allenfalls als entfernten Vorläufer für Endspielstellungen betrach-ten. Berühmt ist jedoch eine Analyse des Meisters Al-Adli aus dem Jahre 1140 zum Endspiel König und Turm gegen König und Springer, in der der Springer allmählich ab-gedrängt und erobert wird. Diese Analyse hat auch heute noch unveränderten Wert, weil Turm und Springer im Gegensatz zu Dame und Läufer ihre Gangart im europä-ischen Schach nach der Regelreform Ende des 15. Jahrhunderts beibehalten haben.

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Wenn man dieses Endspiel heute auf dem Brett hat, wie dies zum Beispiel in der Par-tie Nisipeanu-Kengis, Bundesliga 2000 der Fall war, würde man nicht denken, dass es schon vor fast 900 Jahren intensiv ana-lysiert wurde. In der Partie folgte 69...Tb2 70.Kg1 Kg3? (nur mit 70...Kf3 konnte Schwarz noch gewinnen) 71.Se1 und man einigte sich bereits auf Remis! Hätte Kengis die arabischen Meister studiert, so wäre er wohl auf folgende Fortsetzung verfal-len: 69...Tb1! Um den König nicht auf die Grundreihe zu lassen. 70.Se3+ Kf3 71.Sf5! Td1! Nimmt dem Springer die Felder auf der d-Linie. 72.Sh4+ Kg4 73.Sg2 Tc1! Im Hinblick auf Se3+ nimmt der Turm dem Springer die Felder auf der c-Linie. 74.Se3+ Kf3 75.Sf5 Tc5! 76.Sh4+ Kg4 77.Sg2 Te5! Schwarz hat endlich sein Ziel erreicht, dem Springer alle Fluchtfelder zu nehmen. Ent-scheidend ist vor allem, dass der Springer das rettende Feld e1 nicht mehr erreicht. 78.Kg1 Kh3! 79.Kf2 Tf5+ 80.Kg1 Tg5 81.Kh1! Kg3! 82.Kg1 Kf3 83.Kh1! Weiß spielt wiederholt auf das Pattmotiv, doch dieser Plan verspricht ihm keine dauerhafte Rettung: 83...Ta5 84.Kg1 Ta1+ 85.Kh2 Ta2 86.Kh1 Kg3! und Schwarz setzt Matt.

Nach diesen punktuellen Glanzleistungen

der alten Meister fiel die Schachkunst wie-der in das Mittelalter zurück. Einen ersten großen Aufschwung nahm die Beschäfti-gung mit der Endspieltheorie erst wieder im 18. Jahrhundert, und hier vor allem durch die Untersuchungen von A. Philidor, der die wohl brillanteste Endspielanalyse seiner Zeit in seinem bahnbrechenden Werk „ANALYSE DU JEU DES ÉCHECS“ veröffent-lichte

A. Philidor 1749

Weiß am Zuge gewinnt mit 1.Tc8+! (das naheliegende 1.Lf6? ist wegen Te7+ ver-fehlt) Td8 2.Tc7! Td2! Wie sich noch zei-gen wird, führen die Alternativen 2...Td3 und 2...Td1 für Weiß schneller zum Ziel. Bereits mit diesem feinen Zug zeigt sich die analytische Meisterschaft des 23-jähri-gen Parisers, doch es kommt noch besser. 3.Tb7! Ein Tempozug, um den schwarzen Turm auf ein schlechteres Feld abzudrän-gen. 3...Td1! Wieder würde 3...Td3 Weiß entgegen kommen, weil der Turm auf der dritten Reihe am schlechtesten verteidigt. 4.Tg7! Tf1 5.Lg3! Die Pointe: der Läu-fer deckt das Feld e1 von hinten, sodass der Turm kein Schach geben kann, und Schwarz gerät erneut in Zugzwang, d.h.

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der Turm muss jetzt die ungeliebte dritte Reihe betreten. 5...Tf3 6.Ld6 Te3+ 7.Le5 Tf3 Mit großer Raffinesse hat Weiß erreicht, dass der schwarze Turm die dritte Reihe betreten hat, und sein König geschützt ist. der Rest ist im Grunde Sache der Technik. 8.Te7+ Kd8 9.Tb7 und Weiß setzt Matt, da die Verteidigung auf der c-Linie mittels Tc3 nun nicht mehr möglich ist. Diese Analyse ist eine höchst erstaunliche Meisterleistung ihrer Zeit, und hat die führenden Analytiker der Welt über 100 Jahre lang intensiv be-schäftigt (vor allem hinsichtlich der erwei-terten Frage, wie weit die Stellung an den Rand verschoben werden kann, ohne dass sich das Resultat ändert). Noch im Jahre 1922 hat J. Berger in seinem bahnbrechen-des Werk THEORIE UND PRAXIS DER END-SPIELE die Ergebnisse der Untersuchungen auf 20 Seiten zusammengefasst.

Der Autor dieser Zeilen zeigte sich lange skeptisch, dass diese tiefe Analyse tatsäch-lich schon in der Erstauflage vor über 250 Jahren veröffentlicht wurde, und nicht etwa in späteren Jahren (Auflagen von 1778 und 1803) ergänzt wurde. Ein Besuch bei dem Unterhachinger Schachbuchexperten Manu-el Fruth belehrte ihn jedoch eines besseren. Die dort verfügbare in Straßburg im Jahr 1754 erschienene deutsche Übersetzung des Werks von Philidor enthielt nämlich Zug für Zug diese Analyse, wenn auch in einer für die heutige Zeit unüblichen Umschrei-bung, da zu jenem Zeitpunkt sich die alge-braische Notation noch nicht durchgesetzt hatte (Auszug):

1. Weiß: Der Thurm giebt Schach. (Anm. d.A.: 1.Tc8+) / Schwarz: Der Thurm be-deckt das Schach. (Anm. d.A.: 1...Td8) / 2. W. Der Turm auf das zweite Feld des Läu-fers von der schwarzen Dame (Anm. d.A.: 2.Tc7). / S. Der Thurm auf das zweite Feld von der weißen Dame (Anm. d.A.: 2...Td2)

/ 3. W. Der Turm auf das zweite Feld des Springers von der schwarzen Dame (Anm. d.A.: 3. Tb7) und so fort.

Jedoch ist die Analyse in der vorliegenden Ausgabe von 1754 in einem Punkt unvoll-ständig, und zwar wenn Schwarz im 8. Zug sich stärker mit 8...Kf8! verteidigt. Es folgt dann 9.Tb7 Kg8 10.Tg7+! Kf8 11.Tg4! Ke8 Der schwarze König taumelt auf der Grund-reihe mal nach links, mal nach rechts, ohne jedoch aus dem feingesponnenen weißen Mattnetz zu entkommen. 12.Lf4! Unter-bricht die c-Linie und nimmt dem Turm das Schach auf e3. Schwarz muss nun entweder den Turm opfern oder Matt zulassen. Bis auf diese Einschränkung ist der Nachweis der weißen Gewinnführung durch den Pari-ser Meister in allen Varianten perfekt. Hat Philidor sich diese tiefe Analyse ganz allein erarbeitet? Wohl kaum. Vermutlich sind die Varianten Ergebnis einer gemeinschaftli-chen Analyse der damaligen französischen Spitzenspieler.

Wie man sieht, hat die Beschäftigung mit dem Endspiel bedeutende Meister und Analytiker seit Jahrhunderten angeregt. Das selbe gilt zwar auch für die Eröffnung und das Mittelspiel, doch mit einem ent-scheidenden Unterschied. Die Variationen in Eröffnung und Mittelspiel sind nahezu unendlich, sodass man nie zum Ende der Erforschung kommt (wofür die immer mehr ausufernde Eröffnungstheorie ein beredtes Beispiel abgibt) – das Endspiel dagegen lässt sich auf immer wiederkehrende the-oretische Positionen zurückführen. Dies mögen zwar Tausende von Stellungen sein, die man sie nicht von heute auf morgen lernen kann. Doch nach jahrelangem Stu-dium ist endlich ein solides Fundament gelegt, auf das man ein Schachleben lang zurückgreifen kann. So widerfuhr es dem Autor: zunächst in der Jugend und zwei

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Jahrzehnte später als Trainer an der Mün-chener Schachakademie gewann er einen immer tieferen Einblick in sein Spezialge-biet Endspieltheorie und Endspielliteratur. Mag zwar sein, dass die intensive Beschäf-tigung mit dem Endspiel zu einer inneren Distanzierung vor allem von der Eröffnung führte, doch letztlich ist dies auf den in-neren Kampf zwischen Pragmatismus und Ästhetik zurückzuführen. Der Pragmatiker sucht den Gegner schon in der Eröffnung oder im Mittelspiel in Nachteil zu bringen – der Ästhet sammelt im Mittelspiel kleine Vorteile, und fährt die Ernte genüsslich im Endspiel ein.

Mit dem Übergang ins Endspiel ändert sich wie bereits ausgeführt der Charakter des Spiels schlagartig. War das Mittelspiel noch im wesentlichen bestimmt durch Angriff und Verteidigung, starke und schwache Punkte, gelegentlich sogar Opferwendun-gen und Mattsetzungen, so besteht das vorrangige Ziel im Endspiel meist darin, einen Bauern zu verwandeln, was oft nur mit Unterstützung des Königs möglich ist. In seiner reinsten Form wird dieses Thema im Bauernendspiel umgesetzt. Und gerade dort treten völlig neue Gesetzmäßigkei-ten hervor, die nur im Endspiel relevant sind. Die Rede ist von Phänomenen, die als Opposition, Zugzwang, Dreiecksmanöver, Blockade und Patt in die Endspieltheorie eingegangen sind. Wie einfach wäre das Endspiel, wenn man durch Pattsetzung gewinnen könnte! Ein einziger verbliebe-ner Bauer würde dann immer zum Sieg reichen, weil er im Verbund mit dem König bis auf die siebte Reihe vorrückt, und dort – bei richtiger Verteidigung des Gegners – eine Pattstellung herbeiführt. Da die Schachregeln das Patt jedoch als Remisausgang definieren, muss die stär-kere Partei im Endspiel bestrebt sein, eine Gewinnstellung herbeizuführen, die eben

nicht im Patt endet. Umgekehrt kann die Partie bereits Remis gegeben werden, wenn bekannt ist, dass das verbliebene Material nur zum Patt und nicht zum Matt ausreicht – zum Beispiel bei zwei Springern gegen den König oder bei Läufer und falschem Randbauern.

Es ergibt sich aber noch eine weitere Ver-teidigungsmöglichkeit für die schwächere Partei in Form der Blockade, sozusagen als vorgelagerte Pattstellung. Die Partie ist quasi „Patt“ weil der König nicht ins geg-nerische Lager eindringen kann. In der Praxis entscheidet sich die Blockade auf zwei Arten. Der einfachste Fall ist der, dass sie aufrecht erhalten werden kann, weil bei richtiger Verteidigung kein Einbruch möglich ist. In vielen Fällen kann die Blo-ckade aber durch ein Opfer oder durch Zugzwang durchbrochen werden. Damit ist das Zauberwort gefallen: Zugzwang. Kaum ein anderes Thema ist so geheimnisvoll und beherrscht das Endspiel so stark wie der Zugzwang. Was ist Tempokampf?. Was ist Opposition? Was ist das Dreiecksma-növer? Was sind Gegenfelder? Spezialfälle des Zugzwangs. Was aber bedeutet Zug-zwang genau? Im eigentlichen Wortsinne, der Zwang einen Zug auszuführen, der zu einer Verschlechterung der Stellung führt. Lasker bemerkt in seinem LEHRBUCH DES SCHACHSPIELS sehr treffend, dass der Zwang einen Zug auszuführen, vom Spieler in der Regel nicht als solcher empfunden wird. Im Endspiel verhält es sich jedoch an-ders, da eben dieser Zwang oft genug dazu führt, dass eine Partie, die ansonsten Remis wäre, verloren geht. Lasker geht sogar so weit, den Zugzwang und das Patt als einen „Tummelplatz der Spitzfindigkeiten“ zu bezeichnen, der (anders als das Matt) nicht dem „Sinn für das Wirkliche“ entspringe. Mit anderen Worten: Zugzwang und Patt seien eher für künstlerische Darbietungen

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von Endspiel- und Studienkomponisten ge-dacht, und in der Praxis selten anzutreffen. Dieser Einschätzung muss jedoch entschie-den widersprochen werden, da die über Jahrhunderte erforschte Endspieltheorie ohne Patt und Zugzwang gar nicht denkbar wäre. Zuzugestehen ist lediglich, dass in der Praxis viele Endspiele auf andere Art entschieden werden, zum Beispiel aufgrund von Materialübergewicht oder einem Bau-ern der zur Dame geht. Doch genug der theoretischen Betrachtungen. Vertiefen wir uns zunächst in das Thema der Opposition und der Blockade:

Leger (Amateurs 1775)

verwerten. Offensichtlich folgt jedoch auf 1.Ke3 Ke5 oder 1.Kf3 Kf5 und Schwarz hält in beiden Fällen die Opposition, der weiße König gewinnt also kein Einbruchsfeld auf der vierten Reihe. Weiß muss daher seine Strategie verfeinern, und versuchen, ent-weder auf dem Königsflügel oder auf dem Damenflügel einzudringen. Es bietet sich daher entweder 1.Ke2 an, mit dem Ziel, den König nach a4 zu überführen, oder 1.Kg3 mit der Absicht, Schwarz auf dem Königs-flügel in Zugzwang zu bringen. Untersu-chen wir beide Pläne:

a) 1.Ke2 Nun hält Schwarz nur mit einem einzigen Zug Remis, und zwar mit 1...Ke6! Wie ist dies zu erklären? Offensichtlich, darf der König die Felder e5 und f5 nicht betreten, da Weiß mit Ke3 bzw. Kf3 die Opposition herstellt, und Schwarz im fol-genden Zug gezwungen ist, sie wieder auf-zugeben. Im Ergebnis würde der schwarze König so abgedrängt, dass er die Blockade nicht mehr halten kann, z.B. 1...Kf5? 2.Kf3! Ke5 3.Ke3 Kd5 4.Kf4! (das entscheidende Einbruchsfeld) 4...Kc6 5.Ke4 Kb6 6.Kd5 Kb5 7.Kd4 und Weiß gewinnt den Bauern c4. Die Verteidigung Ke6 ist aber mühe-los zu finden, wenn man den Begriff der Fernopposition beherrscht. Diese Verteidi-gungsmethode besteht darin, den eigenen König so auf Distanz zu halten, dass er bei einem Vorrücken des gegnerischen Kö-nigs die Nahopposition einnehmen kann. Bei der Fernopposition liegen immer drei Felder zwischen den sich gegenüber ste-henden Königen, somit kann man sich das Motiv leicht merken. 2.Kd2 Kd6 Schwarz setzt die Fernopposition fort. An dieser Stelle hätte er sich übrigens auch mit 2...Kd5 verteidigen können, da das Feld d3 für den weißen König nicht zugänglich ist, und da auf 3.Ke3 wieder Ke5 folgt. 3.Kc2 Kc6 4.Kb2 Kb6! Erneut die einzige Verteidigung für Schwarz. Die Alternative 4...Kb5? 5.Ka3

Weiß ist im Vorteil, doch es ist fraglich, ob er auch gewinnen kann. Der erste Im-puls besteht darin, den Freibauern auf die Reise zu schicken, doch dafür ist es zu früh: 1.b5? Ke5 2.b6 Kd6 3.Ke3 Kc6 4.Kd4 Kxb6 5.Kxc4 Kc6! und Schwarz hält Remis durch Opposition (bzw. später durch die bekannte Pattstellung Kc6 und Bauer c7 gegen Kc8). Weiß muss also zunächst seine Königsstellung verbessern, bevor er daran denken kann, seinen Bauernmajorität zu

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Kb6 6.Ka4 Ka6 7.b5+ führt geradewegs ins Verderben. 5.Ka2 Weiß macht einen letzten Versuch, Schwarz in Zugzwang zu bringen, doch nach 5...Ka6 (oder 5...Kc6 6.Ka3 Kb5) muss er die Hoffnungslosigkeit seines Un-terfangens einsehen. Am Damenflügel ist also kein Durchbruch möglich. Interessant ist aber der Umstand, dass der weiße König ohne Schaden wieder ins Zentrum zurück-wandern kann, ohne dass Schwarz aus dem „Zeitverlust“ einen Vorteil schlagen kann.

b) 1.Kg3 Im Sinne der Oppositionsregel müsste Schwarz nun 1...Kg5 spielen, doch dem steht die Regel vom Quadrat entge-gen, die bisher noch nicht erläutert wurde. Bekanntlich kann der König einen Frei-bauern nur aufhalten, solange er sich in dessen Quadrat befindet, das hier durch die Eckpunkte b4 – b8 – f8 – f4 (Quadrat mit 5 Feldern Seitenlänge) gebildet wird. Das Feld g5 liegt außerhalb des Quadrats, sodass Weiß nach dem verfehlten 1...Kg5? seinen Freibauern gewinnbringend verwer-ten könnte. Schwarz mag daher auf die Idee kommen, sich auf 1.Kg3 mit Kf5 zu verteidigen, doch diesmal erleidet er Schiff-bruch wegen 1.Kf3!, und Schwarz verliert die Opposition, wie bereits gezeigt. So-mit verbleibt für Schwarz nur ein einziger Verteidigungszug, nämlich 1...Ke5! Erneut müssen wir den Begriff der Opposition erweitern, und zwar auf den der Diagona-lopposition. Wieder stehen sich die Könige gegenüber, aber weder auf der Linie (Verti-kalopposition) noch auf der Reihe (Horizon-talopposition), sondern auf der Diagonale. Kennzeichen dieser Opposition ist, dass sie in der Regel im nächsten Zug in eine hori-zontale oder vertikale Opposition übergeht. Hier also nach 2.Kf3 Kf5! und 2.Kg4 Ke4!. Interessanterweise ist die Diagonalopposi-tion in der Praxis am wenigsten bekannt, offenbar weil sie am wenigsten anschaulich ist. Da aber die Könige nicht nur senkrecht

und waagrecht, sondern auch schräg zie-hen, ist eben auch dieser Fall für das The-ma der Opposition relevant. Weiß kann nun noch einen letzten Trumpf ausspielen, und zu 2.Kh4!? greifen, mit der Idee, ein Ein-bruchsfeld auf der g-Linie zu finden. Doch auch dann hält Schwarz spielend Remis, indem er 2...Kf4! antwortet. Wenn der weiße König nun auf der h-Linie hochwandert, um von hinten einzudringen, bleibt Schwarz in ewiger Opposition, z.B. 3.Kh5 Kf5 4.Kh6 Kf6 5.Kh7 Kf7 6.Kh8 Kf8, und der weiße König findet kein Einbruchsfeld. Man be-achte, dass der schwarze König bei jedem Zug seiner Wanderung im Quadrat des b-Bauern geblieben ist - wenn auch auf der äußersten Grenzlinie.

c) Damit wäre die Analyse beendet, wenn in dieser Stellung nicht noch ein weite-rer Schatz zu heben wäre. Betrachten wir die Position nach 1.Kg3 Ke5! 2.Kh4 Ke4? 3.Kg4! näher. Durch den Fehler im 2. Zug hat sich Schwarz in eine Verluststellung drängen lassen, denn entweder er gibt die Opposition auf und wird abgedrängt. Oder er tritt die Flucht nach vorne an, verlässt das Quadrat des b-Bauern und erobert den Bauern c3 um seinen eigenen c-Bauern zur Dame zu bringen. Untersuchen wir die zweite Option näher. 3...Kd3 4.b5 Kxc3 4.b6 Kd2! Der König darf natürlich nicht die b-Linie betreten, da sonst der b-Bauer mit Schach einziehen würde. 5.b7 c3 6.b8D c2

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Der schwarze Freibauer steht ein Feld vor der Umwandlung, was in vielen Fällen zum Remis ausreicht, hier aber nicht, denn Weiß spielt 7.Db2! Kd1 8.Kf3! c1D 9.De2 Matt. Hier kam Schwarz zwar zur gewünschten Umwandlung des Bauern, doch die eigene Dame blockierte das Fluchtfeld c1, sodass ein überraschendes Matt möglich würde. Diese elegante Gewinnführung hat der ita-lienische Theoretiker Lolli bereits im Jahre 1763 veröffentlicht.

Im Ergebnis mag man kaum glauben, wie schwer dieses scheinbar einfache Bauer-nendspiel zu ergründen ist, und wie viel man über die zugrunde liegenden Prinzipi-en wissen muss, um es richtig zu verteidi-gen. Dies führt zu folgender Beobachtung: sieht man die Eröffnung und das Mittelspiel im Schach als die normale Wahrnehmungs-ebene des Schachspielers an, so wäre dieser kaum in der Lage, das vorgeführte Bauernendspiel gedanklich zu durchdrin-gen. Erst durch eigene und völlig neue Ge-setzmäßigkeiten im Endspiel wird der Blick auf das Geschehen klar – somit wird der schachliche Wahrnehmungshorizont durch das Endspiel erweitert. Wenden wir uns einem weiteren Muster zu, um das Prinzip des Tempokampfs zu erläutern:

Lasker hat diese lehrreiche Stellung in sein Werk GESUNDER MENSCHENVERSTAND IM SCHACH (1895) aufgenommen, aber allzu kurz abgehandelt. Dabei ist sie ein Musterbeispiel für das Dreiecksmanöver, und auch von praktischer Relevanz, da die Diagrammstellung in einer Datenbank mit nahezu 4 Millionen Partien immerhin 41 mal aufgetreten ist (inkl. Spiegelung an den Mittelachsen). Prominenteste Beispiele sind die Begegnungen Sokolow-Iwantschuk, Wijk aan Zee 2006 und Lautier-Anand, Blind-partie Monaco 2000. Alle stärkeren Spieler haben das Endspiel gewonnen, weil ihnen das Prinzip des Dreiecksmanövers bekannt war. Insgesamt 13 schwächere Spieler (oft in Jugendmeisterschaften) haben die Partie jedoch Remis enden lassen, obwohl der Sieg nur wenige genaue Züge erfordert hät-te. Weiß am Zug möchte entweder seinen Freibauern verwerten oder über c5 nach b6 eindringen, und den a-Bauern erobern. Beide Pläne sind jedoch ohne Vorbereitung nicht durchführbar, da auf 1.Kc5 einfach Kc7 folgt, und das Vorrücken 1.Kd6 nach Kd8 2.c7+? Kc8 3.Kc6 zu einer Pattstellung führt. Die Lösung des Problems lautet wie folgt: Weiß muss in der Diagrammstellung ein Tempo verlieren, um Schwarz in Zug-zwang zu bringen. Dies erreicht er durch

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1.Kc4! (gleichwertig ist 1.Kd4, aber der Textzug ist einen Tick logischer, da sich der König in Fernopposition stellt) 1...Kd8 2.Kd4 Kc8 3.Kd5! Nun ist die Ausgangs-stellung erreicht, nur mit dem Unterschied, dass Schwarz am Zuge ist. 3...Kd8 4.Kd6 Kc8 5.c7 Wie man sieht, ist die Pattstellung nun vermieden. 5...Kb7 6.Kd7 Ka7 7.Kd8! nebst c8D+ oder 3...Kc7 4.Kc5 Kc8 5.Kb6 Kb8 6.Kxa6 Kc7 7.Kb5 und Weiß gewinnt. Dieses Motiv ist unter dem Namen Drei-ecksmanöver in die Endspieltheorie einge-gangen. Der weiße König steht nach einem Dreiecksmarsch wieder auf seinem Vorpos-ten d5, während der schwarze König auf der Grundreihe pendeln muss (weil er das Feld c7 wegen der Antwort Kc5 nicht betre-ten darf), und nach einer geraden Anzahl von Zügen wieder auf seinem Ausgangsfeld steht. Im Ergebnis verliert Weiß absichtlich ein Tempo, um Schwarz in Zugzwang zu bringen. Auch dieses Motiv ist im Mittel-spiel eher paradox. Man verliert im Mittel-spiel nicht absichtlich durch ein komplexes Manöver ein Tempo (außer die Stellung ist im Gleichgewicht, und man möchte den Gegner zu einer Schwächung provozieren – diese Strategie gehört jedoch in den Be-reich der Schachpsychologie).

Entgegen einer weitverbreiteten Annahme ist das Dreiecksmanöver nicht auf Bauer-nendspiele beschränkt, sondern lässt sich auch im Damenendspiel gewinnbringend durchführen.

Schwarz am Zug wäre bereits in Zugzwang, und verliert auf alle Turmzüge, wie Philidor bereits im Jahre 1778 dargelegt hat. Wir wollen an dieser Stelle diese systematische Untersuchung auslassen, und nur der Frage nachgehen, wie Weiß die Zugpflicht auf den Gegner abwälzt. Die Lösung ist einfach: 1.De5+ Ka7 2.Da1+ Kb8 3.Da5! Wie man sieht, hat die Dame ein Dreiecksmanöver auf den Feldern e5-a1-a5 ausgeführt. Hät-te Schwarz auf 1.De5+ Ka8 geantwortet, so gewinnt Weiß entweder durch 2.Dh8+ Ka7 3.Da1+ Kb8 4.Da5 oder sogar noch schneller durch 2.Dd5! (Zugzwang!) 2...Kb8 3.Da5! bzw. 2...Ka7 3.Dd8!. Anhand dieser Abweichung lässt sich bereits erkennen, dass das Dreiecksmanöver wiederum nur ein Spezialfall des Tempokampfs ist. Es reicht nämlich aus, dass die stärkere Partie innerhalb von drei Zügen ein Tempo ver-liert – egal ob dies durch ein geometrisches Dreiecksmanöver erreicht wird oder nicht. Die folgende Stellung zeigt einen in der Praxis seltenen Tempokampf nach einer wenig bekannten Studie von Matous aus dem Jahre 1999:

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Weiß verfügt nur über einen einzigen Ge-winnweg, und zwar über den denkbar unwahrscheinlichsten Zug in der Stellung 1.Txg4+!! Weiß opfert seinen schönen Turm, um Schwarz in Zugzwang zu brin-gen. Alternativen wie 1.Dg3+ Kg5 2.De3! Kh4 führen dagegen nur zu Zugwieder-holung. 1...Dxg4+ (die Abweichungen 1...hxg4? 2.Dh6# und 1...Kxg4? 2.Dh3+ schei-den aus) 2.Kh2! b6 Schwarz hat ernüchtert festgestellt, dass er auf dem Königsflügel in Zugzwang ist, und spielt daher ein Reser-vetempo am Damenflügel aus. 3.De7+ Dg5 4.De4+ Dg4 5.De3! Wiederholung des Zug-zwang-Motivs. 5...b5 6.De7+ Dg5 7.De4+ Dg4 8.De3! b4 9.De7+ Dg5 10.Dxb4+! Mit einem eleganten Schwenk hat die Dame den b-Bauern mit Schach erobert. 10...Dg4 11.De7+ Dg5 12.De4+ Dg4 13.De3 und es ist die bereits bekannte Zugzwangstel-lung erreicht, in der Schwarz entweder Matt wird, oder seine Dame opfern muss. Ist es nicht ein ästhetischer Hochgenuss, wie der Schwarze mit seiner Bauernübermacht hilf-los zusehen muss, dass sich das Mattnetz immer enger um ihn spinnt? Schade, dass dies nur eine Studie und kein Partiefrag-ment ist. Das Motiv des Zugzwangs in Endspielen mit reduziertem Material ist von so überragen-

der Bedeutung, dass es noch an weiteren Beispielen illustriert wird. Mitte des 19. Jahrhunderts (genau genommen 1847) be-schäftigte sich der italienische Theoretiker Centurini mit folgendem Endspiel:

Überraschenderweise spielt der Zugzwang sogar im Läuferendspiel eine Rolle, obwohl man denken könnte, dass die über das ganze Brett reichenden „Stangen“ immer genügend Felder zur Auswahl haben müss-ten, und daher nie in Zugzwang zu bringen sind. Und doch kommt Schwarz in dieser Studie in einem Moment in Zugzwang. Doch wie soll Weiß seinen Freibauern zur Dame bringen, ohne dass sich der schwar-ze Läufer auf b8 opfern kann? Offensicht-lich muss er zunächst den Lh2 von der Dia-gonale h2-b8 vertreiben. Dies ist nach Lage der Dinge nur über das Feld b8 möglich, weil das Feld c7 für den Läufer nicht zu-gänglich ist. Weiß beginnt wohlgemut mit 1.Lh4 doch es folgt 1...Kb6! Nach einem Ab-wartezug wie 1...Le5? 2.Lf2 nebst La7 und Lb8 erreicht Weiß sein Ziel schnell. 2.Lf2+ Ka6 Scheinbar hat Weiß keinen großen Fort-schritt gemacht, da er seinen Läufer immer noch nicht über a7 auf die gewünschte Diagonale überführen kann. Doch genau

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Noch nie zuvor – mit Ausnahme von Phili-dor – hatten so tiefe Analysen das Licht der Welt erblickt.

Das geistige Erbe von Kling und Horwitz trat in gewisser Weise der französische Stu-dienkomponist H. Rinckh an. Im Jahre 1927 erschien sein Meisterwerk 700 FINS DE PAR-TIE bereits als vierte Ausgabe, denn zuvor hatte er 150, später 300 und gegen Ende seines Lebens schließlich 1414 Endspiel-kompositionen veröffentlicht. Eine erstaun-liche Lebensleistung, wenn man bedenkt, wie viele Jahre analytischer Arbeit damit verbunden gewesen sein müssen! Jedoch muss man diese erstaunliche Fleißarbeit letztlich als Werk eines leicht exzentrischen Einzelgängers bewerten, da es vielen Stel-lung an praktischer Relevanz fehlt. In ästhe-tischer Hinsicht sind die Aufgaben jedoch oft recht gut gelungen!

Doch gehen wir noch weiter in die Ge-schichte, also zu den Ursprüngen, zurück. Natürlich ist im Endspiel auch das dynami-sche Element vertreten, wie es in Bauern-rennen und vor allem in Damenendspielen zum Tragen kommt. Bereits im 16. Jahr-hundert war das Motiv der Abdrängung des Königs bei Eckstellung der Dame bekannt. Die folgende Stellung gilt – mit Ausnahme der arabischen Manuskripte – als eine der ersten relevanten Endspielanalysen des aus-gehenden Mittelalters:

an dieser Stelle, wird Schwarz in Zugzwang gebracht. 3.Lc5! Der entscheidende Tem-pozug, um den schwarzen Läufer auf eines der Felder g3, f4 oder e5 zu locken. Wieso diese Felder für Schwarz ungünstiger sind als der Standort h2, werden wir noch se-hen. Übrigens wären andere Tempozüge als 3.Lc5 wegen Ld6! weniger geeignet. 3...Lg3 4.Le7! Nun plant Weiß den Läufer nach c7 überführen, was Schwarz dazu zwingt, mit dem König nach c6 zurück zu wandern. 4...Kb6 5.Ld8+ Kc6 6.Lh4! Nun wird die eigentliche Pointe des Tempozugs ersicht-lich. Weiß gewinnt ein entscheidendes Tempo durch den Angriff auf den Läufer, und der schwarze König kommt nicht mehr rechtzeitig nach a6, um La7 zu verhindern. 6...Lh2 7.Lf2! Kb5 8.La7 Ka6 9.Lb8 Lg1 10.Lf4 La7 11.Le3! 1–0 Schwarz verliert, weil die Läuferdiagonale a7-b8 zu kurz ist.

Ein unvergänglicher Klassiker der End-spielliteratur ist das berühmte Werk CHESS ENDGAMES AND STUDIES, London 1851 der beiden Analytiker J. Kling und B. Horwitz. Hatte Philidor ein Jahrhundert früher gera-de mal 10, wenn auch sehr schwierige und für die Praxis relevante Endspielstellungen in sein Werk aufgenommen, so sind bei Kling und Horwitz in der ersten Auflage insgesamt 226 thematisch geordnete Stel-lungen und in der zweiten Auflage, London 1884 zusätzlich 200 Kompositionen von Horwitz aufgenommen. Viele dieser Stel-lungen sind so schwierig zu lösen, dass sie das Niveau eines durchschnittlichen Vereinsspielers bei weitem übersteigen. Andererseits haftet vielen Positionen et-was künstliches an - so kann man beru-higt feststellen, dass mindestens 80% der Stellungen nie in einer praktischen Partie vorgekommen sein dürften, und dass die Autoren sich auf einer analytischen Spiel-wiese bewegt haben. Und doch ist das Werk auch heute noch mehr als beeindruckend.

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G.C. Polerio (1585 bis 1590)

Im ersten Abschnitt laufen beide Bauern zur Dame. Weiß braucht einen Zug länger, zieht aber mit Schach ein, sodass die Tem-pobilanz ausgeglichen ist. 1.a4 h4 2.a5 h3 3.a6 h2 4.a7 h1D 5.a8D+ Kg1 Auch wenn der König nach h2 zieht, nähert sich die Dame mit fortgesetzten Schachgeboten an: 5...Kh2 6.Dh8+ Kg2 7.Dg7+ Kh3 8.Dh6+ Kg2 9.Dg5+ Kh3 10.Dh5+ Kg2 11.Dg4+ Kh2 12.Kf2. 6.Da1+ Da die Dame die be-weglichste Figur auf dem Schachbrett ist, kann sie sich über die Eckfelder a8 und a1 Schritt für Schritt dem gegnerischen König annähern, und dabei den Umstand ausnut-zen, dass dieser seine Dame beschützen muss. 6...Kg2 Oder 6...Kh2 7.De5+ 7.Dg7+ Kh3 8.Dh7+ Kg2 9.De4+ Kg1 10.Dd4+! Kh2 11.Dh4+ Kg2 Schwarz würde gerne 11...Kg1 spielen, aber dann setzt 12.Df2 matt! 12.Dg4+ Kh2 13.Kf2! 1-0Trotz Mehrbesitz eines Bauern ist Schwarz

machtlos gegen die weißen Mattdrohun-gen. Dieses Muster zeigt sehr schön, dass auch im Endspiel die Initiative und damit verbunden die aktive bzw. passive Figuren-stellung eine wichtige Rolle spielt. Schwarz geriet durch die Umwandlung der Dame auf h1 und den König im Feldernetz g1, g2, h2 in eine Stellung, aus der es am Schluss kein Entrinnen mehr gab!

Diese Ausnahmestellung täuscht allerdings darüber hinweg, dass in Damenendspielen der Gewinn in der Regel sehr schwierig und langwierig ist, vor allem wenn der König der stärkeren Partei den Schachgeboten der gegnerischen Dame mehr oder weni-ger schutzlos ausgesetzt ist. Die folgende Stellung, die einer praktischen Partie ent-nommen ist und von J. Berger der Nachwelt überliefert wurde, illustriert eine verblüf-fende Lösung des Stellungsproblems.

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A. Neumann 1887 (nach J. Berger 1922) Praxis eher seltenes Motiv. Schwächer war 3.Dd2+ Kh3 4.De3+ Kh2 5.Df2+ Kh3 und Weiß kommt nicht weiter. Wie soll Schwarz nach De5 reagieren? Er muss die Drohung Kf3+ parieren, und dies ist nur durch 3...Dd3! möglich. Doch nun spielt Weiß seelen-ruhig 4.b5! und setzt Schwarz auf offenem Brett in Zugzwang, denn auf jeden Königs-zug wäre nun Damentausch möglich. Das selbe gilt aber auch für jeden Damenzug, wie wir sehen werden. Am besten verteidigt sich Schwarz noch mit 4...Dd1! um die Fel-der f3 und g4 gedeckt zu halten.

Die meisten Spieler würden hier wohl zu dem Abspiel 1.Db1+ Kg2 2.Dc2+ Kh1! 3.Dc5 greifen, um die Damenstellung zu verbessern und den Freibauern zu unter-stützen. Doch nach 3...De6+ hält Schwarz laut Endspieldatenbank bei richtiger Ver-teidigung Remis. In der Partie (oder ist es doch Studie?) folgte 1.Dd5! und Schwarz musste erkennen, dass er nach der geplan-ten Antwort 1...Dxb4+ durch den stillen Zug 2.Kf3!! Matt gesetzt wird, z.B. 2...De1 3.Dh5+ Kg1 4.Dg4+. Schwarz muss daher bestrebt sein, den Ke4 auf Distanz zu hal-ten, doch auch nach 1...Df6 2.Dh5+ Kg2 3.Dg4+ oder 1...Dg3 2.Dd1+ Kg2 3.De2+ verliert er die Partie durch Damentausch. Die einzige Verteidigung (die bereits schwer genug zu finden ist) besteht daher in dem von Berger angegebenen Gegen-schach 1...Dg6+! 2.Kf4+! (2.Kf3 scheitert nun an Dg2+) 2...Kh2 Nachdem Schwarz seinen König aus der Schusslinie genom-men hat, hofft er darauf, ewiges Schach auf den weißen König geben zu können. Doch wiederum wird er enttäuscht: 3.De5! Baut erneut eine sogenannte Batterie auf, d.h. es droht Abzugsschach des Königs, ein in der

Weiß gewinnt jetzt aber entweder durch 5.Ke3+ Kh1! 6.De4+ Kg1 7.Dd4! Dh5 8.Kd2+ oder noch einfacher mit 5.Kg5+! Kg2 6.De4+ Kf2 7.Df4+ Ke1 8.Dh4+! und anschließendem Damentausch. Letztlich ist dieses beeindruckende (und hiermit der Vergessenheit entrissene) Fragment eine künstlerische Verfeinerung der Stellung von Polerio. Es ist nicht schwer, viele forcier-te Züge zu spielen, und am Schluss einen stillen Zug auszuführen, um den Sieg zu erringen. Auch in unserem modernen Bei-spiel stand der schwarze König im Eck, und die weiße Dame kämpfte um Vorteil. Doch die schwarzen Verteidigungsmöglichkei-ten sind viel größer, weil die Stellung von

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Neumann keinen so forcierten Charakter hat. Und dennoch konnte Weiß (zumindest analytisch) den Erfolg herbeiführen, indem er starke Drohungen aufbaute, und selbst noch seinen König als starke Figur einsetz-te, die am Mattnetz mitspann! Man stelle sich vor, wie diese Strategie im Mittelspiel auf den Gegner wirken würde: Weiß führt seinen König heran, um den gegnerischen König Matt zu setzen (es gibt allerdings genau einen solchen berühmten Fall aus einer Partie Short-Timman, Tilburg 1991).

Wie eingangs erwähnt, ist dieses schöne Endspiel dem bahnbrechenden Werk THEO-RIE UND PRAXIS DER ENDSPIELE (Erstauflage 1890) des Grazer Analytikers Johann Berger entnommen. Im historischen Rückblick ist dieses Buch, das der Autor in den bitteren Jahren des ersten Weltkriegs und der Nach-kriegsjahre mühevoll editierte, und anno 1922 als zweite Auflage herausgab, als die erste moderne Endspielreferenz zu betrach-ten. Etwa ein halbes Jahrhundert lang, näm-lich von 1890 bis 1940 hatte es mangels Konkurrenz eine beherrschende Stellung. Und auch noch als R. Fine (1914–1993) im Jahr 1941 seine BASIC CHESS ENDINGS ver-öffentlichte, die mangels deutscher Über-setzung nur im englisch-amerikanischen Sprachraum größere Verbreitung gefunden haben, nahm er zum Studium des Quellen-materials „den Berger“ zur Hand. Von Welt-meister Lasker heißt es, dass er „den Ber-ger“ immer in seinem Turniergepäck dabei hatte! Das Werk enthält rund 1.000 End-spielstellungen, davon 578 mit Diagramm. Besonders wertvoll ist die Ausgabe von 1922 im Hinblick auf die Quellenangaben und auf die Systematik. Anhand eines ziem-lich umfassenden Archivs der Veröffentli-chungen in verschiedenen Schachzeitungen hat der Autor die Urheberschaft und die Erstveröffentlichung der Stellungen getreu wiedergegeben (was er in der ersten Aufla-

ge 1890 noch unterlassen und im Vorwort der Ausgabe 1922 bedauert hat). In syste-matischer Hinsicht beeindruckt besonders die Klarheit des Aufbaus und die Qualität der Analysen. Sicher hat dieser Band aus heutiger Sicht auch viele Schwächen, zum Beispiel die ellenlangen Analysen ohne Zwi-schendiagramme, was bisweilen zu einer unübersichtlichen Darstellung führt. Auch liegt der Schwerpunkt der Positionen immer noch im Studienbereich, und es sind viel zu wenige praktische Beispiele eingearbeitet. Interessant ist auch, dass ein theoretisch so bedeutendes Endspiel wie Turm mit f- und h-Bauer völlig fehlt, aus dem einfachen Grunde, dass es bis 1922 theoretisch nicht untersucht wurde.

Als der „gesegnete“ Nachfolger von Berger gilt allgemein der Schweizer A. Cheron, der schwer lungenkrank war, und etwa 20 Jahre seines Lebens in einem Sanatorium zu-brachte. Diese Zeit nutzte er hervorragend, und hinterließ der Schachwelt ein Meis-terwerk. Bereits im Jahre 1927 erschien in Brüssel sein TRAITÉ COMPLET D’ECHECS - FINALE, MILIEU, DÉBUT, und 25 Jahre spä-ter dessen Nachfolger, die Endspielreferenz der 50er Jahre: NOUVEAU TRAITÉ COMPLET D’ECHECS – LA FIN DE PARTIE, Lille 1952. Die deutsche Ausgabe ab 1955 - die Rede ist von den berühmten roten Bänden im Berliner Siegfried Engelhard Verlag - enthält 2.336 systematisch geordnete und nahezu vollständig untersuchte Endspiele. Dieses dreibändige Lebenswerk stellte einen neu-en Meilenstein in der Endspielliteratur dar, weil es im Umfang und Strukturierung des Materials wie in der analytischen Tiefe bis dato unübertroffen war. Allerdings hatte diese Fleißarbeit auch ihren Preis, da die meisten Schachspieler dazu neigten, den aus ihrer Sicht analytisch überfrachteten und im Stil ziemlich trockenen Cheron nicht mehr näher zu studieren, sondern mehr

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oder weniger unbesehen ins Bücherregal zu stellen, und nur bei Hängepartien hervorzu-kramen.

Den (unverdienten) „Todesstoß“ versetzte „dem Endspielklassiker Cheron“ jedoch die Russische Schachschule in Person von Juri Awerbach, und seinem Autorenteam V. Tschechower, N. Kopajew und I. Maiselis. Im Jahre 1956 erschien nämlich in Moskau der erste Band der russischen Endspieltrilo-gie zum Thema Bauernendspiele (Hauptteil verfasst von Maiselis). Im Jahre 1958 folgte der zweite Band (Leichtfigurenendspiele und Turmendspiele). Und im Jahr 1962 schließlich der letzte Band (Damenendspie-le und Turm gegen Leichtfigur). Bekanntlich verbreitete sich dieses Referenzwerk der modernen Endspielliteratur durch die deut-sche Übersetzung im Sportverlag der DDR im deutschen Sprachraum sehr schnell. Im Gegensatz zum „Cheron“ finden sich im „Awerbach“ viele praktischen Partien, und der Stoff ist weniger trocken ausgearbeitet. Das Ziel von Cheron war die wissenschaftli-che Untersuchung des Endspiels (wie er im Vorwort selbst angibt), während Awerbach & Co. dem Schachfreund ein allgemein-verständliches und praxisbezogenes Werk an die Hand gaben. Die ewige Krone der Endspielliteratur gebührt nach Meinung des Autors dieser Zeilen der fünfbändigen zweiten Auflage, den „COMPREHENSIVE CHESS ENDINGS“, erschienen 1983 bis 1987 bei Pergamon Press, Oxford bzw. der fünfbändigen deutschen Ausgabe im Sport-verlag. Leider ist dieses Endspieljuwel, wie alle bisher zitierten Werke, am Markt längst vergriffen, und nur noch mit Geduld und Glück antiquarisch zu erwerben.

Als weiteres enzyklopädisches Werk wäre die ebenfalls fünfbändige in Belgrad von 1982 bis 1993 erschienene Enzyklopädie der Schachendspiele zu erwähnen, der

jedoch aufgrund des typischen „Informator-Stils“ (der fehlenden sprachlichen Erläute-rungen) und der erstaunlichen Materialfül-le von fast 9.000 Diagrammen das selbe Schicksal wie dem Cheron blühte.

Die Zahl der meisterhaften Endspiele aus der Turnierpraxis des letzten Jahrhunderts ist Legion. Greifen wir aus der Meisterpra-xis nur eines heraus, das wohl auch noch in 100 Jahren ewigen Glanz verbreiten wird.

Topalow (2740) - Schirow (2710) Linares 1998 (Schwarz am Zug)

In dieser Stellung fand Alexej Schirow ei-nen der faszinierendsten und tiefsinnigsten Züge der Schachgeschichte, nämlich 47...Lh3!! Scheinbar setzt an dieser Stelle die Schachlogik aus, denn wie wäre es zu erklä-ren, dass Schwarz ohne Not seine letzte Fi-gur opfert? Tatsächlich aber schlägt dieser ominöse Läuferzug gleich drei Fliegen mit einer Klappe. Erstens räumt er der Feld f5 für den König und lässt ihn nach e4 vorsto-ßen - dies ist die Hauptidee. Zweitens greift er den Bauern g2 an, und verhindert so die Verteidigung Kf2 nebst Ke3. Und drittens verschlechtert sich nach der Annahme des Opfers die weiße Bauernstruktur so, dass

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sich kein Freibauer mehr auf der h-Linie bilden lässt, d.h. Schwarz hat freie Hand am Damenflügel. Tatsächlich fand Topa-low, immerhin einer der stärksten Spieler der Welt, gegen die schwarzen Drohungen keine Verteidigung mehr. 48.gxh3 Es hilft nichts, wenn Weiß das verdächtige Ge-schenk mit 48.Kf2 ablehnt, denn Schwarz spielt analog zur Partiefortsetzung 48...Kf5 49.Kf3 Lxg2+! 50.Kxg2 Ke4. Eine wichtige Alternative bestand aber in 48.Kh2 Lässt Schwarz dann den vorwitzigen Läufer im-mer noch stehen, gerät er nach 48...Kf5 49.Kxh3 Ke4 50.g4 d4 51.Lb4 d3 52.Kg2! unerwartet in eine Remisstellung, während 52.h5? gxh5 53.gxh5 a3 54.h6 a2 55.Lc3 d2 56.h7 d1D 57.h8D Dh1+ für weiß ver-liert. Stärker ist daher 48.Kh2 Lg4! 49.Kg3 Kf5 50.Lb2 Lh5 51.Kf2 Ke4 und Schwarz hat sein Ziel erreicht, den König zu aktivie-ren. 48...Kf5 Das war die Idee von Schwarz – er gewinnt ein wichtiges Tempo, um mit dem König einzudringen, und seine Freibauern zu unterstützen, während der weiße h-Bauer nichts wert ist. 49.Kf2 Ke4! Überraschenderweise opfert Schwarz noch einen zweiten Bauern hinterher – wahrlich ein grandioses Konzept! 50.Lxf6 Weiß hat keine andere Wahl, denn nach 50.Ke2 a3 51.Kd2 d4 52.La1 f5 bringt Schwarz einen seiner drei Freibauern durch. 50...d4 51.Le7 51.Ke2 a3–+ 51...Kd3! Mit der Drohung Kc2 nebst d3. 52.Lc5

Topalow hat geschickt verhindert, dass der König nach c2 wandert, und es sieht einen Moment lang so aus, als ob Schwarz sein Pulver verschossen hat. Schirow hat aber weiter gerechnet. Es folgt ein „Rautenma-növer“ auf den Feldern d3, c4, b3, c2. 52...Kc4! 53.Le7 Oder 53.Lxd4 Kxd4 54.Ke2 Kc3 55.Kd1 Kb2 53...Kb3 Und Weiß gab auf, da nach 54.Lc5 d3 55.Ke3 Kc2 56.Lb4 a3 die Freibauern nicht mehr zu halten sind.

Die Gewinnführung ist genial, aber war sie auch notwendig, oder hätte Schwarz mit einfacheren Mitteln gewinnen können? Zu untersuchen ist also noch, ob nicht auch der einfache und logische Zug 47...a3 ge-wonnen hätte. Der Unterschied ist nun, dass der weiße König nach e3 kommt, aber dafür rückt der schwarze Bauer bis nach a2 vor. Die Partie könnte sich wie folgt entwickeln: 48.Kf2 a2 49.Ke3 Lg4 50.g3 Kf5 51.Ld4 Ld1 52.Lc3 Kg4 53.Lxf6 Kxg3 54.Kd2 Lb3 55.Ke3 Lc4 56.Kd2 Kf3 57.Lb2 Ke4 58.Lc3 d4 59.Lb2 Le6 60.La1 Lf5 61.Lb2 d3 62.Lc3 Kf3 63.Lb2 Kg4 64.Lf6 a1D Leider muss Schwarz seinen schönen Freibauern opfern, um Fortschritte am Königsflügel zu erzielen. 65.Lxa1 Kxh4 66.Ke3 g5 67.Lf6 Kh5 68.Lc3 g4 69.Le1! Kg5 70.Lg3 Kf6 71.Lf4 Ke6 72.Lg3 Kd5 73.Le1 Kc4 74.La5 Kb3 75.Kd2! g3 76.Lc7

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g2 77.Lb6 Kc4 78.Lg1 Kd5 79.Lf2 Ke4 80.Lg1 Kf3 81.La7

immer wieder in den Bann zieht?

Die auf dem Markt verfügbare Endspielli-teratur ist höchst überschaubar. Letztlich ist zu Beginn des 21. Jahrhundert in the-oretischer Hinsicht fast alles zu dem The-ma Endspiele geschrieben, auch wenn die moderne Turnierpraxis immer neue Anstö-ße gibt. Die bekanntesten Veröffentlichun-gen im deutschen Sprachraum stammen von Dworetzky, DIE ENDSPIELUNIVERSITÄT, Chessgate 2002 bis 2006 (erschienen in 3 Auflagen), und von dem Autorenteam Müller und Lamprecht, GRUNDLAGEN DER SCHACHENDSPIELE, Gambit 2001 bis 2003. Beide Werke sind zu empfehlen, sind aber begreiflicherweise nur als Ergänzung zum „Awerbach“ zu verstehen, da dort die Ma-terialfülle viel größer ist. Ein sehr lesens-wertes Buch ist auch TACTICAL CHESS ENDINGS, New in Chess 2006 des Hollän-ders Van Perlo, in dem über 1.000 überra-schende Endspielwendungen aus der Tur-nierpraxis gesammelt sind.

Bleibende Verdienste in der Endspielfor-schung hat sich der englische Großmeis-ter John Nunn erworben, der als einziger prominenter Autor die Akribie aufbrachte, die Erkenntnisse aus den modernen End-spieldatenbanken in Buchform aufzuberei-ten, und so dem Leser nahe zu bringen. Bekanntlich ist die Computertechnik in den letzten beiden Jahrzehnten so weit gediehen, dass fast alle Endspiele bis zu 6 Steinen auch auf Heimcomputern fehlerfrei analysiert werden können – in Form der sogenannten Tablebases. Dies führt zum Beispiel dazu, dass das in der Praxis wich-tige Endspiel Turm und Bauer gegen Turm völlig fehlerfrei untersucht werden kann. Nunn entledigt sich dieser Aufgabe in sei-nen SECRETS OF ROOK ENDINGS, Gambit 2006 auf 352 Seiten und über 573 Positi-onen mustergültig. Wohl nie zuvor in der

Weiß hält Remis, denn die Stellung ist so blockiert, dass der schwarze König nicht eindringen kann (81...Kg3 82.Lg1). Wich-tig ist, dass der weiße König die Blockade auf d2 hält – ansonsten ist das Endspiel verloren. Ziehen wir nun Bilanz: Es ist wohl kaum anzunehmen, dass Schirow all diese Varianten in der Vorausberechnung gese-hen hat (auch wenn sich die Stellung auf-grund ihres forcierten Charakters relativ einfach berechnen lässt). Tatsächlich soll er sich geäußert haben, dass auch 37...Le4 gewonnen hätte – was gar nicht klar ist, da Weiß nach 38.Kf2 Kf5 39.g3 eine Auffang-stellung einnehmen kann. Der „zweitbeste“ Zug in der Ausgangsstellung dürfte eher 37...Kd6!? sein, doch auch dann hält Weiß mit 38.Kf2 Kc5 39.Ke3! Le4 40.Lxf6 Lxg2 die wichtige lange Diagonale unter Kon-trolle. In der Partie bringt eben gerade die Schließung der langen Diagonale die Ent-scheidung, und diese erreicht Schwarz nur mit Lh3. Der unsterbliche Läuferzug ent-sprang daher wohl einer Mischung aus Be-rechnung und Intuition. Und ist dies nicht eine Kombination, die alle großen Meister auszeichnet, und uns normal Sterbliche

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Geschichte der Schachliteratur wurde eine einzige Materialverteilung so umfassend untersucht. Damit ist aber auch deutlich geworden, dass man Zehntausende, wenn nicht hunderttausende Stellungen untersu-chen müsste, wenn man diese akribische Arbeit auf alle gängigen Materialverteilun-gen im Endspiel ausdehnen wollte,.

Durch die innovative Erfindung der Table-bases (an der übrigens auch der im letzten Jahr verstorbene Münchener Mathematiker Dr. Ludwig Zagler beteiligt war), konnte die analytische Arbeit vieler Jahrhunderte einer-seits bestätigt werden, andererseits war mit der Geburt der Endspieldatenbanken ein weiterer Erkenntnissprung verbunden. Nur ein Beispiel: Kling & Horwitz hatten 1851 die folgende Stellung als theoretisch Remis angegeben, weil sie analytisch keinen Ge-winn nachweisen konnten: Kling & Horwitz vertraten die zu ihrer Zeit

80er Jahre des 20. Jahrhunderts als Stand der Theorie. Die „Tablebases“ geben jedoch nach 1.Lb4 Matt in 56 Zügen an, wobei die 50-Züge-Regel nicht einmal verletzt wird, da der Springer bei objektiv stärkstem Spiel schon vorher erobert wird. In der Praxis scheitern allerdings auch Spitzenspieler an der Aufgabe – so kam der Weltklassespieler Gelfand gegen Oll im Rubinstein Memorial 1998 nur auf Remis. Umgekehrt gewann Timman gegen Speelman bereits in Linares 1992. Zu jener Zeit waren aber die ersten Endspieldatenbanken bereits verfügbar, und es gab noch Hängepartien. Der Englän-der Speelman, der selbst ein Endspielbuch herausgebracht hat und als Experte auf diesem Gebiet gilt, verlor in nur 20 Zügen, obwohl die Tablebases bei bester Verteidi-gung einen Gewinn in 68 Zügen angeben. Diese Statistik zeigt sehr schön auf, dass der menschliche Geist in der Durchdrin-gung komplexer Variantenbäume unzu-reichend ausgestattet und somit in seiner Erkenntnisfähigkeit eingeschränkt ist. Wie zahlreiche Forschungen ergeben haben, ist ein wesentlicher Faktor der Spielstärke im Schach die Mustererkennung. Je mehr Mus-ter ein Spieler in seinem Gehirn gespeichert hat, umso erfolgreicher kann er verschie-denste Stellungen erfolgreich behandeln. Genau auf diese Muster kann ein norma-ler Mensch in dem vorliegenden Endspiel jedoch nicht zurückgreifen, da es erstens sehr selten vorkommt, und zweitens lang-zügige Berechnungen erfordert und die Gewinnführung zum Teil auch „kontra-intui-tive“ Züge enthält. An diesem Punkt ist eine Schallmauer erreicht, die der menschliche Geist kaum noch durchdringen kann.

Skeptiker mögen einwenden, dass man dieses Endspiel durchaus beherrschen kann, wenn man sich nur lange genug damit beschäftigt. Mögen sie recht haben. Doch spätestens bei der Endspielstellung

begründete Ansicht, dass König und Sprin-ger nicht aus ihrer „Festung“ vertreiben werden können, und wenn doch – dass die Festung in einem anderen Brettabschnitt wiederhergestellt werden kann (z.B. dia-gonal entgegengesetzt mit Kg3 und Sg2). Diese Einschätzung galt noch bis in die

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Karjakin-Schirow, Chanty-Mansijsk 2007, Position nach dem 49. Zug von Weiß sind die Pforten der Wahrnehmung (doors of perception) auf ewig geschlossen:Schwarz am Zug gewinnt laut Tablebases

einen der weißen Springer nach 195 Zügen! Kasparow würde hierzu wohl sagen: ich habe den Finger Gottes auf dem Schach-brett gesehen. Ein Mathematiker oder Infor-matiker würde ihn trocken belehren, dass hier ein gut implementierter Algorithmus vorliegt. Hätten die Koryphäen Horwitz und Kling, Berger und Cheron oder Fine und Awerbach diese Stellung korrekt ana-lysieren können? Sicher nicht! Freuen wir uns doch lieber, dass selbst im Endspiel noch ein Bereich bestehen bleibt, der dem menschlichen Geist nicht zugänglich ist!


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