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T. W. ADORNO

MINIMA MORALIA

Reflexionen aus dem beschädigten Leben

S U H R K A M P V E R L A GBERLIN U. FRANKFURT AM MAIN

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Ausstattung von Georg A. Mathéy

Erstes bis drittes TausendCopyright 1951 by Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten • Printed in GermanyDruck: Süddeutsche Verlagsanstalt und Druckerei G.m.b.H. Ludwigsburg

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FÜR MAX als Dank und Versprechen

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Z u e i g n u n g

Die traurige "Wissenschaft, aus der ich meinemFreunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Be-reich, der für undenkliche Zeiten als der eigent-liche der Philosophie galt, seit deren Verwandlungin Methode aber der intellektuellen Nichtachtung,der sententiösen Willkür und am Ende der Verges-senheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Waseinmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäredes Privaten und dann bloß noch des Konsums ge-worden, die als Anhang des materiellen Produk-tionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigeneSubstanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheitübers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessenentfremdeter Gestalt nachforschen, den objektivenMächten, die die individuelle Existenz bis ins Ver-borgenste bestimmen. Redet man unmittelbar vomUnmittelbaren, so verhält man kaum sich anders alsjene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mitbilligem Schmuck mit den Imitationen der Leiden-schaft von ehedem behängen, und Personen, dienichts mehr sind als Bestandstücke der Maschinerie,handeln lassen, als ob sie überhaupt noch als Sub-

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jekte handeln könnten, und als ob von ihrem Han-deln etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist über-gegangen in die Ideologie, die darüber betrügt, daßes keines mehr gibt.

Aber das Verhältnis von Leben und Produktion,das jenes real herabsetzt zur ephemeren Erschei-nung von dieser, ist vollendet widersinnig. Mittelund Zweck werden vertauscht. Noch ist die Ahnungdes aberwitzigen quid pro quo aus dem Leben nichtgänzlich ausgemerzt. Das reduzierte und degradierteWesen sträubt sich zäh gegen seine Verzauberungin Fassade. Die Änderung der Produktionsverhält-nisse selber hängt weithin ab von dem, was sich inder „Konsumsphäre", der bloßen Reflexionsformder Produktion und dem Zerrbild wahren Lebens,zuträgt: im Bewußtsein und Unbewußtsein der Ein-zelnen. Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion,als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßte, kön-nen die Menschen eine menschenwürdigere herbei-führen. Wird1 einmal der Schein des Lebens ganzgetilgt sein, den die Konsumsphäre selbst mit soschlechten Gründen verteidigt, so wird das Un-wesen der absoluten Produktion triumphieren.

Trotzdem bleibt so viel Falsches bei Betrachtun-gen, die vom Subjekt ausgehen, wie das LebenSchein ward. Denn weil in der gegenwärtigen Phase

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der geschichtlichen Bewegung deren überwältigendeObjektivität einzig erst in der Auflösung des Sub-jekts besteht, ohne daß ein neues schon aus ihr ent-sprungen wäre, stützt die individuelle Erfahrungnotwendig sich auf das alte Subjekt, das historischverurteilte, das für sich noch ist, aber nicht mehran sich. Es meint seiner Autonomie noch sicher zusein, aber die Nichtigkeit, die das Konzentrations-lager den Subjekten demonstrierte, ereilt bereitsdie Form von Subjektivität selber. Der subjektivenBetrachtung, sei sie auch kritisch gegen sich ge-schärft, haftet ein Sentimentales und Anachronisti-sches an: etwas von der Klage über den Weltlauf,die nicht um seiner Güte willen zu verwerfen wäre,sondern weil das klagende Subjekt sich in seinemSosein zu verhärten droht und damit wiederum dasGesetz des Weltlaufs zu erfüllen. Die Treue zumeigenen Stand von Bewußtsein und Erfahrung istallemal in Versuchung, zur Treulosigkeit zu miß-raten, indem sie die Einsicht verleugnet, welche übersIndividuum hinausgreift und dessen Substanz sel-ber beim Namen ruft.

So hat Hegel, an dessen Methode die der MinimaMoralia sich schulte, gegen das bloße Für sich Seinder Subjektivität auf all ihren Stufen argumentiert.Die dialektische Theorie, abhold jeglichem Ver-

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einzelten, kann denn auch Aphorismen als solchenicht gelten lassen. Im freundlichsten Falle dürftensie, nach dem Sprachgebrauch der Vorrede der Phä-nomenologie des Geistes, toleriert werden als „Kon-versation". Deren Zeit aber ist um- Gleichwohl ver-gißt das Buch nicht sowohl den Totalitätsanspruchdes Systems, das nicht dulden möchte, daß man ausihm herausspringt, als daß es dagegen aufbegehrt.Hegel halt sich dem Subjekt gegenüber nicht an dieForderung, die er sonst leidenschaftlich vorträgt:die, in der Sache zu sein und nicht „immer darüberhinaus", anstatt „in den immanenten Inhalt derSache einzugehen". Verschwindet heute das Sub-jekt, so nehmen die Aphorismen es schwer, daß „dasVerschwindende selbst als wesentlich zu betrachten"sei. Sie insistieren in Opposition zu Hegels Verfah-ren und gleichwohl in Konsequenz seines Gedan-kens auf der Negativität: „Das Leben des Geistesgewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der abso-luten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Machtist er nicht als das Positive, welches von dem Ne-gativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen,dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig,davon weg zu irgend etwas anderem übergehen;sondern er ist diese Macht nur, indem er demNegativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt."

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Die erledigende Gebärde, mit welcher Hegel imWiderspruch zur eigenen Einsicht stets wieder dasIndividuelle traktiert, rührt paradox genug her vonseiner notwendigen Befangenheit in liberalistischemDenken. Die Vorstellung einer durch ihre Anta-gonismen hindurch harmonischen Totalität nötigtihn dazu, der Individuation, mag immer er sie alstreibendes Moment des Prozesses bestimmen, in derKonstruktion des Ganzen einzig minderen Rangzuzuerkennen. Daß in der Vorgeschichte die objek-tive Tendenz über den Köpfen der Menschen, javermöge der Vernichtung des Individuellen sichdurchsetzt, ohne daß bis heute die im Begriff kon-struierte Versöhnung von Allgemeinem undBeson-derem geschichtlich vollbracht wäre, verzerrt sichbei ihm: mit überlegener Kälte optiert er nochmalsfür die Liquidation des Besonderen. Nirgends wirdbei ihm der Primat des Ganzen bezweifelt. Je frag-würdiger der Übergang von der reflektierenden Ver-einzelung zur verherrlichten Totalität wie in derGeschichte so auch in der Hegelschen Logik bleibt,desto eifriger hängt Philosophie, als Rechtfertigungdes Bestehenden, sich an den Triumphwagen derobjektiven Tendenz. Die Entfaltung eben des ge-sellschaftlichen Individuationsprinzips zum Sieg derFatalität bietet ihr dazu Anlaß genug. Indem Hegel

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sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektivenund Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objek-tiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erschei-nung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, dieaus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also dasSubjektive; und subjektiv nennen sie, was jenedurchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sacheeintritt, der geurteilten Convenus darüber sich ent-schlägt und die Beziehung auf den Gegenstand an-stelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihnnicht einmal anschauen, geschweige denken — alsodas Objektive. Wie windig der formale Einwandsubjektiver Relativität ist, stellt sich auf desseneigentlichem Felde heraus, dem der ästhetischenUrteile. Wer jemals aus der Kraft seines präzisenReagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks,dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang sei-ner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht derVorbehalt des bloß Subjektiven seiner Erfahrungwie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, den ervermöge seiner extrem subjektiven Innervation indie Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel grö-ßere objektive Gewalt als die umfassenden undwohlbestätigten Begeriffsbildungen etwa des „Stils",deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten sol-cher Erfahrung geht. Das ist doppelt wahr in der

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ebensoviel gewonnen, wie es andererseits von derVergesellschaftung der Gesellschaft geschwächt undausgehöhlt wurde. Im Zeitalter seines Zerfalls trägtdie -Erfahrung des Individuums von sich und dem,was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnisbei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es alsherrschende Kategorie ungebrochen positiv sich aus-legte. Angesichts der totalitären Einigkeit, welchedie Ausmerzung der Differenz unmittelbar als Sinnausschreit, mag temporär etwas sogar von der be-freienden gesellschaftlichen Kraft in die Sphäre desIndividuellen sich zusammengezogen haben. In ihrverweilt die kritische Theorie nicht nur mit schlech-tem Gewissen.

All das soll das Anfechtbare des Versuchs nichtverleugnen. Ich habe das Buch großenteils nochwährend des Krieges geschrieben, unter Bedingun-gen der Kontemplation. Die Gewalt, die mich ver-trieben hatte, verwehrte mir zugleich ihre volle Er-kenntnis. Ich gestand mir noch nicht die Mitschuldzu, in deren Bannkreis gerät, wer angesichts desUnsäglichen, das kollektiv geschah, von Individuel-lem überhaupt redet.

In den drei Teilen wird jeweils ausgegangen vomengsten privaten Bereich, dem des Intellektuellen inder Emigration. Daran schließen sich Erwägungen

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weiteren gesellschaftlichen und anthropologischenUmfangs: sie betreffen Psychologie, Ästhetik, Wis-senschaft in ihrem Verhältnis zum Subjekt. DieabschließendenAphorismen jeden Teils führen auchthematisch auf die Philosophie, ohne je als abge-schlossen und definitiv sich zu behaupten: alle wol-len Einsatzstellen markieren oder Modelle abgebenfür kommende Anstrengung des Begriffs.

Den unmittelbaren Anlaß zur Niederschrift botder fünfzigste Geburtstag Max Horkheimers am14. Februar 1945. Die Ausführung fiel in eine Phase,in der wir, äußeren Umstanden Rechnung tragend,die gemeinsame Arbeit unterbrechen mußten. Dankund Treue will das Buch bekunden, indem es ctieUnterbrechung nicht anerkennt. Es ist Zeugnis einesdialogue interieur: kein Motiv findet sich darin, dasnicht Horkheimer ebenso zugehörte wie dem, derdie Zeit zur Formulierung fand, während der an-dere all seine Kraft an den Beitrag zur gesellschaft-lichen Praxis wandte, den das Institut für Sozial-forschung zu leisten für notwendig hielt. Hork-heimer organisierte und leitete die weitschichtigenUntersuchungen über Rassenhaß, die uns länger alsfünf Jahre beschäftigten. Ihr Niederschlag ist diejüngst in Amerika veröffentlichte Buchreihe „Stu-dies in Prejudice".

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Der spezifische Ansatz der Minima Moralia, ebender Versuch, Momente der gemeinsamen Philosophievon subjektiver Erfahrung her darzustellen, be-dingt es, daß die Stücke nicht durchaus vor derPhilosophie bestehen, von der sie doch selber einStück sind. Das will das Lose und Unverbindlicheder Form, der Verzicht auf expliziten theoretischenZusammenhang mit ausdrücken. Zugleich möchtesolche Askese etwas von dem Unrecht wieder gut-machen, daß einer allein an dem weiterarbeitete,was doch nur von beiden vollbracht werden kann,und wovon wir nicht ablassen.

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MINIMA MORALIA

Erster Teil

1944

Das Leben lebt nichtFerdinand Kürnbirger

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Für Marcel Proust. — Der Sohn wohl-habender Eltern, der, gleichgültig ob aus Talentoder Schwäche, einen sogenannten intellektuellenBeruf, als Künstler oder Gelehrter, ergreift, hat esunter denen, die den degoutanten Namen des Kol-legen tragen, besonders schwer. Nicht bloß, daßihm die Unabhängigkeit geneidet wird, daß mandem Ernst seiner Absicht mißtraut und in ihm einenheimlichen Abgesandten der etablierten Mächte ver-mutet. Solches Mißtrauen zeugt zwar von Ressen-timent, würde aber meist seine Bestätigung finden.Jedoch die eigentlichen Widerstände liegen anders-wo. Die Beschäftigung mit geistigen Dingen istmittlerweile selber „praktisch", zu einem Geschäftmit strenger Arbeitsteilung, mit Branchen und nume-rus clausus geworden. Der materiell Unabhängige,der sie aus Widerwillen gegen die Schmach des Geld-verdienens wählt, wird nicht geneigt sein, das an-zuerkennen. Dafür wird er bestraft. Er ist kein„Professional", rangiert in der Hierarchie der Kon-kurrenten als Dilettant, gleichgültig wieviel er sach-lich versteht, und muß, wenn er Karriere machen

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will, den stursten Fachmann an entschlossener Bor-niertheit womöglich noch übertrumpfen. Die Sus-pension der Arbeitsteilung, zu der es ihn treibt, unddie in einigen Grenzen seine Ökonomische Lage zuverwirklichen ihn befähigt, gilt als besonders an-rüchig: sie verrät die Abneigung, den von der Ge-sellschaft anbefohlenen Betrieb zu sanktionieren,und die auftrumpfende Kompetenz läßt solche Idio-synkrasien nicht zu. Die Departementalisierung desGeistes ist ein Mittel, diesen dort abzuschaffen, woer nicht ex officio, im Auftrag betrieben wird. Estut seine Dienste um so zuverlässiger, als stets der-jenige, der die Arbeitsteilung kündigt — wäre esauch nur, indem seine Arbeit ihm Lust bereitet —,nach deren eigenem Maß Blößen sich gibt, die von denMomenten seiner Überlegenheit untrennbar sind.So ist für die Ordnung gesorgt: die einen müssenmitmachen, weil sie sonst nicht leben können, unddie sonst leben könnten, werden draußen gehalten,weil sie nicht mitmachen wollen. Es ist, als rächtesich die Klasse, von der die unabhängigen Intellek-tuellen desertiert sind, indem zwangshaft ihre For-derungen dort sich durchsetzen, wo der DeserteurZuflucht sucht.

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Rasenbank. — Das Verhältnis zu den Elternbeginnt traurig, schattenhaft sich zu verwandeln.Durch ihre ökonomische Ohnmacht haben sie ihreSchrecken verloren. Einmal rebellierten -wir gegenihre Insistenz auf dem Realitätsprinzip, die Nüch-ternheit, die stets bereit war, in "Wut gegen denNicht-Entsagenden umzuschlagen. Heute aber fin-den wir uns einer angeblich jungen Generation ge-genüber, die in jeder ihrer Regungen unerträglichviel erwachsener ist, als je die Eltern es waren; dieentsagt hat, schon ehe es zum Konflikt überhauptkam, und daraus ihre Macht zieht, verbissen auto-ritär und unerschütterlich. Vielleicht hat man zuallen Zeiten die Generation der Eltern als harmlosund entmächtigt erfahren, wenn ihrephy sischeKraf tnachließ, während die eigene selber schon von derJugend bedroht schien: in der antagonistischen Ge-sellschaft ist auch das Generationsverhältnis einesvon Konkurrenz, hinter der die nackte Gewalt steht.Heute aber beginnt es auf einen Zustand zu regre-dieren, der zwar keinen Ödipuskomplex kennt, aberden Vatermord. Es gehört zu den symbolischenUntaten der Nazis, uralte Leute umzubringen. Insolchem Klima stellt ein spätes und wissendes Ein-

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Verständnis mit den Eltern sich her, das von Ver-urteilten untereinander, gestört nur von der Angst,wir möchten, selber ohnmächtig, einmal nichtfähig sein, so gut für sie zu sorgen, wie sie für unssorgten, als sie etwas besaßen. Die Gewalt, die ihnenangetan wird, macht die Gewalt vergessen, die sieübten. Noch ihre Rationalisierungen, die ehemalsverhaßten Lügen, mit denen sie ihr partikularesInteresse als allgemeines zu rechtfertigen suchten,zeigen die Ahnung der Wahrheit an, den Drang zurVersöhnung des Konflikts, den die positive Nach-kommenschaft fröhlich verleugnet. Noch der ver-blasene,inkonsequente und sich selbst mißtrauendeGeist der Älteren ist eher ansprechbar als die ge-witzigte Stupidität von Junior. Noch die neuro-tischen Absonderlichkeiten und Mißbildungen deralten Erwachsenen repräsentieren den Charakter,das menschlich Gelungene, verglichen mit der pa-thischen Gesundheit, dem zur Norm erhobenen In-fantilismus. Mit Schrecken muß man einsehen, daßman oft früher schon, wenn man den Eltern oppo-nierte, weil sie die Welt vertraten, insgeheim dasSprachrohr der schlechteren Welt gegen die schlechtewar. Unpolitische Ausbruchsversuche aus der bürger-lichen Familie führen in deren Verstrickung meistnur um so tiefer hinein, und manchmal will es

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scheinen, als wäre die unselige Keimzelle der Gesell-schaft, die Familie, zugleich auch die hegende Keim-zelle des kompromißlosen Willens zur anderen.Mit der Familie zerging, während das System fort-besteht, nicht nur die wirksamste Agentur des Bür-gertums, sondern der Widerstand, der das Indi-viduum zwar unterdrückte, aber auch stärkte, wennnicht gar hervorbrachte. Das Ende der Familielähmt die Gegenkräfte. Die heraufziehende kollek-tivistische Ordnung ist der Hohn auf die ohneKlasse: im Bürger liquidiert sie zugleich die Utopie,

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die einmal von der Liebe der Mutter zehrte.

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F i s c h i m W a s s e r . — Seit der umfassendeVerteilungsapparat der hochkonzentrierten Indu-strie die Sphäre der Zirkulation ablöst, beginntdiese eine wunderliche Post-Existenz. Während denVermittlerberufen die ökonomische Basis entschwin-det, wird das Privatleben Ungezählter zu dem vonAgenten und Vermittlern, ja der Bereich des Pri-vaten insgesamt wird verschlungen von einer rätsel-haften Geschäftigkeit, die alle Züge der kommer-ziellen trägt, ohne daß es eigentlich dabei etwas zu

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handeln gibt. Die Verängstigten, vom Arbeitslosenbis zum Prominenten, der sich im nächsten Augen-blick den Zorn jener, deren Investition er darstellt,zuziehen kann, glauben nur durch Einfühlung, Be-flissenheit, zur Verfügung Stehen, durch Schlicheund Tücke der als allgegenwärtig vorgestellten Exe-kutive sich zu empfehlen, durch Händlerqualitäten,und bald gibt es keine Beziehung mehr, die es nichtauf Beziehungen abgesehen hätte, keine Regung, dienicht einer Vorzensur unterstünde, ob man auchnicht vom Genehmen abweicht. Der Begriff der Be-ziehungen, eine Kategorie von Vermittlung undZirkulation, ist nie in der eigentlichen Zirkulations-sphäre am besten gediehen, auf dem Markt, sondernin geschlossenen, monopolartigen Hierarchien. Nundie ganze Gesellschaft hierarchisch wird, saugendie trüben Beziehungen auch überall dort sich fest,wo es noch den Schein von Freiheit gab. Die Irratio-nalität des Systems kommt kaum weniger als imÖkonomischen Schicksal des Einzelnen in dessenparasitärer Psychologie zum Ausdruck. Früher, alses noch etwas wie die verrufen bürgerliche Trennungvon Beruf und Privatleben gab, der man fast schonnachtrauern möchte, wurde als unmanierlicher Ein-dringling mit Mißtrauen gemustert, wer in der Pri-vatsphäre Zwecke verfolgte. Heute erscheint der als

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arrogant, fremd und nicht zugehörig, der auf Pri-vates sich einläßt, ohne daß ihm eine Zweckrichtunganzumerken wäre. Beinahe ist verdächtig, wer nichts„will": man traut ihm nicht zu, daß er, ohne durchGegenforderungen sich zu legitimieren, im Schnap-pen nach den Bissen einem behilflich sein könnte.Ungezählte machen aus einem Zustand, welcheraus der Liquidation des Berufs folgt, ihren Beruf.Das sind die netten Leute, die Beliebten, die mitallen gut Freund sind, die Gerechten, die humanjede Gemeinheit entschuldigen und unbestechlichjede nicht genormte Regung als sentimental ver-femen. Sie sind unentbehrlich durch Kenntnis allerKanäle und Abzugslöcher der Macht, erraten ihregeheimsten Urteilssprüche und leben von deren be-hender Kommunikation. Sie finden sich in allen po-litischen Lagern, auch dort, wo die Ablehnung desSystems für selbstverständlich gilt und damit einenlaxen und abgefeimten Konformismus eigener Artausgebildet hat. Oft bestechen sie durch eine ge-wisse Gutartigkeit, durch mitfühlenden Anteil amLeben der andern: Selbstlosigkeit auf Spekulation.Sie sind klug, witzig, sensibel und reaktionsfähig:sie haben den alten Händlergeist mit den Errungen-schaften der je vorletzten Psychologie aufpoliert.Zu allem sind sie fähig, selbst zur Liebe, doch stets

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Treulos. Sie betrügen nicht aus Trieb, sondern ausPrinzip: noch sich selber werten sie als Profit, densie keinem anderen gönnen. An den Geist bindet sieWahlverwandtschaft und Haß: sie sind eine Versu-chung für Nachdenkliche, aber auch deren schlimmsteFeinde. Denn sie sind es, die noch die letzten Schlupf-winkel des Widerstands, die Stunden, welche vonden Anforderungen der Maschinerie freibleiben,subtil ergreifen und verschandeln. Ihr verspäteterIndividualismus vergiftet, was vom Individuumetwa noch übrig ist.

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L e t z t e K l a r h e i t . — Im Zeitungsnachruf füreinen Geschäftsmann stand einmal: „Die Weite sei-nes Gewissens wetteiferte mit der Güte seines Her-zens". Die Entgleisung, die den trauernden Hinter-bliebenen in der für solche Zwecke aufgesparten,gehobenen Sprache widerfuhr, das unfreiwillige Zu-geständnis, der gütige Verblichene sei gewissenlosgewesen, expediert den Leichenzug auf dem kürze-sten Weg ins Land der Wahrheit. Wenn von einemMenschen vorgeschrittenen Alters gerühmt wird, ersei besonders abgeklärt, so ist anzunehmen, daß sein

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Leben eine Folge von Schandtaten darstellt. Auf-regung hat er sich abgewöhnt. Das weite Gewisseninstalliert sich als Weitherzigkeit, die alles verzeiht,weil sie es gar zu gründlich versteht. Zwischen dereigenen Schuld und der der anderen tritt ein quidpro quo ein, das zugunsten dessen aufgelöst wird,der das bessere Teil davontrug. Nach einem so lan-gen Leben weiß man schon gar nicht mehr zu unter-scheiden, wer wem was angetan hat. In der abstrak-ten Vorstellung des universalen Unrechts geht jedekonkrete Verantwortung unter. Der Schuft wendetsie so, als ob es gerade ihm widerfahren wäre: wennSie wüßten, junger Mann, wie das Leben ist. Dieaber schon mitten in jenem Leben durch besondereGüte sich auszeichnen, sind meist die, welche einenVorschußwechsel auf solche Abgeklärtheit ziehen.Wer nicht böse ist, lebt nicht abgeklärt, sondernin einer besonderen, schamhaften Weise verhärtetund unduldsam. Aus Mangel an geeigneten Objek-ten weiß er seiner Liebe kaum anders Ausdruckzu verleihen als im Haß gegen die ungeeigneten,durch den er freilich wiederum dem Verhaßten sichangleicht. Der Bürger aber ist tolerant. Seine Liebezu den Leuten, wie sie sind, entspringt dem Haßgegen den richtigen Menschen.

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Herr Doktor , das i s t schön von Euch.Es gibt nichts Harmloses mehr. Die kleinenFreu-den, die Äußerungen des Lebens, die von der Ver-antwortung des Gedankens ausgenommen scheinen,haben nicht nur ein Moment der trotzigen Albern-heit, des hartherzigen sich blind Machens sonderntreten unmittelbar in den Dienst ihres äußerstenGegensatzes. Noch der Baum, der blüht, lügt indem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohneden Schatten des Entsetzens wahrnimmt; noch dasunschuldige -»Wie schön wird zur Ausrede für dieSchmach des Daseins, das anders ist, und es ist keineSchönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick,der aufs Grauen geht, ihm standhält und im unge-milderten Bewußtsein der Negativität die Möglich-keit des Besseren festhält. Mißtrauen ist geraten ge-genüber allem Unbefangenen Legeren, gegenüberallem sich Gehenlassen, das Nachgiebigkeit gegen dieÜbermacht des Existierenden einschließt. Der böseHintersinn des Behagens, der früher einmal auf dasProsit der Gemütlichkeit beschränkt war, hat längstfreundlichere Regungen ergriffen. Das Zufallsge-sprach mit dem Mann in der Eisenbahn, dem man, da-mit es nicht zu einem Streit kommt, auf ein paar Sätze

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zustimmt, von denen man weiß, daß sie schließlich aufden Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein StückVerrat; kein Gedanke ist immun gegen seine Kom-munikation, und es genügt bereits, ihn an falscherStelle und in falschem Einverständnis zu sagen, umseine Wahrheit zu unterhöhlen. Aus jedem Besuchdes Kinos komme ich bei aller Wachsamkeit düm-mer und schlechter wieder heraus. Umgänglichkeitselber ist Teilhabe am Unrecht, indem sie die er-kaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man nochmiteinander reden kann, und das lose, geselligeWort trägt bei, das Schweigen zu perpetuieren, in-dem durch die Konzessionen an den Angeredetendieser im Redenden nochmals erniedrigt wird. Dasböse Prinzip, das in der Leutseligkeit immer schongesteckt hat, entfaltet sich im egalitären Geist zuseiner ganzen Bestialität. Herablassung und Sichnicht besser Dünken sind das Gleiche. Durch dieAnpassung an die Schwäche der Unterdrückten be-stätigt man in solcher Schwäche die Voraussetzungder Herrschaft und entwickelt selber das Maß anGrobheit, Dumpfheit und Gewalttätigkeit, dessenman zur Ausübung der Herrschaft bedarf. Wenndabei, in der jüngsten Phase, der Gestus der Herab-lassung entfällt und Angleichung allein sichtbar wird,so setzt gerade in solcher vollkommenen Abblen-

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dung der Macht das verleugnete Klassenverhältnisum so unversöhnlicher sich durch. Für den Intellek-tuellen ist unverbrüchliche Einsamkeit die einzigeGestalt, in der er Solidarität etwa noch zu bewäh-ren vermag. Alles Mitmachen, alle Menschlichkeitvon Umgang und Teilhabe ist bloße Maske fürsstillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen.Einig sein soll man mit dem Leiden der Menschen:der kleinste Schritt zu ihren Freuden hin ist einerzur Verhärtung des Leidens.

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A n t i t h e s e . — Für den, der nicht mitmacht,besteht die Gefahr, daß er sich für besser hält alsdie andern und seine Kritik der Gesellschaft miß-braucht als Ideologie für sein privates Interesse.Während er danach tastet, die eigene Existenz zumhinfälligen Bilde einer richtigen zu machen, sollteer dieser Hinfälligkeit eingedenk bleiben und wis-sen, wie wenig das Bild das richtige Leben ersetzt.Solchem Eingedenken aber widerstrebt die Schwer-kraft des Bürgerlichen in ihm selber. Der Distan-zierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vordiesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine

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Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit,die im Erkennen als solchem liegt. Die eigene Distanzvom Betrieb ist ein Luxus, den einzig der Betriebabwirft. Darum trägt gerade jede Regung des sichEntziehens Züge des Negierten. Die Kälte, die sieentwickeln muß, ist von der bürgerlichen nicht zuunterscheiden. Auch wo es protestiert, versteckt sichim monadologischen Prinzip das herrschende Allge-meine. Die Beobachtung Prousts, daß die Photo-graphien der Großväter eines Herzogs und einesJuden aus dem Mittelstand einander so ähnlichsehen, daß keiner mehr an die soziale Rangordnungdenkt, trifft einen weit umfassenderen Sachverhalt:objektiv verschwinden hinter der Einheit der Epochealle jene Differenzen, die das Glück, ja die mora-lische Substanz der individuellen Existenz ausmachen.Wir stellen den Verfall der Bildung fest, und dochist unsere Prosa, gemessen an der Jacob Grimmsoder Bachofens, der Kulturindustrie in Wendungenähnlich, von denen wir nichts ahnen. Überdies kön-nen auch wir längst nicht mehr Latein und Grie-chisch wie Wolf oder Kirchhoff. Wir deuten auf denÜbergang der Zivilisation in den Analphabetismusund verlernen es selber, Briefe zu schreiben odereinen Text von Jean Paul zu lesen, wie er zu seinerZeit muß gelesen worden sein. Es graut uns vor der

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Verrohung des Lebens, aber die Absenz einer jedenobjektiv verbindlichen Sitte zwingt uns auf Schrittund Tritt zu Verhaltensweisen, Reden und Berech-nungen, die nach dem Maß des Humanen barbarischund selbst nach dem bedenklichen der guten Gesell-schaft taktlos sind. Mit der Auflösung des Liberalis-mus ist das eigentlich bürgerliche Prinzip, das derKonkurrenz, nicht überwunden, sondern aus derObjektivität des gesellschaftlichen Prozesses in dieBeschaffenheit der sich stoßenden und drängendenAtome, gleichsam in die Anthropologie übergegan-gen. Die Unterwerfung des Lebens unter den Pro-duktionsprozeß zwingt erniedrigend einem jeg-lichen etwas von der Isolierung und Einsamkeit auf,die wir für die Sache unserer überlegenen Wahl zuhalten versucht sind. Es ist ein so altes Bestandstückder bürgerlichen Ideologie, daß jeder Einzelne inseinem partikularen Interesse sich besser dünkt alsalle anderen, wie daß er die anderen als Gemein-schaft aller Kunden für höher schätzt als sich selber.Seitdem die alte Bürgerklasse abgedankt hat, führtbeides sein Nachleben im Geist der Intellektuellen,die die letzten Feinde der Bürger sind und die letztenBürger zugleich. Indem sie überhaupt noch Denkengegenüber der nackten Reproduktion des Daseinssich gestatten, verhalten sie sich als Privilegierte;

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indem sie es beim Denken belassen, deklarieren siedie Nichtigkeit ihres Privilegs. Die private Existenz,die sich sehnt, der menschenwürdigen ähnlich zusehen, verrät diese zugleich, indem die Ähnlichkeitder allgemeinen Verwirklichung entzogen wird, diedoch mehr als je zuvor der unabhängigen Besinnungbedarf. Es gibt aus der Verstricktheit keinen Aus-weg. Das einzige, was sich verantworten läßt, ist,den ideologischen Mißbrauch der eigenen Existenzsich zu versagen und im übrigen privat so beschei-den, unscheinbar und unprätentiös sich zu beneh-men, wie es längst nicht mehr die gute Erziehung,wohl aber die Scham darüber gebietet, daß einemin der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.

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They, t h e people. — Der Umstand, daßIntellektuelle meist mit Intellektuellen zu tun haben,sollte sie nicht dazu verführen, ihresgleichen fürnoch gemeiner zu halten als den Rest der Mensch-heit. Denn sie erfahren sich gegenseitig durchwegsin der beschämendsten und unwürdigsten Situationvon allen, der von konkurrierenden Bittstellern,und kehren sich damit fast zwangshaft untereinan-

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der die abscheulichsten Seiten zu. Die andern Men-schen, insbesondere die einfachen, deren Vorzügehervorzuheben der Intellektuelle so geneigt ist, be-gegnen ihm meist in der Rolle dessen, der einemetwas verkaufen will, ohne daß er darum fürchtet,der Kunde könne ihm je ins Gehege kommen. DerAutomechaniker, das Mädchen im Likörladen hates leicht, von Unverschämtheit frei zu bleiben: zurFreundlichkeit wird es ohnehin von oben angehal-ten. Wenn umgekehrt Analphabeten zu Intellek-tuellen kommen, um sich von ihnen Briefe aufsetzenzu lassen, so mögen auch jene leidlich gute Erfah-rungen machen. Sobald aber die einfachen Leute umihren Anteil am Sozialprodukt sich raufen müssen,übertreffen sie an Neid und Gehässigkeit alles, wasunter Literaten oder Kapellmeistern beobachtet wer-den kann. Die Glorifizierung der prächtigen under-dogs läuft auf die des prächtigen Systems heraus,das sie dazu macht. Berechtigte Schuldgefühle derer,die von der physischen Arbeit ausgenommen sind,sollten nicht zur Ausrede werden für die ''Idiotiedes Landlebens". Die Intellektuellen, die als ein-zige über die Intellektuellen schreiben und ihnenihren schlechten Namen in dem der Echtheit machen,verstärken die Lüge. Ein großer Teil des herrschen-den Antiintellektualismus und Irrationalismus, bis

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hinauf zu Huxley, wird in Gang gesetzt, indem dieSchreibenden den Konkurrenzmechanismus ankla-gen, ohne ihn zu durchschauen, und ihm so verfal-len. In ihrer eigensten Branche haben sie das Be-wußtsein des tat twam asi sich versperrt. Deshalblaufen sie dann in die indischen Tempel.

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Wenn dich die bösen Buben locken. —Es gibt einen amor intellectualis zum Küchenperso-nal, die Versuchung für theoretisch oder künstlerischArbeitende, den geistigen Anspruch an sich selbstzu lockern, unter das Niveau zu gehen, in Sacheund Ausdruck allen möglichen Gewohnheiten zufolgen, die man als wach Erkennender verworfenhat. Da keine Kategorie, ja selbst die Bildung nichtmehr dem Intellektuellen vorgegeben ist und tau-send Anforderungen der Betriebsamkeit die Kon-zentration gefährden, wird die Anstrengung, etwaszu produzieren, was einigermaßen stichhält, so groß,daß kaum einer ihrer mehr fähig bleibt. Weitersetzt der Druck der Konformität, der auf jedemProduzierenden lastet, dessen Forderung an sichselbst herab. Das Zentrum der geistigen Selbstdiszi-

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plin als solcher ist in Zersetzung begriffen. DieTabus, die den geistigen Rang eines Menschen aus-machen, oftmals sedimentierte Erfahrungen undunartikulierte Erkenntnisse, richten sich stets gegeneigene Regungen, die er verdammen lernte, die aberso stark sind, daß nur eine fraglose und unbefragteInstanz Ihnen Einhalt gebieten kann. Was fürsTriebleben gilt, gilt fürs geistige nicht minder: derMaler und Komponist, der diese und jene Farben-zusammenstellung oder Akkordverbindung als kit-schig sich untersagt, der Schriftsteller, dem sprach-liche Konfigurationen als banal oder pedantisch aufdie Nerven gehen, reagiert so heftig gegen sie, weilin ihm selber Schichten sind, die es dorthin lockt.Die Absage ans herrschende Unwesen der Kultursetzt voraus, daß man an diesem selber genug teil-hat, um es gleichsam in den eigenen Fingern zuckenzu fühlen, daß man aber zugleich aus dieser Teil-habe Kräfte zog, sie zu kündigen. Diese Kräfte, dieals solche des individuellen Widerstands in Erschei-nung treten, sind darum doch keineswegs selber bloßindividueller Art. Das intellektuelle Gewissen, indem sie sich zusammenfassen, hat ein gesellschaft-liches Moment so gut wie das moralische Überich.Es bildet sich an einer Vorstellung von der richtigenGesellschaft und deren Bürgern. Läßt einmal diese

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Vorstellung nach — und wer könnte noch blindvertrauend ihr sich überlassen —, so verliert derintellektuelle Drang nach unten seine Hemmung,und aller Unrat, den die barbarische Kultur im In-dividuum zurückgelassen hat, Halbbildung, sichGehenlassen, plumpe Vertraulichkeit, Ungeschliffen-heit kommt zum Vorschein. Meist rationalisiert essich auch noch als Humanität, als den Willen, an-deren Menschen sich verständlich zu machen, alswelterfahrene Verantwortlichkeit. Aber das Opferder intellektuellen Selbstdisziplin fällt dem, der esauf sich nimmt, viel zu leicht, als daß man ihmglauben dürfte, daß es eines ist. Drastisch wird dieBeobachtung an Intellektuellen, deren materielleLage sich geändert hat: sobald sie sich nur einiger-maßen einreden können, daß sie mit Schreiben undnichts anderem Geld verdienen müßten, lassen siebis auf die Nuance genau den gleichen Schund indie "Welt gehen, den sie als "Wohlbestallte einmalaufs heftigste verfemten. Ganz wie Emigranten, dieeinmal reich waren, in der Fremde oft nach Her-zenslust so geizig sind, wie sie es zu Hause schonimmer gern gewesen wären, so marschieren die Ver-armten im Geiste begeistert in die Hölle, die ihrHimmelreich ist.

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Vor a l l e m e i n s , mein Kind. — Die Un-moral der Lüge besteht nicht in der Verletzung dersakrosankten Wahrheit. Auf diese sich zu berufenhat am letzten eine Gesellschaft das Recht, die ihreZwangsmitglieder dazu verhält, mit der Spracheherauszurücken, um sie dann desto zuverlässigerereilen zu können. Es kommt der universalen Un-wahrheit nicht zu, auf der partikularen Wahrheitzu bestehen, die sie doch sogleich in ihr Gegenteilverkehrt. Trotzdem haftet der Lüge etwas Wider-wärtiges an, dessen Bewußtsein einem zwar vonder alten Peitsche eingeprügelt ward, aber zugleichetwas über die Kerkermeister besagt. Der Fehlerliegt bei der allzu großen Aufrichtigkeit. Wer lügt,schämt sich, denn an jeder Lüge muß er das Un-würdige der Welteinrichtung erfahren, die ihn zumLügen zwingt, wenn er leben will, und ihm dabeiauch noch ''Üb immer Treu' und Redlichkeit" vor-singt. Solche Scham entzieht den Lügen der sub-tiler Organisierten die Kraft. Sie machen es schlecht,und damit wird die Lüge recht eigentlich erst zurUnmoral am anderen. Sie schätzt ihn als dumm einund dient der Nichtachtung zum Ausdruck. Unterden abgefeimten Praktikern von heute hat die Lüge

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längst ihre ehrliche Funktion verloren, über Realeszu täuschen. Keiner glaubt keinem, alle wissen Be-scheid. Gelogen wird nur, um dem andern zu ver-stehen zu geben, daß einem nichts an ihm liegt, daßman seiner nicht bedarf, daß einem gleichgültig ist,was er über einen denkt. Die Lüge, einmal ein libe-rales Mittel der Kommunikation, ist heute zu einerder Techniken der Unverschämtheit geworden, mitderen Hilfe jeder einzelne die Kälte um sich ver-breitet, in deren Schutz er gedeihen kann.

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G e t r e n n t - v e r e i n t . — Die Ehe, derenschmähliche Parodie fortlebt in einer Zeit, die demMenschenrecht der Ehe den Boden entzogen hat,dient heute meist dem Trick der Selbsterhaltung:daß einer der beiden Verschworenen jeweils dieVerantwortung für alles Üble, das er begeht, nachaußen dem andern zuschiebt, während sie in Wahr-heit trüb und sumpfig zusammen existieren. Eineanständige Ehe wäre erst eine, in der beide ihreigenes unabhängiges Leben für sich haben, ohnedie Fusion, die von der ökonomisch erzwungenenInteressengemeinschaft herrührt, dafür aber aus

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Freiheit die wechselseitige Verantwortung füreinan-der auf sich nähmen. Die Ehe als Interessengemein-schaft bedeutet unweigerlich die Erniedrigung derInteressenten, und es ist das Perfide der Weltein-richtung, daß keiner, wüßte er auch darum, solcherErniedrigung sich entziehen kann. Manchmal könnteman daher auf den Gedanken verfallen, daß nursolchen, die der Verfolgung von Interessen enthobensind, also Reichen, die Möglichkeit einer Ehe ohneSchande vorbehalten sei. Aber diese Möglichkeit istganz formal, denn jene Privilegierten sind es gerade,denen die Verfolgung des Interesses zur zweitenNatur wurde — sonst behaupteten sie nicht dasPrivileg.

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Tisch und Bett. — Sobald Menschen, auchgutartige, freundliche und gebildete, sich scheidenlassen, pflegt eine Staubwolke aufzusteigen, die allesüberzieht und verfärbt, womit sie in Berührungkommt. Es ist, als hätte die Sphäre der Intimität,das unwachsame Vertrauen des gemeinsamen Le-bens sich in einen bösen Giftstoff verwandelt, wenndie Beziehungen zerbrochen sind, jn denen sie be-

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ruhte. Das Intime zwischen Menschen ist Nachsicht,Duldung, Zuflucht für Eigenheiten. Wird es her-vorgezerrt, so kommt von selber das Moment derSchwäche daran zum Vorschein, und bei der Schei-dung ist eine solche Wendung nach außen unver-meidlich. Sie bemächtigt sich des Inventars der Ver-trautheit. Dinge, die einmal Zeichen liebender Sorge,Bilder von Versöhnung gewesen sind, machen sichplötzlich als Werte selbständig und zeigen ihre böse,kalte und verderbliche Seite. Professoren brechennach der Trennung in die Wohnung ihrer Frau ein,um Gegenstände aus dem Schreibtisch zu entwen-den, und wohldotierte Damen denunzieren ihreMänner wegen Steuerhinterziehung. Gewährt dieEhe eine der letzten Möglichkeiten, humane Zellenim inhumanen Allgemeinen zu bilden, so rächt dasAllgemeine sich in ihrem Zerfall, indem es desscheinbar Ausgenommenen sich bemächtigt, den ent-fremdeten Ordnungen von Recht und Eigentum esunterstellt und die verhöhnt, die davor sich sicherwähnten. Gerade das Behütete wird zum grau-samen Requisit des Preisgegebenseins. Je „groß-zügiger" die Vermählten ursprünglich zueinandersich verhielten, je weniger sie an Besitz und Ver-pflichtung dachten, desto abscheulicher wird die Ent-würdigung. Denn es ist eben der Bereich des recht-

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lieh Undefinierten, in dem Streit, Diffamierung, derendlose Konflikt der Interessen gedeiht. All dasDunkle, auf dessen Grund die Institution der Ehesich erhebt, die barbarische Verfügung des Mannesüber Eigentum und Arbeit der Frau, die nicht min-der barbarische Sexualunterdrückung, die den Manntendenziell dazu nötigt, für die sein Leben lang dieVerantwortung zu übernehmen, mit der zu schla-fen ihm einmal Lust bereitete — all das kriecht ausden Kellern und Fundamenten ins Freie, wenn dasHaus demoliert wird. Die einmal das gute Allge-meine in der beschränkenden Zugehörigkeit zueinan-der erfuhren, werden nun von der Gesellschaft ge-zwungen, sich für Schurken zu halten und zu lernen,daß sie dem Allgemeinen der unbeschränkten Ge-meinheit draußen gleichen. Das Allgemeine erweistsich bei der Scheidung als das Schandmal des Beson-deren, weil das Besondere, die Ehe, das wahre Allge-meine in dieser Gesellschaft nicht zu verwirklichenvermag.

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I n t e r p a r e s . — Im Reich der erotischen Qua-litäten scheint eine Umwertung sich zu vollziehen.Unterm Liberalismus, bis in unsere Tage hinein,

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pflegten verheiratete Männer aus guter Gesellschaft,denen ihre behütet erzogene und korrekte Gattinzu wenig zu bieten vermochte, an Künstlerinnen,Bohemiennen, süßen Mädeln und Kokotten sichschadlos zu halten. Mit der Rationalisierung derGesellschaft ist diese Möglichkeit von unreglemen-tiertem Glück entschwunden. Die Kokotten sindausgestorben, die süßen Mädeln hat es in angel-sächsischen und anderen Ländern technischer Zivili-sation eh nicht gegeben, die Künstlerinnen und dieum die Massenkultur parasitär angesetzte Bohèmeaber sind von deren Vernunft so vollkommen durch-drungen, daß, wer zu ihrer Anarchie, der freien Ver-fügung über den eigenen Tauschwert, verlangendsich flüchtete, in Gefahr stünde, mit der Verpflich-tung aufzuwachen, sie, wenn nicht als Assistentinengagieren, so wenigstens an einen ihm bekanntenFilmgewaltigen oder Skribenten empfehlen zu müs-sen. Die einzigen, die etwas wie unvernünftige Liebeüberhaupt noch sich leisten können, sind eben jeneDamen, vor denen die Ehegatten einmal davonund zu Maxim gingen. Während sie ihren eigenenMännern durch deren Schuld noch so langweiligsind wie ihre Mütter, vermögen sie den andern we-nigstens das zu gewähren, was sonst von allen ihnenvorenthalten wird. Die längst frigide Libertine re-

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aus der Arbeitsteilung und der Zerlegung des Men-schen nach Sektoren des Produktionsprozesses undder Freiheit sich ergab, tritt am Ende selbst noch inden Dienst der Produktion. „Der spezialistische, Virtuose'", schrieb ein Dialektiker vor dreißig Jah-ren, „der Verkäufer seiner objektivierten und ver-sachlichten geistigen Fähigkeiten ... gerat auch Ineine kontemplative Attitüde zu dem Funktionierenseiner eigenen, objektivierten und versachlichtenFähigkeiten. Am groteskesten zeigt sich diese Struk-tur im Journalismus, wo gerade die Subjektivitätselbst, das Wissen, das Temperament, die Aus-drucksfähigkeit zu einem abstrakten, sowohl vonder Persönlichkeit des ^Besitzers' wie von dem mate-riell-konkreten Wesen der behandelten Gegenständeunabhängigen und eigengesetzlich in Gang gebrach-ten Mechanismus wird. Die Besinnungslosigkeit'der Journalisten, die Prostitution ihrer Erlebnisseund Überzeugungen ist nur als Gipfelpunkt derkapitalistischen Verdinglichung begreifbar." Washier an den „Entartungserscheinungen" des Bürger-tums festgestellt wird, die es selber noch denun-zierte, ist mittlerweile als die gesellschaftliche Normhervorgetreten, als Charakter der vollwertigen Exi-stenz unterm späten Industrialismus. Längst han-delt es sich nicht mehr um den bloßen Verkauf des

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Zugehörigen, feindselig gegen die abgestempeltenanderen. Der Anteil des Sozialprodukts, der auf dieFremden entfällt, will nicht ausreichen und treibtsie zur hoffnungslosen zweiten Konkurrenz unter-einander inminen der allgemeinen. All das hinter-läßt Male in jedem Einzelnen. Wer selbst derSchmach der unmittelbaren Gleichschaltung ent-hoben ist, trägt als sein besonderes Mal eben dieseEnthobenheit, eine im Lebensprozeß der Gesell-schaft scheinhafte und irreale Existenz. Die Be-ziehungen zwischen den Verstoßenen sind mehrnoch vergiftet als die zwischen den Eingesessenen.Alle Gewichte werden falsch, die Optik verstört.Das Private drängt ungebührlich, hektisch, vampyr-haft sich vor, eben weil es eigentlich nicht mehrexistiert und krampfhaft sein Leben beweisen will.Das öffentliche wird zur Sache des unausgesproche-nen Treueids auf die Plattform. Der Blick nimmtdas Manische und zugleich Kalte des Greifens, Ver-schlingens, Beschlagnehmens an. Nichts hilft als diestandhaltende Diagnose seiner selbst und der an-deren, der Versuch, durch Bewußtsein wenn schonnicht dem Unheil zu entweichen, so ihm doch seineverhängnisvolle Gewalt, die der Blindheit, zu ent-ziehen. Äußerste Vorsicht ist geraten zumal in derAuswahl des privaten Umgangs, soweit sie einem

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gelassen ist. Hüten soll man sich vor allem, Mäch-tige zu suchen, von denen man „etwas zu erwartenhat". Der Blick auf mögliche Vorteile ist der Tod-feind der Bildung menschenwürdiger Beziehungenüberhaupt; aus solchen kann Solidarität und Für-einandereinstehen folgen, aber nie können sie imGedanken an praktische Zwecke entspringen. Kaumminder gefährlich sind die Spiegelbilder der Macht,Lakaien, Schmeichler und Schnorrer, die sich dem,der besser dran ist, in einer archaistischen Weise ge-fällig machen, wie sie nur unter den wirtschaftlichextraterritorialen Verhältnissen der Emigration ge-deihen kann. Während sie dem Protektor kleineVorteile bringen, ziehen sie ihn herab, sobald er sieannimmt, wozu ihn doch wiederum seine eigeneUnbeholfenheit in der Fremde unablässig verführt.Wenn in Europa der esoterische Gestus oft nur einVorwand war fürs blindeste Eigeninteresse, so scheintder abgetakelte und wenig wasserdichte Begriff deraustérité in der Emigration noch das annehmbarsteRettungsboot. Nur den wenigsten freilich steht esin gediegener Ausführung zur Verfügung. Den mei-sten, die es besteigen, droht es den Hungertod anoder den Wahnsinn.

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Le B o u r g e o i s Revenant. — Absurd hatin der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundertsdie obsolete Wirtschaftsform sich stabilisiert unddas Grauen vervielfacht, dessen sie bedarf, um sichaufrecht zu erhalten, nun ihre Sinnlosigkeit offenzutage liegt. Davon aber ist auch das Privatlebengezeichnet. Mit der Verfügungsgewalt hat sich zu-gleich die stickige Ordnung des Privaten, der Parti-kularismus der Interessen, die längst überholteForm der Familie, das Eigentumsrecht und seineReflexion im Charakter nochmals festgesetzt. Abermit schlechtem Gewissen, dem kaum verhohlenenBewußtsein der Unwahrheit. Was immer am Bür-gerlichen einmal gut und anständig war, Unab-hängigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsichtist verdorben bis ins Innerste. Denn während diebürgerlichen Existenzformen verbissen konserviertwerden, ist ihre ökonomische Voraussetzung entfal-len. Das Private ist vollends ins Privative überge-gangen, das es insgeheim von je war, und ins stureFesthalten am je eigenen Interesse hat sich die Wuteingemischt, daß man es eigentlich ja doch nichtmehr wahrzunehmen vermag, daß es anders undbesser möglich wäre. Die Bürger haben ihre Naivetät

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verloren und sind darüber ganz verstockt und bösegeworden. Die bewahrende Hand, die immer nochihr Gärtchen hegt und pflegt, als ob es nicht längstzum „lot" geworden wäre, aber den unbekanntenEindringling ängstlich fernhält, ist bereits die, welchedem politischen Flüchtling das Asyl verweigert. Alsobjektiv bedrohte werden die Machthaber und ihrAnhangsubjektiv vollends unmenschlich. So kommtdie Klasse zu sich selbst und macht den zerstörendenWillen des Weltlaufs sich zu eigen. Die Bürgerleben fort wie Unheil drohende Gespenster.

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Le Nouvel Avare. — Es gibt zweierleiArten von Geiz. Eine ist die archaische, die Leiden-schaft, die sich und anderen nichts gönnt, derenphysiognomischen Zug Molière verewigt, Freud alsanalen Charakter erklärt hat. Sie vollendet sich immiser, dem Bettler, der insgeheim über Millionenverfügt, gleichsam der puritanischen Maske des un-erkannten Kalifen aus dem Märchen. Er ist demSammler, dem Manischen, schließlich dem großenLiebenden verwandt wie Gobseck der Esther. Mantrifft ihn gerade noch als Kuriosität in den Lokal-

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spalten der Tagesblätter. Zeitgemäß ist der Geizige,dem nichts für sich und alles für die andern zu teuerist. Er denkt in Äquivalenten, und sein ganzesPrivatleben steht unter dem Gesetz, weniger zugeben als man zurückbekommt, aber doch stets ge-nug, daß man etwas zurückbekomme. Jeder Freund-lichkeit, die sie gewähren, ist die Überlegung: „istdas auch nötig?", „muß man das tun?" anzumer-ken. Ihr sicherstes Kennzeichen ist die Eile, fürempfangene Aufmerksamkeiten sich zu „revanchie-ren", um nur ja in der Verkettung der Tauschakte,bei denen man auf seine Kosten kommt, keine Lückeentstehen zu lassen. Weil bei ihnen alles rational,mit rechten Dingen zugeht, sind sie, anders als Har-pagon und Scrooge, nicht zu überführen und nichtzu bekehren. Ihre Liebenswürdigkeit ist ein Maßihrer Unerbittlichkeit. Wenn es gilt, setzen sie un-widerleglich sich ins Recht und das Recht ins Un-recht, während der Wahnsinn der schäbigen Geiz-hälse das Versöhnliche hatte, daß der Tendenz nachdas Gold in der Kassette den Dieb schon herbeizog,ja, daß erst in Opfer und Verlust ihre Leidenschaftsteh stillte wie das erotische Besitzenwollen in derSelbstpreisgabe. Die neuen Geizigen aber betreibendie Askese nicht mehr als Ausschweifung, sondernmit Vorsicht. Sie sind versichert.

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Z u r D i a l e k t i k d e s T a k t s . — G o e t h e ,der deutlich der drohenden Unmöglichkeit allermenschlichen Beziehungen in der heraufkommen-den Industriegesellschaft sich bewußt war, hat inden Novellen der Wanderjahre versucht, den Taktals die rettende Auskunft zwischen den entfrem-deten Menschen darzustellen. Diese Auskunft schienihm eins mit der Entsagung, mit Verzicht auf un-geschmälerte Nähe, Leidenschaft und ungebrochenesGlück. Das Humane bestand ihm in einer Selbst-einschränkung, die beschwörend den unausweich-lichen Gang der Geschichte zur eigenen Sache machte,die Inhumanität des Fortschritts, die Verküm-merung des Subjekts. Aber was seitdem geschah,läßt die Goethesche Entsagung selber als Erfüllungerscheinen. Takt und Humanität — bei ihm dasGleiche — sind mittlerweile eben den Weg gegan-gen, vor dem sie nach seinem Glauben bewahrensollten. Hat doch Takt seine genaue historischeStunde. Es ist die, in welcher das bürgerliche Indi-viduum des absolutistischen Zwangs ledig ward.Frei und einsam steht es für sich selber ein, währenddie vom Absolutismus entwickelten Formen hier-archischer Achtung und Rücksicht, ihres ökono-

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mischen Grundes und ihrer bedrohlichen Gewaltentäußert, gerade noch gegenwärtig genug sind, umdas Zusammenleben innerhalb bevorzugter Grup-pen erträglich zu machen. Solcher gleichsam para-doxe Einstand von Absolutismus und Liberalitätläßt wie im Wilhelm Meister noch an BeethovensStellung zu den überlieferten Schemata der Kom-position, ja bis in die Logik hinein, an Kants sub-jektiver Rekonstruktion der objektiv verpflichten-den Ideen sich wahrnehmen. Beethovens regelmäßigeReprisen nach den dynamischen Durchführungen,Kants Deduktion der scholastischen Kategorien ausder Einheit des Bewußtseins sind in einem eminen-ten Sinne „taktvoll". Voraussetzung des Takts istdie in sich gebrochene und doch noch gegenwärtigeKonvention. Diese ist nun unrettbar verfallen undlebt fort nur noch in der Parodie der Formen, einerwillkürlich ausgedachten oder erinnerten Etikettefür Ignoranten, wie ungebetene Ratgeber in Zei-tungen sie predigen, während das Einverständnis,das jene Konventionen zu ihrer humanen Stundetragen mochte, an die blinde Konformität der Auto-besitzer und Radiohörer übergegangen ist. Das Ab-sterben des zeremoniellen Moments scheint zunächstdem Takt zugute zu kommen. Er ist von allemHeteronomen, schlecht Auswendigen emanzipiert,

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und taktvolles Verhalten wäre kein anderes alseines, das sich allein nach der spezifischen Beschaf-fenheit eines jeglichen menschlichen Verhältnissesrichtet. Solcher emanzipierte Takt jedoch gerät; inSchwierigkeiten wie der Nominalismus allerorten.Takt meinte nicht einfach die Unterordnung unterdie zeremoniale Konvention: die gerade haben alleneueren Humanisten unablässig unter Ironie ge-stellt. Die Leistung des Takts war vielmehr so para-dox wie sein geschichtlicher Standort. Sie verlangtedie eigentlich unmögliche Versöhnung zwischen demunbestätigten Anspruch der Konvention und demungebärdigen des Individuums. Anders als an jenerKonvention ließ Takt gar nicht sich messen. Sie re-präsentierte, wie sehr auch verdünnt, das Allge-meine, das die Substanz des individuellen Anspruchsselber ausmacht. Takt ist eine Differenzbestimmung.Er besteht in wissenden Abweichungen. Indem erjedoch als emanzipierter dem Individuum als abso-lutem gegenübertritt, ohne ein Allgemeines, wovoner differieren könnte, verfehlt er das Individuumund tut endlich Unrecht ihm an. Die Frage nachdem Befinden, nicht langer von Erziehung gebotenund erwartet, wird zum Ausforschen oder zur Ver-letzung; das Schweigen über empfindliche Gegen-stände zur leeren Gleichgültigkeit, sobald keine

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Regel mehr angibt, worüber zu reden sei und wor-über nicht. Die Individuen beginnen denn auch,nicht ohne Grund, auf Takt feindselig zu reagieren:eine gewisse Art der Höflichkeit etwa läßt sie nichtsowohl als Menschen angesprochen sich fühlen, alsdaß sie in ihnen die Ahnung des unmenschlichen Zu-Stands erweckt, in welchem sie sich befinden, undder Höfliche läuft Gefahr, für den Unhöflichen zugelten, weil er von der Höflichkeit wie von einemüberholten Vorrecht noch Gebrauch macht. Schließ-lich wird der emanzipierte, rein individuelle Taktzur bloßen Lüge. Was von ihm im Individuumheute eigentlich getroffen wird, ist, was er ange-legentlich verschweigt, die tatsächliche und mehrnoch die potentielle Macht, die jeder verkörpert.Unter der Forderung, dem Individuum als solchem,ohne alle Präambeln, absolut angemessen gegenüberzu treten, liegt die eifernde Kontrolle darüber, daßjedes Wort stillschweigend sich selber Rechenschaftdavon gibt, was der Angeredete in der sich verhär-tenden Hierarchie, die alle einbegreift, darstellt undwelches seine Chancen sind. Der Nominalismus desTakts verhilft dem Allgemeinsten, der nackten Ver-fügungsgewalt, zum Triumph noch in den intim-sten Konstellationen. Die Abschreibung der Kon-ventionen als überholten, nutzlosen und äußerlichen

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Zierats bestätigt nur das Alleräußerlichste, ein Le-ben unmittelbarer Beherrschung. Daß dennoch derFortfall selbst dieses Zerrbilds von Takt in derKameraderie der Anrempelei, als Hohn auf Frei-heit, die Existenz noch unerträglicher macht, istbloß ein weiteres Anzeichen dafür, wie unmöglichdas Zusammenleben der Menschen unter den gegen-wärtigen Verhältnissen geworden ist.

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E i g e n t u m s v o r b e h a l t . — Die Signaturdes Zeitalters ist es, daß kein Mensch, ohne alle Aus-nahme, sein Leben in einem einigermaßen durchsich-tigen Sinn, wie er früher in der Abschätzung derMarktverhältnisse gegeben war, mehr selbst be-stimmen kann. Im Prinzip sind alle, noch die Mäch-tigsten Objekte. Sogar der Beruf des Generals bietetkeinen zureichenden Schutz mehr. Keine Abmachun-gen sind in der faschistischen Ära bindend genug,um die Hauptquartiere vor Fliegerangriffen zuschützen, und Kommandanten, die es mit der tra-ditionellen Vorsicht halten, werden von Hitler ge-hängt und von Chiang Kai-Shek geköpft. Darausfolgt unmittelbar, daß jeder, der versucht durchzu-

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kommen — und das Weiterleben selbst hat etwasWidersinniges wie die Träume, in denen man denWeltuntergang mitmacht und nach dessen Endeaus einem Kellerloch herauskriecht —, zugleich soleben sollte, daß er in jedem Augenblick fähig ist,sein Leben auszulöschen. Das ist als triste Wahrheitaus Zarathustras überschwenglicher Lehre vom freienTode hervorgetreten. Freiheit hat sich in die reineNegativität zusammengezogen, und was zur Zeitdes Jugendstils in Schönheit sterben hieß, hat sichreduziert auf den Wunsch, die unendliche Ernied-rigung des Daseins wie die unendliche Qual desSterbens abzukürzen in einer Welt, in der es längstSchlimmeres zu fürchten gibt als den Tod. — Dasobjektive Ende der Humanität ist nur ein andererAusdruck fürs Gleiche. Es besagt, daß der Einzelneals Einzelner, wie er das Gattungswesen Menschrepräsentiert, die Autonomie verloren hat, durchdie er die Gattung verwirklichen könnte.

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A s y l f ü r O b d a c h l o s e . — Wie es mit demPrivatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatzan. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr

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wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denenwir groß geworden sind, haben etwas Unerträg-liches angenommen: jeder Zug des Behagens darinist mit Verrat an der Erkenntnis, jede Spur derGeborgenheit mit der muffigen Interessengemein-schaft der Familie bezahlt. Die neusachlichen, dietabula rasa gemacht haben, sind von Sachverstän-digen für Banausen angefertigte Etuis, oder Fabrik-stätten, die sich in die Konsumsphäre verirrt haben,ohne alle Beziehung zum Bewohner: noch der Sehn-sucht nach unabhängiger Existenz, die es ohnehinnicht mehr gibt, schlagen sie ins Gesicht. Der mo-derne Mensch wünscht nahe am Boden zu schlafenwie ein Tier, hat mit prophetischem Masochismusein deutsches Magazin vor Hitler dekretiert und mitdem Bett die Schwelle von "Wachen und Traum ab-geschafft. Die Übernächtigen sind allezeit verfüg-bar und widerstandslos zu allem bereit, alert undbewußtlos zugleich. Wer sich in echte, aber zusam-mengekaufte Stilwohnungen flüchtet, balsamiert sichbei lebendigem Leibe ein. Will man der Verant-wortung fürs Wohnen ausweichen, indem man insHotel oder ins möblierte Apartement zieht, so machtman gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingun-gen der Emigration die lebenskluge Norm. Am ärg-sten ergeht es wie überall denen, die nicht zu wah-

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len haben. Sie wohnen wenn nicht in Slums so inBungalows, die morgen schon Laubenhütten, Trai-lers, Autos oder Camps, Bleiben unter freiem Him-mel sein mögen. Das Haus ist vergangen. Die Zer-störungen der europäischen Städte ebenso wie dieArbeits- und Konzentrationslager setzen bloß alsExekutoren fort, was die immanente Entwicklungder Technik über die Häuser längst entschieden hat.Diese taugen nur noch dazu, wie alte Konserven-büchsen fortgeworfen zu werden. Die Möglichkeitdes "Wohnens wird vernichtet von der der sozia-listischen Gesellschaft, die, als versäumte, der bür-gerlichen zum schleichenden Unheil gerät. KeinEinzelner vermag etwas dagegen. Schon wenn ersich mit Möbelentwürfen und Innendekoration be-schäftigt, gerät er in die Nähe des kunstgewerb-lichen Feinsinns vom Schlag der Bibliophilen, wieentschlossen er auch gegen das Kunstgewerbe imengeren Sinne angehen mag. Aus der Entfernung istder Unterschied von Wiener Werkstätte und Bau-haus nicht mehr so erheblich. Mittlerweile haben dieKurven der reinen Zweckform gegen ihre Funktionsich verselbständigt und gehen ebenso ins Orna-ment über wie die kubistischen Grundgestalten. Dasbeste Verhalten all dem gegenüber scheint noch einunverbindliches, suspendiertes: das Privatleben füh-

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ren, solange die Gesellschaftsordnung und die eige-nen Bedürfnisse es nicht anders dulden, aber es nichtso belasten, als wäre es noch gesellschaftlich sub-stantiell und individuell angemessen. „Es gehörtselbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zusein", schrieb Nietzsche bereits in der FröhlichenWissenschaft. Dem müßte man heute hinzufügen:es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hausezu sein. Darin zeigt sich etwas an von dem schwie-rigen Verhältnis, in dem der Einzelne zu seinemEigentum sich befindet, solange er überhaupt nochetwas besitzt. Die Kunst bestünde darin, in Evidenzzu halten und auszudrücken, daß das Privateigen-tum einem nicht mehr gehört, in dem Sinn, daß dieFülle der Konsumgüter potentiell so groß gewor-den ist, daß kein Individuum mehr das Recht hat,an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klam-mern; daß man aber dennoch Eigentum haben muß,wenn man nicht in jene Abhängigkeit und Not ge-raten will, die dem blinden Fortbestand des Besitz-verhältnisses zugute kommt. Aber die Thesis dieserParadoxie führt zur Destruktion, einer lieblosenNichtachtung für die Dinge, die notwendig auchgegen die Menschen sich kehrt, und die Antithesisist schon in dem Augenblick, in dem man sie aus-spricht, eine Ideologie für die, welche mit schlech-

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tem Gewissen das Ihre behalten wollen. Es gibtkein richtiges Leben im falschen.

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N i c h t a n k l o p f e n . — Die Technisierungmacht einstweilen die Gesten präzis und roh unddamit die Menschen. Sie treibt aus den Gebärdenalles Zögern aus, allen Bedacht, alle Gesittung. Sieunterstellt sie den unversöhnlichen, gleichsam ge-schichtslosen Anforderungen der Dinge. So wirdetwa verlernt, leise, behutsam und doch fest eineTür zu schließen. Die von Autos und Frigidairesmuß man zuwerfen, andere haben die Tendenz, vonselber einzuschnappen und so die Eintretenden zuder Unmanier anzuhalten, nicht hinter sich zublicken, nicht das Hausinnere zu wahren, das sieaufnimmt. Man wird dem neuen Menschentypusnicht gerecht ohne das Bewußtsein davon, was ihmunablässig, bis in die geheimsten Innervationenhinein, von den Dingen der Umwelt widerfährt.Was bedeutet es fürs Subjekt, daß es keine Fenster-flügel mehr gibt, die sich öffnen ließen, sondern nurnoch grob aufzuschiebende Scheiben, keine sachtenTürklinken sondern drehbare Knöpfe, keinen Vor-

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platz, keine Schwede gegen die Straße, keine Mauerum den Garten? Und welchen Chauffierenden hät-ten nicht schon die Kräfte seines Motors in Versu-chung geführt, das Ungeziefer der Straße, Passanten,Kinder und Radfahrer zuschanden zu fahren? Inden Bewegungen, welche die Maschinen von den sieBedienenden verlangen, liegt schon das Gewaltsame,Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschi-stischen Mißhandlungen. Am Absterben der Erfah-rung trägt Schuld nicht zum letzten, daß die Dingeunterm Gesetz ihrer reinen Zweckmäßigkeit eineForm annehmen, die den Umgang mit ihnen aufbloße Handhabung beschrankt, ohne einen Über-schuß, sei's an Freiheit des Verhaltens, sei's an Selb-ständigkeit desDinges zu dulden, der als Erfahrungs-kern überlebt, weil er nicht verzehrt wird vomAugenblick der Aktion.

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S t r u w w e l p e t e r . — Als Hume gegen seineweltfrcundlichen Landsleute die erkenntnistheore-tische Kontemplation, die unter Gentlemen seit jeanrüchige „reine Philosophie" zu verteidigen suchte,gebrauchte er das Argument; „Genauigkeit kommt

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immer der Schönheit zugute, und richtiges Denkendem zarten Gefühl". Das war selber pragmatistisch,und doch enthält es implizit und negativ die ganzeWahrheit über den Geist der Praxis. Die praktischenOrdnungen des Lebens, die sich geben, als kämensie den Menschen zugute, lassen in der Profitwirt-schaft das Menschliche verkümmern, und je mehrsie sich ausbreiten, um so mehr schneiden sie allesZarte ab. Denn Zartheit zwischen Menschen istnichts anderes als das Bewußtsein von der Möglich-keit zweckfreier Beziehungen, das noch die Zweck-verhafteten tröstlich streift; Erbteil alter Privilegien,das den privilegienlosen Stand verspricht. Die Ab-schaffung des Privilegs durch die bürgerliche ratioschafft am Ende auch dies Versprechen ab. WennZeit Geld ist, scheint es moralisch, Zeit zu sparen,vor allem die eigene, und man entschuldigt solcheSparsamkeit mit der Rücksicht auf den andern. Manist geradezu. Jede Hülle, die sich im Verkehr zwi-schen die Menschen schiebt, wird als Störung desFunktionierens der Apparatur empfunden, der sienicht nur objektiv eingegliedert sind, sondern alsdie sie mit Stolz sich selber betrachten. Daß sie, an-statt den Hut zu ziehen, mit dem Hallo der ver-trauten Gleichgültigkeit sich begrüßen, daß sie an-statt von Briefen sich anrede- und unterschriftslose

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Inter office Communications schicken, sind beliebigeSymptome einer Erkrankung des Kontakts. DieEntfremdung erweist sich an den Menschen geradedaran, daß die Distanzen fortfallen. Denn nur so-lange sie sich nicht mit Geben und Nehmen, Dis-kussion und Vollzug, Verfügung und Funktionimmerzu auf den Leib rücken, bleibt Raum genugzwischen ihnen für das feine Gefädel, das sie mit-einander verbindet und in dessen Auswendigkeitdas Inwendige erst sich kristallisiert. Reaktionärewie die Anhänger C. G. Jungs haben davon etwasgemerkt. „Es gehört", heißt es in einem Eranos-Aufsatz G. R. Heyers, „zur besonderen Gewohn-heit der von Zivilisation noch nicht völlig Geform-ten, daß ein Thema nicht direkt angegangen, janicht einmal bald erwähnt werden darf; das Ge-spräch muß sich vielmehr wie von allein in Spiralenauf seinen eigentlichen Gegenstand zu bewegen."Statt dessen gilt nun für die kürzeste Verbindungzwischen zwei Personen die Gerade, so als ob siePunkte waren. Wie man heutzutage Häuserwändeaus einem Stück gießt, so wird der Kitt zwischenden Menschen ersetzt durch den Druck, der sie zu-sammenhält. Was anders ist, wird gar nicht mehrverstanden, sondern erscheint, wenn nicht als Wiene-rische Spezialität mit einem Stich ins Oberkellner-

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hafte, als kindisches Vertrauen oder unerlaubte An-näherung. In Gestalt der paar Sätze über Gesundheitund Befinden der Gattin, die dem Geschäftsgesprächbeim Lunch vorausgehen, ist noch der Gegensatzzur Ordnung der Zwecke selber von dieser aufge-griffen, ihr eingefügt worden. Das Tabu gegen Fach-simpelei und die Unfähigkeit zueinander zu redensind in Wahrheit das Gleiche. Weil alles Geschäftist, darf dessen Name nicht genannt werden wieder des Stricks im Hause des Gehenkten. Hinter dempseudodemokratischen Abbau von Formelwesen,altmodischer Höflichkeit, nutzloser und nicht ein-mal zu Unrecht als Geschwätz verdächtiger Kon-versation, hinter der anscheinenden Erhellung undDurchsichtigkeit der menschlichen Beziehungen, dienichts Undefiniertes mehr zuläßt, meldet die nackteRoheit sich an. Das direkte Wort, das ohne Wei-terungen, ohne Zögern, ohne Reflexion dem anderndie Sache ins Gesicht sagt, hat bereits Form undKlang des Kommandos, das unterm Faschismus vonStummen an Schweigende ergeht. Die Sachlichkeitzwischen den Menschen, die mit dem ideologischenZierat zwischen ihnen aufräumt, ist selber bereitszur Ideologie geworden dafür, die Menschen alsSachen zu behandeln.

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Umtausch n i c h t g e s t a t t e t . — DieMenschen verlernen das Schenken. Der Verletzungdes Tauschprinzips haftet etwas Widersinniges undUnglaubwürdiges an; da und dort mustern selbstKinder mißtrauisch den Geber, als wäre das Ge-schenk nur ein Trick, um ihnen Bürsten oder Seifezu verkaufen. Dafür übt man charity, verwalteteWohltätigkeit, die sichtbare Wundstellen der Ge-sellschaft planmäßig zuklebt. In ihrem organisier-ten Betrieb hat die menschliche Regung schon keinenRaum mehr, ja die Spende ist mit Demütigung durchEinteilen, gerechtes Abwägen, kurz durch die Be-handlung des Beschenkten als Objekt notwendigverbunden. Noch das private Schenken ist auf einesoziale Funktion heruntergekommen, die man mitwiderwilliger Vernunft, unter sorgfältiger Inne-haltung des ausgesetzten Budgets, skeptischer Ab-schätzung des anderen und mit möglichst geringerAnstrengung ausführt. Wirkliches Schenken hattesein Glück in der Imagination des Glücks des Be-schenkten. Es heißt wählen, Zeit aufwenden, ausseinem Weg gehen, den anderen als Subjekt den-ken: das Gegenteil von Vergeßlichkeit. Eben dazuist kaum einer mehr fähig. Günstigenfalls schenken

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schenken. Ihnen verkümmern jene unersetzlichenFähigkeiten, die nicht in der Isolierzelle der reinenInnerlichkeit, sondern nur inFühlung mitder Warmeder Dinge gedeihen können. Kälte ergreift alles,was sie tun, das freundliche Wort, das ungesprochen,die Rücksicht, die ungeübt bleibt. Solche Kälteschlägt endlich zurück auf jene, von denen sie aus-geht. Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleichtdas Versöhnende am organischen Leben selber, istein Schenken. Wer dazu durch die Logik der Kon-sequenz unfähig wird, macht sich zum Ding underfriert.

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K i n d m i t d e m B a d e — Unter den Motivender Kulturkritik ist von Alters her zentral das derLüge: daß Kultur eine menschenwürdige Gesell-schaft vortäuscht, die nicht existiert; daß sie diemateriellen Bedingungen verdeckt, auf denen allesMenschliche sich erhebt, und daß sie mit Trost undBeschwichtigung dazu dient, die schlechte ökono-mische Bestimmtheit des Daseins am Leben zu er-halten. Es ist der Gedanke von der Kultur alsIdeologie, wie ihn auf den ersten Blick die bürger-

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liehe Gewaltlehre und ihr Widerpart, Nietzsche undMarx, miteinander gemeinsam haben. Aber geradedieser Gedanke, gleich allem Wettern über die Lüge,hat eine verdächtige Neigung, selber zur Ideologiezu werden. Das erweist sich am Privaten. Zwangs-haft reicht der Gedanke an Geld und aller Kon-flikt, den er mit sich führt, bis in die zartestenerotischen, die sublimsten geistigen Beziehungenhinein. Mit der Logik der Konsequenz und demPathos der "Wahrheit könnte daher die Kulturkritikfordern, daß die Verhältnisse durchaus auf ihrenmateriellen Ursprung reduziert, rücksichtslos undunverhüllt nach der Interessenlage zwischen den Be-teiligten gestaltet werden müßten. Ist doch der Sinnnicht unabhängig von der Genese, und leicht läßtan allem, was über das Materielle sich legt oder esvermittelt, die Spur von Unaufrichtigkeit, Senti-mentalität, ja gerade das verkappte und doppeltgiftige Interesse sich finden. Wollte man aber radi-kal danach handeln, so würde man mit dem Un-wahren auch alles Wahre ausrotten, alles was wieimmer ohnmächtig dem Umkreis der universellenPraxis sich zu entheben trachtet, alle schimärischeVorwegnahme des edleren Zustands, und würdeunmittelbar zur Barbarei übergehen, die man alsvermittelte der Kultur vorwirft. Bei den bürger-

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lichen Kulturkritikern nach Nietzsche war dieserUmschlag stets offenbar: begeistert unterschriebenhat ihn Spengler. Aber die Marxisten sind nicht da-vor gefeit. Einmal vom sozialdemokratischen Glau-ben an den kulturellen Fortschritt kuriert und deranwachsenden Barbarei gegenübergestellt, sind siein ständiger Versuchung, der „objektiven Tendenz"zuliebe jene zu advozieren und in einem Akt derDesperation das Heil vom Todfeind zu erwarten,der, als „Antithese", blind und mysteriös das guteEnde soll bereiten helfen. Die Hervorhebung desmateriellen Elements gegenüber dem Geist als Lügeentwickelt ohnehin eine Art bedenklicher Wahlver-wandtschaft mit der politischen Ökonomie, derenimmanente Kritik man betreibt, vergleichbar demEinverständnis zwischen Polizei und Unterwelt.Seitdem mit der Utopie aufgeräumt ist und dieEinheit von Theorie und Praxis gefordert wird, istman allzu praktisch geworden. Die Angst vor derOhnmacht der Theorie liefert den Vorwand, demallmächtigen Produktionsprozeß sich zu verschrei-ben und damit vollends erst die Ohnmacht derTheorie zuzugestehen. Züge des Hämischen sindschon der authentischen Marxischen Sprache nichtfremd, und heute bahnt eine Anähnelung von Ge-schäftsgeist und nüchtern beurteilender Kritik von

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vulgärem und anderem Materialismus sich an, inder es zuweilen schwer fällt., Subjekt und Objektrecht auseinander zu halten. — Kultur einzig mitLüge zu identifizieren ist am verhängnisvollsten indem Augenblick, da jene wirklich ganz in dieseübergeht und solche Identifikation eifrig heraus-fordert, um jeden widerstehenden Gedanken zukompromittieren. Nennt man die materielle Reali-tät die Welt des Tauschwerts, Kultur aber, wasimmer dessen Herrschaft zu akzeptieren sich wei-gert, so ist solche Weigerung zwar scheinhaft, so-lange das Bestehende besteht. Da jedoch der freieund gerechte Tausch selber die Lüge ist, so steht wasihn verleugnet, zugleich auch für die Wahrheit ein:der Lüge der Warenwelt gegenüber wird noch dieLüge zum Korrektiv, die jene denunziert. Daß dieKultur bis heute mißlang, ist keine Rechtfertigungdafür, ihr Mißlingen zu befördern, indem man wieKatherlieschen noch den Vorrat an schönem Wei-zenmehl über das ausgelaufene Bier streut. Men-schen, die zusammengehören, sollten sich weder ihremateriellen Interessen verschweigen, noch auf sienivellieren, sondern sie reflektiert in ihr Verhältnisaufnehmen und damit Über sie hinausgehen.

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P l u r a l e tantum. — Wenn wirklich, wieeine zeitgenössische Theorie lehrt, die Gesellschafteine von Rackets ist, dann ist deren treuestes Modellgerade das Gegenteil des Kollektivs, nämlich das In-dividuum als Monade. An der Verfolgung der ab-solut partikularen Interessen des je Einzelnen läßtsich das Wesen der Kollektive in der falschen Ge-sellschaft am genauesten studieren, und wenig fehlt,daß man die Organisation der auseinander weisen-den Triebe unter dem Primat des realitätsgerechtenIchs von Anbeginn als eine verinnerlichte Räuber-bande mit Führer, Gefolgschaft, Zeremonial, Treu-eid, Treubruch, Interessenkonflikten, Intrigen undallem anderen Zubehör aufzufassen hat. Man mußnur einmal Regungen beobachten, in denen das In-dividuum energisch gegen die Umwelt sich geltendmacht, wie etwa die Wut. Der Wütende erscheintstets als der Bandenführer seiner selbst, der seinemUnbewußten den Befehl erteilt, dreizuschlagen,und aus dessen Augen die Genugtuung leuchtet, fürdie vielen zu sprechen, die er selber ist. Je mehreiner die Sache seiner Aggression auf sich selbstgestellt hat, um so vollkommener repräsentierter das unterdrückende Prinzip der Gesellschaft. In

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diesem Sinn mehr vielleicht als in jedem anderengilt der Satz, das Individuellste sei das All-gemeinste.

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Tough Baby. — Einem bestimmten Gestusder Männlichkeit, sei's der eigenen sei's der anderer,gebührt Mißtrauen. Er drückt Unabhängigkeit,Sicherheit der Befehlsgewalt, die stillschweigendeVerschworenheit aller Männer miteinander aus.Früher nannte man das ängstlich bewundernd Her-renlaunen, heute ist es demokratisiert und wird vonden Filmhelden noch dem letzten Bankangestelltenvorgemacht. Archetypisch dafür ist der gut Aus-sehende, der im Smoking, spät abends, allein inseine Junggesellenwohnung kommt, die indirekteBeleuchtung andreht und sich einen Whisky-Sodamischt: das sorgfältig aufgenommene Zischen desMineralwassers sagt, was der arrogante Mund ver-schweigt; daß er verachtet, was nicht nach Rauch,Leder und Rasiercreme riecht, zumal die Frauen,und daß diese eben darum ihm zufliegen. Das Idealmenschlicher Beziehungen ist ihm der Klub, dieStätte eines auf rücksichtsvoller Rücksichtslosigkeit

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gegründeten Respekts. Die Freuden solcher Männer,oder vielmehr ihrer Modelle, denen kaum je einLebendiger gleicht, denn die Menschen sind immernoch besser als ihre Kultur, haben allesamt etwasvon latenter Gewalttat. Dem Anschein nach drohtsie den anderen, deren so einer, in seinem Sessel hin-geräkelt, längst nicht mehr bedarf. In Wahrheit istes vergangene Gewalt gegen sich selber. Wenn alleLust frühere Unlust in sich aufhebt, dann ist hierdie Unlust, als Stolz sie zu ertragen, unvermittelt,unverwandelt, stereotyp zur Lust erhoben: andersals beim Wein, läßt jedem Glas Whisky, jedemZug an der Zigarre der Widerwille noch sich nach-fühlen, den es den Organismus gekostet hat, auf sokräftige Reize anzusprechen, und das allein wirdals die Lust registriert. Die He-Männer wären alsoihrer eigenen Verfassung nach, als was sie die Film-handlung meist präsentiert, Masochisten. Die Lügesteckt in ihrem Sadismus, und als Lügner erst wer-den sie wahrhaft zu Sadisten, Agenten der Repres-sion. Jene Lüge aber ist keine andere, als daß ver-drängte Homosexualität als einzig approbierteGestalt des Heterosexuellen auftritt. In Oxfordunterscheidet man zweierlei Arten von Studenten,die tough guys und die Intellektuellen; die letzterenseien durch den Gegensatz fast ohne weiteres den

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Effeminicrten gleich zusetzen. Vieles spricht dafür,daß sich die herrschende Schicht auf dem Wege zurDiktatur nach diesen beiden Extremen hin polari-siert. Solche Desintegration ist das Geheimnis derIntegration, des Glückes der Einigkeit in der Absenzvon Glück. Am Ende sind die tough guys dieeigentlich Effeminierten, die der Weichlinge als ihrerOpfer bedürfen, um nicht zuzugestehen, daß sieihnen gleichen. Totalität und Homosexualität ge-hören zusammen. Während das Subjekt zugrundegeht, negiert es alles, was nicht seiner eigenen Artist. Die Gegensätze des starken Mannes und desfolgsamen Jünglings verfließen in einer Ordnung,die das männliche Prinzip der Herrschaft rein durch-setzt. Indem es alle ohne Ausnahme, auch die ver-meintlichen Subjekte, zu seinen Objekten macht,schlägt es in die totale Passivität, virtuell ins Weib-liche um.

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N i c h t g e d a c h t s o l l i h r e r werden. —Das Vorleben des Emigranten wird bekanntlichannulliert. Früher war es der Steckbrief, heute istes die geistige Erfahrung, die für nicht transferier-

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bar und schlechterdings artfremd erklärt wird. Wasnicht verdinglicht ist, sich zählen und messen läßt,fällt aus. Nicht genug damit aber erstreckt sich dieVerdingHchung selbst auf ihren eigenen Gegensatz,das nicht unmittelbar zu aktualisierende Leben; wasimmer bloß als Gedanke und Erinnerung fortlebt.Dafür haben sie eine eigene Rubrik erfunden. Sieheißt „Hintergrund" und erscheint als Appendixder Fragebogen, nach Geschlecht, Alter und Beruf.Das geschändete Leben wird auch noch auf demTriumphauto der vereinigten Statistiker mitge-schleppt, und selbst das Vergangene ist nicht mehrsicher vor der Gegenwart, die es nochmals demVergessen weiht, indem sie es erinnert.

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English spoken. — In meiner Kindheit be-kam ich häufig von alten englischen Damen, zu de-nen meine Eltern Beziehungen unterhielten, Bücherals Geschenk: reichillustrierte Jugendschriften, aucheine kleine grüne Bibel in Saffian. Alle waren inder Sprache der Geberinnen: ob ich ihrer mächtigsei, daran dachte keine von ihnen. Die eigentüm-liche Verschlossenheit der Bücher, die mit Bildern,

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großen Titeln und Vignetten mich ansprangen, ohnedaß ich den Text hätte entziffern können, erfülltemich mit dem Glauben, allgemein handle es beiderartigen Büchern sich niemals um solche, sondernum Reklamen, vielleicht für Maschinen, wie meinOnkel in seiner Londoner Fabrik sie herstellte. Seit-dem ich in angelsächsischen Ländern lebe und Eng-lisch verstehe, hat dies Bewußtsein sich nicht beho-ben, sondern gesteigert. Es gibt ein „Mädchenlied"von Brahms, auf ein Gedicht von Heyse, darinstehen die Zeilen: „O Herzeleid, du Ewigkeit! /Selbander nur ist Seligkeit." In der verbreitetstenamerikanischen Ausgabe wird das so gebracht:„O misery, eternity! / But two in one were eestasy."Aus den altertümlich leidenschaftlichen Hauptwör-tern des Originals sind Kennworte für Schlager ge-worden, welche diesen anpreisen. In ihrem ange-drehten Licht erstrahlt der Reklamecharakter derKultur.

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On p a r l e F r a n c a i s . — Wie innig Sexusund Sprache sich verschränken, lernt, wer in einerfremden Sprache Pornographie liest. Bei der Lektüre

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Sades irn Original braucht man kein Dictionnaire.Noch die entlegensten Ausdrücke fürs Unanstän-dige, deren Kenntnis keine Schule, kein Elternhaus,keine literarische Erfahrung vermittelt, versteht man,nachtwandelnd, wie in der Kindheit die abseitig-sten Äußerungen und Beobachtungen des Geschlecht-lichen zur rechten Vorstellung zusammenschießen.Es ist, als sprengten die gefangenen Leidenschaften,von jenen Worten beim Namen gerufen, wie denWall der eigenen Unterdrückung so den der blin-den Worte und schlügen gewalttätig, unwidersteh-lich in die innerste Zelle des Sinnes, der ihnen selbergleicht.

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Paysage. — Der Mangel der amerikanischenLandschaft ist nicht sowohl, wie die romantischeIllusion es möchte, die Absenz historischer Erin-nerungen, als daß in ihr die Hand keine Spur hin-terlassen hat. Das bezieht sich nicht bloß auf dasFehlen von Äckern, die ungerodeten und oftbuschwerkhaft niedrigen Wälder, sondern vorallem auf die Straßen. Diese sind allemal unver-mittelt in die Landschaft gesprengt, und je glatter

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und breiter sie gelungen sind, um so beziehungs-loser und gewalttätiger steht ihre schimmernde Bahngegen die allzu wild verwachsene Umgebung. Sietragen keinen Ausdruck. "Wie sie keine Geh- undRäderspuren kennen, keine weichen Fußwege anihrem Rande entlang als Übergang zur Vegetation,keine Seitenpfade ins Tal hinunter, so entraten siedes Milden, Sänftigenden, Uneckigen von Dingen,an denen Hände oder deren unmittelbare Werk-zeuge das ihre getan haben. Es ist, als wäre nie-mand der Landschaft übers Haar gefahren. Sie istungetröstet und trostlos. Dem entspricht die Weiseihrer Wahrnehmung. Denn was das eilende Augebloß im Auto gesehen hat, kann es nicht behalten,und es versinkt so spurlos, wie ihm selber die Spu-ren abgehen.

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Z w e r g o b s t. — Es ist die Höflichkeit Prousts,dem Leser die Beschämung zu ersparen, sich fürgescheiter zu halten als den Autor.

Im neunzehnten Jahrhundert haben die Deut-schen ihren Traum gemalt, und es ist allemal

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Gemüse daraus geworden. Die Franzosen brauch-ten nur Gemüse zu malen, und es war schon einTraum.

In angelsächsischen Ländern sehen die Dirnenaus, als ob sie mit der Sünde zugleich die Höllen-strafe mitlieferten.

Schönheit der amerikanischen Landschaft: daßnoch dem kleinsten ihrer Segmente, als Ausdruck,die unermeßliche Größe des ganzen Landes einbe-schrieben ist.

In der Erinnerung der Emigration schmeckt jederdeutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz er-legt worden.

An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihreÜbertreibungen.

Ob einer glücklich ist, kann er dem Winde an-hören. Dieser mahnt den Unglücklichen an die Zer-brechlichkeit seines Hauses und jagt ihn aus leich-tem Schlaf und heftigem Traum. Dem Glücklichensingt er das Lied seines Geborgenseins: sein wüten-

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des Pfeifen meldet, daß er keine Macht mehr hatüber ihn.

Der lautlose Lärm, der aus unserer Traumerfah-rung seit je uns gegenwärtig ist, tönt dem Wachenaus den Schlagzeilen der Zeitungen entgegen.

Die mythische Hiobspost erneuert sich mit demRadio. Wer etwas Wichtiges autoritär mitteilt, meldetUnheil. Englisch heißt solemn feierlich und bedroh-lich. Die Macht der Gesellschaft hinter dem Redendenwendet von selbst sich gegen die Angeredeten.

Das Jüngstvergangene stellt allemal sich dar, alswäre es durch Katastrophen zerstört worden.

Der Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen istnichts anderes als der vergangener Qual.

Bei Hegel war Selbstbewußtsein die Wahrheitder Gewißheit seiner selbst, nach den Worten derPhänomenologie das „einheimische Reich der Wahr-heit". Als sie das schon nicht mehr verstanden, wa-ren die Bürger selbstbewußt wenigstens im Stolzdarüber, daß sie ein Vermögen hatten. Heute heißtself-conscious nur noch die Reflexion aufs Ich als

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des Pfeifen meldet, daß er keine Macht mehr hatüber ihn.

Der lautlose Lärm, der aus unserer Traumerfah-rung seit je uns gegenwärtig ist, tönt dem Wachenaus den Schlagzeilen der Zeitungen entgegen.

Die mythische Hiobspost erneuert sich mit demRadio. Wer etwas Wichtiges autoritär mitteilt, meldetUnheil. Englisch heißt solemn feierlich und bedroh-lich. Die Macht der Gesellschaft hinter dem Redendenwendet von selbst sich gegen die Angeredeten.

Das Jüngstvergangene stellt allemal sich dar, alswäre es durch Katastrophen zerstört worden.

Der Ausdruck des Geschichtlichen an Dingen istnichts anderes als der vergangener Qual.

Bei Hegel war Selbstbewußtsein die Wahrheitder Gewißheit seiner selbst, nach den Worten derPhänomenologie das „einheimische Reich der Wahr-heit". Als sie das schon nicht mehr verstanden, wa-ren die Bürger selbstbewußt wenigstens im Stolzdarüber, daß sie ein Vermögen hatten. Heute heißtself-conscious nur noch die Reflexion aufs Ich als

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Befangenheit, als Innewerden der Ohnmacht: wis-sen, daß man nichts ist.

Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unver-schämtheit, wenn sie Ich sagen.

Der Splitter in deinem Auge ist das beste Ver-größerungsglas.

Noch der armseligste Mensch ist fähig, die Schwä-chen des bedeutendsten, noch der dümmste, dieDenkfehler des klügsten zu erkennen.

Erster und einziger Grundsatz der Sexualethik:der Ankläger hat immer unrecht.

Das Ganze ist das Unwahre.

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Pro domo n o s t r a . — Als wahrend desvorigen Krieges, der wie jeder gegenüber dem dar-auffolgenden als friedlich erscheint, den Symphonie-orchestern vieler Länder der bramarbasierende Mundgestopft war, schrieb Strawinsky die Histoire du

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Soldat für eine spärliche, schockhaft lädierte Kam-merbesetzung. Sie wurde seine beste Partitur, daseinzig stichhaltige surrealistische Manifest, in des-sen konvulsivisch-traumhaftem Zwang der Musiketwas von der negativen Wahrheit aufging. DieVoraussetzung des Stückes war Armut: es demon-tierte so drastisch die offizielle Kultur, weil mitderen materiellen Gütern auch ihre kulturfeindlicheOstentation ihm versperrt war. Darin liegt ein Hin-weis für die geistige Produktion nach diesem Krieg,der in Europa ein Maß an Zerstörung zurückgelas-sen hat, von dem selbst die Löcher jener Musiknichts sich träumen ließen. Fortschritt und Barbareisind heute als Massenkultur so verfilzt, daß einzigbarbarische Askese gegen diese und den Fortschrittder Mittel das Unbarbarische wieder herzustellenvermöchte. Kein Kunstwerk, kein Gedanke hat eineChance zu überleben, dem nicht die Absage an denfalschen Reichtum und die erstklassige Produktion,an Farbenfilm und Fernsehen, an Millionärmaga-zine und Toscanini innewohnte. Die älteren, nichtauf Massenproduktion berechneten Medien gewin-nen neue Aktualität: die des Unerfaßten und derImprovisation. Sie allein konnten der Einheits-front von Trust und Technik ausweichen. In einerWelt, in der längst die Bücher nicht mehr aussehen

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wie Bücher, sind es nur noch solche, die keine mehrsind. Stand am Anfang der bürgerlichen Ära dieErfindung der Druckerpresse, so wäre bald derenWiderruf durch Mimeographie fällig, das allein an-gemessene, das unauffällige Mittel der Verbreitung.

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Katze aus dem Sack. — Auch die ehrwür-digste Verhaltensweise des Sozialismus, Solidarität,ist erkrankt. Sie wollte einmal die Rede von derBrüderlichkeit verwirklichen, sie aus der Allgemein-heit herausnehmen, in der sie eine Ideologie war,und dem Partikularen, der Partei vorbehalten, diein der antagonistischen Welt die Allgemeinheit ein-zig vertreten sollte. Solidarisch waren Gruppen vonMenschen, die gemeinsam ihr Leben einsetzten, unddenen das eigene, im Angesicht der greifbaren Mög-lichkeit, nicht das wichtigste war, so daß sie, ohnedie abstrakte Besessenheit von der Idee, aber auchohne individuelle Hoffnung, doch bereit waren,füreinander sich aufzuopfern. Solches Aufgeben derSelbsterhaltung hatte zur Voraussetzung Erkennt-nis und Freiheit des Entschlusses: fehlen diese, sostellt das blinde Partikularinteresse sogleich wieder

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ich her. Mittlerweile aber ist Solidarität überge-gangen ins Vertrauen darauf, daß die Partei tau-send Augen bat, in die Anlehnung an die längst zuUniformträgern avancierten Arbeiterbataillone alsdie eigentlich stärkeren, ins Mitschwimmen mit demStrom der Weltgeschichte. Was an Sekurität dabeizeitweise etwa zu gewinnen ist, wird bezahlt mitpermanenter Angst, mit Kuschen, Lavieren undBauchrednerei: die Kräfte, mit denen man dieSchwäche des Gegners ausfühlen könnte, werdendazu verbraucht, die Regungen der eigenen Führerzu antizipieren, vor denen man im innersten mehrzittert als vorm alten Feind, ahnend, daß am Endedie Führer hüben und drüben sich auf dem Rückender von ihnen Integrierten verständigen werden.Davon ist der Reflex zwischen den Individuen zuspüren. Wer, den Stereotypen gemäß, nach denendie Menschen heute vorweg sich aufteilen, unter dieProgressiven gezählt wird, ohne daß er jenen ima-ginären Revers unterzeichnet hätte, der die Recht-gläubigen zu verbinden scheint, die sich an einemUnwägbaren von Gestik und Sprache, einer Artrauhbautzig-gehorsamen Resignation wie an einemLosungswort erkennen, der macht immer wieder diegleiche Erfahrung. Rechtgläubige, oder auch dieihnen allzu ähnlichen Abweichungen, kommen ihm

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entgegen und erwarten Solidarität von ihm. Sieappellieren ausdrücklich und unausdrücklich ans fort-schrittliche Einverständnis. Im Augenblick aber, woer von ihnen die kleinsten Beweise der gleichenSolidarität, oder auch nur Sympathie für den eige-nen Anteil am Sozialprodukt des Leidens erhofft,zeigen sie ihm die kalte Schulter, die von Materia-lismus und Atheismus im Zeitalter der restaurier-ten Popen allein übriggeblieben ist. Die Organisier-ten wollen, daß der anständige Intellektuelle sichfür sie exponiere, aber sobald sie nur von weitherfürchten, sich selber exponieren zu müssen, ist erihnen der Kapitalist, und die gleiche Anständigkeit,auf die sie spekulierten, lächerliche Sentimentalitätund Dummheit. Solidarität ist polarisiert in diedesperate Treue derer, für die es keinen Weg zurückgibt, und in die virtuelle Erpressung an jenen, diemit den Bütteln nichts zu schaffen haben mögen,ohne doch der Bande sich auszuliefern.

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D i e W i l d e n s i n d n i c h t b e s s e r e Men-schen. — Man kann an Negerstudenten der Na-tionalökonomie, Siamesen in Oxford und allgemein

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an beflissenen Kunsthistorikern und Musikologenkleinbürgerlicher Herkunft die Neigung und Bereit-schaft finden, mit der Aneignung des je zu Lernen-den, Neuen einen unmäßigen Respekt vor dem Eta-blierten, Geltenden, Anerkannten zu verbinden.Unversöhnliche Gesinnung ist das Gegenteil vonWildheit, Neophytentum oder „nicht-kapitalisti-schen Räumen". Sie setzt Erfahrung, historischesGedächtnis, Nervosität des Gedankens und vor al-lem ein gründliches Maß an Überdruß voraus. Im-mer wieder hat sich beobachten lassen, wie solche,die blutjung und nichtsahnend in radikale Gruppensich einreihten, überliefen, sobald sie einmal derKraft der Tradition gewahr wurden. Man mußdiese in sich selber haben, um sie recht zu hassen.Daß für avantgardistische Bewegungen in der Kunstdie Snobs mehr Sinn zeigen als die Proletarier, wirftLicht auch auf die Politik. Spätkommer und Neu-kommer haben eine beängstigende Affinität zumPositivismus, von den Carnapverehrern in Indienbis zu den tapferen Verteidigern der deutschen Mei-ster Matthias Grünewald und Heinrich Schütz. Eswäre schlechte Psychologie, die annähme, das, wo-von man ausgeschlossen ist, erwecke nur Haß undRessentiment; es erweckt auch eine beschlagneh-mende, unduldsame Art von Liebe, und jene, welche

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die repressive Kultur nicht an sich heranließ, wer-den leicht genug zu deren borniertester Schutztruppe.Noch in dem auftrumpfenden Hochdeutsch des Ar-beiters, der als Sozialist „etwas lernen", am soge-nannten Erbe teilhaben will, klingt das mit, unddie Banausie der Bebels besteht nicht sowohl in ihrerFremdheit zur Kultur als in dem Eifer, mit dem siesie als Tatsache hinnehmen, mit ihr sich identifizie-ren und damit freilich ihren Sinn verkehren. DerSozialismus ist allgemein vor dieser Transformationso wenig sicher wie vorm theoretischen Abgleitenin den Positivismus. Leicht genug kann es gesche-hen, daß im Fernen Osten Marx an die vakanteStelle von Driesch und Rickert gesetzt wird. Manch-mal ist zu befürchten, es werde die Einbeziehungder nichtokzidentalen Völker in die Auseinander-setzung der Industriegesellschaft, an sich längst ander Zeit, weniger der befreiten zugute kommen alsder rationalen Steigerung von Produktion und Ver-kehr und der bescheidenen Hebung des Lebensstan-dards. Anstatt von den vorkapitalistischen Völkernsich Wunder zu erwarten, sollten die reifen vorderen Nüchternheit, ihrem faulen Sinn fürs Be-währte und für die Erfolge des Abendlandes aufder Hut sein.

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Weit vom Schuß. — Bei den Meldungenüber Luftangriffe fehlen selten die Namen der Fir-men, welche die Flugzeuge hergestellt haben: Focke-Wulff, Heinkel, Lancaster erscheinen dort, wo frü-her einmal von Kürassieren, Ulanen und Husarendie Rede v/ar. Der Mechanismus der Reproduktiondes Lebens, seiner Beherrschung und seiner Vernich-tung ist unmittelbar der gleiche, und demgemäßwerden Industrie, Staat und Reklame fusioniert.Die alte Übertreibung skeptischer Liberaler, derKrieg sei ein Geschäft, hat sich erfüllt: die Staats-macht hat selbst den Schein der Unabhängigkeit vompartikularen Profitinteresse aufgegeben und stelltsich wie stets schon real, nun auch ideologisch indessen Dienst. Jede lobende Erwähnung der Haupt-firma in der Städtexerstörung hilft ihr den gutenNamen machen, um dessentwillen ihr dann diebesten Aufträge beim Wiederaufbau zufallen.

Wie der Dreißigjährige, so zerfällt auch dieserKrieg, an dessen Anfang sich schon keiner mehr er-innern kann, wenn er zu Ende sein wird, in diskonti-nuierliche, durch leere Pausen getrennte Feldzüge,den polnischen, den norwegischen, den französischen,

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den russischen, den tunesischen, die Invasion. SeinRhythmus, der Wechsel stoßweiser Aktion und völ-ligen Stillstands aus Mangel an geographisch erreich-baren Feinden, hat selber etwas von dem mecha-nischen, der die Art der Kriegsmittel im einzelnencharakterisiert und der wohl auch die vorliberaleForm des Feldzugs nochmals heraufbeschworen hat.Dieser mechanische Rhythmus aber bestimmt völligdas menschliche Verhalten zum Krieg, nicht nur m derDisproportion zwischen der individuellen KÖrper-kraft und der Energie der Motoren, sondern bisin die geheimsten Zellen der Erlebnisweisen hinein.Schon das vorige Mal machte die Unangemessen-heit des Leibes an die Materialschlacht eigentlicheErfahrung unmöglich. Keiner hätte davon erzählenkönnen, wie noch von den Schlachten des Artillerie-generals Bonaparte erzählt werden konnte. Daslange Intervall zwischen den Kriegsmemoiren unddem Friedensschluß ist nicht zufällig: es legt Zeug-nis ab von der mühsamen Rekonstruktion der Er-innerung, der in all jenen Büchern etwas Ohnmäch-tiges und selbst Unechtes gesellt bleibt, gleichgültig,durch welche Schrecken die Berichtenden hindurch-gingen. Der zweite Krieg aber ist der Erfahrungschon so völlig entzogen wie der Gang einer Ma-schine den Regungen des Körpers, der erst in Krank-

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heitszuständen jenem sich anähnelt. So wenig derKrieg Kontinuität, Geschichte, das „epische" Ele-ment enthält, sondern gewissermaßen in jeder Phasevon vorn anfängt, so wenig wird er ein stetiges undunbewußt aufbewahrtes Erinnerungsbild hinter-lassen. Überall, mit jeder Explosion, hat er denReizschutz durchbrochen, unter dem Erfahrung, dieDäuerzwischen heilsamem Vergessen und heilsamemErinnern sich bildet. Das Leben hat sich in eine zeit-lose Folge von Schocks verwandelt, zwischen denenLocher, paralysierte Zwischenräume klaffen. Nichtsaber ist vielleicht verhängnisvoller für die Zukunft,als daß im wörtlichen Sinn bald keiner mehr wirddaran denken können, denn jedes Trauma, jederunbewältigte Schock der Zurückkehrenden ist einFerment kommender Destruktion. — Karl Kraustat recht daran, sein Stück „Die letzten Tage derMenschheit" zu nennen. "Was heute geschieht, müßte„Nach Weltuntergang" heißen.

Die vollständige Verdeckung des Krieges durchInformation, Propaganda, Kommentar, die Film-operateure in den ersten Tanks und der Heldentodvon Kriegsberichterstattern, die Maische aus mani-puliert-aufgeklärter öffentlicher Meinung und be-wußtlosem Handeln, all das ist ein anderer Aus-

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druck für die verdorrte Erfahrung, das Vakuumzwischen den Menschen und ihrem Verhängnis, indem das Verhängnis recht eigentlich besteht. Derverdinglichte, erstarrte Abguß der Ereignisse sub-stituiert gleichsam diese selber. Die Menschen wer-den zu Schauspielern eines Monstre-Documentaire-films herabgesetzt, der keine Zuschauer mehr kennt,weil noch der letzte auf der Leinwand mittun muß.Eben dies Moment liegt der vielgescholtenen Redevom phony war zugrunde. Sie entspringt gewiß ausder faschistischen Stimmung, die Realität des Grau-ens als „bloße Propaganda" von sich zu weisen, da-mit das Grauen einspruchslos sich vollziehe. Aberwie alle Tendenzen des Faschismus hat auch dieseihren Ursprung in Elementen der Realität, die sichnur eben gerade kraft jener faschistischen Haltungdurchsetzen, die hämisch auf sie hindeutet. Der Kriegist wirklich phony, aber seine phonyness schreck-licher als aller Schrecken, und die sich darüber mo-kieren, tragen vorab zum Unheil bei.

Hätte Hegels Geschichtsphilosophie diese Zeiteingeschlossen, so hätten Hitlers Robotbomben,neben dem frühen Tod Alexanders und ähnlichenBildern, ihre Stelle gefunden unter den ausgewähl-ten empirischen Tatsachen, in denen der Stand des

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Weltgeists unmittelbar symbolisch sich ausdrückt.Wie der Faschismus selber sind die Robots lanciertzugleich und subjektlos. Wie jener vereinen sie dieäußerste technische Perfektion mit vollkommenerBlindheit. Wie jener erregen sie das tödlichste Ent-setzen und sind ganz vergeblich. — „Ich habe denWeltgeist gesehen", nicht zu Pferde, aber auf Flü-geln und ohne Kopf, und das widerlegt zugleichHegels Geschichtsphilosophie.

Der Gedanke, daß nach diesem Krieg das Leben„normal" weitergehen oder gar die Kultur „wieder-aufgebaut" werden könnte — als wäre nicht derWiederaufbau von Kultur allein schon deren Ne-gation —, ist idiotisch. Millionen Juden sind ermor-det worden, und das soll ein Zwischenspiel sein undnicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet dieseKultur eigentlich noch? Und selbst wenn Ungezähl-ten Wartezeit bleibt, könnte man sich vorstellen,daß das, was in Europa geschah, keine Konsequenzhat, daß nicht die Quantität der Opfer in eine neueQualität der gesamten Gesellschaft, dieBarbarei, um-sehlägt? Solange es Zug um Zug weitergeht, ist dieKatastrophe perpetuiert. Man muß nur an die Rachefür die Ermordeten denken. Werden ebenso vielevon den anderen umgebracht, so wird das Grauen

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zur Einrichtung und das vorkapitalistische Schemader Blutrache, das seit undenklichen Zeiten bloßnoch in abgelegenen Gebirgsgegenden waltete, er-weitert wieder eingeführt, mit ganzen Nationen alssubjektlosem Subjekt. Werden jedoch die Totennicht gerächt und Gnade geübt, so hat der unge-strafte Faschismus trotz allem seinen Sieg weg, undnachdem er einmal zeigte, wie leicht es geht, wirdes an anderen Stellen sich fortsetzen. Die Logik derGeschichte ist so destruktiv wie die Menschen, diesie zeitigt: wo immer ihre Schwerkraft hintendiert,reproduziert sie das Äquivalent des vergangenenUnheils. Normal ist der Tod.

Auf die Frage, was man mit dem geschlagenenDeutschland anfangen soll, wüßte ich nur zweier-lei zu antworten. Einmal: ich möchte um keinenPreis, unter gar keinen Bedingungen Henker seinoder Rechtstitel für Henker liefern. Dann: ichmöchte keinem, und gar mit der Apparatur des Ge-setzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenesrächt. Das ist eine durch und durch unbefriedigende,widerspruchsvolle und der Verallgemeinerung eben-so wie der Praxis spottende Antwort. Aber viel-leicht liegt der Fehler schon bei der Frage und nichterst bei mir.

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Wochenschau im Kino: die Invasion der Maria-nas, darunter Guam. Der Eindruck ist nicht der vonKämpfen, sondern der mit unermeßlich gesteigerterVehemenz vorgenommener mechanischer Straßen-und Sprengarbeiten, auch von „Ausräuchern", In-sektenvertilgung im tellurischen Maßstab. Ope-rationen werden durchgeführt, bis kein Gras mehrwächst. Der Feind fungiert als Patient und Leiche.Wie die Juden unterm Faschismus gibt er nur nochdas Objekt technisch-administrativer Maßnahmenab, und wenn er sich zur Wehr setzt, hat seineGegenaktion sogleich denselben Charakter. Dabeidas Satanische, daß in gewisser Weise mehr Initia-tive beansprucht wird als im Krieg alten Stils, daßes gleichsam die ganze Energie des Subjekts kostet,die Subjektlosigkeit herbeizuführen. Die vollendeteInhumanität ist die Verwirklichung von EdwardGreys humanem Traum, dem Krieg ohne Haß.

Herbst 1944

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Hans G u c k - i n - d i e - L u f t . — Zwischender Erkenntnis und der Macht besteht nicht nur derZusammenhang des Lakaientums, sondern aucheiner der Wahrheit. Viele Erkenntnisse sind außer

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Proportion mit der Kräfteverteilung nichtig, mögensie auch formal zutreffen. Wenn der ausgewanderteArzt sagt: „Für mich ist Adolf Hitler ein patho-logischer Fall", so mag ihm der klinische Befundam Ende seine Aussage bestätigen, aber deren Miß-verhältnis zu dem objektiven Unheil, das im Namendes Paranoikers über die Welt geht, macht die Dia-gnose lächerlich, in der bloß der Diagnostiker sichaufplustert. Vielleicht ist Hitler „an sich" ein patho-logischer Fall, ganz gewiß aber nicht „für ihn". DieEitelkeit und Armseligkeit vieler Kundgaben derEmigration gegen den Faschismus hängt damit zu-sammen. Die in Formen der freien, distanzierten,desinteressierten Beurteilung Denkenden waren un-fähig, in jene Formen die Erfahrung der Gewaltmit aufzunehmen, welche real solches Denken außerKraft setzt. Die fast unlösbare Aufgabe bestehtdarin, weder von der Macht der anderen, noch vonder eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.

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R ü c k k e h r z u r Kultur. — Die Behaup-tung, daß Hitler die deutsche Kultur zerstört habe,ist nichts als ein Reklametrick derer, die sie -von

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ihren Telefontischen aus wieder aufbauen wollen.Was Hitler an Kunst und Gedanken ausgerottethat, führte längst zuvor die abgespaltene und apo-kryphe Existenz, deren letzte Schlupfwinkel derFaschismus ausfegte. "Wer nicht mittat, mußte schonJahre vorm Ausbruch des Dritten Reichs in die in-nere Emigration: spätestens seit der Stabilisierungder deutschen Währung, die zeitlich mit dem Endedes Expressionismus zusammenfällt, hat gerade diedeutsche Kultur sich stabilisiert im Geist der Ber-liner Illustrierten, der dem von Kraft durch Freude,der Reichsautobahnen und dem kessen Ausstellungs-klassizismus der Nazis nur wenig nachgab. In ihrerBreite lechzte die deutsche Kultur, gerade wo sie amliberalsten war, nach ihrem Hitler, und man tutden Redakteuren Mosses und Ullsteins wie den Re-organisatoren der Frankfurter Zeitung Unrecht,wenn man ihnen Gesinnungstüchtigkeit vorwirft.Sie waren schon immer so, und ihre Linie des ge-ringsten "Widerstands gegen die Geisteswaren, diesie produzierten, setzte sich geradeswegs fort in derLinie des geringsten "Widerstands gegen die poli-tische Herrschaft, unter deren ideologischen Metho-den nach des Führers eigener Aussage am oberstendie Verständlichkeit für die Dümmsten rangiert.Das hat zu verhängnisvoller Verwirrung geführt.

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Hitler hat die Kultur ausgerottet, Hitler hat HerrnLudwig verjagt, also Ist Herr Ludwig die Kultur.Er ist es in der Tat. Ein Blick auf die literarischeProduktion jener Emigranten, welche durch Diszi-plin und straffe Aufteilung der Einflußsphären esfertig gebracht haben, den deutschen Geist zu re-präsentieren, zeigt, was beim fröhlichen "Wieder-aufbau alles zu erwarten steht: die Einführung derBroadwaymethoden auf dem Kurfürstendamm, dervon jenem schon in den zwanziger Jahren sich nurdurch geringere Mittel, nicht durch bessere Zweckeunterschied. Wer gegen den Kulturfaschismus an-will, muß schon mit Weimar, den „Bomben aufMonte Carlo" und dem Presseball anfangen, wenner nicht am Ende entdecken will, daß zweideutigeFiguren wie Fallada unter Hitler mehr Wahrheitsagten, als die eindeutigen Prominenzen, denen dieTransferierung ihres Prestiges gelang.

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D i e G e s u n d h e i t z u m Tode. — Wäreetwas wie eine Psychoanalyse der heute proto-typischen Kultur möglich, spottete nicht die abso-lute Vorherrschaft der Ökonomie jeden Versuchs,

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die Zustände aus dem Seelenleben ihrer Opfer zuerklären, und hätten nicht die Psychoanalytikerselber jenen Zuständen längst den Treueid geleistet— so müßte eine solche Untersuchung dartun, daßdie zeitgemäße Krankheit gerade im Normalen be-steht. Die libidinösen Leistungen, die vom Indivi-duum verlangt werden, das sich gesund an Leib undSeele benimmt, sind derart, daß sie nur vermögeder tiefsten Verstümmelung vollbracht werden kön-nen, einer Verinnerlichung der Kastration in denextroverts, der gegenüber die alte Aufgabe derIdentifikation mit dem Vater das Kinderspiel ist, indem sie eingeübt wurde. Der regulär guy, das po-pular girl müssen nicht nur ihre Begierden und Er-kenntnisse verdrängen, sondern auch noch alle dieSymptome, die in bürgerlichen Zeiten aus der Ver-drängung folgten. Wie das alte Unrecht durch dasgeneröse Massenaufgebot von Licht, Luft und Hy-giene nicht geändert, sondern durch die blinkendeDurchsichtigkeit des rationalisierten Betriebs geradeverdeckt wird, so besteht die inwendige Gesundheitder Epoche darin, daß sie die Flucht in die Krank-heit abgeschnitten hat, ohne doch an deren Ätiologiedas mindeste zu ändern. Die finsteren Abtritte wur-den als peinliche Raumvergeudung beseitigt und insBadezimmer verlegt. Bestätigt ist der Argwohn, den

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die Psychoanalyse hegte, ehe sie selber zu einemStück Hygiene sich machte. Wo es am hellsten ist,herrschen insgeheim die Fäkalien. Der Vers: „DasElend bleibt. So wie es war. / Du kannst es nichtausrotten ganz und gar, / Aber du machst es un-sichtbar", gilt im Haushalt der Seele noch mehr alsdort, wo die Fülle der Güter zeitweilig über dieunaufhaltsam anwachsenden materiellen Differen-zen täuscht. Keine Forschung reicht bis heute in dieHölle hinab, in der die Deformationen geprägt wer-den, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit,Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Un-vermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinnzutage kommen. Es ist Grund zur Annahme, daßsie in noch frühere Phasen der Kindheitsenrwick-lung fallen als der Ursprung der Neurosen: sinddiese Resultate eines Konflikts, in dem der Trieb ge-schlagen ward, so resultiert der Zustand, der sonormal ist wie die beschädigte Gesellschaft, der ergleicht, aus einem gleichsam prähistorischen Eingriff,der die Kräfte schon bricht, ehe es zum Konfliktüberhaupt kommt, und die spätere Konfliktlos! g-keit reflektiert das Vorentschiedensein, den aprio-rischen Triumph der kollektiven Instanz, nicht dieHeilung durchs Erkennen. Unnervosität und Ruhe,bereits zur Voraussetzung dafür geworden, daß

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Applikanten höher bezahlte Stellungen zugewiesenbekommen, sind das Bild des erstickten Schweigens,das die Auftraggeber der Personalchefs politisch spä-ter erst verhängen. Diagnostizieren laßt die Krank-heit der Gesunden sich einzig objektiv, am Mißver-hältnis ihrer rationalen Lebensführung zur mög-lichen vernünftigen Bestimmung ihres Lebens. Aberdie Spur der Krankheit verrät sich doch: sie sehenaus, als wäre ihre Haut mit einem regelmäßig ge-musterten Ausschlag bedruckt, als trieben sie Mi-mikry mit dem Anorganischen. Wenig fehlt, undman könnte die, welche im Beweis ihrer quickenLebendigkeit und strotzenden Kraft aufgehen, fürpräparierte Leichen halten, denen man die Nach-richt von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben ausbevölkerungspolitischen Rücksichten vorenthielt.Auf dem Grunde der herrschenden Gesundheit liegtder Tod. All ihre Bewegung gleicht den Reflex-bewegungen von Wesen, denen das Herz stillstand.Kaum daß gelegentlich einmal die unseligen Stirn-falten, Zeugnis furchtbarster und längst vergessenerAnstrengung, daß ein Moment pathischer Dumm-heit inmitten der fixen Logik, daß ein hilfloserGestus störend die Spur des entwichenen Lebens be-wahrt. Denn das gesellschaftlich zugemutete Opferist so universal, daß es in der Tat erst an der Ge-

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Seilschaft als ganzer und nicht am Einzelnen offen-bar wird. Sie hat die Krankheit aller Einzelnengleichsam übernommen, und in ihr, in dem gestau-ten "Wahnsinn der faschistischen Aktionen und allihren zahllosen Vorformen und Vermittlungen wirddas im Individuum vergrabene subjektive Unheilmit dem sichtbaren objektiven integriert. Trostlosaber der Gedanke, daß der Krankheit des Nor-malen nicht etwa die Gesundheit des Kranken ohneweiteres gegenübersteht, sondern daß diese meistnur das Schema des gleichen Unheils auf andereWeise vorstellt.

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D i e s s e i t s des L u s t p r i n z i p s . — Dierepressiven Züge Freuds haben nichts zu tun mitjenem Mangel an Güte, auf den die geschäftstüch-tigen Revisionisten der strengen Sexualtheorie hin-weisen. Die berufsmäßige Güte fingiert des Profitswegen Nähe und Unmittelbarkeit dort, wo keinervom andern weiß. Sie betrügt ihr Opfer, indem siein seiner Schwäche den Weltlauf bejaht, der es somachte, und tut so viel Unrecht ihm an, wie sievon der "Wahrheit nachläßt. Wenn es Freud an sol-

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eher Güte gebrach, so wäre er hier wenigstens in derGesellschaft der Kritiker der politischen Ökonomie,die besser ist als die von Tagore und Werfel. Viel-mehr liegt das Fatale darin, daß er, gegen die bür-gerliche Ideologie, materialistisch das bewußte Han-deln hinab auf seinen unbewußten Triebgrund ver-folgte, zugleich aber in die bürgerliche Verachtungdes Triebs einstimmte, die selber das Produkt ebenjener Rationalisierungen ist, die er abbaut. Er fügtsich ausdrücklich, nach den Worten der Vorlesun-gen, „der allgemeinen Schätzung ... welche sozialeZiele höher stellt als die im Grunde selbstsüchtigensexuellen". Als Fachmann für Psychologie nimmter den Gegensatz von sozial und egoistisch unge-prüft, statisch hin. Er erkennt in ihm so wenig dasWerk der repressiven Gesellschaft wie die Spur derverhängnisvollen Mechanismen, die er selber be-zeichnet hat. Oder vielmehr, er schwankt, theorie-los und in Anpassung ans Vorurteil, ob er denTriebverzicht als realitätswidrige Verdrängung ne-gieren oder als kulturfördernde Sublimierung prei-sen soll. In diesem Widerspruch lebt objektiv etwasvom Januscharakter der Kultur selber, und keinLob der gesunden Sinnlichkeit vermöchte ihn zuglätten. Bei Freud jedoch wird daraus die Entwer-tung des kritischen Maßstabs für das Ziel der

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Analyse. Freuds unaufgeklärte Aufklärung spieltder bürgerlichen Desillusion in die Hände. Als spä-ter Feind der Heuchelei steht er zweideutig zwischendem Willen zur hüllenlosen Emanzipation desUnterdrückten, und der Apologie hüllenloser Unter-drückung. Die Vernunft ist ihm ein bloßer Über-bau, nicht sowohl, wie die offizielle Philosophie esihm vorwirft, wegen seines Psychologismus, der tiefgenug ins geschichtliche Moment an der Wahrheiteindringt, als vielmehr, weil er den bedeutungsfer-nen, vernunftlosen Zweck verwirft, an dem alleindas Mittel Vernunft als vernünftig sich erweisenkönnte, die Lust. Sobald diese geringschätzig unterdie Tricks der Arterhaltung eingereiht, selber gleich-sam in schlaue Vernunft aufgelöst wird, ohne daßdas Moment daran benannt wäre, das über denKreis der Naturverfallenheit hinausgeht, kommtdie ratio auf die Rationalisierung herunter. Wahr-heit wird der Relativität überantwortet und dieMenschen der Macht. Nur wer es vermöchte, in derblinden somatischen Lust, die keine Intention hatund die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäreeiner Idee von Wahrheit fähig, die standhielte. InFreuds Werk aber reproduziert sich wider Willendie Doppelfeindschaft gegen Geist und Lust, derengemeinsame Wurzel zu erkennen Psychoanalyse ge-

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rade das Mittel geliefert hat. Die Stelle aus der''Zukunft einer Illusion", an der mit der nichts-würdigen Weisheit eines abgebrühten alten Herrndie Commis-voyageur-Sentenz vom Himmel zitiertwird, den wir den Engeln und den Spatzen über-lassen, ist das Seitenstück zu jenem Passus aus denVorlesungen, wo er die perversen Praktiken derLebewelt schaudernd verdammt. Denen Lust undHimmel gleichermaßen verekelt wird, die taugendann in der Tat am besten zu Objekten: das Leereund Mechanisierte, das an erfolgreich Analysiertenso oft sich beobachten läßt, kommt nicht nur aufsKonto ihrer Krankheit, sondern auch auf das ihrerHeilung, die bricht, was sie befreit. Die therapeu-tisch vielgerühmte Übertragung, deren Lösung nichtumsonst die crux der analytischen Arbeit ausmacht,die ausgeklügelte Situation, in der dann das Sub-jekt willentlich unheilvoll jene Durchstreichung sei-ner selbst vollzieht, die glücklich-unfreiwillig ein-mal von der Hingabe bewirkt wurde, ist bereits dasSchema der reflektorischen Verhaltensweise, die alsMarsch hinterm Führer mit allem Geist auch dieAnalytiker liquidiert, die ihm die Treue brachen.

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A u f f o r d e r u n g z u m T a n z . — Die Psycho-analyse tut sich etwas zugute darauf, den Menschenihre Genußfähigkeit wiederzugeben, wie sie durchdie neurotische Erkrankung gestört sei. Als ob nichtdas bloße Wort Genußfähigkeit genügte, diese,wenn es so etwas gibt, aufs empfindlichste herab-zusetzen. Als ob nicht ein Glück, das sich der Speku-lation auf Glück verdankt, das Gegenteil von Glückwäre, ein weiterer Einbruch institutionell geplanterVerhaltensweisen ins immer mehr schrumpfende Be-reich der Erfahrung. Welch einen Zustand muß dasherrschende Bewußtsein erreicht haben, daß die dezi-dierte Proklamation von Verschwendungssucht undChampagnerfröhlichkeit, wie sie früher den Atta-chés in ungarischen Operetten vorbehalten war, mittierischem Ernst zur Maxime richtigen Lebens er-hoben wird. Das verordnete Glück sieht denn auchdanach aus; um es teilen zu können, muß der be-glückte Neurotiker auch noch das letzte bißchen anVernunft preisgeben, das ihm Verdrängung undRepression übriß ließen, und dem Psvchoanalytikerzuliebe an dem Schundfilm, dem teuren, aber schlech-ten Essen im French Restaurant, dem seriösendrink und dem als sex dosierten Geschlecht wahllos

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sich begeistern. Das Schillersche „Das Leben ist dochschön", das immer schon Papiermaché war, ist zurIdiotie geworden, seitdem es im Einverständnis mitder omnipräsenten Reklame ausposaunt wird, zuderen Fanalen auch die Psychoanalyse, ihrer besse-ren Möglichkeit zum Trotz, Scheite herbeiträgt.Wie die Leute durchwegs zu wenig Hemmungenhaben und nicht zu viele, ohne doch darum um einGran gesünder zu sein, so müßte eine kathartischeMethode, die nicht an der gelungenen Anpassungund dem ökonomischen Erfolg ihr Maß findet, dar-auf ausgehen, die Menschen zum Bewußtsein desUnglücks, des allgemeinen und des davon unablÖs-baren eigenen, zu bringen und ihnen die Schein-befriedigungen zu nehmen, kraft derer in ihnen dieabscheuliche Ordnung nochmals am Leben sich er-hält, wie wenn sie sie nicht von außen bereits festgenug in der Gewalt hätte. Erst in dem Überdrußam falschen Genuß, dem Widerwillen gegens An-gebot, der Ahnung von der Unzulänglichkeit desGlücks, selbst wo es noch eines ist, geschweige denndort, wo man es durch die Aufgabe des vermeint-lich krankhaften Widerstands gegen sein positivesSurrogat erkauft, würde der Gedanke von dem auf-gehen, was man erfahren könnte. Die Ermahnungzur happiness, in der der wissenschaftlich lebe-

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männische Sanatoriumsdirektor mit den nervösenPropagandachefs der Vergnügungsindustrie überein-stimmt, tragt die Züge des wütenden Vaters, derdie Kinder anbrüllt, weil sie nicht jubelnd dieTreppe hinunterstürzen, wenn er mißlaunisch ausdem Geschäft nach Hause kommt. Es gehört zumMechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis desLeidens, das sie produziert, zu verbieten) und eingerader Weg führt vom Evangelium der Lebens-freude zur Errichtung von Menschenschlachthäusernso weit hinten in Polen, daß jeder der eigenen Volks-genossen sich einreden kann, er höre die Schmerzens-schreie nicht. Das ist das Schema der ungestörtenGenußfähigkeit. Triumphierend darf die Psycho-analyse dem, der es beim Namen nennt, bestätigen,er habe halt einen Ödipuskomplex.

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I c h i s t Es. — Man pflegt die Entwicklung derPsychologie mit dem Aufstieg des bürgerlichen In-dividuums, in der Antike wie seit der Renaissance,zusammenzubringen. Darüber sollte nicht das kon-träre Moment übersehen werden, das die Psycholo-gie ebenfalls mit der bürgerlichen Klasse gemein hat

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und das heute zur Ausschließlichkeit sich entfaltet:Unterdrückung und Auflösung eben des Indivi-duums, in dessen Dienst die Rückbeziehung der Er-kenntnis auf ihr Subjekt stand. Wenn alle Psycho-logie seit der des Protagoras den Menschen erhöhtedurch den Gedanken, er sei das Maß aller Dinge, sohat sie damit von Anbeginn zugleich ihn zum Ob-jekt gemacht, zum Material der Analyse, und ihnselber, einmal unter die Dinge eingereiht, derenNichtigkeit überantwortet. Die Verleugnung derobjektiven Wahrheit durch den Rekurs aufs Subjektschließt dessen eigene Negation ein: kein Maß bleibtfürs Maß aller Dinge, es verfällt der Kontingentund wird zur Unwahrheit. Das aber deutet zurückauf den realen Lebensprozeß der Gesellschaft. DasPrinzip der menschlichen Herrschaft, das zum ab-. soluten sich entfaltete, hat eben damit seine Spitzegegen den Menschen als das absolute Objekt ge-kehrt, und die Psychologie hat daran mitgewirkt,jene Spitze zu schärfen. Das Ich, ihre leitende Ideeund ihr apriorischer Gegenstand, ist unter ihremBlick stets zugleich schon zum Nicht-Existenten ge-worden. Indem Psychologie sich darauf stützenkonnte, daß das Subjekt in der Tauschgesellschaftkeines ist, sondern in der Tat deren Objekt, konntesie ihr die Waffen liefern, es erst recht zu einem

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solchen zu machen und unten zu halten. Die Zer-legung des Menschen in seine Fähigkeiten ist eineProjektion der Arbeitsteilung auf deren vorgeblicheSubjekte, untrennbar vom Interesse, sie mit höhe-rem Nutzen einsetzen, überhaupt manipulieren zukönnen. Psychotechnik ist keine bloße Verfallsformder Psychologie, sondern ihrem Prinzip immanent.Hume, dessen Werk mit jedem Satz Zeugnis ablegtvom realen Humanismus und der zugleich das Ichunter die Vorurteile verweist, drückt in solchemWiderspruch das Wesen der Psychologie als solcheraus. Dabei hat er noch die Wahrheit auf seiner Seite,denn was als Ich sich selber setzt, ist in der Tatbloßes Vorurteil, die ideologische Hypostase derabstrakten Zentren von Beherrschung, deren Kritikden Abbau der Ideologie von ''Persönlichkeit" er-fordert. Aber dieser Abbau macht zugleich die Re-siduen um so beherrschbarer. An der Psychoanalysewird das flagrant. Sie zieht die Persönlichkeit alsLebenslüge ein, als die oberste Rationalisierung,welche die zahllosen Rationalisierungen zusammen-hält, kraft deren das Individuum seinen Triebver-zicht zuwege bringt und dem Realitätsprinzip sicheinordnet. Zugleich aber bestätigt sie dem Menschenin eben solchem Nachweis sein Nichtsein. Sie ent-äußert ihn seiner selbst, denunziert mit seiner Em-

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heit seine Autonomie und unterwirft ihn so vollendsdem Rationalisierungsmechanismus, der Anpas-sung. Die unerschrockene Kritik des Ichs an sichselbst geht in die Aufforderung über, das der andernsolle kapitulieren. Am Ende wird die Weisheit derPsychoanalytiker wirklich zu dem, wofür das fa-schistische Unbewußte der Schauermagazine sie hält,zur Technik eines Spezialrackets unter anderen, lei-dende und hilflose Menschen unwiderruflich an sichzu fesseln, sie zu kommandieren und auszubeuten.Suggestion und Hypnose, die sie als apokryphablehnt, der marktschreierische Zauberer vor derSchaubude, kehrt in ihrem grandiosen System wie-der wie im Großfilm der Kintopp. Aus dem, derhilft, weil er es besser weiß, wird der, welcher denandern durchs rechthaberische Privileg erniedrigt.Von der Kritik des bürgerlichen Bewußtseins bleibtnur jenes Achselzucken, mit dem alle Ärzte ihr ge-heimes Einverständnis mit dem Tod bekundethaben. — In der Psychologie, dem abgründigenTrug des bloß Inwendigen, der es nicht umsonstmit den „properties" der Menschen zu tun hat, re-flektiert sich, was die Organisation der bürgerlichenGesellschaft mit dem auswendigen Eigentum von jeverübte. Sie hat es, als Resultat des gesellschaft-lichen Tauschs, entwickelt, aber zugleich mit einer

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objektiven Vorbehaltsklausel, von der jeder Bürgerahnt.DerEinzelne ist damit gleichsam bloß von derKlasse belehnt, und die Verfügenden sind bereit, eszurück zunehmen, sobald allgemeines Eigentumseinem Prinzip selber gefährlich werden könnte, dasgerade in der Vorenthaltung besteht. Psychologiewiederholt an den Eigenschaften, was dem Eigentumwiderfuhr. Sie expropriiert den Einzelnen, indemsie ihm ihr Glück zuteilt.

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Immer davon r e d e n , n i e d a r a n denken.— Seitdem mit Hilfe des Films, der Seifenopern undder Horney die Tiefenpsychologie in die letztenLöcher dringt, wird den Menschen auch die letzteMöglichkeit der Erfahrung ihrer selbst von derorganisierten Kultur abgeschnitten. Die fertiggelieferte Aufklärung verwandelt nicht nur diespontane Reflexion, sondern auch die analytischenEinsichten, deren Kraft gleich ist der Energie unddem Leiden, womit sie errungen werden, inMassenprodukte und die schmerzlichen Geheimnisseder individuellen Geschichte, die schon die orthodoxeMethode auf Formeln zu reduzieren geneigt ist, in

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geläufige Konventionen. Die Auflösung der Ratio-nalisierungen wird selbst zu einer Rationalisierung.Anstatt die Arbeit der Selbstbesinnung zu leisten,erwerben die Belehrten die Fähigkeit, alle Trieb-konflikte unter Begriffe wie Minderwertigkeitskom-plex, Mutterbindung, extrovert und introvert zusubsumieren, von denen sie im Grunde sich gar nichterreichen lassen. Der Schrecken vorm Abgrund desIchs wird weggenommen durch das Bewußtsein, daßes sich dabei um gar nicht so viel anderes als umArthritis oder Sinus troubles handle. Dadurch ver-lieren die Konflikte das Drohende. Sie werden ak-zeptiert; keineswegs aber geheilt, sondern bloß indie Oberfläche des genormten Lebens als unum-gängliches Bestandstück hineinmontiert. Zugleichwerden sie, als ein allgemeines Übel, von demMechanismus der unmittelbaren Identifikation desEinzelnen mit der gesellschaftlichen Instanz absor-biert, der die angeblich normalen Verhaltensweisenlängst ergriffen hat. An Stelle jener Katharsis, de-ren Gelingen ohnehin in Frage steht, tritt der Lust-gewinn, in der eigenen Schwäche auch ein Exem-plar der Majorität zu sein und damit nicht sowohl,wie ehedem die Sanatoriumsinsassen, das Prestigedes interessanten pathologischen Falls zu gewinnen,als vielmehr gerade vermöge jener Defekte sich als

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dazugehörig auszuweisen und Macht und Größe desKollektivs auf sich zu übertragen. Der Narzißmus,dem mit dem Zerfall des Ichs sein libidinöses Ob-jekt entzogen ist, wird ersetzt durch das masochi-stische Vergnügen, kein Ich mehr zu sein, und überihrer Ichlosigkeit wacht die heraufziehendeGeneration so eifersüchtig wie über wenigen ihrerGüter, als einem gemeinsamen und dauernden Besitz.Das Reich der Verdinglichung und Normierungwird auf diese Weise bis in seinen äußerstenWiderspruch hinein, das vorgeblich Abnorme undChaotische, ausgedehnt. Das Inkommensurable wirdgerade als solches kommensurabel gemacht, und dasIndividuum ist kaum einer Regung mehr fähig, diees nicht als Beispiel dieser oder jener Öffentlichanerkannten Konstellation benennen könnte. Solcheauswendig übernommene und gleichsam jenseits dereigenen Dynamik vollzogene Identifizierung indessenschafft mit dem genuinen Bewußtsein der Regungschließlich auch diese selbst ab. Sie wird zum an- undabstellbaren Reflex stereotyper Atome aufstereotype Reize. Überdies bewirkt die Konventio-nalisierung der Psychoanalyse deren eigeneKastration: die sexuellen Motive, teils verleugnet,teils approbiert, werden gänzlich harmlos, aber auchgänzlich nichtig. Mit der Angst, die sie bereiten,

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entschwindet auch die Lust, die sie bereiten könnten.So wird Psychoanalyse das Opfer eben derSubstitution des zugeeigneten Überichs durch dieverbissene Übernahme eines beziehungslosenÄußeren, welche sie selber verstehen lehrte. Dasletzte großkonzipierte Theorem der bürgerlidienSelbstkritik ist zu einem Mittel geworden, diebürgerliche Selbstentfremdung in ihrer letztenPhase zur absoluten zu machen und noch dieAhnung der uralten Wunde zu vereiteln, bei derdie Hoffnung eines Besseren in der Zukunft liegt.

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D r i n n e n u n d draußen. — Aus Pietät,Schlamperei und Berechnung läßt man diePhilosophie in immer engerem akademischen Rahmenweiterwursteln und ist selbst dort stets mehrbestrebt, durch die organisierte Tautologie sie zuersetzen. Wer dem beamteten Tiefsinn sich anvertraut,verfällt wie vor hundert Jahren dem Zwang, injedem Augenblick ebenso naiv zu sein wie dieKollegen, von denen die Karriere abhängt. Aberdem außerakademischen Denken, das solchem Zwangund dem Widerspruch zwischen hochtrabenden Stof-

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fen und spießbürgerlicher Behandlung sich entziehenmöchte, droht kaum geringere Gefahr: durch denökonomischen Druck des Marktes, vor dem inEuropa wenigstens die Professoren geschützt waren.Der Philosoph als Schriftsteller, der seinenLebensunterhalt erwerben will, muß gleichsam injedem Augenblick etwas Pikfeines, Erlesenes bieten,durchs Monopol der Seltenheit gegen das des Amtessich behaupten. Der widerliche Begriff des geistigenLeckerbissens, den Pedanten sich ausgedacht haben,kommt am Ende an ihren Widersachern noch zuseinem beschämenden Recht. Wenn der gute alteSchmock stöhnt unter der Forderung des Zeitungs-chefsj er solle lauter Brillantes schreiben, so meldet erin aller Unbefangenheit das Gesetz an, dasverschwiegen hinter den Werken über denkosmogo-nischen Eros und den Kosmos Atheos, denGestaltwandel der Götter und das Geheimnis desJohannesevangeliums waltet. Der Lebensstil desverspäteten Bohemiens, der dem nichtakademischenPhilosophen aufgezwungen wird, bringt ihn ohnehinin fatale Affinität zu Kunstgewerbe, Seelenkitschund sektiererischer Halbbildung. Das München vormersten Weltkrieg war eine Brutstätte jener Geistig-keit, deren Protest gegen den Rationalismus derSchulen über die Kulte vom Kostümfest womöglich

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noch rascher in den Faschismus mündete als das ver-zagte System des alten Rickert. So groß ist dieMacht der fortschreitenden Organisation des Gedan-kens, daß sie jene, die sich draußen halten wollen,zur Eitelkeit des Ressentiments, zur Geschwätzig-keit der Selbstanpreisung, schließlich die Unter-legenen zur Hochstapelei treibt. Wenn die Ordina-rien den Grundsatz Sum ergo cogito aufstellen undim offenen System der Platzangst, in der Geworfen-heit der Volksgemeinschaft verfallen, so verirrensich ihre Gegner, wenn sie nicht gar sehr auf derHut sind, in die Gegend der Graphologie und derrhythmischen Gymnastik. Den Zwangstypen dortentsprechen die Paranoiker hier. Der sehnsüchtigeGegensatz zur Tatsachenforschung, das rechtmäßigeBewußtsein, im Scientivismus sei das Beste verges-sen, kommt als naives der Spaltung zugute, unterder es leidet. Anstatt die Fakten zu begreifen, hinterdenen die andern sich verschanzen, rafft es davonzusammen, was in der Eile sich bietet, macht sich aufdie Flucht und spielt mit den apokryphenKenntnissen, mit ein paar isolierten und hyposta-sierten Kategorien und mit sich selber so unkritisch,daß dann auch noch der Verweis auf die unnach-giebigen Fakten Recht behält. Gerade das kritischeElement geht dem scheinbar unabhängigen Denken

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verloren. Die Insistenz auf dem unter der Schaleverborgenen Weltgeheimnis, die ehrfürchtig dessenBeziehung zur Schale unausgemacht läßt, bestätigtdieser oft genug gerade durch solche Enthaltsam-keit, daß sie eben doch ihren guten Sinn habe, denman hinnehmen müsse, ohne zu fragen. Zwischender Lust an der Leere und der Lüge von der Fülleläßt der herrschende Stand des Geistes kein Drittesmehr zu.

Trotzdem ist der Blick aufs Entlegene, der Haßgegen Banalität, die Suche nach dem Unabgegrif-fenen, vom allgemeinen Begriffsschema noch nichtErfaßten die letzte Chance für den Gedanken. Ineiner geistigen Hierarchie, die unablässig alle zurVerantwortung zieht, ist Unverantwortlichkeit al-lein fähig, die Hierarchie unmittelbar selber beimNamen zu rufen. Die Zirkulationssphäre, derenMale die intellektuellen Außenseiter tragen, eröff-net dem Geist, den sie verschachert, die letzten Re-fugien in dem Augenblick, in dem es sie eigentlichschon gar nicht mehr gibt. "Wer ein Unikum an-bietet, das niemand mehr kaufen will, vertritt, selbstgegen seinen Willen, die Freiheit vom Tausch.

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G e d a n k e n f r e i h e i t . — Die Verdrängungder Philosophie durch die Wissenschaft hat, wieman weiß, zu einer Trennung der beiden Elementegeführt, deren Einheit Hegel zufolge das Lebenvon Philosophie ausmacht, Reflexion und Speku-lation. Den Reflexionsbestimmungen wird ernüch-tert das Land der Wahrheit überlassen und dieSpekulation darin mißmutig bloß zwecks Formu-lierung von Hypothesen geduldet, die außerhalb derArbeitszeit ausgedacht und so schnell wie möglicheingelöst werden müssen. Wer aber darum glaubte,daß der spekulative Bereich in seiner außerwissen-schaftlichen Gestalt unangefochten erhalten, gleich-sam vom Betrieb der universalen Statistik in Ruhegelassen würde, irrte gründlich. Vorweg bekommtdie Lostrennung von der Reflexion der Spekulationselber schlecht genug. Diese wird entweder zum ge-lehrsamen Nachbeten überlieferter philosophischerEntwürfe degradiert oder entartet, in ihrer Distanzvon den blind gemachten Fakten, zum Geschwätzunverbindlich privater Weltanschauung. Damit je-doch nicht zufrieden, gliedert der Wissenschafts-betrieb selber die Spekulation sich ein. Unter denöffentlichen Funktionen der Psychoanalyse ist das

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nicht die letzte. Ihr Medium ist die freie Assozia-tion. Der Weg ins Unbewußte der Patienten wirdgebahnt, indem man ihnen die Verantwortung derReflexion ausredet, und die analytische Theoriebil-dung selber folgt der gleichen Spur, sei's, daß sie vonVerlauf und Stockung jener Assoziationen ihre Be-funde sich vorzeichnen läßt, sei's, daß die Analytiker,und gerade die begabtesten wie Groddeck, der eige-nen Assoziation sich anvertrauen. Entspannt wirdauf dem Diwan vorgeführt, was einmal die äußersteAnspannung des Gedankens von Schelling und He-gel auf dem Katheder vollbrachte: die Dechiffrie-rung des Phänomens. Aber solches Nachlassen derSpannung affiziert die Qualität der Gedanken: derUnterschied ist kaum geringer als der zwischender Philosophie der Offenbarung und dem Gequat-sche der Schwiegermutter. Die gleiche Bewegung desGeistes, die einmal dessen „Material" zum Begrifferheben sollte, wird selber herabgesetzt zum bloßenMaterial für begriffliche Ordnung. Was einem ein-fällt, ist gerade gut genug dazu, daß Geschulte ent-scheiden, ob der Produzierende ein Zwangscharak-ter, ein oraler Typ, ein Hysteriker sei. Vermöge derLockerung der Verantwortlichkeit, die in der Los-lösung von der Reflexion, der Kontrolle des Ver-standes liegt, wird Spekulation selber als Objekt

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der Wissenschaft überlassen, deren Subjektivität mitihr erloschen ist. Indem der Gedanke vom Verwal-tungsschema der Analyse an seine unbewußten Ur-sprünge sich erinnern läßt, vergißt er, Gedanke zusein. Aus dem wahren Urteil wird er zum neu-tralen Stoff. Anstatt daß er, um seiner selbst mäch-tig zu werden, die Arbeit des Begriffs leistete, ver-traut er sich ohnmächtig der Bearbeitung durch denDoktor an, der ohnehin alles schon weiß. So wirdSpekulation endgültig gebrochen und selber zurTatsache, die sich einer der Branchen des Klassi-fizierens als Belegstück des Immergleichen einfügt.

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Bangemachen g i l t nicht. — Was objek-tiv die Wahrheit sei, bleibt schwer genug auszu-machen, aber im Umgang mit Menschen soll mandavon nicht sich terrorisieren lassen. Es gibt daKriterien, die fürs erste ausreichen. Eines der zu-verlässigsten ist, daß einem entgegengehalten wird,eine Aussage sei „zu subjektiv". Wird das geltendgemacht und gar mit jener Indignation, in der diewütende Harmonie aller vernünftigen Leute mit-klingt, so hat man Grund, ein paar Sekunden mit

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sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektivenund Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objek-tiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erschei-nung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, dieaus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also dasSubjektive; und subjektiv nennen sie, was jenedurchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sacheeintritt, der geurteilten Convenus darüber sich ent-schlägt und die Beziehung auf den Gegenstand an-stelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihnnicht einmal anschauen, geschweige denken — alsodas Objektive, "Wie windig der formale Einwandsubjektiver Relativität ist, stellt sich auf desseneigentlichem Felde heraus, dem der ästhetischenUrteile. Wer jemals aus der Kraft seines präzisenReagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks,dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang sei-ner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht derVorbehalt des bloß Subjektiven seiner Erfahrungwie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, den ervermöge seiner extrem subjektiven Innervation indie Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel grö-ßere objektive Gewalt als die umfassenden undwohlbestätigten BegnrTsbildungen etwa des „Stils",deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten sol-cher Erfahrung geht. Das ist doppelt wahr in der

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Ära des Positivismus und der Kulturindustrie, derenObjektivität von den veranstaltenden Subjektenkalkuliert ist. Ihr gegenüber hat Vernunft vollends,und fensterlos, in die Idiosynkrasien sich geflüchtet,denen die Willkür der Gewalthaber Willkür vor-wirft, weil sie die Ohnmacht der Subjekte wollen,aus Angst vor der Objektivität, die allein bei die-sen Subjekten aufgehoben ist.

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Für N a c h - S o k r a t i k e r . — Nichts ist demIntellektuellen, der zu leisten sich vornimmt, wasfrüher Philosophie hieß, unangemessener, als in derDiskussion, und fast möchte man sagen in der Be-weisführung, Recht behalten zu wollen. Das Recht -behaltenwollen selber, bis in seine subtilste logischeReflexionsform hinein, ist Ausdruck jenes Geistesvon Selbsterhaltung, den aufzulösen das Anliegenvon Philosophie gerade ausmacht. Ich kannte einen,der alle Zelebritäten aus Erkenntnistheorie, Natur-und Geisteswissenschaften der Reihe nach zu sicheinlud, mit jedem einzeln sein System durchdisku-tierte und, nachdem keiner mehr gegen dessen For-malismus ein Argument vorzubringen wagte, seine

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Sache für schlechterdings wertbeständig hielt. Etwasvon solcher Naivetät ist überall dort noch am Werk,wo Philosophie auch nur von ferne dem Gestus desUberzeugens ähnelt. Ihm liegt die Voraussetzungeiner universitas literarum zugrunde, eines apri-orischen Einverständnisses der Geister, die miteinan-der kommunizieren können, und damit schon derganze Konformismus. Wenn Philosophen, denenbekanntlich das Schweigen immer schon schwer fiel,aufs Gespräch sich einlassen, so sollten sie so reden,daß sie allemal unrecht behalten, aber auf eineWeise, die den Gegner der Unwahrheit überführt.Es käme darauf an, Erkenntnisse zu haben, dienicht etwa absolut richtig, hieb- und stichfest sind —solche laufen unweigerlich auf die Tautologie hin-aus —, sondern solche, denen gegenüber die Fragenach der Richtigkeit sich selber richtet. — Damitwird aber nicht Irrationalismus angestrebt, das Auf-stellen willkürlicher, durch den Offenbarungsglau-ben der Intuition gerechtfertigter Thesen, sonderndie Abschaffung des Unterschieds von These undArgument. Dialektisch denken heißt, unter diesemAspekt, daß das Argument die Drastik der Thesegewinnen soll und die These die Fülle ihres Grundesin sich enthalten. Alle Brückenbegriffe, alle Verbin-dungen und logischen Hüfsoperationen, die nicht in

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der Sache selber sind, alle sekundären und nicht mitder Erfahrung des Gegenstands gesättigten Fol-gerungen müßten entfallen. In einem philosophischenText sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunktstehen. Ohne daß Hegel das je ausgesprochen hätte,legt sein ganzes Verfahren Zeugnis ab von dieserIntention. Wie sie kein Erstes kennen möchte, sodürfte sie streng genommen kein Zweites und keinAbgeleitetes kennen, und den Begriff der Vermitt-lung hat sie gerade von den formalen Zwischen-bestimmungen in die Sachen selber verlegt und da-mit deren Unterschied von einem ihnen äußerlichen,vermittelnden Denken überwinden wollen. DieGrenzen, die dem Gelingen solcher Intention in derHegeischen Philosophie gesetzt bleiben, sind zu-gleich die Grenzen von deren Wahrheit, nämlichdie Reste der prima philosophia, der Suppositiondes Subjekts als eines trotz allem „Ersten". Zu denAufgaben der dialektischen Logik gehört es, dieletzten Spuren des deduktiven Systems zusammenmit der letzten advokatorischen Gebärde des Ge-dankens zu beseitigen.

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„Wie s c h e i n t d o c h a l l e s W e r d e n d eso krank." — Das dialektische Denken wider-setzt sich der Verdinglichung auch in dem Sinn, daßes sich weigert, ein Einzelnes je in seiner Vereinzelungund Abgetrenntheit zu bestätigen: es bestimmt ge-rade die Vereinzelung als Produkt des Allgemeinen.So arbeitet es als Korrektiv gegen die manischeFixiertheit wie gegen den widerstandslosen undleeren Zug des paranoiden Geistes, der das absoluteUrteil mit dem Preis der Erfahrung der Sache be-zahlt. Aber darum ist Dialektik doch nicht, wozusie in der englischen Hegelschule und dann vollendsim angestrengten Pragmatismus Deweys wurde,sense of proportions, das Einstellen der Dinge inihre rechte Perspektive, der einfache, aber hart-näckige gesunde Menschenverstand. Wenn Hegel imGespräch mit Goethe solcher Auffassung selbernahezukommen schien, indem er seine Philosophiegegen den Goetheschen Piatonismus damit vertei-digte, daß sie „im Grunde nichts weiter" sei, „alsder geregelte, methodisch ausgebildete Widerspruchs-geist, der jedem Menschen innewohnt, und welcheGabe sich groß erweist in Unterscheidung des Wah-ren vom Falschen", so enthält die hintersinnige For-

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mulierung eulenspiegelhaft im Lobe des „jedemMenschen Innewohnenden" zugleich die Denun-ziation des common sense, zu dessen innerster Be-stimmung es gemacht wird gerade nicht vom com-mon sense sich leiten zu lassen, sondern diesem zuwidersprechen. Common sense, die Einschätzung derrichtigen Verhältnisse, der am Markt geschulte, welt-läufig geübte Blick, hat mit der Dialektik die Frei-heit von Dogma, Beschränkung und Verranntheitgemein. Seine Nüchternheit gibt ein unabdingbaresMoment von kritischem Denken ab. Aber der Ver-zicht auf verblendeten Eigensinn ist doch auch wie-derum dessen geschworener Feind. Die Allgemein-heit der Meinung, unmittelbar angenommen als einein der Gesellschaft, wie sie ist, hat zum konkretenInhalt notwendig das Einverständnis. Es ist keinZufall, daß im neunzehnten Jahrhundert geradeder abgestandene und durch die Aufklärung mitschlechtem Gewissen versetzte Dogmatismus auf dengesunden Menschenverstand sich berief, so daß einErzpositivist wie Mill gezwungen war, gegen diesenzu polemisieren. Der sense of proportions vollendsbezieht sich darauf, daß man in den Maßverhält-nissen und Größenordnungen des Lebens denkensolle, die feststehen. Man muß nur einmal einenhartgesottenen Repräsentanten einer herrschenden

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Clique haben sagen hören: „Das ist nicht so wich-tig", muß nur beobachten, wann die Bürger vonÜbertreibung, Hysterie, Narretei reden, um zu wis-sen, daß es gerade an der Stelle, an der die Be-rufung auf Vernunft am promptesten eintritt, un-weigerlich um die Apologie der Unvernunft geht.Den gesunden Widerspruchsgeist hat Hegel mitder Dickköpfigkeit des Bauern hervorgehoben, derjahrhundertelang lernte, Jagd und Zins der mäch-tigen Feudalherren zu überstehen. Das Anliegen derDialektik ist es, den gesunden Ansichten, die spätereGewalthaber von der Unabänderlichkeit des Welt-laufs hegen, ein Schnippchen zu schlagen und inihren „proportions" das treue und reduzierte Spie-gelbild der unmäßig vergrößerten Mißverhältnissezu entziffern. Die dialektische Vernunft ist gegen dieherrschende die Unvernunft: erst indem sie jeneüberführt und aufbebt, wird sie selber vernünftig.Wie verrannt und talmudistisch war schon, mittenin der funktionierenden Tauschwirtschaft, die In-sistenz auf dem Unterschied der vom Arbeiter ver-ausgabten Arbeitszeit und der zur Reproduktionseines Lebens notwendigen. Wie hat nicht Nietzschealle Pferde am Schwanz aufgezäumt, auf denen erseine Attacken ritt, wie haben nicht Karl Kraus,Kafka, selbst Proust, jeder auf seine Weise, das Bild

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der Welt befangen verfälscht, um Falschheit undBefangenheit abzuschütteln. Vor den Begriffen desGesunden und Kranken, ja den mit ihnen verschwi-sterten des Vernünftigen und Unvernünftigen selbervermag Dialektik nicht Halt zu machen. Hat sieeinmal das herrschende Allgemeine und seine Pro-portionen als krank — und im wörtlichsten Sinn,gezeichnet mit der Paranoia, der „pathischen Pro-jektion" — erkannt, so wird ihr zur Zelle der Ge-nesung einzig, was nach dem Maß jener Ordnungselber als krank, abwegig, paranoid — ja als „ver-rückt" sich darstellt, und es gilt heute wie im Mittel-alter, daß einzig die Narren der Herrschaft dieWahrheit sagen. Unter diesem Aspekt wäre es diePflicht des Dialektikers, solcher Wahrheit des Nar-ren zum Bewußtsein ihrer eigenen Vernunft zu ver-helfen, ohne welches sie freilich untergehen müßteim Abgrund jener Krankheit, welche der gesundeMenschenverstand der andern mitleidslos diktiert.

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Zur Moral d e s Denkens. — Naiv undunnaiv, das sind Begriffe, so unendlich ineinanderverschlungen, daß es zu nichts Gutem taugt, den

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einen gegen den andern auszuspielen. Die Vertei-digung des Naiven, wie sie von Irrationalisten undIntellektuellenfressern aller Art betrieben wird, istunwürdig. Die Reflexion, welche die Partei derNaivetät nimmt, richtet sich selbst: Schlauheit undObskurantismus sind immer noch dasselbe. Ver-mittelt die Unmittelbarkeit behaupten anstatt dieseals in sich vermittelte begreifen, verkehrt Denkenin die Apologetik seines eigenen Gegensatzes, in dieunmittelbare Lüge. Sie dient allem Schlechten, vonder Verstocktheit des privaten Nun-einmal-so-Seinsbis zur Rechtfertigung des gesellschaftlichen Un-rechts als Natur. Wollte man jedoch darum dasEntgegengesetzte zum Prinzip erheben und — wieich selber einmal es tat — Philosophie die bündigeVerpflichtung zur Unnaivetät nennen, so führe mankaum besser. Nicht bloß ist Unnaivetät im Sinnevon Versiertheit, Abgebrühtheit, Gewitzigtsein einfragwürdiges Medium der Erkenntnis, durch Affi-nität zu den praktischen Ordnungen des Lebens,allseitigen mentalen Vorbehalt gegen Theorie sel-ber stets bereit, in Naivetät, das Hinstarren aufZwecke zurückzuschlagen. Auch wo Unnaivetät indem theoretisch verantwortlichen Sinn des Erwei-ternden, des nicht beim isolierten PhänomenStehenbleibens, des Gedankens ans Ganze gefaßt

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wird, liegt eine Wolke darüber. Es ist eben jenesWeitergehen und nicht Verweilenkönnen, jene still-schweigende Zuerkennung des Vorrangs ans Allge-meine gegenüber dem Besonderen, worin nicht nurder Trug des Idealismus besteht, der die Begriffehypostasiert, sondern auch seine Unmenschlichkeit,die das Besondere, kaum daß sie es ergreift, schonzur Durchgangsstation herabsetzt und schließlichmit Leiden und Tod der bloß in der Reflexion vor-kommenden Versöhnung zuliebe allzu geschwindsich abfindet — in letzter Instanz die bürgerlicheKalte, die das Unausweichliche allzu gern unter-schreibt. Nur dort vermag Erkenntnis zu erweitern,wo sie beim Einzelnen so verharrt, daß über derInsistenz seine Isoliertheit zerfällt. Das setzt frei-lich auch eine Beziehung zum Allgemeinen voraus,aber nicht die der Subsumtion, sondern fast derenGegenteil. Die dialektische Vermittlung ist nichtder Rekurs aufs Abstraktere, sondern der Auf-lösungsprozeß des Konkreten in sich. Nietzsche, derselber oft in allzu weiten Horizonten dachte, hatdavon doch gewußt: „Wer zwischen zwei entschlos-senen Denkern vermitteln will", heißt es in derFröhlichen Wissenschaft, „ist gezeichnet als mittel-mäßig: er hat das Auge nicht dafür, das Einmaligezu sehen; die Ähnlichseherei und Gleichmacherei ist

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das Merkmal schwacher Augen." Die Moral des Den-kens besteht darin, weder stur noch souverän, wederblind noch leer, weder atomistisch noch konsequentzu verfahren. Die Doppelschlächtigkeit der Methode,welche der Hegelschen Phänomenologie unter ver-nünftigen Leuten den Ruf abgründiger Schwierig-keit eingetragen hat, nämlich die Forderung, gleich-zeitig die Phänomene als solche sprechen zu lassen— das „reine Zusehen" —, und doch in jedemAugenblick ihre Beziehung auf das Bewußtsein alsSubjekt, die Reflexion präsent zu halten, drücktdiese Moral am genauesten und in aller Tiefe desWiderspruchs aus. Wie viel schwieriger aber ist esgeworden, ihr nachzukommen, wenn man nicht mehrdie Identität von Subjekt und Objekt sich vorgebendarf, in deren endlicher Annahme Hegel die anta-gonistischen Forderungen des Zusehens undKonstru-ierens noch zur Deckung brachte. Vom Denkendenheute wird nicht weniger verlangt, als daß er in je-dem Augenblick in den Sachen und außer den Sachensein soll — der Gestus Münchhausens, der sich an demZopf aus dem Sumpf zieht, wird zum Schema einerjeden Erkenntnis, die mehr sein will als entwederFeststellung oder Entwurf. Und dann kommen nochdie angestellten Philosophen und machen uns zumVorwurf, daß wir keinen festen Standpunkt hätten.

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De g u s t i b u s e s t d i s p u t a n d u m. — Auchwer von der Unvergleichbarkeit der Kunstwerkesich überzeugt hält, wird stets wieder in Debattensich verwickelt finden, in denen Kunstwerke, undgerade solche des obersten und darum unvergleich-lichen Ranges, miteinander verglichen werden undgegeneinander gewertet. Der Einwand, bei solchenErwägungen, die eigentümlich zwangshaft Zustande-kommen, handle es sich um Krämerinstinkte, umsMessen mit der Elle, hat meist nur den Sinn, daßsolide Bürger, denen die Kunst nie irrational genugsein kann, von den Werken die Besinnung und denAnspruch der Wahrheit fernhalten wollen. DerZwang zu jenen Überlegungen ist aber in den Kunst-werken selber gelegen. So viel ist wahr, vergleichenlassen sie sich nicht. Aber sie wollen einander ver-nichten. Nicht umsonst haben die Alten das Pan-theon des Vereinbaren den Göttern oder Ideen vor-behalten, die Kunstwerke aber zum Agon genötigt,eines Todfeind dem andern. Die Vorstellung eines„Pantheons der Klassizität", wie noch Kierkegaardsie hegte, ist eine Fiktion der neutralisierten Bildung.Denn wenn die Idee des Schönen bloß aufgeteilt inden vielen Werken sich darstellt, so meint doch

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jedes einzelne unabdingbai die ganze, beanspruchtSchönheit für sich in seiner Einzigkeit und kannderen Aufteilung nie zugeben, ohne sich selber zuannullieren. Als eine, wahre und scheinlose, befreitvon solcher Individuation, stellt Schönheit nicht inder Synthesis aller Werke, der Einheit der Künsteund der Kunst sich dar, sondern bloß leibhaft undwirklich: im Untergang von Kunst selber. Auf sol-chen Untergang zielt jedes Kunstwerk ab, indem esallen anderen den Tod bringen möchte. Daß mitaller Kunst deren eigenes Ende gemeint sei, ist einanderes Wort für den gleichen Sachverhalt. Vonsolchem Selbstvernichtungsdrang der Kunstwerke,ihrem innersten Anliegen, das hintreibt ins schein-lose Bild des Schönen, werden immer wieder dieangeblich so nutzlosen ästhetischen Streitigkeitenaufgerührt. Während sie trotzig und verstockt dasästhetische Recht finden wollen und eben damiteiner unstillbaren Dialektik verfallen, gewinnen siewider Willen ihr besseres Recht, indem sie vermögeder Kraft der Kunstwerke, die sie in sich aufneh-men und zum Begriff erheben, jedes einschränkenund so auf die Zerstörung der Kunst hinarbeiten, diederen Rettung ist. Ästhetische Toleranz, wie sie dieKunstwerke unmittelbar in ihrer Beschränktheitgelten läßt, ohne sie zu brechen, bringt ihnen nur

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den falschen Untergang, den des Nebeneinander, indem der Anspruch der einen Wahrheit verleugnet ist.

Für A n a t o l e France. — Tugenden selbstwie die der Aufgeschlossenheit, das Vermögen, über-all, noch im Alltäglichsten und Unscheinbarsten desSchönen sich zu versichern und sich daran zu freuen,beginnen, ein fragwürdiges Moment hervorzukeh-ren. Einmal, im Zeitalter der überströmenden sub-jektiven Fülle, sprach in der ästhetischen Gleich-gültigkeit gegen die Wahl des Objekts zugleich mitder Kraft, allem Erfahrenen Sinn abzuzwingen, dieBeziehung zur gegenständlichen Welt selber sichaus, die gleichsam noch in all ihren Bruchstückendem Subjekt antagonistisch zwar, doch nah undbedeutend gegenübertritt. In der Phase, in der dasSubjekt vor der entfremdeten Übermacht der Dingeabdankt, zeigt seine Bereitschaft, Positives oderSchönes überall zu gewahren, Resignation wie deskritischen Vermögens so der interpretierenden Phan-tasie an, welche von jenem untrennbar ist. Wer allesschön findet, ist nun Gefahr, nichts schön zu fin-den. Das Allgemeine der Schönheit vermag nicht

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anders dem Subjekt sich mitzuteilen als in der Ob-session durchs Besondere. Kein Blick erreicht dasSchöne, dem nicht die Gleichgültigkeit, ja fast dieVerachtung gegen alles außerhalb des angeschautenGegenstandes beigesellt wäre. Und es ist einzig dieVerblendung, das ungerechte Verschließen des Blicksgegen den Anspruch, den alles Daseiende erhebt,wodurch dem Daseienden Gerechtigkeit widerfährt.Indem es, in seiner Einseitigkeit, hingenommen wird,als das was es ist, wird seine Einseitigkeit als seinWesen begriffen und versöhnt. Der Blick, der anseine Schöne sich verliert, ist ein sabbatischer. Errettet am Gegenstand etwas von der Ruhe seinesSchöpfungstages. Wird aber die Einseitigkeit durchsvon außen hineingetragene Bewußtsein des Univer-salen aufgehoben, das Besondere aufgestört, substi-tuiert und abgewogen, so macht der gerechte Über-blick über das Ganze das universale Unrecht sich zueigen, das in Vertauschbarkeit und Substitution sel-ber gelegen ist. Solche Gerechtigkeit wird zum Voll-strecker des Mythos an dem Geschaffenen. Wohl istkein Gedanke von solcher Verflechtung dispensiert,keiner darf borniert beharren. Aber alles liegt ander Weise des Übergangs. Das Verderben kommtvom Gedanken als Gewalt, dem Abkürzen desWegs, der einzig durchs Undurchdringliche hindurch

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das Allgemeine findet, dessen Gehalt in der Un-durchdringlichkeit selber bewahrt ist, nicht in derabgezogenen Übereinstimmung verschiedener Ge-genstände. Fast könnte man sagen, daß vom Tempo,der Geduld und Ausdauer des Verweilens beimEinzelnen, Wahrheit selber abhängt: was darüberhinausgeht, ohne sich erst ganz verloren zu haben,was zum Urteil fortschreitet, ohne der Ungerechtig-keit der Anschauung erst sich schuldig gemacht zuhaben, verliert sich am Ende im Leeren. Liberalität,die unterschiedslos den Menschen ihr Recht wider-fahren läßt, läuft auf Vernichtung hinaus wie derWille der Majorität, die der Minorität Böses zu-fügt und so der Demokratie Hohn spricht, nachderen Prinzip sie handelt. Aus der unterschiedslosenGüte gegen alles droht denn auch stets Kälte undFremdheit gegen jedes, die dann wiederum demGanzen sich mitteilt. Ungerechtigkeit ist das Me-dium wirklicher Gerechtigkeit. UneingeschränkteGüte wird zur Bestätigung all des Schlechten wasist, indem sie seine Differenz von der Spur desGuten herabsetzt und auf jene Allgemeinheit nivel-liert, die hoffnungslos auf die bürgerlich-mephisto-phelische Weisheit herauskommt, alles was besteht,sei wert, daß es zugrunde geht. Die Rettung desSchönen noch im Stumpfen oder Gleichgültigen

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scheint um so viel edler als das eigensinnige Behar-ren auf Kritik und Spezifikation, wie sie in Wahr-heit den Ordnungen des Lebens geneigter sich zeigt.Dem wird die Heiligkeit des Lebendigen ent-gegengehalten, die gerade noch im Häßlichsten undEntstelltesten widerscheint. Aber ihr Widerscheinist kein unmittelbarer, sondern einzig ein gebroche-ner: was schön sein soll, nur weil es lebt, ist ebendarum bereits das Häßliche. Der Begriff des Lebensin seiner Abstraktion, auf welchen dabei rekurriertwird, ist gar nicht zu trennen von dem Unter-drückenden, Rücksichtslosen, eigentlich Tödlichenund Destruktiven. Der Kultus des Lebens an sichläuft stets auf den jener Mächte heraus. Was soÄußerung von Leben heißt, von quellender Frucht-barkeit und dem stoßenden Treiben von Kindernbis hinauf zur Tüchtigkeit derer, die etwas Rechteszustandebringen, und zum Temperament der Frau,die vergöttert wird, weil in ihr der Appetit so un-vermischt sich darstellt, all das hat, absolut gefaßt,etwas davon, dem anderen, Möglichen das Lichtwegzunehmen in blinder Selbstbehauptung. DasWuchernde des Gesunden ist als solches immer schonzugleich die Krankheit. Ihr Gegengift ist Krank-heit als ihrer bewußte, die Einschränkung von Lebenselber. Solche heilsame Krankheit ist das Schöne.

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Es gebietet dem Leben Halt und damit seinem Ver-fall. Verleugnet man jedoch die Krankheit um desLebens willen, so geht das hypostasierte Leben ver-möge seiner blinden Losgetrenntheit vom anderenMoment gerade in dieses, ins Zerstörende und Böseüber, ins Freche und sich Brüstende. Wer das Zer-störende haßt, muß das Leben mithassen: nur dasTote ist das Gleichnis des nicht entstellten Leben-digen. Anatole France hat, auf seine aufgeklärteWeise, von solchem Widerspruch wohl gewußt.„Nein", sagt gerade der milde Herr Bergeret, „ichwill lieber glauben, daß das organische Leben einespezielle Krankheit unseres unschönen Planeten ist.Es wäre unerträglich zu glauben, daß man auch imunendlichen All immer nur fräße und gefressenwürde." Der nihilistische Widerwille in seinenWorten ist nicht bloß die psychologische, sonderndie sachliche Bedingung der Humanität als Utopie.

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Moral u n d Zei tordnung. — Währenddie Literatur alle psychologischen Arten erotischerKonflikte behandelt hat, ist der einfachste auswen-dige Konfliktstoff unbeachtet geblieben um seiner

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Selbstverständlichkeit willen. Das ist das Phäno-men des Besetztseins: daß ein geliebter Mensch sichuns versagt nicht wegen innerer Antagonismen undHemmungen, wegen zuviel Kälte oder zuviel ver-drängter Wärme, sondern weil bereits eine Bezie-hung besteht, die eine neue ausschließt. Die ab-strakte Zeitordnung spielt in Wahrheit die Rolle,die man der Hierarchie der Gefühle zuschreibenmöchte. Es liegt im Vergebensein, außer der Frei-heit von Wahl und Entschluß, auch ein ganz Zufäl-liges, das dem Anspruch der Freiheit durchaus zuwidersprechen scheint. Selbst und gerade in einervon der Anarchie der Warenproduktion geheiltenGesellschaft würden schwerlich Regeln darüberwachen, in welcher Reihenfolge man Menschenkennenlernt. Wäre es anders, so müßte ein solchesArrangement dem unerträglichsten Eingriff in dieFreiheit gleichkommen. Daher hat denn auch diePriorität des Zufälligen mächtige Gründe auf ihrerSeite: wird einem Menschen ein neuer vorgezogen,so tut man jenem allemal Böses an, indem die Ver-gangenheit des gemeinsamen Lebens annulliert, Er-fahrung selber gleichsam durchstrichen wird. DieIrreversibilität der Zeit gibt ein objektives mora-lisches Kriterium ab. Aber es ist dem Mythos ver-schwistert wie die abstrakte Zeit selbst. Die in ihr

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gesetzte Ausschließlichkeit entfaltet sich ihrem eige-nen Begriff nach zur ausschließenden Herrschafthermetisch dichter Gruppen, schließlich der großenIndustrie. Nichts rührender als das Bangen derLiebenden, die Neue könnte Liebe und Zärtlichkeit,ihren besten Besitz, eben -weil sie sich nicht besitzenlassen, auf sich ziehen, gerade vermöge jener Neu-heit, die vom Vorrecht des Älteren selber hervor-gebracht wird. Aber von diesem Rührenden, mitdem zugleich alle Wärme und alles Geborgenseinzerginge, führt ein unaufhaltsamer Weg über dieAbneigung des Brüderchens gegen den Nachgebo-renen und die Verachtung des Verbindungsstuden-ten für seinen Fuchs zu den Immigrationsgesetzen,die im sozialdemokratischen Australien alle Nicht-kaukasier draußen halten, bis zur faschistischen Aus-rottung der Rasseminorität, womit dann in der TatWärme und Geborgensein ins Nichts explodieren.Nicht nur sind, wie Nietzsche es wußte, alle gutenDinge einmal böse Dinge gewesen: die zartesten,ihrer eigenen Schwerkraft überlassen, haben dieTendenz, in der unausdenkbaren Roheit sich zuvollenden.

Es wäre müßig, aus solcher Verstrickung den Aus-weg weisen zu wollen. Doch läßt sich wohl das un-heilvolle Moment benennen, das jene ganze Dialek-

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tik ins Spiel bringt. Es Hegt beim ausschließendenCharakter des Ersten. Die ursprüngliche Beziehung,in ihrer bloßen Unmittelbarkeit, setzt bereits ebenjene abstrakte Zeitordnung voraus. Historisch istder Zeitbegriff selber auf Grund der Eigentums-ordnung gebildet. Aber das Besitzenwollen reflek-tiert die Zeit als Angst vor dem Verlieren, der Un-wiederbringlidikeit. Was ist, wird in Beziehung zuseinem möglichen Nichtsein erfahren. Damit wirdes erst recht zum Besitz gemacht und gerade in sol-cher Starrheit zu einem Funktionellen, das für an-deren äquivalenten Besitz sich austauschen ließe.Einmal ganz Besitz geworden, wird der geliebteMensch eigentlich gar nicht mehr angesehen. Ab-straktheit in der Liebe ist das Komplement derAusschließlichkeit, die trügerisch als das Gegenteil,als das sich Anklammern an dies eine so Seiendein Erscheinung tritt. Dies Festhalten verliert geradesein Objekt aus den Händen, indem es zum Objektgemacht wird, und verfehlt den Menschen, den esauf „meinen Menschen" herunterbringt. WärenMenschen kein Besitz mehr, so könnten sie auchnicht mehr vertauscht werden. Die wahre Neigungwäre eine, die den andern spezifisch anspricht, angeliebte Züge sich heftet und nicht ans Idol derPersönlichkeit, die Spiegelung von Besitz. Das Spe-

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zifische ist nicht ausschließlich: ihm fehlt der Zugzur Totalität. Aber in anderem Sinne ist es dochausschließlich: indem es die Substitution der unlös-bar an ihm haftenden Erfahrung — zwar nichtverbietet, aber durch seinen reinen Begriff gar nichterst aufkommen läßt. Der Schutz des ganz Bestimm-ten ist, daß es nicht wiederholt werden kann, undeben darum duldet es das andere. Zum Besitzver-hältnis am Menschen, zum ausschließenden Priori-tätsrecht, gehört genau die Weisheit: Gott, es sindalles doch nur Menschen, und welcher es ist, daraufkommt es gar nicht so sehr an. Neigung, die vonsolcher Weisheit nichts wüßte, brauchte Untreuenicht zu fürchten, weil sie gefeit wäre vor der Treu-losigkeit.

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Lücken. — Die Aufforderung, man solle sichder intellektuellen Redlichkeit befleißigen, läuftmeist auf die Sabotage der Gedanken heraus. IhrSinn ist, den Schriftsteller dazu anzuhalten, alleSchritte explizit darzustellen, die ihn zu seinerAussage geführt haben, und so jeden Leser zu be-fähigen, den Prozeß nachzuvollziehen und womög-

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lieh — im akademischen Betrieb — zu duplizieren.Das arbeitet nicht bloß mit der liberalen Fiktionder beliebigen, allgemeinen Kommunizierbarkeiteines jeden Gedankens und hemmt dessen sachlichangemessenen Ausdruck, sondern ist falsch auch alsPrinzip der Darstellung selber. Denn der Wert einesGedankens mißt sich an seiner Distanz von derKontinuität des Bekannten. Er nimmt objektiv mitder Herabsetzung dieser Distanz ab; je mehr er sichdem vorgegebenen Standard annähert, um so mehrschwindet seine antithetische Funktion, und nur inihr, im offenbaren Verhältnis zu seinem Gegensatz,nicht in seinem isolierten Dasein liegt sein Anspruchbegründet. Texte, die ängstlich jeden Schritt bruch-los nachzuzeichnen unternehmen, verfallen dennauch unweigerlich dem Banalen und einer Lange-weile, die sich nicht nur auf die Spannung bei derLektüre, sondern auf ihre eigene Substanz bezieht.Die Schriften Simmels etwa kranken allesamt ander Unvereinbarkeit ihrer aparten Gegenstände mitder peinlich luziden Behandlung. Sie erweisen dasAparte als das wahre Komplement jener Durch-schnittlichkeit, die Simmel zu unrecht für GoethesGeheimnis hielt. Aber weit darüber hinaus ist dieForderung nach intellektueller Redlichkeit selberunredlich. Gäbe man ihr selbst einmal die fragwür-

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dige Anweisung zu, die Darstellung solle den Denk-prozeß abbilden, so wäre dieser Prozeß so wenigeiner des diskursiven Fortschreitens von Stufe zuStufe, wie umgekehrt dem Erkennenden seine Ein-sichten vom Himmel fallen. Erkannt wird vielmehrin einem Geflecht von Vorurteilen, Anschauungen,Innervationen, Selbstkorrekturen, Vorausnahmenund Übertreibungen, kurz in der dichten, fundier-ten, aber keineswegs an allen Stellen transparentenErfahrung. Von ihr gibt die cartesianische Regel,man solle sich nur den Gegenständen zuwenden,„zu deren klarer und unzweifelhafter Erkenntnisunser Geist auszureichen scheine", samt aller Ord-nung und Disposition, worauf sie sich bezieht, einenso falschen Begriff wie die ihr entgegengesetzte undim innersten verwandte Lehre von der Wesensschau.Verleugnet diese das logische Recht, das trotz allemIn jedem Gedanken sich geltend macht, so nimmtjene es in seiner Unmittelbarkeit, bezogen auf jedeneinzelnen intellektuellen Akt und nicht vermitteltdurch den Strom des ganzen Bewußtseinslebens desErkennenden. Darin aber liegt zugleich das Einge-ständnis der tiefsten Unzulänglichkeit. Denn wenndie redlichen Gedanken unweigerlich auf bloßeWiederholung, sei's des Vorfindlichen, sei's derkategorialen Formen hinauslaufen, so bleibt der

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Gedanke, der der Beziehung zu seinem Gegenstandzuliebe auf die volle Durchsiditigkeit seiner logischenGenesis verzichtet, allemal etwas schuldig. Er brichtdas Versprechen, das mit der Form des Urteils sel-ber gesetzt ist. Diese Unzulänglichkeit gleicht derder Linie des Lebens, die verbogen, abgelenkt, ent-täuschend gegenüber ihren Prämissen verläuft unddoch einzig in diesem Verlauf, indem sie stets we-niger ist, als sie sein sollte, unter den gegebenenBedingungen der Existenz eine unreglementierte zuvertreten vermag. Erfüllte Leben geraden Wegsseine Bestimmung, so würde es sie verfehlen. Weralt und im Bewußtsein des gleichsam schuldenlosenGelingens stürbe, wäre insgeheim der Musterknabe,der mit unsichtbarem Ranzen auf dem Rücken alleStadien ohne Lücken absolviert. Jedem Gedankenjedoch, der nicht müßig ist, bleibt wie ein Mal dieUnmöglichkeit der vollen Legitimation einbeschrie-ben, so wie wir im Traum davon wissen, daß esMathematikstunden gibt, die wir um eines seligenMorgens im Bett willen versäumten, und die niemehr sich einholen lassen. Der Gedanke wartet dar-auf, daß eines Tages die Erinnerung ans Versäumteihn aufweckt und ihn in die Lehre verwandelt.

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MINIMA MORALIA

Zweiter Teil

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Where everything is bad it must be good to know the worst.

F. H. Bradley

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Hinter den S p i e g e l . — Erste Vorsichts-maßregel des Schriftstellers: jeden Text, jedes Stück,jeden Absatz daraufhin durchzusehen, ob das zen-trale Motiv deutlich genug hervortritt. Wer etwasausdrücken will, ist davon so bewegt, daß er sichtreiben läßt, ohne darauf zu reflektieren. Man istder Intention zu nah, „in Gedanken", und vergißtzu sagen, was man sagen will.

Keine Verbesserung ist zu klein oder geringfügig,als daß man sie nicht durchführen sollte. Von hun-dert Änderungen mag jede einzelne läppisch undpedantisch erscheinen; zusammen können sie einneues Niveau des Textes ausmachen.

Nie darf man kleinlich sein beim Streichen. Längeist gleichgültig und die Furcht, es stehe nicht genugda, kindisch. Man soll nichts darum schon fürdaseinswert halten, weil es einmal da ist, nieder-geschrieben ward. Variieren mehrere Sätze schein-bar den gleichen Gedanken, so bezeichnen sie oftnur verschiedene Ansätze etwas zu fassen, dessen

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der Autor noch nicht mächtig ist. Dann soll man diebeste Formulierung auswählen und an ihr weiterarbeiten. Es gehört zur schriftstellerischen Technik,selbst auf fruchtbare Gedanken verzichten zu kön-nen, wenn die Konstruktion es verlangt. DerenFülle und Kraft kommen gerade unterdrückte Ge-danken zugute. Wie bei Tisch soll man nicht denletzten Bissen essen, die Neige nicht trinken. Sonstmacht man der Armut sich verdächtig.

Wer Clichés vermeiden will, darf sich nicht aufWorte beschränken, will er nicht der vulgären Ko-ketterie verfallen. Die große französische Prosa desneunzehnten Jahrhunderts war dagegen besondersempfindlich. Selten ist das einzelne Wort banal:auch in der Musik trotzt der einzelne Ton dem Ver-schleiß. Die abscheulichsten Clichés sind vielmehrWortverbindungen von der Art, wie Karl Kraussie aufgespießt hat: voll und ganz, auf Gedeih undVerderb, ausgebaut und vertieft. Denn in ihnenplätschert gleichsam der träge Fluß der abgestan-denen Sprache, anstatt daß der Schriftsteller durchPräzision des Ausdrucks jene Widerstände setzte,die gefordert sind, wo die Sache hervortreten soll.Das gilt aber nicht nur für Wortverbindungen, son-dern hinauf bis zur Konstruktion ganzer Formen.

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Wollte etwa ein Dialektiker den Umschlag des sichfortbewegenden Gedankens dadurch markieren, daßer jeweils bei der Zäsur mit einem Aber beginnt, sostrafte das literarische Schema die unschematischeAbsicht der Überlegung Lügen.

Das Dickicht ist kein heiliger Hain. Es ist Pflicht,Schwierigkeiten aufzulösen, die lediglich der Be-quemlichkeit der Selbstverständigung entstammen.Zwischen dem Willen, dicht und der Tiefe des Ge-genstandes angemessen zu schreiben, der Versuchungzum Aparten und der prätentiösen Schlamperei läßtnicht ohne weiteres sich unterscheiden: mißtrauischeInsistenz ist allemal heilsam. Geradewer der Dumm-heit des gesunden Menschenverstandes keine Kon-zession machen will, muß sich hüten, Gedanken, dieselber der Banalität zu überführen wären, stilistischzu drapieren. Die Plattitüden Lockes rechtfertigennicht Hamanns Kryptik.

Hat man gegen eine abgeschlossene Arbeit, gleich-gültig welcher Länge, auch nur die geringsten Ein-wände, so soll man diese ungemein ernst nehmen,außer allem Verhältnis zu der Relevanz, mit der siesich anmelden. Die affektive Besetzung des Textesund die Eitelkeit tendiert dazu, jedes Bedenken zu

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verkleinern. Was nur als winziger Zweifel durch-gelassen wird, mag die objektive Wertlosigkeit desGanzen anzeigen.

Die Echternacher Springprozession ist nicht derGang des Zeitgeistes; Einschränkung und Zurück-nahme kein Darstellungsmittel der Dialektik. Viel-mehr bewegt diese sich durch die Extreme und treibtden Gedanken durch äußerste Konsequenz zum Um-schlag, anstatt ihn zu qualifizieren. Die Besonnen-heit, die es verbietet, in einem Satz zu weit sich vor-zuwagen, ist meist nur Agent der gesellschaftlichenKontrolle und damit der Verdummung.

Skepsis gegen den mit Vorliebe erhobenen Ein-wand, ein Text, eine Formulierung sei „zu schon".Die Ehrfurcht vor der Sache, oder gar vor dem Lei-den, rationalisiert leicht nur Ranküne gegen den,welchem an der verdinglichten Gestalt der Sprachedie Spur dessen unerträglich ist, was den Menschenwiderfährt, der Entwürdigung. Der Traum einesDaseins ohne Schande, den die sprachliche Leiden-schaft festhält, wenn ihn als Inhalt auszumalenschon verwehrt ist, soll hämisch abgewürgt werden.Der Schriftsteller darf auf die Unterscheidung vonschönem und sachlichem Ausdruck sich nicht einlas-

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sen. Weder darf er sie dem besorgten Kritiker glau-ben, noch bei sich selber dulden. Gelingt es ihm,ganz das zu sagen, was er meint, so ist es schön.Schönheit des Ausdrucks um ihrer selbst willen istkeineswegs ''zu schön", sondern ornamental, kunst-gewerblich, häßlich. Wer jedoch unter dem Vor-wand, selbstvergessen der Sache zu dienen, von derReinheit des Ausdrucks abläßt, verrät damit immerauch die Sache.

Anständig gearbeitete Texte sind wie Spinn-weben: dicht, konzentrisch, transparent, wohlgefügtund befestigt. Sie ziehen alles in sich hinein, was dakreucht und fleucht. Metaphern, die flüchtig siedurcheilen, werden ihnen zur nahrhaften Beute.Materialien kommen ihnen angeflogen. Die Stich-haltigkeit einer Konzeption läßt danach sich beur-teilen, ob sie die Zitate herbeizitiert. Wo der Ge-danke eine Zelle der Wirklichkeit aufgeschlossenhat, muß er ohne Gewalttat des Subjekts in dienächste Kammer dringen. Er bewährt seine Bezie-hung zum Objekt, sobald andere Objekte sichankristallisieren. Im Licht, das er auf seinen be-stimmten Gegenstand richtet, beginnen andere zufunkeln.

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In seinem Text richtet der Schriftsteller häuslichsich ein. Wie er mit Papieren, Büchern, Bleistiften,Unterlagen, die er von einem Zimmer ins andereschleppt, Unordnung anrichtet, so benimmt er sichin seinen Gedanken. Sie werden ihm zu Möbel-stücken, auf denen er sich niederläßt, wohlfühlt,ärgerlich wird. Er streichelt sie zärtlich, nutzt sie ab,bringt sie durcheinander, stellt sie um, verwüstetsie. Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohlgar das Schreiben zum Wohnen. Und dabei produ-ziert er, wie einst die Familie, unvermeidlicherweiseauch Abfall und Bodenramsch. Aber er hat keinenSpeicher mehr, und es ist überhaupt nicht leicht, vomAbhub sich zu trennen. So schiebt er ihn denn vorsich her und ist in Gefahr, am Ende seine Seitendamit auszufüllen. Die Forderung, sich hart zumachen gegens Mitleid mit sich selber, schließt dietechnische ein, mit äußerster Wachsamkeit demNachlassen der gedanklichen Spannkraft zu begeg-nen und alles zu eliminieren, was als Kruste derArbeit sich ansetzt, was leer weiterläuft, was viel-leicht in einem früheren Stadium als Geschwätz diewarme Atmosphäre bewirkte, in der es wächst, jetztaber muffig, schal zurückbleibt. Am Ende ist es demSchriftsteller nicht einmal im Schreiben zu wohnengestattet.

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Woher d e r S t o r c h d i e K i n d e r b r i n g t .Für jeden Menschen gibt es ein Urbild aus demMärchen, man muß nur lange genug suchen. Dafragt eine Schöne den Spiegel, ob sie auch die Aller-schönste sei wie die Königin aus Schneewittchen.Die schnäubig ist und wählerisch bis in den Tod,ward nach der Ziege geschaffen, die den Vers wieder-holt: „Ich bin so satt, ich mag kein Blatt, meh, meh."Ein sorgenvoller doch unverdrossener Mann gleichtdem alten zerknitterten Holzweiblein, das dem lie-ben Gott begegnet, ohne ihn zu erkennen, und ge-segnet wird mit all den Seinen, weil es ihm half.Ein anderer ist als junger Geselle in die Welt ge-zogen, um sein Glück zu machen, ist auch mit vielenRiesen fertig geworden, hat aber doch in New Yorksterben müssen. Eine geht durch die Wildnis derStadt wie Rotkäppchen und bringt der Großmutterein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, wiedereine entkleidet sich bei der Liebe so kindlich scham-los wie das Mädchen mit den Sterntalern. Der Klugewird seiner starken Tierseele inne, mag mit seinenFreunden nicht zugrunde gehen, bildet die Gruppeder Bremer Stadtmusikanten, führt sie in dieRäuber-höhle, überlistet die Gauner dort, will aber wieder

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nadi Haus. Mit sehnsüchtigen Augen blickt derFroschkönig, ein unverbesserlicher Snob, zur Prin-zessin auf und kann von der Hoffnung nicht ablas-sen, daß sie ihn erlöse.

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S c h w a b e n s t r e i c h e . — Der sprachlicheHabitus Schillers gemahnt an den jungen Mann,der von unten kommt und, befangen, in guter Ge-sellschaft zu schreien anfängt, um sich vernehmlichzu machen: power und patzig. Die deutsche Tiradeund Sentenz ist den Franzosen nachgeahmt, aberam Stammtisch eingeübt. In den unendlichen undunerbittlichen Forderungen spielt der Kleinbürgersich auf, der mit der Macht sich identifiziert, die ernicht hat, und durch Arroganz sie überbietet bis inden absoluten Geist und das absolute Grauen hin-ein. Zwischen dem allmenschlich Grandiosen undErhabenen, das sämtliche Idealisten gemein haben,und das stets unmenschlich das Kleine als bloßeExistenz zertrampeln will, und der rohen Prunk-sucht bürgerlicher Gewaltmenschen besteht das in-nigste Einverständnis. Zur Würde der Geistesriesengehört es, hohl dröhnend zu lachen, zu explodieren,

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zu zerschmettern. Sagen sie Schöpfung, so meinensie den krampfhaften Willen, mit dem sie sich auf-plustern und die Frage einschüchtern: vom Primatder praktischen Vernunft war stets nur ein Schrittzum Haß gegen die Theorie. Solche Dynamik wohntaller idealistischen Gedankenbewegung inne: selbstHegels unermeßliche Anstrengung, sie durch sich sel-ber zu heilen, ward ihr Opfer. Die Welt in Wortenaus einem Prinzip ableiten wollen, ist die Verhal-tensweise dessen, der die Macht usurpieren möchte,anstatt ihr zu widerstehen. Usurpatoren haben dennauch Schiller am meisten beschäftigt. In der klassi-zistischen Verklärung, der Souveränität über dieNatur, spiegelt das Vulgäre und Mindere durch be-flissene Negation sich wider. Dicht hinter dem Idealsteht das Leben. Die Rosendüfte von Elysium, vielzu wortselig, als daß man ihnen die Erfahrungeiner einzigen Rose glauben dürfte, riechen nachdem Tabak der Amtsstube, und das schwärmerischeMondrequisit ward nach der Ölfunzel geschaffen,in deren sparsamem Licht der Student fürs Examenbüffelt. Als Kraft hat Schwäche den Gedanken desangeblich aufsteigenden Bürgertums zu der Zeitschon an die Ideologie verraten, da es gegen dieTyrannei wetterte. Im innersten Gehäuse des Hu-manismus, als dessen eigene Seele, tobt gefangen

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der Wüterich, der als Faschist die Welt zum Ge-fängnis macht.

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D i e R ä u b e r . — Der Kantianer Schiller ist umebensoviel unsinnlicher wie sinnlicher als Goethe:um so abstrakter wie der Sexualität verfallener.Diese, als unmittelbares Begehren, macht alles zumAktionsobjekt und damit gleich. „Amalia für dieBande" — darum bleibt Louise matt wie Limo-nade. Die Frauen Casanovas, die nicht umsonst oftBuchstaben anstatt Namen tragen, sind kaum von-einander zu unterscheiden und auch nicht die Figu-rinen, die nach Sades mechanischer Orgel kompli-zierte Pyramiden stellen. Etwas von solcher sexuel-len Roheit, der Unfähigkeit zu unterscheiden, lebtaber in den großen spekulativen Systemen des Idea-lismus, allen Imperativen zum Trotz, und kettetdeutschen Geist und deutsche Barbarei aneinander.Bauerngier, nur mühsam von der Pfaffendrohungim Schach gehalten, verficht als Autonomie in derMetaphysik ihr Recht, alles Begegnende auf seinWesen so umstandslos zu reduzieren wie Lands-knechte die Frauen der eroberten Stadt. Die reineTathandlung ist die auf den gestirnten Himmel

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über uns projizierte Schändung. Der lange, kon-templative Blick jedoch, dem Menschen und Dingeerst sich entfalten, ist immer der, in dem der Drangzum Objekt gebrochen, reflektiert ist. GewaltloseBetrachtung, von der alles Glück der Wahrheitkommt, ist gebunden daran, daß der Betrachtendenicht das Objekt sich einverleibt: Nähe an Distanz.Nur weil Tasso, den die Psychoanalytiker einendestruktiven Charakter nennen würden, vor derPrinzessin sich fürchtet und als zivilisiertes Opferder Unmöglichkeit des Unmittelbaren fällt, spre-chen Adelheid, Klärchen und Gretchen die ange-schaute, unbedrängte Sprache, die zum Gleichnisvon Urgeschichte sie macht. Der Schein des Leben-digen an Goethes Frauen ward mit Zurücktreten,Ausweichen bezahlt, und es liegt mehr darin alsbloß die Resignation vorm Sieg der Ordnung. Derabsolute Gegensatz dazu, Symbol der Einheit desSinnlichen und Abstrakten, ist Don Juan. WennKierkegaard sagt, in ihm sei die Sinnlichkeit alsPrinzip aufgefaßt, so rührt er ans Geheimnis derSinnlichkeit selber. Ihrem starren Blick haftet, so-lange ihm nicht Selbstbesinnung aufgeht, eben jenesAnonyme, unglücklich Allgemeine an, das in ihremNegativ, der schaltenden Souveränität des Gedan-kens, verhängnisvoll sich reproduziert.

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Darf i c h ' s wagen. — Wenn der Dichter imSchnitzlerschen Reigen dem süßen Mädel, das alsdas freundliche Gegenteil einer Puritanerin vorge-stellt wird, zärtlich sich nähert, sagt sie: „Geh,willst nicht Klavier spielen?" Weder kann sie überden Zweck des Arrangements im Ungewissen sein,noch leistet sie eigentlich Widerstand. Ihre Regungführt tiefer als die konventionellen oder psycho-logischen Verbote. Sie bekundet archaische Frigi-dität, die Angst des weiblichen Tiers vor der Be-gattung, die ihm nichts als Schmerz antut. Lust isteine späte Errungenschaft, kaum älter als das Be-wußtsein. Sieht man, wie Tiere zwangshaft, untereinem Bann, zusammenkommen, so durchschautman den Satz „Wollust ward dem Wurm gegeben"als ein Stück idealistischer Lüge, zumindest was dieWeibchen anlangt, denen die Liebe aus Unfreiheitwiderfährt, und die sie nicht anders kennen, dennals Objekte der Gewalt. Etwas davon ist denFrauen, zumal denen des kleinen Bürgertums, bisin die spätindustrielle Ära hinein geblieben. DasGedächtnis an die alte Verletzung lebt noch fort,während der physische Schmerz und die unmittel-bare Angst durch Zivilisation behoben sind. Die

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Gesellschaft wirft die weibliche Hingebung stetswieder auf die Situation des Opfers zurück, aus dersie die Frauen befreite. Kein Mann, der einem armenMädchen zuredet, mit ihm zu gehen, wird, solangeer sich nicht ganz stumpf macht, das leise Momentdes Rechts in ihrem Widerstreben verkennen, demeinzigen Prärogativ, welches die patriarchale Ge-sellschaft der Frau läßt, die, einmal überredet, nachdem kurzen Triumph des Nein sogleich die Zechezu bezahlen hat. Sie weiß, daß sie als die Gewäh-rende seit Urzeiten zugleich die Betrogene ist. Geiztsie jedoch darum mit sich, so wird sie erst recht be-trogen. Das steckt im Rat an die Novizin, denWedekind einer Bordellwirtin in den Mund legt:„Es gibt eben nur einen Weg in dieser Welt, umglücklich zu sein, das ist, daß man alles tut, umandere so glücklich wie möglich zu machen." Dieeigene Lust hat zur Voraussetzung das schranken-lose sich Wegwerfen, dessen die Frauen um ihrerarchaischen Angst willen so wenig mächtig sind wiedie Männer in ihrer Aufgeblasenheit. Nicht bloßdie objektive Möglichkeit — auch die subjektiveFähigkeit zum Glück gehört erst der Freiheit an.

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S t a m m b a u m f o r s c h u n g . — ZwischenIbsen und dem Struwwelpeter besteht die tiefsteWahlverwandtschaft. Sie ist von solcher Art wiedie erstarrte Ähnlichkeit der Blitzlichtaufnahmenaller Angehörigen aus allen Alben des neunzehntenJahrhunderts. Ist nicht der Zappel-Philipp wahr-haft, wofür die Gespenster sich ausgeben, ein Fa-miliendrama? Beschreibt nicht „und die Mutterblickte stumm / auf dem ganzen Tisch herum" dieMiene der Frau Bankdirektor Borkmann? Wovonanders kann die Auszehrung des Suppen-Kasparsherrühren als von den Sünden seiner Väter unddem ererbten Gedächtnis der Schuld? Friederichdem Wüterich wird die bittere, aber heilsame Medi-zin vom Volksfeind, jenem Doktor Stockmann ver-ordnet, der dafür dem Hund seine Leberwurstgönnt. Das tanzende Paulinchen mit dem Feuer-zeug ist eine angemalte Photographie der kleinenHilde Wangel aus der Zeit, da ihre Stiefmutter, dieFrau vom Meere, sie allein zu Haus ließ, und derfliegende Robert hoch überm Kirchturm ihr Bau-meister in eigener Person. Und was möchte HansGuck-in-die-Luft anderes haben als die Sonne? Wersonst hat ihn ins Wasser gelockt als Klein Eyolfs

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Rattenmamsell, aus der Sippe des Schneiders mitder Scher'? Der strenge Dichter aber verhält sichwie der große Nikolas, der die Kinderbilder derModerne in sein großes Tintenfaß tunkt, sie an-schwärzt mit ihrer Vorgeschichte, als zappelndeMarionetten wiederum herauszerrt und dergestaltGerichtstag hält über sich selbst.

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Ausgrabung. — Sobald ein Name wie derIbsens fällt, werden sogleich Stimmen laut, die ihnund seine Gegenstände veraltet und überholt schel-ten. Das sind die gleichen, die vor sechzig Jahrenüber das modernistisch Zersetzende und unmora-lisch Verstiegene der Nora und der Gespenster sichentrüsteten. Ibsen, der verbissene Bürger, hat seineVerbissenheit auf die Gesellschaft losgelassen, dereneigenem Prinzip er Unerbittlichkeit und Ideale ent-lehnte. Er hat Deputierte der kompakten Majo-rität, die den Volksfeind niederbrüllt, auf einempathetischen, aber wetterfesten Denkmal portrai-tiert, und sie finden sich immer noch nicht geschmei-chelt. Daher gehen sie zur Tagesordnung über. Wodie vernünftigen Leute übers Verhalten der unver-

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nünftigen sich einig sind, darf man stets unerledigtAbgeschobenes, schmerzhafte Narben vermuten. Sosteht es um die Frauenfrage. In der Tat ist sie durchdie Auflösung der ''männlich"-liberalen Konkur-renzwirtschaft, durch den Anteil der Frauen amAngestelltentum, in dem sie so selbständig sind wiedie unselbständigen Männer, durch die Entzaube-rung der Familie und die Lockerung der Sexual-tabus an der Oberfläche nicht mehr ''akut". Zu-gleich aber hat der Fortbestand der traditionellenGesellschaft die Emanzipation der Frau verbogen.Weniges ist so symptomatisch für den Zerfall derArbeiterbewegung, wie daß sie davon keine Notiznimmt. In der Zulassung der Frauen zu allen mög-lichen überwachten Tätigkeiten verbirgt sich dieFortdauer ihrer Entmenschlichung. Sie bleiben imGroßbetrieb, was sie in der Familie waren, Objekte.Nicht nur an ihren armseligen Werktag im Berufund an ihr Leben daheim, das geschlossen-hauswirt-schaftliche Arbeitsbedingungen inmitten der indu-striellen widersinnig festhält, ist zu denken, son-dern an sie selber. Willig, ohne Gegenimpuls spie-geln sie die Herrschaft zurück und identifizierensich mit ihr. Anstatt die Frauenfrage zu lösen, hatdie männliche Gesellschaft ihr eigenes Prinzip soausgedehnt, daß die Opfer die Frage gar nicht mehr

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zu fragen vermögen. Wofern ihnen nur eine ge-wisse Fülle von Waren gewährt wird, stimmen siein ihr Los begeistert ein, überlassen das Denken denMännern, diffamieren jegliche Reflexion als Ver-stoß gegen das von der Kulturindustrie propagierteweibliche Ideal und lassen überhaupt es sich wohlsein in der Unfreiheit, die sie für die Erfüllungihres Geschlechts halten. Die Defekte, mit denen siedafür zu zahlen haben, obenan die neurotischeDummheit, tragen zur Fortdauer des Zustands bei.Schon zu Ibsens Zeit waren die meisten Frauen, diebürgerlich etwas vorstellten, bereit, über die hyste-rische Schwester herzufallen, die an ihrer Statt denhoffnungslosen Versuch auf sich nahm, aus dem Ge-fängnis der Gesellschaft auszubrechen, das ihnenallen seine vier Wände so nachdrücklich zukehrt.Die Enkelinnen aber würden über die Hysterikerinnachsichtig lächeln, ohne sich nur betroffen zu füh-len, und sie der Sozialfürsorge zur freundlichen Be-handlung überweisen. Die Hysterikerin, die dasWunderbare wollte, ist denn auch von der wütendbetriebsamen Närrin abgelöst, die den Triumph desUnheils gar nicht erwarten kann. — Vielleicht istes aber derart um alles Veralten bestellt. Es erklärtsich nicht aus der bloßen zeitlichen Distanz, sondernaus dem Urteilsspruch der Geschichte. Sein Aus-

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druck an Dingen ist die Scham, die den Nach-geborenen im Angesicht der früheren Möglichkeitergreift, der er zum Leben zu helfen versäumte.Was vollbracht war, mag vergessen werden undbewahrt sein in der Gegenwart. Veraltet ist stetsnur was mißlang, das gebrochene Versprechen einesNeuen. Nicht umsonst heißen die Frauen Ibsens„modern". Der Haß gegen die Moderne und dergegens Veraltete sind unmittelbar das gleiche.

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D i e Wahrhe i t ü b e r Hedda Gab le r .Der Ästhetizismus des neunzehnten Jahrhundertskann nicht geistesgeschichtlich aus sich heraus ver-standen werden, sondern einzig im Verhältnis zurtragenden Realität, den sozialen Konflikten. Aufdem Grunde der Amoralität liegt das schlechteGewissen. Die Kritik konfrontierte die bürger-liche Gesellschaft wie ökonomisch so moralischmit ihren eigenen Normen. Dagegen blieb der herr-schenden Schicht, wollte sie nicht einfach der apolo-getischen Lüge und ihrer Ohnmacht verfallen wiedie Hofpoeten und staatserhaltenden Romanciers,nichts anderes übrig, als das Prinzip selber zu ver-

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werfen, an dem die Gesellschaft gemessen wird,also ihre eigene Moral. Die neue Position, welche dasbürgerlich radikale Denken unterm Druck des nach-stoßenden bezog, erschöpfte sich aber nicht im blo-ßen Ersatz des ideologischen Scheines durch eine mitder Wut von Selbstzerstörung proklamierte, trotzigaufbegehrende und kapitulationsbereite Wahrheit.Der Aufruhr des Schönen gegen das bürgerlichGute war Aufruhr gegen die Güte. Güte selber istdie Deformation des Guten. Indern sie das mora-lische Prinzip vom gesellschaftlichen abtrennt undin die private Gesinnung verlegt, beschränkt sie esim doppelten Sinn. Sie verzichtet auf die Verwirk-lichung des im moralischen Prinzip mitgesetztenmenschenwürdigen Zustands. Jeder ihrer Handlun-gen ist etwas von tröstender Resignation einbe-schrieben: sie zielt auf Milderung ab, nicht aufHeilung, und das Bewußtsein der Unheilbarkeitpaktiert am Ende mit dieser. Damit wird Gütebeschränkt auch bei sich selber. Ihre Schuld bestehtin Vertraulichkeit. Sie spiegelt unmittelbare Be-ziehungen zwischen den Menschen vor und über-springt die Distanz, in der allein der Einzelne vordem Angetastetwerden durchs Allgemeine sich zuschützen vermag. Gerade im engsten Kontakt er-fährt er die unaufgehobene Differenz am schmerz-

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lichsten. Nur Fremdheit ist das Gegengift gegenEntfremdung. Das ephemere Bild von Harmonie,in dem Güte sich genießt, hebt einzig das Leidenan der Unversöhnlichkeit um so grausamer hervor,das sie töricht verleugnet. Der Verstoß gegen Ge-schmack und Rücksicht, von dem keine gütige Hand-lung sich freihält, vollzieht die Nivellierung, derdie ohnmächtige Utopie des Schönen sich wider-setzt. So ward seit den Anfängen der hochindu-striellen Gesellschaft das Bekenntnis zum Bösennicht nur zum Vorboten der Barbarei, sondern auchzur Maske des Guten. Seine Würde ging ans Böseüber, indem es allen Haß und alles Ressentiment derOrdnung auf sich zog, die ihren Angehörigen dasGute einbläute, damitsie ungestraft böse sein konnte.Wenn Hedda Gabler Tante Julie, die es bis insInnerste wohl meint, tödlich kränkt; wenn sie denabscheulichen Hut, den jene zu Ehren der Generals-tochter sich zugelegt hat, absichtlich für den desDienstmädchens hält, so läßt die Unzufriedenenicht bloß ihren Haß wider die klebrige Ehe sa-distisch an der Wehrlosen aus. Sondern sie versün-digt sich am Besten, womit sie zu tun hat, weil sieim Besten die Schande des Guten erkennt. Bewußt-los und absurd vertritt sie gegen die alte Frau, dieden stümperhaften Neffen anbetet, das Absolute.

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Hedda ist das Opfer und nicht Julie. Das Schöne,von dessen fixer Idee Hedda beherrscht wird, stehtgegen die Moral, schon ehe es diese verhöhnt. Dennes verstockt sich gegen jegliches Allgemeine und setztdie Differenzbestimmung des bloßen Daseins ab-solut, den Zufall, der das Eine geraten ließ und dasAndere nicht. Im Schönen behauptet das undurch-sichtig Besondere sich als Norm, als einzig All-gemeines, weil die normale Allgemeinheit allzudurchsichtig geworden ist. So fordert es diese, dieGleichheit alles Unfreien heraus. Aber es wird da-mit selbst schuldig, indem es mit dem Allgemeinenauch wiederum die Möglichkeit abschneidet, überjenes bloße Dasein hinauszugehen, dessen Undurch-sichtigkeit die Unwahrheit des schlechten Allge-meinen bloß spiegelt. So gerät das Schöne ins Un-recht gegen das Recht und hat doch Recht dagegen.Im Schönen bringt die hinfällige Zukunft dem Mo-loch des Gegenwärtigen ihr Opfer dar: weil in des-sen Reich kein Gutes sein kann, macht es sich selberschlecht, um als Unterliegendes den Richter zu Über-fuhren. Der Einspruch des Schönen gegen das Guteist die bürgerlich säkularisierte Gestalt der Ver-blendung des Heros aus der Tragödie. In der Im-manenz der Gesellschaft ist das Bewußtsein ihresnegativen Wesens versperrt, und nur die abstrakte

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Negation steht für tue Wahrheit ein. Indem Anti-moral das Unmoralische der Moral, Repression,verwirft, macht sie zugleich ihr innerstes Anliegensich zu eigen: daß mit jeder Beschränkung auchjede Gewalt verschwinde. Darum fallen in der Tatdie Motive der unnachgiebigen bürgerlichen Selbst-kritik zusammen mit den materialistischen, welchejene zum Bewußtsein ihrer selbst bringen.

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S e i t i c h i h n g e s e h e n . — Der weiblicheCharakter und das Ideal der Weiblichkeit, nachdem er modelliert ist, sind Produkte der männ-lichen Gesellschaft. Das Bild der unentstellten Na-tur entspringt erst in der Entstellung als ihr Gegen-satz, Dort, wo sie human zu sein vorgibt, züchtetdie männliche Gesellschaft in den Frauen souveränihr eigenes Korrektiv und zeigt sich durch die Be-schränkung als unerbittlicher Meister. Der weiblicheCharakter ist ein Abdruck des Positivs der Herr-schaft. Damit aber so schlecht wie diese. Was über-haupt im bürgerlichen VerblendungszusammenhangNatur heißt, ist bloß das Wundmal gesellschaft-licher Verstümmelung. Wenn das psychoanalytische

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Theorem zutrifft, daß die Frauen ihre physischeBeschaffenheit als Folge von Kastration empfinden,so ahnen sie in ihrer Neurose die "Wahrheit. Die sichals Wunde fühlt, wenn sie blutet, weiß mehr vonsich als die, welche sich als Blume vorkommt, weildas ihrem Mann in den Kram paßt. Nicht darin erststeckt die Lüge, daß Natur dort behauptet wird,wo sie geduldet und eingebaut ist, sondern was inder Zivilisation für Natur einsteht, ist seiner Sub-stanz nach aller Natur am fernsten, das reine sichselber zum Objekt Werden. Jene Art Weiblichkeit,die auf den Instinkt sich beruft, ist stets genau das,wozu eine jegliche Frau mit aller Gewalt — mitmännlicher Gewalt — sich zwingen muß: die Weib-chen sind die Männchen. Man muß nur einmalals Eifersüchtiger wahrgenommen haben, wie solcheweiblichen Frauen über ihre Weiblichkeit verfügen,sie nach Bedarf einsetzen, ihre Augen blitzen machen,ihr Temperament bedienen, um zu wissen, was esmit dem gehüteten, vom Intellekt unversehrtenUnbewußten auf sich hat. Seine Unversehrtheit undReinheit gerade ist die Leistung des Ichs, der Zen-sur, des Intellekts, und eben darum schickt sie sichso konfliktslos ins Realitätsprinzip der rationalenOrdnung. Ohne alle Ausnahme konformieren dieweiblichen Naturen. Daß Nietzsches Insistenz da-

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vor Halt machte und das Bild weiblicher Naturungeprüft und unerfahren von der christlichen Zi-vilisation übernahm, der er sonst so gründlichmißtraute, hat die Anstrengung seines Gedankensschließlich doch der bürgerlichen Gesellschaft unter-worfen. Er verfiel dem Schwindel, „das Weib" zusagen, wenn er von Frauen spricht. Daher alleinder perfide Rat, die Peitsche nicht zu vergessen: dasWeib selber ist bereits der Effekt der Peitsche. Be-freiung der Natur wäre es, ihre Selbstsetzung ab-zuschaffen. Die Glorifizierung des weiblichen Cha-rakters schließt die Demütigung aller ein, die ihntragen.

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E i n Wort f ü r d i e Moral. — Der Amo-ralismus, mit dem Nietzsche dem alten Unwahrenzuleibe rückte, verfällt selber dem Verdikt der Ge-schichte. Mit der Auflösung der Religion und ihrerhandgreiflichen philosophischen Säkularisierungenhatten die beschränkenden Verbote ihr bestätigtesWesen, ihre Substantialität verloren. Zunächst je-doch war die materielle Produktion noch so unent-wickelt, daß mit einigem Grunde sich verkünden

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ließ, es sei nicht genug für alle da. Wer nicht diepolitische Ökonomie als solche kritisierte, mußteam beschränkenden Prinzip festhalten, das dann alsunrationalisierte Aneignung auf Kosten des Schwä-cheren ausgesprochen wurde. Die objektiven Vor-aussetzungen dafür haben sich verwandelt. Nichterst dem sozialen Nonkonformisten, noch dem be-schränkten Bürger muß die Beschränkung als über-flüssig erscheinen im Angesicht der unmittelbarenMöglichkeit von Überfluß. Der implizite Sinn derHerrenmoral, wer leben wolle, müsse zupacken, istmittlerweile zu einer armseligeren Lüge gewordenals die Pastorenweisheit im neunzehnten Jahrhun-dert. Wenn in Deutschland die Spießbürger alsblonde Bestien sich bewährt haben, so rührt daskeineswegs von nationalen Eigentümlichkeiten her,sondern davon, daß die blonde Bestialität selber,der gesellschaftliche Raub, vor der offenbarenFülle zur Haltung des Hinterwäldlers, des verblen-deten Philisters, eben des „Zu kurz Gekommenen"geworden ist, gegen den die Herrenmoral erfundenwar. Stünde Cesare Borgia heute auf, so gliche erDavid Friedrich Strauß und hieße Adolf Hitler.Amoralität predigen ward zur Sache derselbenDarwinisten, die Nietzsche verachtete, und die denbarbarischen Kampf ums Dasein krampfhaft als

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Maxime proklamieren, gerade weil es seiner nichtmehr bedürfte. Die Tugend der Vornehmheit wärelängst nicht mehr, vor den andern das Bessere sichzu nehmen, sondern des Nehmens überdrüssig zuwerden und die schenkende Tugend real zu üben,die bei Nietzsche einzig als vergeistigte vorkommt.Die asketischen Ideale schließen heute ein größeresMaß an Widerstand gegen den Wahnsinn der Profit-ökonomie ein als vor sechzig Jahren das sich Aus-leben gegen die liberale Repression. Der Amoralistdürfte endlich sich gestatten, so gütig, zart, unego-istisch und aufgeschlossen zu sein wie Nietzsche da-mals schon. Zur Bürgschaft seiner unverändertenResistenz bleibt er damit stets noch so einsam wiein den Tagen, als er der normalen Welt die Maskedes Bösen entgegenkehrte, um die Norm das Fürch-ten vor ihrer eigenen Verkehrtheit zu lehren.

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B e r u f u n g s i n s t a n z . — Nietzsche hat imAntichrist das stärkste Argument nicht bloß gegendie Theologie, sondern auch gegen die Metaphysikausgesprochen: daß Hoffnung mit Wahrheit ver-wechselt werde; daß die Unmöglichkeit, ohne ein

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Absolutes zu denken, glücklich zu leben oder über-haupt nur zu leben, nicht für die Legitimität jenesGedankens zeuge. Erwiderlegt den christlichen „Be-weis der Kraft", daß der Glaube wahr sei, weil erselig mache. Denn „wäre Seligkeit — technischergeredet, Lust — jemals ein Beweis der "Wahrheit?So wenig, daß es beinahe den Gegenbeweis, jeden-falls den höchsten Argwohn gegen , Wahrheit' ab-gibt, wenn Lustempfindungen über die Frage ,Wasist wahr?' mitreden. Der Beweis der ,Lust' ist einBeweis für ,Lust' — nicht mehr; woher um allesin der Welt stände es fest, daß gerade wahre Urteilemehr Vergnügen machten als falsche und, gemäßeiner prästabilierten Harmonie, angenehme Ge-fühle mit Notwendigkeit hinter sich drein zögen?"(Aph. 50). Aber Nietzsche selber hat den amor fatigelehrt, „du sollst dein Schicksal lieben". Das, heißtes im Epilog der Götzendämmerung, sei seine in-nerste Natur. Und es wäre wohl die Frage zu stel-len, ob irgend mehr Grund ist, das zu lieben, waseinem widerfährt, das Daseiende zu bejahen, weiles ist, als für wahr zu halten, was man sich erhofft.Führt nicht von der Existenz der stubborn facts zuderen Installierung als höchstem Wert der gleicheFehlschluß, den er dem Übergang von der Hoff-nung zur Wahrheit vorwirft? Wenn er die „Selig-

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keit aus einer fixen Idee" ins Irrenhaus verweist, sokönnte man den Ursprung des amor fati im Ge-fängnis aufsuchen. Auf die Liebe zu Steinmauernund vergitterten Fenstern verfällt jener, der nichtsanderes zum Lieben mehr sieht und hat. Beide Malewaltet die gleiche Schmach der Anpassung, die, umnur überhaupt im Grauen der Welt aushalten zukönnen, dem Wunsch Wirklichkeit zuschreibt unddem Widersinn des Zwangs Sinn. Nicht wenigerals im credo quia absurdum kriecht Entsagung imamor fati, der Verherrlichung des Allerabsurdesten,vor der Herrschaft zu Kreuz. Am Ende ist Hoff-nung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indemsie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahr-heit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee derWahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kar-dinale Unwahrheit, das als schlecht erkannte Da-sein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es ein-mal erkannt ward. Hier viel eher als im Gegenteilliegt das Verbrechen der Theologie, gegen dasNietzsche den Prozeß anstrengte, ohne je zur letztenInstanz zu gelangen. An einer der mächtigsten Stel-len seiner Kritik hat er das Christentum der My-thologie geziehen: »Das Schuldopfer, und zwar inseiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opferdes Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen!

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Welches schauderhafte Heidentum!" (Aph. 41.)Nichts anderes aber ist die Liebe zum Schicksal alsdie absolute Sanktionierung der Unendlichkeit sol-chen Opfers. Der Mythos trennt Nietzsches Kritikan den Mythen von der Wahrheit.

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Kürzere Ausführungen . — Lies t manvon neuem eines der betrachtenden Bücher vonAnatole France, wie den Jardin d'Epicure, so kannman bei aller Dankbarkeit für die erbittliche Auf-klärung eines Gefühls des Peinlichen nicht sich er-wehren, das weder durch jenes Veraltete hinläng-lich erklärt wird, das renegatenhafte französischeIrrationalisten am eifrigsten hervorheben, noch mitder persönlichen Eitelkeit. Indem diese aber demNeid zum Vorwand dient, weil notwendig an al-lem Geist ein eitles Moment erscheint, sobald er sichdarstellt, wird der Grund des Peinlichen offenbar.Es haftet am Kontemplativen, dem sich Zeitlassen,der wie immer auch gebrochenen Homiletik, demnachsichtig erhobenen Zeigefinger. Der kritische Ge-halt der Gedanken wird dementiert vom Gestus dessich Verbreitens, der von staatserhaltenden Profes-

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soren her vertraut ist, und die Ironie, mit der derSchauspieler Voltaires auf seinen Titelblättern dieZugehörigkeit zur Académie Française eingesteht,schlägt auf den Witzigen zurück. In seinem Vor-trag versteckt sich bei aller pointierten Humanitätein Gewaltsames: man kann es sich leisten so zu re-den, weil keiner den Meister unterbricht. Etwas vonder Usurpation, die allem Dozieren und schon al-lem lauten Lesen innewohnt, ist in den luzidenPeriodenbau gedrungen, der so viel Muße für dieungemütlichsten Dinge reserviert. Untrügliches Zei-chen latenter Menschenverachtung beim letztenAdvokaten der Menschenwürde ist die Unerschrok-kenheit, mit der er Plattituden ausspricht, als dürfeniemand sie zu bemerken wagen: „L'artiste doitaimer la vie et nous montrer qu'elle est belle. Sanslui, nous en douterions." Was aber an den archa-istisch stilisierten Meditationen von France hervor-tritt, betrifft insgeheim bereits jede Überlegung, diedas Vorrecht in Anspruch nimmt, der Unmittelbar-keit der Zwecke sich zu entziehen. Die Gelassenheitals solche wird zur gleichen Lüge, der die Hast derUnmittelbarkeit ohnehin verfällt. Während der Ge-danke, seinem Inhalt nach, der unaufhaltsam an-steigenden Flut des Grauens widerstrebt, vermögendie Nerven, das Tastorgan des historischen Bewußt-

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seins, an der Form desselben Gedankens, ja daran,daß er es sich überhaupt noch gestattet, Gedankezu sein, die Spur des Einverständnisses mit der Weltzu gewahren, der man schon in dem Augenblicketwas konzediert, in dem man so weit von ihr zu-rücktritt, um sie zum philosophischen Gegenstandzu machen. In der Souveränität, ohne welche über-haupt nicht gedacht werden kann, wird auf dasPrivileg gepocht, das es einem erlaubt. Die Aver-sion dagegen ist nachgerade zum schwersten Hin-dernis der Theorie geworden: folgt man ihr, somüßte man verstummen, und folgt man ihr nicht,so wird man plump und gemein durchs Vertrauenauf die eigene Kultur. Noch die abscheuliche Auf-spaltung der Rede in berufliche Gespräche undstrikt konventionelle zeugt von der Ahnung derUnmöglichkeit, Gedachtes ohne Arroganz, ohneFrevel an der Zeit des anderen zu sagen. Es ist dasdringendste Anliegen einer Darstellungsweise, dieim mindesten standhalten soll, daß sie solche Erfah-rungen nicht aus den Augen läßt, sondern sie durchTempo, Gedrängtheit, Dichte und doch wiederumUnverbindlichkeit selber zum Ausdruck bringt.

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Tod der U n s t e r b l i c h k e i t . — Flaubert,von dem ein Ausspruch überliefert ist, er verachteden Ruhm, an den er sein Leben setze, hat es imBewußtsein solchen Widerspruchs noch so gut ge-habt wie der behäbige Bürger, der die Madame Bo-vary schrieb. Gegenüber der korrupten öffentlichenMeinung, der Presse, auf die er schon wie Krausreagierte, glaubte er auf die Nachwelt sich verlas-sen zu können, ein vom Bann der Dummheit be-freites Bürgertum, das deren authentischen Kritikerzu Ehren brächte. Aber er hat die Dummheit unter-schätzt: die Gesellschaft, die er vertritt, kann sichnicht selbst beim Namen nennen, und mit ihrer Ent-faltung zur Totalität hat gleich der Intelligenzauch die Dummheit zur absoluten sich entfaltet.Das zehrt an den Kräftezentren des Intellektuel-len. Selbst auf die Nachwelt darf er nicht mehrhoffen, ohne dem Konformismus, wäre es auch bloßEinverständnis mit den großen Geistern, zu verfal-len. Sobald er aber solcher Hoffnung entsagt, gehtin seine Arbeit ein Element des Verblendeten undVerbohrten ein, bereit schon, in zynische Kapitula-tion umzuschlagen. Ruhm als Resultat objektiverProzesse in der Marktgesellschaft, der etwas Zu-

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fälliges und oftmals Angedrehtes hatte, aber auchden Abglanz von Gerechtigkeit und freier Wahl,ist liquidiert. Er ist ganz zur Funktion bezahlterPropagandastellen geworden und mißt sich an derInvestition, die vom Träger des Namens oder derInteressengruppe, die hinter ihm steht, riskiert wird.Der Claqueur, der noch dem Auge Daumiers wieein Auswuchs erschien, hat mittlerweile als offiziel-ler Beauftragter des Kultursystems seine Irrespek-tabilität abgelegt. Schriftsteller, die Karriere machenwollen, reden so unbefangen von ihren Agentenwie die Vorfahren vom Verleger, der auch schonetwas in die Reklame steckte. Man nimmt das Be-kanntwerden und damit gewissermaßen auch dasNachleben — denn was hätte in der durchorgani-sierten Gesellschaft Chance erinnert zu werden, wasnicht schon bekannt wäre — in eigene Regie undkauft sich wie ehedem bei der Kirche so nun beiden Lakaien der Trusts die Anwartschaft auf Un-sterblichkeit. Aber es ist kein Segen daran. Wiewillkürliches Gedächtnis und spurlose Vergessen-heit stets zusammengehörten, so führt die geplanteVerfügung über Ruhm und Andenken unweigerlichins Nichts, dessen Vorgeschmack schon am hek-tischen Wesen aller Zelebrität sich wahrnehmenlaßt. Den Berühmten ist nicht wohl zumute. Sie

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machen sich zu Markenartikeln, sich selber fremdund unverständlich, als lebende Bilder ihrer selbstwie Tote. In der prätentiösen Sorge um ihren Nim-bus vergeuden sie die sachliche Energie, die einzigfortzubestehen vermöchte. Die unmenschliche Gleich-gültigkeit und Verachtung, die gefallenen Größender Kulturindustrie sogleich zuteil wird, enthülltdie Wahrheit über ihren Ruhm, ohne daß dochjene, die daran teilzuhaben verschmähen, bessereHoffnung auf die Nachwelt hegen dürften. So er-fährt der Intellektuelle die Hinfälligkeit seines ge-heimen Motivs und vermag nichts anderes dagegen,als auch diese Einsicht auszusprechen.

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Moral u n d S t i l . — Man wird als Schrift-steller die Erfahrung machen, daß, je präziser, ge-wissenhafter, sachlich angemessener man sich aus-drückt, das literarische Resultat für um so schwererverständlich gilt, während man, sobald man lax undverantwortungslos formuliert, mit einem gewissenVerständnis belohnt wird. Es hilft nichts, alle Ele-mente der Fachsprache, alle Anspielungen auf dienicht mehr vorgegebene Bildungssphäre asketisch

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zu vermeiden. Vielmehr bewirken Strenge undReinheit des sprachlichen Gefüges, selbst bei äußer-ster Einfachheit, ein Vakuum. Schlamperei, das mitdem vertrauten Strom der Rede Schwimmen, giltfür ein Zeichen von Zugehörigkeit und Kontakt:man weiß, was man will, weil man weiß, was derandere will. Beim Ausdruck auf die Sache schauen,anstatt auf die Kommunikation, ist verdächtig: dasSpezifische, nicht bereits dem Schematismus Abge-borgte erscheint rücksichtslos, ein Symptom derEigenbrodelei, fast der Verworrenheit. Die zeit-gemäße Logik, die auf ihre Klarheit so viel sich ein-bildet, hat naiv solche Perversion in der Kategorieder Alltagssprache rezipiert. Der vage Ausdruck er-laubt dem, der ihn vernimmt, das ungefähr sichvorzustellen, was ihm genehm ist und was er ohne-hin meint. Der strenge erzwingt Eindeutigkeit derAuffassung, die Anstrengung des Begriffs, deren dieMenschen bewußt entwöhnt werden, und mutetihnen vor allem Inhalt Suspension der gängigenUrteile, damit ein sich Absondern zu, dem sie hef-tig widerstreben. Nur, was sie nicht erst zu verste-hen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur dasin Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz ge-prägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägtso sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei.

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Wer ihr entgehen will, muß jeden Rat, man solleauf Mitteilung achten, als Verrat am Mitgeteiltendurchschauen.

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Kohldampf. — Die Dialekte der Arbeitergegen die Schriftsprache ausspielen ist reaktionär.Muße, sogar Hochmut und Arroganz hat der Rededer Oberschicht etwas von Unabhängigkeit undSelbstdisziplin verliehen. Dadurch wird sie in Ge-gensatz zu ihrem eigenen sozialen Bereich gebracht.Sie wendet sich wider die Herren, welche sie zumBefehl mißbrauchen, indem sie ihnen befehlenwill, und kündigt ihren Interessen den Dienst. Inder Sprache der Unterworfenen aber hat einzigHerrschaft ihren Ausdruck hinterlassen und sienoch der Gerechtigkeit beraubt, die das unverstüm-melte, autonome Wort all denen verheißt, die freigenug sind, ohne Rancune es zu sagen. Die prole-tarische Sprache ist vom Hunger diktiert. Der Armekaut die Worte, um an ihnen sich sattzuessen. Vonihrem objektiven Geist erwartet er die kräftigeNahrung, welche die Gesellschaft ihm verweigert;er nimmt den Mund voll, der nichts zu beißen hat.So rächt er sich an der Sprache. Er schändet den

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Sprachleib, den sie ihn nicht lieben lassen, undwiederholt mit ohnmächtiger Stärke die Schande,die ihm selber angetan ward. Selbst das Beste derDialekte des Berliner Nordens oder der Cockneys,Schlagfertigkeit und Mutterwitz, krankt noch daran,daß es, um verzweifelte Situationen ohne Verzweif-lung überstehen zu können, mit dem Feind zugleichauch sich selbst verlacht und so dem Weltlauf recht-gibt. Wenn die Schriftsprache die Entfremdung derKlassen kodifiziert, dann läßt diese nicht durchRegression auf die gesprochene sich widerrufen, son-dern nur in der Konsequenz der strengsten sprach-lichen Objektivität. Erst das Sprechen, das dieSchrift in sich aufhebt, befreit die menschliche Redevon der Lüge, sie sei schon menschlich.

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Melange. — Das geläufige Argument der To-leranz, alle Menschen, alle Rassen seien gleich, istein Bumerang. Es setzt sich der bequemen Wider-legung durch die Sinne aus, und noch die zwingend-sten anthropologischen Beweise dafür, daß die Judenkeine Rasse seien, werden im Falle des Pogromskaum etwas daran ändern, daß die Totalitären ganz

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gut wissen, wen sie umbringen wollen und wennicht. Wollte man dem gegenüber die Gleichheitalles dessen, was Menschenantlitz trägt, als Idealfordern, anstatt sie als Tatsache zu unterstellen, sowürde das wenig helfen. Die abstrakte Utopie wäreallzu leicht mit den abgefeimtesten Tendenzen derGesellschaft vereinbar. Daß alle Menschen einan-der glichen, ist es gerade, was dieser so paßte. Siebetrachtet die tatsächlichen oder eingebildeten Dif-ferenzen als Schandmale, die bezeugen, daß manes noch nicht weit genug gebracht hat; daß irgendetwas von der Maschinerie freigelassen, nicht ganzdurch die Totalität bestimmt ist. Die Technik derKonzentrationslager läuft darauf hinaus, die Ge-fangenen wie ihre Wächter zu machen, die Ermor-deten zu Mördern. Der Rassenunterschied wird zumabsoluten erhoben, damit man ihn absolut abschaf-fen kann, wäre es selbst, indem nichts Verschiedenesmehr überlebt. Eine emanzipierte Gesellschaft je-doch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirk-lichung des Allgemeinen in der Versöhnung derDifferenzen. Politik, der es darum im Ernst nochginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit derMenschen nicht einmal als Idee propagieren. Siesollte statt dessen auf die schlechte Gleichheit heute,die Identität der Film- mit den Waffeninteressen-

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ten deuten, den besseren Zustand aber denken alsden, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.Altestiert man dem Neger, er sei genau wie derWeiße, während er es doch nicht ist, so tut manihm insgeheim schon wieder Unrecht an. Man de-mütigt ihn freundschaftlich durch einen Maßstab,hinter dem er unter dem Druck der Systeme not-wendig zurückbleiben muß, und dem zu genügenüberdies ein fragwürdiges Verdienst wäre. Die Für-sprecher der unitarischen Toleranz sind denn auchstets geneigt, intolerant gegen jede Gruppe sich zukehren, die sich nicht anpaßt: mit der sturen Be-geisterung für die Neger verträgt sich die Ent-rüstung über jüdische Unmanieren. Der melting potwar eine Einrichtung des losgelassenen Industrie-kapitalismus. Der Gedanke, in ihn hineinzugeraten,beschwört den Martertod, nicht die Demokratie.

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Unmaß für Unmaß. — Was die Deutschenbegangen haben, entzieht sich dem Verständnis, zu-mal dem psychologischen, wie denn in der Tat dieGreuel mehr als planvoll-blinde und entfremdeteSchreckmaßnahmen verübt zu sein scheinen denn

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als spontane Befriedigungen. Nach den Berichtender Zeugen ward lustlos gefoltert, lustlos gemor-det und darum vielleicht gerade so über alles Maßhinaus. Dennoch sieht das Bewußtsein, das dem Un-sagbaren standhalten möchte, immer wieder aufden Versuch zu begreifen sich zurückgeworfen,wenn es nicht subjektiv dem Wahnsinn verfallenwill, der objektiv herrscht. Es drängt der Gedankesich auf, das deutsche Grauen sei etwas wie vor-weggenommene Rache. Das Kreditsystem, in demalles bevorschußt werden kann, selbst die Welt-eroberung, bestimmt auch die Aktionen, welche ihmund der gesamten Marktwirtschaft ihr Ende bereitenbis zum Selbstmord der Diktatur. In den Konzen-trationslagern und Gaskammern wird gleichsam derUntergang von Deutschland diskontiert. Keiner,der die ersten Monate der nationalsozialistischenHerrschaft 1933 in Berlin beobachtete, konnte dasMoment tödlicher Traurigkeit, des halbwissendeinem Unheilvollen sich Anvertrauens übersehen, dasden angedrehten Rausch, die Fackelzüge und Trom-meleien begleitete. Wie hoffnungslos klang nicht dasdeutsche Lieblingslied jener Monate, „Volk ans Ge-wehr", in der Passage Unter den Linden. Die voneinem Tag zum andern anberaumte Rettung desVaterlandes trug den Ausdruck der Katastrophe vom

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ersten Augenblick an, und diese ward in den Kon-zentrationslagern eingeübt, während der Triumphin den Straßen die Ahnung davon übertäubte. SolcheAhnung braucht gar nicht erst mit dem kollektivenUnbewußten erklärt zu werden, das freilich ver-nehmlich genug mag mitgesprochen haben. Diedeutsche Position in der imperialistischen Konkur-renz war nach dem Maß des verfügbaren Roh-materials wie des industriellen Potentials verzwei-felt im Frieden und Krieg. Das zu erkennen warenalle zu dumm und keiner. Dem Endkampf derKonkurrenz sich ausliefern, hieß in den Abgrundspringen, und man hat vorweg die anderen hinab-gestoßen, des Glaubens, damit von sich selber esabwenden zu können. Die Chance des national-sozialistischen Unternehmens, durch eine Terror-spitze und zeitliche Priorität den Nachteil im Ge-samtvolumen der Produktion wettzumachen, warwinzig. An sie hatten eher die anderen geglaubt alsdie Deutschen, die sich nicht einmal der Eroberungvon Paris freuten. Während sie alles gewannen,wüteten sie schon als die, welche nichts zu verlierenhaben. Am Anfang des deutschen Imperialismussteht die Wagnersche Götterdämmerung, die begei-sterte Prophetie des eigenen Untergangs, deren Kom-position gleichzeitig mit dem siegreichen siebziger

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Krieg in Angriff genommen wurde. Im selben Geistehat man zwei Jahre yor dem zweiten Weltkriegdem deutschen Volk den Untergang seines Zeppe-lins in Lakehurst gefilmt vorgeführt. Ruhig, unbe-irrt zieht das Schiff seine Bahn, um plötzlichsenkrecht herabzustürzen. Bleibt kein Ausweg, sowird dem Vernichtungsdrang vollends gleichgültig,worin er nie ganz fest unterschied: ob er gegen an-dere sich richtet oder gegens eigene Subjekt.

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M e n sch e n s e h e n d i c h an. — Die Ent-rüstung über begangene Grausamkeiten wird um sogeringer, je unähnlicher die Betroffenen den nor-malen Lesern sind, je brünetter, „schmutziger",dagohafter. Das besagt über die Greuel selbst nichtweniger als über die Betrachter. Vielleicht ist dergesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmungbei den Antisemiten so geartet, daß sie die Judenüberhaupt nicht als Menschen sehen. Die stets wie-der begegnende Aussage, Wilde, Schwarze, Japanerglichen Tieren, etwa Affen, enthält bereits denSchlüssel zum Pogrom. Über dessen Möglichkeitwird entschieden in dem Augenblick, in dem das

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Auge eines tödlich verwundeten Tiers den Men-schen trifft. Der Trotz, mit dem er diesen Blick vonsich schiebt — „es ist ja bloß ein Tier" —, wieder-holt sich unaufhaltsam in den Grausamkeiten anMenschen, in denen die Täter das „nur ein Tier"immer wieder sich bestätigen müssen, weil sie esschon am Tier nie ganz glauben konnten. In derrepressiven Gesellschaft ist der Begriff des Men-schen selber die Parodie der Ebenbildlichkeit. EsHegt im Mechanismus der „pathischen Projektion",daß die Gewalthaber als Menschen nur ihr eigenesSpiegelbild wahrnehmen, anstatt das Menschlichegerade als das Verschiedene zurückzuspiegeln. DerMord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcherfalschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinnimmer wieder in Vernunft zu verstellen: was nichtals Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist,wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Re-gung den manischen Blick mehr widerlegen kann.

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K l e i n e L e u t e . — Wer die objektiven histo-rischen Kräfte leugnet, hat es leicht, den Aus-gang des Krieges als Argument in Anspruch zu

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nehmen. Eigentlich hätten die Deutschen gewon-nen: daß es ihnen mißlang, daran sei die Dumm-heit der Führer schuld. Nun haben die entscheiden-den „Dummheiten" Hitlers, seine 'Weigerung, mit-ten im Kriege, gegen England Krieg zu führen,sein Angriff auf Rußland und Amerika, ihrensozial genauen Sinn, der sich in seiner eigenenDialektik unausweichlich von jedem vernünftigenSchritt zum nächsten und bis Zur Katastrophe ent-faltete. Wäre es jedoch selbst Dummheit gewesen,so bliebe sie geschichtlich faßbar; Dummheit ist über-haupt keine Naturqualität, sondern ein gesellschaft-lich Produziertes und Verstärktes. Die deutscheherrschende Clique drängte zum Krieg, weil sievon den imperialistischen Machtpositionen ausge-schlossen war. In solchem Ausgeschlossensein aberlag zugleich der Grund eben jener Provinzialität,Täppischkeit und Verblendung, die Hitlers undRibbentrops Politik konkurrenzunfähig und ihrenKrieg zum Hasard machte. Daß sie über die Balancezwischen dem Ökonomischen Gesamt- und dembritischen Sonderinteresse bei den Tories und überdie Stärke der roten Armee so schlecht informiertwaren wie ihre eigenen Massen hinterm Cordon desDritten Reiches, ist von der historischen Bestim-mung des Nationalsozialismus, ja beinahe von des-

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sen Kraft nicht zu trennen. Die Chance der ver-wegenen Aktion bestand einzig darin, daß sie esnicht besser wußten, und das war zugleich derGrund ihres Mißlingens. Deutschlands industrielleZurückgebliebenheit hat die Politiker, die denVorsprung einholen wollten und dazu geradeals Habenichtse qualifiziert waren, auf ihre un-mittelbare, enge Erfahrung verwiesen, die derpolitischen Fassade. Sie sahen nicht mehr vor sichals die Versammlung, die ihnen zujubelte, und denverängstigten Verhandlungspartner: das verstellteihnen die Einsicht in die objektive Gewalt der grö-ßeren Kapitalmasse. Es ist die immanente Rache anHitler, daß er, der Henker der liberalen Gesell-schaft, doch seinem eigenen Bewußtseinsstand nachzu „liberal" war, um zu erkennen, wie unter derHülle des Liberalismus draußen die unwidersteh-liche Herrschaft des industriellen Potentials sich bil-dete. Er, der wie kein anderer Bürger das Un-wahre am Liberalismus durchschaute, durchschautedoch nicht ganz die Macht hinter ihm, eben die ge-sellschaftliche Tendenz, die in Hitler wirklich bloßihren Trommler hatte. Sein Bewußtsein ist auf denStandpunkt des unterlegenen und kurzsichtigenKonkurrenten zurückgeschlagen, von dem er aus-ging, um ihn in abgekürztem Verfahren zu sanie-

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ren. Notwendig fiel die Stunde der Deutschen sol-cher Dummheit zu. Denn nur solche, die den inWeltwirtschaft und Weltkenntnis gleichermaßen Be-schränkten glichen, konnten diese für den Kriegeinspannen und ihre Sturheit in den Zug des vonkeiner Reflexion gehemmten Unternehmens. DieDummheit Hitlers war eine List der Vernunft.

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Meinung d e s D i l e t t a n t e n . — DemDritten Reich ist kein Kunstwerk, kein gedank-liches Gebilde gelungen, das auch nur der armseligenliberalistischen Forderung nach „Niveau" hätte Ge-nüge tun können. Der Abbau der Humanität unddie Konservierung der Geistesgüter waren so wenigvereinbar wie Luftschutzkeller und Storchnest, unddie kämpferisch erneuerte Kultur sah schon amersten Tag aus wie die Städte an ihrem letzten, einSchutthaufen. Ihr wenigstens hat die Bevölkerungpassive Resistenz entgegengesetzt. Keineswegs abersind die vermeintlich freigesetzten kulturellen Ener-gien vom technischen, politischen und militärischenBereich aufgesogen worden. Barbarei ist wirklichdas Ganze und triumphiert noch über ihren eigenen

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Geist. Man kann das an der Strategie wahrnehmen.Die faschistische Ära hat sie nicht zur Blüte ge-bracht, sondern abgeschafft. Die großen militärischenKonzeptionen waren untrennbar von List, Phan-tasie: fast von privater Klugheit und Initiative. Siegehörten einer vom Produktionsprozeß relativ un-abhängigen Disziplin an. Es galt, aus spezialistischenInnovationen, wie der schrägen Schlachtordnungoder der Zielfähigkeit der Artillerie die Entschei-dung herauszuholen. Etwas von bürgerlich selbstän-diger Unternehmertugend war in alldem. Hanni-bal kam von den Händlern, nicht von den Helden,und Napoleon von der demokratischen Revolution.Das Moment bürgerlicher Konkurrenz in der Krieg-führung hat mit dem Faschismus sich überschlagen.Er hat die Grundidee der Strategie zum Absolutenerhoben, die Ausnutzung des temporären Mißver-hältnisses zwischen der zum Mord organisiertenSpitze einer Nation und dem Gesamtpotential deranderen. Indem jedoch die Faschisten, als Kon-sequenz dieser Idee, den totalen Krieg erfandenund die Differenz von Armee und Industrie besei-tigten, haben sie selber die Strategie liquidiert. Sieist veraltet wie der Klang der Militärkapellen unddas Bild der Schlachtschiffe. Hitler suchte Weltherr-schaft durch konzentrierten Terror. Die Mittel aber,

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deren er sich dabei bediente, waren bereits unstra-tegische, die Häufung übermächtigen Materials aneinzelnen Stellen, der grob frontale Durchbruch,das mechanische Einkreisen der hinter den Durch-bruchsstellen zurückgebliebenen Gegner. Dies Prin-zip, ganz und gar quantitativ, positivistisch, ohneÜberraschung, daher überall „öffentlich" und mitReklame fusioniert, reichte nicht mehr aus. Die anwirtschaftlichen Ressourcen unendlich viel reiche-ren Alliierten brauchten nur die deutsche Taktik zuübertrumpfen, um Hitler niederzuwerfen. Stumpf-heit und Lustlosigkeit des Krieges, der allgemeineDefaitismus, der dem Überdauern des Unheilszugute kommt, waren vom Verfall der Strategiebedingt. Während alle Aktionen mathematisch aus-gerechnet werden, nehmen sie zugleich etwas Stu-pides an. Wie zum Hohn auf den Gedanken, jederBeliebige müsse den Staat verwalten können, wirdmit Hilfe von Radar und künstlichen Häfen derKrieg doch so geführt, wie ein Fähnchen steckenderGymnasiast es sich vorstellt. Spengler erhoffte vomUntergang des Abendlandes das goldene Zeitalterder Ingenieure. Als dessen Perspektive aber wirdder Untergang selbst der Technik absehbar.

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Pseudomenos. — Die magnetische Gewalt,welche die Ideologien über die Menschen ausüben,während sie ihnen bereits ganz fadenscheinig ge-worden sind, erklärt sich jenseits der Psychologieaus dem objektiv bestimmten Verfall der logischenEvidenz als solcher. Es ist dahin gekommen, daßLüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge.Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke istpräformiert durch die Zentren der Kulturindustrie.Was nicht die vertraute Spur solcher Präformationträgt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, alsdie Institutionen der öffentlichen Meinung dem,was sie aus sich entlassen, tausend faktische Belegeund alle Beweiskraft mitgeben, deren die totaleVerfügung habhaft werden kann. Die Wahrheit,die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Cha-rakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist über-dies zu arm, um in Konkurrenz mit dem hochkon-zentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen.Über den gesamten Mechanismus belehrt das deutscheExtrem. Als die Nationalsozialisten zu foltern be-gannen, terrorisierten sie damit nicht nur die Völ-ker drinnen und draußen, sondern waren zugleichvor der Enthüllung um so sicherer, je wilder das

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Grauen anstieg. Dessen Unglaubwürdigkeit machtees leicht, nicht zu glauben, was man um des liebenFriedens willen nicht glauben wollte, während manzugleich davor kapitulierte. Die Zitternden redensich darauf hinaus, es werde doch viel übertrieben:bis in den Krieg hinein waren in der englischenPresse Einzelheiten über die Konzentrationslagerunerwünscht. Jedes Greuel in der aufgeklärten Weltwird notwendig zum Greuelmärchen. Denn die Un-wahrheit der Wahrheit hat einen Kern, auf dendas Unbewußte begierig anspricht. Nicht nurwünscht es die Greuel herbei. Sondern der Faschis-mus ist in der Tat weniger „ideologisch", insoweiter das Prinzip der Herrschaft unmittelbar prokla-miert, das anderswo sich versteckt. Was immer dieDemokratien an Humanem ihm entgegenzustellenhaben, kann er spielend widerlegen mit dem Hin-weis darauf, daß es ja doch nicht die ganze Huma-nität, sondern bloß ihr Trugbild sei, dessen ermannhaft sich entäußerte. So desperat aber sinddie Menschen in der Kultur geworden, daß sie aufAbruf das hinfällige Bessere fortwerfen, wenn nurdie Welt ihrer Bosheit den Gefallen tut, zu beken-nen, wie böse sie ist. Die politischen Gegenkräftejedoch sind gezwungen, selbst immer wieder derLüge sich zu bedienen, wenn nicht gerade sie als

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destruktiv völlig ausgelöscht werden wollen. Jetiefer ihre Differenz vom Bestehenden, das ihnendoch Zuflucht gewährt vor der ärgeren Zukunft,um so leichter fällt es den Faschisten, sie auf Un-wahrheiten festzunageln. Nur die absolute Lügehat noch die Freiheit, irgend die Wahrheit zu sagen.In der Vertauschung von Wahrheit und Lüge, diees fast ausschließt, die Differenz zu bewahren, unddie das Festhalten der einfachsten Erkenntnis zurSisyphusarbeit macht, kündet der Sieg des Prinzipsin der logischen Organisation sich an, das mili-tärisch am Boden liegt. Lügen haben lange Beine:sie sind der Zeit voraus. Die Umsetzung aller Fra-gen der Wahrheit in solche der Macht, der Wahr-heit selber nicht sich entziehen kann, wenn sie nichtvon der Macht vernichtet werden will, unterdrücktsie nicht bloß, wie in früheren Despotien, sondernhat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr undFalsch ergriffen, an deren Abschaffung die Söld-linge der Logik ohnehin emsig mitwirken. So über-lebt Hitler, von dem keiner sagen kann, ob er starboder entkam.

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Z w e i t e L e s e . — Begabung ist vielleichtüberhaupt nichts anderes als glücklich sublimierteWut, die Fähigkeit, jene Energien, die einmal zurZerstörung widerspenstiger Objekte ins Ungemes-sene sich steigerten, in die Konzentration gedul-diger Betrachtung umzusetzen und so wenig ab-zulassen vom Geheimnis der Objekte, wie maneinmal zufrieden war, ehe man nicht dem miß-handelten Spielzeug die quäkende Stimme entriß.Wer hätte nicht auf dem Gesicht des in GedankenVersunkenen, von den praktischen GegenständenAbgelösten Züge derselben Aggression bemerkt,die sonst praktisch sich betätigt? Erfährt nicht derProduzierende sich selber mitten in seinem Über-schwang als vertiert, als „wütend Arbeitenden"?Ja bedarf es nicht gerade solcher Wut, um vomBefangensein sich zu befreien und von der Wutdes Befangenseins? Wäre nicht gerade das Ver-söhnende dem Zerstörenden erst abgetrotzt?

Heute löken die meisten mit dem Stachel.

Wie manchen Dingen Gesten, und damit Weisendes Verhaltens einbeschrieben sind. Pantoffel —

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„Schlappen", slippers — sind darauf berechnet, daßman ohne Hilfe der Hand mit den Füßen hinein-schlüpft. Sie sind Denkmale des Hasses gegen dassich Bücken.

Daß in der repressiven Gesellschaft Freiheit undUnverschämtheit aufs gleiche hinauslaufen, bezeu-gen die sorgenlosen Gesten der Halbwüchsigen, die„Was kost' die "Welt" fragen, solange sie ihre Arbeitnoch nicht verkaufen. Zum Zeichen dessen, daß sieauf niemand angewiesen sind und darum keinenRespekt haben müssen, stecken sie die Hände indie Hosentaschen. Die Ellenbogen aber, die sie da-bei nach außen kehren, sind schon bereit, jeden zustoßen, der ihnen in den "Weg kommt.

Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lügeaussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben.

Die Phrase: „Kommt überhaupt gar nicht inFrage", die im Berlin der zwanziger Jahre aufge-kommen sein dürfte, ist potentiell schon die Machter-greifung. Denn sie prätendiert, daß der private Wille,gestützt manchmal auf wirkliche Verfügungsrechte,meist auf bloße Frechheit, unmittelbar die objek-tive Notwendigkeit darstelle, die keinen Einspruch

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zuläßt. Im Grunde ist es die Weigerung des banke-rotten Verhandlungspartners, dem andern einenPfennig zu zahlen, im stolzen Bewußtsein, daß esbei ihm ja doch nichts mehr zu holen gibt. DerTrick des betrügerischen Advokaten tut sich groß-mäulig als heldische Unbeugsamkeit auf: sprach-liche Formel der Usurpation. Solcher Bluff definiertgleichermaßen den Erfolg und den Sturz des Natio-nalsozialismus.

Daß im Angesicht der Existenz von Brotfabrikendie Bitte um unser tägliches Brot zu einer bloßenMetapher und zugleich zur hellen Verzweiflunggeworden ist, besagt mehr gegen die Möglichkeitdes Christentums als alle aufgeklärte Kritik amLeben Jesu.

Der Antisemitismus ist das Gerücht über dieJuden.

Fremdwörter sind die Juden der Sprache.

An einem Abend der fassungslosen Traurigkeitertappte ich mich über dem Gebrauch des lächer-lich falschen Konjunktivs eines selber schon nichtrecht hochdeutschen Verbs, der dem Dialekt meiner

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Vaterstadt angehört. Ich hatte die zutrauliche Miß-form seit den ersten Schuljahren nicht mehr ver-nommen, geschweige denn verwandt. Schwermut,die unwiderstehlich in den Abgrund der Kindheithmunterzog, weckte auf dem Grunde den alten,ohnmächtig verlangenden Laut. Wie ein Echowarf mir die Sprache die Beschämung zurück, diedas Unglück mir antat, indem es vergaß, wasich bin.

Der zweite Teil des Faust, als dunkel und alle-gorisch verschrien, steckt so voll von geläufigenZitaten wie nur Wilhelm Teil. Durchsichtigkeit,Einfachheit eines Textes steht in keinem geradenVerhältnis dazu, ob er in die Überlieferung ein-geht. Das Verschlossene, stets erneute Interpreta-tion Begehrende mag eben die Autorität abgeben,die sei's einen Satz, sei's ein Werk den Nachleben-den zueignet.

Jedes Kunstwerk ist eine abgedungene Untat.

Die Tragödien, welche durch „Stil" die Ent-fernung vom bloß Daseienden am strengsten fest-halten, sind zugleich diejenigen, die mit kollek-tiven Umzügen, Masken und Opfern das Gedächt-

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nis an die Dämonologie der Wilden am treuestenbewahren.

Die Armseligkeit des Sonnenaufgangs der Alpen-symphonie von Richard Strauß wird nicht bloß vonden banalen Sequenzen, sondern vom Glanz selberbewirkt. Denn kein Sonnenaufgang, auch nicht derim Hochgebirge, ist pompös, triumphal, herrschaft-lich, sondern jeder geschieht schwach und zaghaftwie die Hoffnung, es könne einmal noch gut wer-den, und gerade in solcher Unscheinbarkeit desmächtigsten Lichtes liegt das rührend Überwäl-tigende.

Der Stimme einer jeden Frau läßt am Telephonsich anhören, ob die Sprechende hübsch ist. DerKlang spiegelt als Sicherheit, Selbstverständlichkeit,sich selber Lauschen alle Blicke von Bewunderungund Begehren zurück, die ihr jemals galten. Siedrückt den lateinischen Doppelsinn von Grazie,Dank und Gnade, aus. Das Ohr nimmt wahr, wasdes Auges ist, weil beide leben von der Erfahrungdes einen Schönen. Es wird wiedererkannt schonbeim erstenmal: vertrautes Zitat des nie Gesehenen.

Wacht man inmitten eines Traumes auf, und

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liegt die Wohnung neu, frisch, festlich da. Abernichts hat darin sich geändert, seit es sie verließ.Nur daß die Pflicht vergessen ward, an die jedesMöbel, jedes Fenster, jede Lampe sonst mahnt, stelltihren sabbatischen Frieden wieder her, und fürMinuten ist man im Einmaleins von Zimmern,Kammern und Korridor zu Hause, wie es ein ganzesLeben lang nur die Lüge behauptet. Nicht anderswird einmal die "Welt, unverändert fast, im stetigenLicht ihres Feiertags erscheinen, wenn sie nicht mehrunterm Gesetz der Arbeit steht, und dem Heim-kehrenden die Pflicht leicht ist wie das Spiel in denFerien war.

Seitdem man Blumen nicht mehr brechen kannzum Schmuck der Geliebten, als Opfer, das ver-söhnt wird, indem der Überschwang für die einedas Unrecht an allen frei auf sich nimmt, ist ausdem Blumenpflücken etwas Böses geworden. Estaugt allein noch dazu, das Vergängliche zu ver-ewigen, indem man es dingfest macht. Nichts aberist verderblicher: das duftlose Bukett, das ver-anstaltete Eingedenken tötet, was bleibt, geradeindem es konserviert wird. Zu leben vermag derflüchtige Augenblick im murmelnden Vergessen,darauf einmal der Strahl fällt, der es aufblitzen

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liegt die Wohnung neu, frisch, festlich da. Abernichts hat darin sich geändert, seit es sie verließ.Nur daß die Pflicht vergessen ward, an die jedesMöbel, jedes Fenster, jede Lampe sonst mahnt, stelltihren sabbatischen Frieden wieder her, und fürMinuten ist man im Einmaleins von Zimmern,Kammern und Korridor zu Hause, wie es ein ganzesLeben lang nur die Lüge behauptet. Nicht anderswird einmal die Welt, unverändert fast, im stetigenLicht ihres Feiertags erscheinen, wenn sie nicht mehrunterm Gesetz der Arbeit steht, und dem Heim-kehrenden die Pflicht leicht ist wie das Spiel in denFerien war.

Seitdem man Blumen nicht mehr brechen kannzum Schmuck der Geliebten, als Opfer, das ver-söhnt wird, indem der Überschwang für die einedas Unrecht an allen frei auf sich nimmt, ist ausdem Blumenpflücken etwas Böses geworden. Estaugt allein noch dazu, das Vergängliche zu ver-ewigen, indem man es dingfest macht. Nichts aberist verderblicher: das duftlose Bukett, das ver-anstaltete Eingedenken tötet, was bleibt, geradeindem es konserviert wird. Zu leben vermag derflüchtige Augenblick im murmelnden Vergessen,darauf einmal der Strahl fällt, der es aufblitzen

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macht; den Augenblick besitzen wollen hat ihnichon verloren. Der üppige Strauß, den das Kindaufs Geheiß der Mutter nach Hause schleppt, könntehinterm Spiegel stecken wie der künstliche vor sech-zig Jahren, und am Ende wird daraus die gieriggeknipste Momentaufnahme von der Reise, worinjene sich wie Abfall in die Landschaft streuen, dienichts von ihr sahen, und als Erinnerung mitraffen,was erinnerungslos ins Nichts fiel. Wer aber, hin-gerissen, Blumen sendet, wird unwillkürlich nachdenen greifen, die sterblich erscheinen.

Unser Leben haben wir der Differenz zwischendem ökonomischen Gerüst, dem späten Industria-lismus, und der politischen Fassade zu verdanken.Der theoretischen Kritik ist der Unterschied gering-fügig: allerorten läßt sich der Scheincharakter etwader angeblichen öffentlichen Meinung, der Primatder Ökonomie in den eigentlichen Entscheidungendartun. Für ungezählte Einzelne aber ist die dünneund ephemere Hülle der Grund ihrer ganzen Exi-stenz. Gerade die, von deren Denken und Handelndie Änderung, das einzig Wesentliche, abhängt,schulden ihr Dasein dem Unwesentlichen, demSchein, ja dem, was nach dem Maß der großenhistorischen Entwicklungsgesetze als bloßer Zufall

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zutage kommen mag. Wird aber dadurch nicht diegesamte Konstruktion von Wesen und Erscheinungberührt? Gemessen am Begriff ist das Individuellein der Tat ganz so nichtig geworden, wie die Hegel-sche Philosophie es vorwegnahm; sub specie indi-viduationis aber ist die absolute Kontingenz, dasgeduldete, gleichsam abnorme Weiterleben selberdas Essentielle. Die Welt ist das System des Grauens,aber darum tut ihr noch zuviel Ehre an, wer sieganz als System denkt, denn ihr einigendes Prinzipist die Entzweiung, und sie versöhnt, indem sie dieUnversöhnlichkeit von Allgemeinem und Beson-derem rein durchsetzt. Ihr Wesen ist das Unwesen;ihr Schein aber, die Lüge, kraft deren sie fortbesteht,der Platzhalter der Wahrheit.

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Abweichung. — Für den Verfall der Arbei-terbewegung spricht der offizielle Optimismus ihrerAnhänger. Er scheint mit der eisernen Konsolidie-rung der kapitalistischen Welt anzuwachsen. DieInauguratoren haben niemals das Gelingen für ga-rantiert gehalten und darum den Arbeiterorgani-sationen ihr Leben lang Unannehmlichkeiten ge-

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sagt. Heute, da die Position des Gegners und seineVerfügung übers Bewußtsein der Massen unendlichverstärkt sind, gilt der Versuch, durch Kündigungdes Einverständnisses dies Bewußtsein jäh zu ver-ändern, für reaktionär. Jeder macht sich verdäch-tig, der mit der Kritik am Kapitalismus die amProletariat verbindet, das mehr und mehr die kapi-talistischen Entwicklungstendenzen selber bloß re-flektiert. Über die Klassengrenzen hinweg ist dasnegative Element des Gedankens verpönt. Die Weis-heit des Kaisers Wilhelm, „Schwarzseher dulde ichnicht", ist in die Reihen derer eingedrungen, die erzerschmettern wollte. Wer etwa auf das Ausbleibeneines jeglichen spontanen Widerstands der deut-schen Arbeiter hinwies, dem ward entgegengehal-ten, alles sei derart im Fluß, daß kein Urteil mög-lich sei; wer nicht an Ort und Stelle, unter denarmen deutschen Opfern des Luftkriegs sich befinde,der doch diesen ganz gut gefiel, solange es gegen dieandern ging, habe überhaupt den Mund zu halten,und außerdem stünden Agrarreformen in Rumänienund Jugoslawien unmittelbar bevor. Je weiter je-doch die rationale Erwartung entschwindet, daßdas Verhängnis der Gesellschaft wirklich gewendetwerde, um so ehrfürchtiger beten sie dafür die altenNamen: Masse, Solidarität, Partei, Klassenkampf

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her. Während kein Gedanke aus der Kritik derpolitischen Ökonomie bei den Anhängern der lin-ken Plattform mehr feststeht; während ihre Zei-tungen ahnungslos täglich Thesen ausposaunen, dieallen Revisionismus Übertrumpfen, aber gar nichtsbedeuten und morgen auf Abruf durch die umge-kehrten ersetzt werden können, zeigen die Ohrender Linientreuen musikalische Schärfe, sobald essich um die leiseste Respektlosigkeit gegen die derTheorie entäußerten Parolen handelt. Zum Hurra-optimismus schickt sich der internationale Patriotis-mus. Der Loyale muß zu einem Volk sich bekennen,gleichgültig welchem. Im dogmatischen Begriff desVolkes aber, der Anerkennung des vorgeblichenSchicksalszusammenhangs zwischen Menschen alsder Instanz fürs Handeln, ist die Idee einer vomNaturzwang emanzipierten Gesellschaft implizitverneint.

Selbst der Hurraoptimismus ist die Perversioneines Motivs, das einmal andere Tage sah: dessen,daß nicht gewartet werden könne. Im Vertrauenauf den Stand der Technik wurde die Veränderungals unmittelbar bevorstehend, als nächste Möglich-keit gedacht. Konzeptionen, welche sich an langeZeiträume, Kautelen, umständliche bevölkerungs-pädagogische Maßnahmen banden, waren ver-

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dächtig, das Ziel preiszugeben, zu dem sie sich be-kannten. Damals hatte im Optimismus, der derTodesverachtung gleichkam, der autonome Willesich ausgedrückt. Übriggeblieben ist nur die Hülledavon, der Glaube an Macht und Größe der Or-ganisation an sich, ohne Bereitschaft zum eigenenTun, ja durchtränkt mit der destruktiven Über-zeugung, Spontaneität sei zwar nicht mehr mög-lich, aber am Ende gewinne doch die rote Armee.Die beharrliche Kontrolle darüber, daß jeder zu-gibt, es werde schon gut werden, verdächtigt denUnnachgiebigen als Defaitisten und Abtrünnigen.Im Märchen waren die Unken, die aus der Tiefekamen, Boten des großen Glücks. Heute, da diePreisgabe der Utopie deren Verwirklichung soähnlich sieht wie der Antichrist dem Parakleten,ist Unke zum Schimpfwort unter denen geworden,die selber drunten sind. Der linke Optimismuswiederholt den tückischen bürgerlichen Aber-glauben, man solle den Teufel nicht an die Wandmalen, sondern sich ans Positive halten. „DemHerrn gefällt die Welt nicht? Dann muß er sicheine bessere suchcn" — das ist die Umgangsspradiedes sozialistischen Realismus.

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Mammut. — Vor einigen Jahren ging durchdie amerikanischen Zeitungen die Meldung vomFund eines wohlerhaltenen Dinosaurus im StaateUtah. Betont war, das Exemplar habe seinesgleichenüberlebt und sei um Millionen Jahre jünger als diebisher bekannten. Solche Nachrichten, ebenso wiedie abstoßend humoristische Mode des Loch-Ness-Ungeheuers und wie der King-Kong-Film, sindKollektivprojektionen des monströsen totalen Staa-tes. Man bereitet auf seine Schrecken sich vor durchdie Gewöhnung an Gigantenbilder. In der absur-den Neigung, diese zu akzeptieren, versucht die inOhnmacht liegende Menschheit verzweifelt, dasjeglicher Erfahrung Spottende doch der Erfahrungzuzueignen. Aber die Vorstellung von lebendenoder erst wenige Jahrmillionen ausgestorbenen Ur-tieren erschöpft sich nicht darin. Die Hoffnung,welche die Gegenwart des Ältesten begehrt, gehtdarauf, es möchte die animalische Schöpfung dasUnrecht überleben, das ihr vom Menschen angetanward, wenn nicht ihn selber, und eine bessere Gat-tung hervorbringen, der es endlich gelingt. Dergleichen Hoffnung entstammen schon die zoolo-gischen Gärten. Sie sind nach dem Muster der Arche

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Noah angelegt, denn seit sie existieren, wartet dieBürgerklasse auf die Sintflut. Der Nutzen der Tier-gärten zur Unterhaltung und Belehrung scheint eindünner Vorwand. Sie sind Allegorien dessen, daßein Exemplar oder ein Paar dem Verhängnis trotze,das die Gattung als Gattung ereilt. Daher wirkendie allzu reich besetzten zoologischen Gärten großereuropäischer Städte als Verfallsformen: mehr alszwei Elefanten, zwei Giraffen, ein Nilpferd sindvon Übel. Kein Segen auch ist an den Hagenbeck-schen Anlagen mit Gräben und ohne Gitter, welchedie Arche verraten, indem sie die Rettung vor-täuschen, die erst der Ararat verheißt. Sie verneinendie Freiheit der Kreatur um so vollkommener, jeunsichtbarer sie die Schranken halten, an derenAnblick die Sehnsucht ins Weite sich entzündenkönnte. Zu den anständigen Zoos verhalten sie sichwie die botanischen zu den Pälmengärten. Je reinerZivilisation die Natur erhält und transplantiert,um so unerbittlicher wird diese beherrscht. Man kannes sich gestatten, immer größere Natureinheiten zuumgreifen und innerhalb solchen Griffs scheinbarintakt zu lassen, während ehedem Auswahl undBändigung einzelner Stücke noch von der Not zeug-ten, mit Natur fertig zu werden. Der Tiger, derendlos in seinem Käfig auf und ab schreitet, spiegelt

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negativ durch sein Irresein etwas von Humanitätzurück, nicht aber der hinter dem unüberspring-baren Graben sich tummelnde. Die altertümlicheSchönheit von Brehms Tierleben rührt daher, daßes alle Tiere so beschreibt, wie sie durch die Gitterder zoologischen Garten sich darstellen, auch undgerade wenn phantasievolle Forscher mit Berichtenüber das Leben in der Wildnis zitiert werden. Daßaber zugleich das Tier im Käfig wirklich mehr lei-det als in der Freianlage, daß also Hagenbeck tat-sächlich einen Forschritt der Humanität darstellt,besagt etwas über die Unausweichlichkeit des Ge-fängnisses. Sie ist eine Konsequenz der Geschichte.Die zoologischen Gärten in ihrer authentischen Ge-stalt sind Produkte des Kolonialimperialismus desneunzehnten Jahrhunderts. Sie blühten auf seit derErschließung wilder Gegenden von Afrika und Inner-asien, die in den Tiergestalten symbolische Tributeentrichteten. Der Wert der Tribute maß sich amExotischen, schwer Erreichbaren. Die Entwicklungder Technik hat damit aufgeräumt und die Exotikabgeschafft. Der auf der Farm gezüchtete Löwe istso gebändigt wie das längst der Geburtenkontrolleunterworfene Pferd. Aber das Millenium ist nichthereingebrochen. Nur in der Irrationalität der Kul-tur selber, dem Gewinkel und Gemäuer, dem auch

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die Wälle, Türme und Bastionen der in die Städteversprengten zoologischen Gärten zuzählen, ver-mag Natur sich zu erhalten. Die Rationalisierungder Kultur, welche der Natur die Fenster aufmacht,saugt sie dadurch vollends auf und beseitigt mit derDifferenz auch das Prinzip von Kultur, die Mög-lichkeit zur Versöhnung.

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K a l t e Herberge. — Ahnungsvoll hat Schu-berts Desillusionsromantik in dem Zyklus, in dessenMittelpunkt die Worte „Ich bin zu Ende mit allenTräumen" stehen, den Namen des Wirtshauses ein-zig noch dem Friedhof zubestimmt. Die Fata Mor-gana des Schlaraffenlandes ist von der Totenstarrebefallen. Gäste und "Wirt sind verhext. Jene sindin Eile. Am liebsten möchten sie den Hut aufbehal-ten. Auf unbequemen Sitzen werden sie durch hin-geschobene Schecks und den moralischen Druckwartender Hintermänner dazu verhalten, den Ort,der zum Hohn auch noch Cafe heißt, so schnell wiemöglich zu verlassen. Der Wirt aber samt all sei-nen Mitarbeitern ist gar nicht er selber, sondern einAngestellter. Wahrscheinlich datiert der Verfall des

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Hotelwesens zurück bis zur Auflösung der antikenEinheit von Herberge und Bordell, deren Erin-nerung sehnsüchtig fortlebt in jedem Blick auf diezur Schau gestellte Kellnerin und die verräterischenGesten der Zimmermädchen. Seit aber aus demGastgewerbe, dem ehrwürdigsten Zirkulationsberuf,die letzte Vieldeutigkeit vertrieben ward, wie siedem Wort Verkehr noch anhaftet, ist es ganzschlimm geworden. Zug um Zug, und stets mit un-widerleglichen Gründen, vernichten die Mittel denZweck. Die Arbeitsteilung, das System automati-sierter Verrichtungen, bewirkt, daß keinem am Be-hagen des Kunden etwas gelegen ist. Keiner vermagseinem Gesicht abzulesen, wonach etwa sein Sinnstünde, denn der Kellner kennt die Speisen nichtmehr, und schlüge er selbst etwas vor, so müßte ersich auf Vorwürfe wegen Kompetenzüberschreitunggefaßt machen. Keiner beeilt sich, den lang warten-den Gast zu bedienen, wenn der für ihn Zuständigebeschäftigt ist: die Sorge um die Institution, die imGefängnis sich vollendet, geht wie in der Klinikder ums Subjekt vor, das als Objekt verwaltetwird. Daß das „Restaurant" durch feindliche Ab-gründe vom Hotel, der leeren Hülse der Zimmer,geschieden ist, versteht sich von selbst, ebenso dieZeitbeschränkungen beim Essen und im unleidlichen

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„room service", vor dem man in den Drugstoreflüchtet, den offenbaren Laden, hinter dessen un-gastlicher Theke ein Jongleur mit Spiegeleiern,knusprigem Speck und Eiskegeln als letzter Gast-freund sich bewährt. Im Hotel aber wird vom Por-tier selbst jede unvorgesehene Frage mit dem miß-mutigen Hinweis auf andere, meist geschlosseneSchalter abgefertigt. Der Einwand, bei all demhandle es sich um eine raunzende laudatio temporisacti, schlägt nicht durch. Wer würde nicht den Pra-ger Blauen Stern oder den österreichischen Hof inSalzburg vorziehen, selbst wenn er ins Badezimmerüber den Flur gehen müßte und wenn ihn nichtlänger die unfehlbare Zentralheizung in aller Früheweckte? Je näher man der Sphäre des unmittel-baren, leiblichen Daseins rückt, um so fragwürdigerwird der Fortschritt, Pyrrhussieg der fetischisiertenProduktion. Manchmal graut solchem Fortschrittvor sich selber, und er sucht die kalkulatorisch ge-trennten Arbeitsfunktionen, wenngleich bloß sym-bolisch, wieder zusammenzufügen. Dabei entstehenFiguren wie die hostess, eine synthetische Frau Wir-tin. So wie sie in Wirklichkeit für gar nichts sorgt,durch keine reale Verfügung die abgespaltenen underkalteten Verrichtungen zusammenbringt, sondernsich auf die nichtige Gebärde des Willkommens und

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allenfalls die Kontrolle der Angestellten beschränkt,so sieht sie auch aus, verdrossen hübsch, eine schlankeaufrechte, angestrengt jugendliche und fanierte Frau.Ihr wahrer Zweck ist, darüber zu wachen, daß dereintretende Gast sich nicht einmal mehr den Tischselber aussucht, an dem der Betrieb über ihn er-geht. Ihre Anmut ist das Reversbild der Würde desHinauswerfers.

Galadiner. — Wie Fortschritt und Regres-sion heute sich verschränken, ist am Begriff der tech-nischen Möglichkeiten zu lernen. Die mechanischenReproduktionsverfahren haben sich unabhängig vondem zu Reproduzierenden entfaltet und verselb-ständigt. Sie gelten für fortschrittlich, und was anihnen nicht teilhat für reaktionär und krähwink-lerisch. Solcher Glaube wird um so gründlicher ge-fördert, als die Superapparaturen, sobald sie irgendungenützt bleiben, in Fehlinvestitionen sich zu ver-wandeln drohen. Da aber ihre Entwicklung wesent-lich das betrifft, was unterm Liberalismus Auf-machung hieß, und zugleich durch ihr Eigengewichtdie Sache selber erdrückt, der ohnehin die Appara-

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tur äußerlich bleibt, so hat die Anpassung der Be-dürfnisse an diese den Tod des sachlichen Anspruchszur Folge. Der faszinierte Eifer, die jeweils neuestenVerfahren zu konsumieren, macht nicht nur gegendas Übermittelte gleichgültig, sondern kommt demstationären Schund und der kalkulierten Idiotieentgegen. Sie bestätigt den alten Kitsch in immerneuen Paraphrasen als haute nouveaute. Auf dentechnischen Fortschritt antwortet der trotzige undbornierte Wunsch, nur ja keinen Ladenhüter zukaufen, hinter dem losgelassenen Produktionspro-zeß nicht zurückzubleiben, ganz gleichgültig, wasder Sinn des Produzierten ist. Mitläufertum, dassich Drängeln, Schlange Stehen substituiert allent-halben das einigermaßen rationale Bedürfnis. Kaumgeringer als der Haß gegen eine radikale, allzumoderne Komposition ist der gegen einen schon dreiMonate alten Film, dem man den jüngsten, obwohler von jenem in nichts sich unterscheidet, um jedenPreis vorzieht. Wie die Kunden der Massengesell-schaft sogleich dabei sein wollen, können sie auchnichts auslassen. Wenn der Kenner des neunzehntenJahrhunderts sich nur einen Akt der Oper ansah,mit dem barbarischen Seitenaspekt, daß er seinDiner von keinem Spektakel sich mochte verkürzenlassen, so kann mittlerweile die Barbarei, der die

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Auswegsmöglichkeit zum Diner abgeschnitten ist,an ihrer Kultur sich gar nicht sattfressen. Jedes Pro-gramm muß bis zu Ende abgesessen, jeder best sellergelesen, jeder Film während seiner Blütetage imHauptpalast beguckt werden. Die Fülle des wahl-los Konsumierten wird unheilvoll. Sie macht es un-möglich, sich zurechtzufinden, und wie man im mon-strösen Warenhaus nach einem Führer sucht, wartetdie zwischen Angeboten eingekeilte Bevölkerungauf den ihren.

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Auktion. — Die entfesselte Technik elimi-niert den Luxus, aber nicht, indem sie das Privilegzum Menschenrecht erklärt, sondern indem sie beiallgemeiner Hebung des Standards die Möglichkeitder Erfüllung abschneidet. Der Schnellzug, der indrei Nächten und zwei Tagen den Kontinent durch-rast, ist ein Mirakel, aber die Fahrt in ihm hatnichts vom verblichenen Glanz des train bleu. Wasdie Wollust des Reisens ausmachte, vom Abschied-winken durchs offene Fenster angefangen, die Sorgefreundlicher Trinkgeldempfänger, das Zeremonialdes Essens, das unablässige Gefühl der Vergünsti-

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gung, die keinem etwas entzieht, ist verschwundensamt den eleganten Leuten, die vor der Abfahrt aufden Perrons zu promenieren pflegten, und die mannachgerade selbst in den Hallen der anspruchs-vollsten Hotels vergebens sucht. Daß in der Eisen-bahn die Treppchen eingezogen werden, bedeutetdem Reisenden noch im teuersten Expreß, daß erden bündigen Anordnungen der Kompanie wie einGefangener zu gehorchen hat. Sie gibt ihm zwarden genau kalkulierten Gegenwert seines Geldes,aber nichts, was nicht als durchschnittlicher An-spruch ermittelt wäre. Wer käme auf den Einfall,im Bewußtsein solcher Bedingungen mit seiner Ge-liebten so zu reisen wie einst von Paris nach Nizza?Vielleicht ist es anders im Flugzeug. Aber manwird den Verdacht nicht los, daß auch dem ab-weichenden Luxus, wie er als solcher geräuschvollsich annonciert, ein Element des Willkürlichen,künstlich Hochgehaltenen mehr stets sich beimengt.Er soll eher, im Sinne von Veblens Theorie, denZahlungsfähigen erlauben, sich und anderen ihrenStatus zu beweisen, als ihren ohnehin immerundifferenzierteren Bedürfnissen entgegenkommen.Während sicherlich der Cadillac um ebensovielvorm Chevrolet voraus hat, wie er mehr kostet, gehtdoch diese Superiorität, anders als die des alten

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Rolls Royce, selber aus einem Gesamtplan hervor, derschlau dort bessere und hier schlechtere Zylinder, Schräubchen, Zutaten anbringt, ohne daß amGrundschema des Massenprodukts etwas sich änderte: es bedürfte nur kleiner Verschiebungen inder Produktion, um den Chevrolet in den Cadillac zuverwandeln. So wird der Luxus ausgehöhlt. Denninmitten der allgemeinen Fungibilität haftet Glückausnahmslos am Nichtfun gibein. Es ist durch keineAnstrengung der Humanität, durch kein formales Raisonnement davon zu trennen, daß dasmärchenschöne Kleid von der Einen, nicht vonzwanzigtausend getragen wird. In den Fetisch-charakter flüchtet sich unterm Kapitalismus die Utopie des Qualitativen: was vermöge seiner Differenzund Einzigkeit nicht eingeht ins herrschende Tausch-verhältnis. Aber dies Glücksversprechen im Luxussetzt wiederum Privileg voraus, ökonomische Un-gleichheit, eben die Gesellschaft, die auf Fungibilität beruht. Darum wird das Qualitative selber einSpezialfall der Quantifizierung, das Nichtfungiblefungibel, der Luxus zum Komfort und am Endezum sinnlosen Gadget. In solchem Zirkel ginge dasPrinzip des Luxus zugrunde selbst ohne die Nivel-Herungstendenz der Massengesellschaft, über welchedie Reaktionäre sentimental sich entrüsten. Die

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innere Zusammensetzung des Luxus ist nicht gleich-gültig gegen das, was dem Nutzlosen durch den tota-len Einbau ins Reich des Nutzens widerfährt. SeineÜberbleibsel, auch Objekte der größten Qualität,sehen bereits aus wie Ramsch. Die Kostbarkeiten,mit denen die Allerreichsten ihre Wohnungen an-füllen, verlangen hilflos nach dem Museum, dasdoch Valerys Einsicht zufolge den Sinn der Pla-stiken und Bilder tötet, denen einzig ihre Mutter,die Architektur, den rechten Ort zuwies. Festgehal-ten aber in den Häusern derer, an die nichts sie bin-det, schlagen sie der Existenzweise ins Gesicht, diedas Privateigentum unterdessen ausgebildet hat.Wenn die Antiquitäten, mit denen Millionäre biszum ersten Krieg sich einrichteten, noch angingen,weil sie die Idee der bürgerlichen Wohnung zumTraum — dem Angsttraum — steigerten, ohne siezu sprengen, so dulden die Chinoiserien, zu denenman mittlerweile übergegangen ist, mißmutig bloßden Privatbesitzer, der sich nur in dem Licht undder Luft wohlfuhlt, die vom Luxus versperrt wer-den. Neusachlicher Luxus ist ein Widersinn, vondem gerade noch falsche russische Prinzen lebenmögen, die sich als Innendekorateure an Holly-woodleute verdingen. Die Linien des avanciertenGeschmacks konvergieren in der Askese. Dem Kind,

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das über der Lektüre von Tausendundeiner Nachtan Rubinen und Smaragden sich berauschte, stiegdie Frage auf, worin eigentlich die Seligkeit im Be-sitz solcher Steine bestehe, die ja doch gerade nichtals Tauschmittel, sondern als Hort beschrieben wer-den. In dieser Frage spielt alle Dialektik der Auf-klärung. Sie ist so vernünftig wie unvernünftig:vernünftig, indem sie der Vergötzung gewahr wird,unvernünftig, indem sie gegen ihr eigenes Ziel sichkehrt, das dort nur gegenwärtig ist, wo es vor kei-ner Instanz, ja vor keiner Intention sich zu bewäh-ren hat: kein Glück ohne Fetischismus. Allgemachaber hat die skeptische Kinderfrage auf jeglichenLuxus sich ausgebreitet, und noch die nackte sinn-liche Lust ist nicht vor ihr gefeit. Dem ästhetischenAuge, welches das Unnütze gegen die Utilität ver-tritt, wird das mit Gewalt von den Zwecken abge-löste Ästhetische zum Antiästhetischen, weil es Ge-walt ausdrückt: Luxus zur Roheit. Am Ende wirder von der Fron verschluckt oder im Zerrbild kon-serviert. "Was an Schönem unterm Grauen noch ge-deiht, ist Hohn und häßlich bei sich selber. Dennochsteht seine ephemere Gestalt für die Vermeidbarkeitdes Grauens ein. Etwas von dieser Paradoxie liegtauf dem Grunde aller Kunst; heute kommt sie daranzutage, daß Kunst überhaupt noch existiert. Die

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festgehaltene Idee des Schönen verlangt, Glück zuverwerfen zugleich und zu behaupten.

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Über den Bergen. — Vollkommener alsjedes Märchen drückt Schneewittchen die Wehmutaus. Ihr reines Bild ist die Königin, die durchs Fen-ster in den Schnee blickt und ihre Tochter sichwünscht nach der leblos lebendigen Schönheit derFlocken, der schwarzen Trauer des Fensterrahmens,dem Stich des Verblutens; und dann bei der Geburtstirbt. Davon aber nimmt auch das gute Ende nichtshinweg. Wie die Gewährung Tod heißt, bleibt dieRettung Schein. Denn die tiefere Wahrnehmungglaubt nicht, daß die erweckt ward, die gleich einerSchlafenden im gläsernen Sarg liegt. Ist nicht der gif-tige Apf elgrütz, der von der Erschütterung der Reiseihr aus dem Hals fährt, viel eher als ein Mittel desMordes der Rest des versäumten, verbannten Le-bens, von dem sie nun erst wahrhaft genest, da keinetrügenden Botinnen sie mehr locken? Und wie hin-fällig klingt nicht das Glück: „Da war ihm Schnee-wittchen gut und ging mit ihm." Wie wird es nichtwiderrufen von dem bösen Triumph über die Bos-

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heit. So sagt uns eine Stimme, wenn wir auf Ret-tung hoffen, daß Hoffnung vergeblich sei, und dochist es sie, die ohnmächtige, allein, die überhauptuns erlaubt, einen Atemzug zu tun. Alle Kontem-plation vermag nicht mehr, als die Zweideutigkeitder Wehmut in immer neuen Figuren und Ansätzengeduldig nachzuzeichnen. Die Wahrheit ist nicht zuscheiden von dem Wahn, daß aus den Figuren desScheins einmal doch, scheinlos, die Rettung hervor-trete.

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I n t e l l e c t u s s a c r i f i c i u m i n t e l l e c -t u s. — Anzunehmen, daß das Denken vom Verfall der Emotionen durch anwachsende Objektivitätprofitiere oder auch nur indifferent dagegen bleibe,ist selber Ausdruck des Verdummungsprozesses. Diegesellschaftliche Arbeitsteilung schlägt auf denMenschen zurück, wie sehr sie auch die anbefohleneLeistung fördern mag. Die Fähigkeiten, selber durchWechselwirkung entwickelt, schrumpfen ein, wennsie voneinander losgerissen werden. NietzschesAphorismus „Grad und Art der Geschlechtlichkeiteines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel sei-

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nes Geistes hinauf" trifft mehr als bloß einen psy-chologischen Sachverhalt. "Weil noch die fernstenObjektivierungen des Denkens sich nähren von denTrieben, zerstört es in diesen die Bedingung seinerselbst. Ist nicht das Gedächtnis unabtrennbar vonder Liebe, die bewahren will, was doch vergeht? Istnicht jede Regung der Phantasie aus dem Wunschgezeugt, der übers Daseiende in Treue hinausgeht,indem er seine Elemente versetzt? Ja ist nicht dieeinfachste Wahrnehmung an der Angst vorm Wahr-genommenen gebildet oder der Begierde danach?Wohl hat der objektive Sinn der Erkenntnisse mitder Objektivierung der Welt vom Triebgrund im-mer weiter sich gelöst; wohl versagt Erkenntnis, woihre vergegenständlichende Leistung im Bann derWünsche bleibt. Sind aber die Triebe nicht im Ge-danken, der solchem Bann sich entwindet, zugleichaufgehoben, so kommt es zur Erkenntnis überhauptnicht mehr, und der Gedanke, der den Wunsch, sei-nen Vater, tötet, wird von der Rache der Dumm-heit ereilt. Gedächtnis wird als unberechenbar, un-zuverlässig, irrational tabuiert. Die daraus folgendeintellektuelle Kurzatmigkeit, die im Ausfall derhistorischen Dimension des Bewußtseins sich voll-endet, setzt unmittelbar die synthetische Apperzep-tion herab, die Kant zufolge von der „Reproduk-

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tion in der Einbildung", dem Erinnern, nicht zutrennen ist. Phantasie, heute dem Ressort des Un-bewußten zugeteilt und in der Erkenntnis als kin-disch urteilsloses Rudiment verfemt, stiftet alleinjene Beziehung zwischen Objekten, in der unabdingbar alles Urteil entspringt: wird sie ausgetrieben, sowird zugleich das Urteil, der eigentliche Erkennt-nisakt, exorziert. Die Kastration der Wahrnehmung aber durch die Kontrollinstanz, die jeglichebegehrende Antizipation ihr verweigert, zwingt sieeben damit ins Schema der ohnmächtigen Wieder-holung von je schon Bekanntem. Daß eigentlichnicht mehr gesehen werden darf, lauft aufs Opferdes Intellekts hinaus. Wie unterm losgelösten Primat des Produktionsprozesses das Wozu der Ver-nunft entschwindet, bis sie auf den Fetischismusihrer selbst und der auswendigen Macht herunter-kommt, so bildet sie sich zugleich selbst als Instrument zurück und gleicht sich ihren Funktionären an,deren Denkapparat nur noch dem Zweck dient,Denken zu verhindern. Ist einmal die letzte emo-tionale Spur getilgt, bleibt vom Denken einzig dieabsolute Tautologie übrig. Die ganz reine Vernunftderer, die der Fähigkeit, „einen Gegenstand auchohne dessen Gegenwart vorzustellen", vollends sichentschlagen haben, wird mit der reinen Bewußt

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losigkeit, dem Schwachsinn im wörtlichsten Sinnkonvergieren, denn gemessen am verstiegen reali-stischen Ideal kategorienfreier Gegebenheit ist jedeErkenntnis falsch, und richtig nur, worauf nichteinmal die Frage nach richtig oder falsch mehr an-gewandt werden könnte. Daß es dabei um weitvorgedrungene Tendenzen sich handelt, zeigt sichauf Schritt und Tritt an dem Wissenschaftsbetrieb,der im Begriff ist, auch die Reste der Welt, wehr-lose Trümmerstätten, zu unterjochen.

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Diagnose. — Daß die Welt mittlerweile dasSystem geworden ist, als welches die Nationalsozia-listen die laxe Weimarer Republik zu Unrecht be-schimpften, wird offenbar an der prästabiliertenHarmonie zwischen den Institutionen und denen,die sie bedienen. Im stillen ist eine Menschheitherangereift, die nach dem Zwang und der Be-schränkung hungert, welche der widersinnige Fort-bestand der Herrschaft ihr auferlegt. Jene Men-schen haben aber, von der objektiven Einrichtungbegünstigt, nachgerade selbst die Funktionen an sichgerissen, welche von Rechts wegen gegen die prä-

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stabilierte Harmonie die Dissonanz setzen sollten.Unter all den kassierten Sprichwörtern steht auch„Druck erzeugt Gegendruck": wird jener groß ge-nug, so verschwindet dieser, und die Gesellschaftscheint mit dem tödlichen Ausgleich der Spannun-gen beträchtlich der Entropie zuvorkommen zu wol-len. Der Wissenschaftsbetrieb hat seine genaue Ent-sprechung in der Geistesart, die er einspannt: siebrauchen sich gar keine Gewalt mehr anzutun, umals die freiwilligen und eifrigen Kontrolleure ihrerselbst sich zu bewähren. Selbst wenn sie außerhalbdes Betriebs als ganz humane und vernünftige "We-sen sich erweisen, erstarren sie zur pathischen Dumm-heit in dem Augenblick, in dem sie von Berufs we-gen denken. Weit entfernt davon aber, daß sie inden Denkverboten ein Feindseliges empfinden, füh-len sich die Stellenanwärter — und alle Wissen-schaftler sind solche — erleichtert. Weil Denkeneine subjektive Verantwortung ihnen aufbürdet, dieihre objektive Stellung im Produktionsprozeß zuerfüllen ihnen verwehrt, verzichten sie darauf,schütteln sich und laufen zum Gegner über. Raschwird aus der Unlust zum Denken die Unfähigkeitdazu: Leute, welche mühelos die raffiniertesten sta-tistischen Einwände finden, sobald es darum geht,eine Erkenntnis zu sabotieren, vermögen es nicht, ex

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cathedra die einfachsten inhaltlichen Voraussagenzu machen. Sie schlagen auf die Spekulation undtöten in ihr den gesunden Menschenverstand. DieIntelligenteren unter ihnen ahnen die Erkrankungihres Denkvermögens, weil sie zunächst nicht uni-versal, sondern nur an den Organen ausbricht, derenDienste sie verkaufen. Manche warten noch mitAngst und Scham darauf, ihres Defekts überführtzu werden. Alle aber finden ihn öffentlich zum mo-ralischen Verdienst erhoben und sehen sich für einewissenschaftliche Askese anerkannt, die ihnen garkeine ist, sondern die geheime Linie ihrer Schwäche.Ihr Ressentiment wird gesellschaftlich rationalisiertunter der Form: Denken ist unwissenschaftlich. Da-bei ward ihre geistige Kraft nach manchen Dimen-sionen durch den Kontrollmechanismus aufs äußerstegesteigert. Die kollektive Dummheit der Forschungs-techniker ist nicht einfach Absenz oder Rückbildungintellektueller Fähigkeiten, sondern eine Wucherungder Denkfähigkeit selber, die diese mit der eigenenKraft zerfrißt. Die masochistische Bosheit der jun-gen Intellektuellen rührt von der Bösartigkeit ihrerErkrankung her.

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Groß u n d k l e i n . — Zu den verhängnisvol-len Übertragungen aus dem Bereich wirtschaftlicherPlanung in das der Theorie, die eigentlich gar nichtmehr vom Grundriß des Ganzen unterschiedenwird, zählt der Glaube an die Verwaltbarkeit gei-stiger Arbeit, nach den Maßstäben dessen, womitsich zu beschäftigen notwendig oder vernünftig sei.Es wird über die Rangordnung des Dringlichen be-funden. Indem man aber den Gedanken des Mo-ments der Unwillkürlichkeit beraubt, wird geradeseine Notwendigkeit kassiert. Er reduziert sich aufablösbare, auswechselbare Dispositionen. Wie in derKriegswirtschaft über Prioritäten in der Zuteilungvon Rohmaterial, in der Herstellung dieses oderjenes Waffentypus entschieden wird, so schleichtsich in die Theorienbildung eine Hierarchie derWichtigkeiten ein, mit Bevorzugung der sei's be-sonders aktuellen, sei's besonders relevanten The-men, und Hintanstellung oder nachsichtiger Dul-dung des nicht Hauptsächlichen, das bloß als Ver-zierung der Grundtatsachen, als Finesse passierendarf. Die Vorstellung vom Relevanten ist nachorganisatorischen Gesichtspunkten geschaffen, die desAktuellen mißt sich an der jeweils objektiv mächtig-

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sten Tendenz. Die Schematisierung nach wichtig undnebensächlich unterschreibt der Form nach die Wert-ordnung der herrschenden Praxis, selbst wenn sieihr inhaltlich widerspricht. In den Ursprüngen derprogressiven Philosophie, bei Bacon und Descartesist der Kultus des Wichtigen schon mitgesetzt. AmEnde aber offenbart er ein Unfreies, Regressives.Wichtigkeit wird dargestellt von dem Hund, derauf dem Spaziergang an irgendeiner Stelle minuten-lang angespannt, unnachgiebig, unwillig-ernsthaftschnüffelt, um dann seine Notdurft zu verrichten,mit den Füßen zu scharren und weiterzulaufen, alswäre nichts geschehen. In wilden Zeiten mag davonLeben und Tod abgehangen haben; nach Jahrtau-senden der Domestizierung ist ein irres Ritual dar-aus geworden. Wer müßte nicht daran denken,wenn er ein seriöses Gremium die Dringlichkeitvon Problemen prüfen sieht, ehe der Stab derMitarbeiter auf die sorgsam designierten und befri-steten Aufgaben losgelassen wird. Etwas von sol-cher anachronistischen Sturheit hat alles Wichtige,und als Kriterium des Gedankens kommt es dessengebannter Fixierung, dem Verzicht auf Selbstbesin-nung gleich. Die großen Themen aber sind nichtsanderes als die urzeitlichen Gerüche, die das Tierveranlassen, innezuhalten und sie womöglich noch-

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mals hervorzubringen. Das bedeutet nicht, daß dieHierarchie der Wichtigkeiten zu ignorieren sei. Wieihre Banausie die des Systems widerspiegelt, so istsie gesättigt mit all seiner Gewalt und Stringenz.Jedoch der Gedanke sollte sie nicht repetieren, son-dern im Nachvollzug auflösen. Die Aufteilung derWelt in Haupt- und Nebensachen, die schon immerdazu gedient hat, die Schlüsselphänomene desäußersten gesellschaftlichen Unrechts als bloße Aus-nahmen zu neutralisieren, ist soweit zu befolgen,daß sie ihrer eigenen Unwahrheit überführt wird.Sie, die alles zu Objekten macht, muß selber zum Ob-jekt des Gedankens werden, anstatt ihn zu steuern.Die großen Themen werden dabei auch vorkom-men, aber kaum im traditionellen Sinn „thematisch",sondern gebrochen und exzentrisch. Die Barbareider unmittelbaren Größe blieb der Philosophie alsErbteil von ihrem frühen Bündnis mit Administra-toren und Mathematikern: was nicht den Stempeldes aufgeblähten welthistorischen Betriebs trägt,wird den Prozeduren der positiven Wissenschaftenüberantwortet. Philosophie benimmt sich dabei wieschlechte Malerei, die sich einbildet, die Dignitäteines Werkes und der Ruhm, den es erwirbt, hingeab von der Würde der Gegenstände; ein Bild derVölkerschlacht bei Leipzig tauge mehr als ein Stuhl

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in schräger Perspektive. Der Unterschied des be-grifflichen Mediums vom künstlerischen ändertnichts an der schlechten Naivetät. Wenn der Ab-straktionsprozeß alle Begriffsbildung mit demWahn der Größe schlägt, so ist zugleich in ihm,durch Distanz vom Aktionsobjekt, durch Reflexionund Durchsichtigkeit, das Gegengift aufbewahrt:die Selbstkritik der Vernunft ist deren eigenste Mo-ral. Ihr Gegenteil in der jüngsten Phase eines übersich selbst verfügenden Denkens ist nichts anderesals die Abschaffung des Subjekts. Der Gestus dertheoretischen Arbeit, der über die Themen nachihrer Wichtigkeit disponiert, sieht ab von demArbeitenden. Die Entwicklung einer immer gerin-geren Anzahl technischer Fähigkeiten soll dazu ge-nügen, ihn für die Behandlung jeder bezeichnetenAufgabe hinlänglich zu equipieren. Denkende Sub-jektivität ist aber gerade, was nicht in den von obenher heteronom gestellten Aufgabenkreis sich einord-nen läßt: selbst diesem ist sie nur soweit gewachsen,wie sie selber ihm nicht angehört, und damit ist ihreExistenz die Voraussetzung einer jeglichen objektivverbindlichen Wahrheit. Die souveräne Sachlich-keit, die das Subjekt der Ermittlung der Wahrheitopfert, verwirft zugleich Wahrheit und Objektivi-tät selber.

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Drei S c h r i t t v o m L e i b e . — Der Posi-tivisrnus setzt nochmals die Distanz des Gedankenszur Realität herab, welche von der Realität selberschon nicht mehr toleriert wird. Indem die einge-schüchterten Gedanken nicht mehr sein wollen alsProvisorien, bloße Abkürzungen für darunter be-faßtes Tatsächliches, schwindet ihnen mit der Selb-ständigkeit der Realität gegenüber auch die Kraft,diese zu durchdringen. Nur im Abstand zum Lebenspielt das des Gedankens sich ab, welches in dasempirische eigentlich einschlägt. Während der Ge-danke auf Tatsachen sich bezieht und in der Kritikan ihnen sich bewegt, bewegt er sich nicht minderdurch die festgehaltene Differenz. Er spricht ebendadurch genau das aus was ist, daß es nie ganz soist, wie er es ausspricht. Ihm ist wesentlich ein Ele-ment der Übertreibung, des über die Sachen Hinaus-schießens, von der Schwere des Faktischen sich Los-lösens, kraft dessen er an Stelle der bloßen Repro-duktion des Seins dessen Bestimmung, streng undfrei zugleich, vollzieht. Darin ähnelt jeder Gedankedem Spiel, mit welchem Hegel nicht weniger alsNietzsche das Werk des Geistes verglichen hat. DasUnbarbarische an Philosophie beruht in dem still-

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schweigenden Bewußtsein jenes Elements von Un-veranf wortlichkeit, der Seligkeit, die von der Flüch-tigkeit des Gedankens stammt, der stets dem ent-rinnt, was er urteilt. Solche Ausschweifung wirdvom positivistischen Geiste geahndet und der Narr-heit überantwortet. Die Differenz von den Tat-sachen wird zur bloßen Falschheit, das Moment desSpiels zum Luxus in einer Welt, vor der die intel-lektuellen Funktionen nach der Stechuhr über jedeMinute Rechenschaft ablegen müssen. Sobald aberder Gedanke seine unaufhebbare Distanz verleug-net und sich mit tausend subtilen Argumenten aufdie buchstäbliche Richtigkeit herausreden will, geräter ins Hintertreffen. Fällt er aus dem Medium desVirtuellen heraus, einer Antizipation, die von kei-ner einzelnen Gegebenheit ganz zu erfüllen ist,kurz, sucht er an Stelle von Deutung einfache Aus-sage zu werden, so wird alles, was er aussagt, in derTat falsch. Seine Apologetik, von Unsicherheit undschlechtem Gewissen inspiriert, läßt sich auf Schrittund Tritt mit dem Nachweis eben der Nichtiden-tität widerlegen, die er nicht Wort haben will, unddie ihn doch allein zum Gedanken macht. Würdeer sich hingegen auf die Distanz wie auf ein Privi-leg herausreden, so führe er nicht besser, sondernproklamierte zweierlei Wahrheiten, die der Fakten

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und die der Begriffe. Das löste Wahrheit selber aufund denunzierte das Denken erst recht. Die Distanzist keine Sicherheitszone, sondern ein Spannungs-feld. Sie manifestiert sich nicht sowohl im Nach-lassen des Wahrheitsanspruches der Begriffe als inder Zartheit und Zerbrechlichkeit, womit gedachtwird. Dem Positivismus gegenüber ziemt wederRechthaberei noch Vornehmtun, sondern der er-kenntniskritische Nachweis der Unmöglichkeit einerKoinzidenz zwischen dem Begriff und dem ihn Er-füllenden. Die Jagd nach dem Ineinander-Aufgehendes Ungleichnamigen ist nicht das immer strebendeBemühen, dem am Ende Erlösung winkt, sondernnaiv und unerfahren. Was der Positivismus demDenken vorwirft, hat das Denken tausendmal ge-wußt und vergessen, und erst an solchem Wissenund Vergessen Ist es zum Denken geworden. JeneDistanz des Gedankens von der Realität ist selbernichts anderes als der Niederschlag von Geschichtein den Begriffen. Distanzlos mit diesen operierenist bei aller Resignation, oder vielleicht gerade umihretwillen, Sache von Kindern. Denn der Gedankemuß über seinen Gegenstand hinauszielen, geradeweil er nicht ganz hinkommt, und der Positivismusist unkritisch, indem er das Hinkommen sich zu-traut und bloß aus Gewissenhaftigkeit zu zaudern

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sich einbildet. Der transzendierende Gedanke tragtseiner eigenen Unzulänglichkeit gründlicher Rech-nung als der durch den wissenschaftlichen Kontroll-apparat gesteuerte. Er extrapoliert, um vermöge derüberspannten Anstrengung des Zuviel wie immerhoffnungslos das unausweichliche Zuwenig zu mei-stern. Was man der Philosophie als illegitimenAbsolutismus vorwirft, die angeblich abschlußhaftePrägung, entspringt gerade im Abgrund der Rela-tivität. Die Übertreibungen der spekulativen Meta-physik sind Narben des reflektierenden Verstandes,und einzig das Unbewiesene enthüllt den Beweisals Tautologie. Dagegen entzieht der unmittelbareVorbehalt der Relativität, das Einschränkende, imje abgesteckten begrifflichen Umfang Verbleibendegenau durch solche Vorsicht sich der Erfahrung derGrenze, die zu denken und zu überschreiten nachHegels großartiger Einsicht das gleiche ist. Sonachwären die Relativisten die wahren — die schlech-ten Absolutisten und überdies die Bürger, die ihrerErkenntnis wie eines Besitzes sich versichern woll-ten, nur um ihn desto gründlicher zu verlieren. Ein-zig der Anspruch des Unbedingten, der Sprung überden Schatten, läßt dem Relativen Gerechtigkeitwiderfahren. Indem er Unwahrheit auf sich nimmt,führt er an die Schwelle von Wahrheit im kon-

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kreten Bewußtsein der Bedingtheit menschlicherErkenntnis.

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V i z e p r ä s i d e n t . — Rat an Intellektuelle:laß dich nicht vertreten. Die Fungibilität aller Lei-stungen und Menschen und der daraus abgeleiteteGlaube, alle müßten alles tun können, erweist sichinnerhalb des Bestehenden als Fessel. Das egalitäreIdeal der Vertretbarkeit ist ein Schwindel, wenn esnicht getragen wird vom Prinzip der Abberufbar-keit und der Verantwortung vor rank and file. Dergerade ist der Mächtigste, der möglichst wenig selbertun, möglichst viel von dem, wofür er den Namenhergibt und den Vorteil einstreicht, anderen auf-bürden kann. Es scheint Kollektivismus und kommtnur auf das sich Zu gut Dünken, das Ausgenommen-sein von Arbeit kraft der Verfügung über fremdehinaus. In der materiellen Produktion freilich istVertretbarkeit sachlich angelegt. Die Quantifizie-rung der Arbeitsprozesse setzt tendenziell denUnterschied zwischen dem vom Generaldirektor unddem vom Mann in der Gasolinstation zu Besorgen-den herab. Es ist eine armselige Ideologie, daß zur

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Verwaltung eines Trusts unter den gegenwärtigenBedingungen irgend mehr Intelligenz, Erfahrung,selbst Vorbildung gehört als dazu, einen Mano-meter abzulesen. Während man aber in der mate-riellen Produktion an eben dieser Ideologie zähfesthält, wird der Geist der entgegengesetzten unter-worfen. Das ist die auf den Hund gekommene Lehrevon der universitas Ikerarum, von der Gleichheitaller in der Republik der Wissenschaften, die einenjeglichen nicht bloß als Kontrolleur des anderenanstellt, sondern auch ihn befähigen soll, ebensogutzu tun, was der andere tut. Vertretbarkeit unter-wirft die Gedanken derselben Prozedur wie derTausch die Dinge. Das Inkommensurable wird aus-geschieden. Da aber der Gedanke vorab die vomTauschverhältnis herrührende, allumfassende Kom-mensurabilität zu kritisieren hat, so kehrt diese, alsgeistiges Produktionsverhältnis, sich gegen dieProduktivkraft. Im materiellen Bereich ist Vertret-barkeit das bereits Mögliche und Unvertretbarkeitder Vorwand, der es verhindert; in der Theorie,der solches quid pro quo zu durchschauen ziemt,dient Vertretbarkeit der Apparatur dazu, dort nochsich fortzusetzen, wo ihr objektiver Gegensatz läge.Unvertretbarkeit allein könnte der Eingliederungdes Geistes in die Angestelltenschaft Einhalt tun.

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Die als selbstverständlich unterschobene Forderung,es müsse jede geistige Leistung von jedem quali-fizierten Mitglied der Organisation ebenso sich be-wältigen lassen, macht den borniertesten wissen-schaftlichen Techniker zum Maß des Geistes: wohersollte gerade dieser die Fähigkeit zur Kritik seinereigenen Technifizierung nehmen? So bewirkt dieWirtschaft jene Gleichmacherei, über die sie mitder Geste „Haltet den Dieb" sich entrüstet. DieFrage nach der Individualität muß im Zeitalter vonderen Liquidation aufs neue aufgeworfen werden.Während das Individuum, wie alle individualisti-schen Produktionsverfahren, hinter dem Stand derTechnik zurückgeblieben und historisch veraltet ist,fällt ihm als Verurteiltem gegen den Sieger dieWahrheit wiederum zu. Denn es allein bewahrt inwie immer auch entstellter Weise die Spur dessen,was aller Technifizierung ihr Recht verleiht, undwovon diese doch zugleich selber das Bewußtseinsich abschneidet. Indem der losgelassene Fortschrittals nicht unmittelbar identisch mit dem der Mensch-heit sich erweist, vermag sein Gegenteil dem Fort-schritt Unterschlupf zu gewähren. Bleistift undRadiergummi nützen dem Gedanken mehr, als einStab von Assistenten. Jene, die weder dem Indi-vidualismus der geistigen Produktion ungebrochen

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sich überlassen, noch dem Kollektivismus der egali-tär-menschenverachtenden Vertretbarkeit kopfübersich verschreiben möchten, sind auf freie und soli-darische Zusammenarbeit unter gemeinsamer Ver-antwortung angewiesen. Alles andere verschachertden Geist an die Formen des Geschäfts und damitschließlich an dessen Interessen.

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S t u n d e n p l a n . — Weniges unterscheidet dieLebensweise, die dem Intellektuellen anstünde, sotief von der des Bürgers, wie daß jener die Alter-native von Arbeit und Vergnügen nicht anerkennt.Arbeit, die nicht, um der Realität gerecht werdenzu können, erst ihrem Subjekt all das Böse antunmuß, das sie nachher den andern antun soll, ist Lustnoch in der verzweifelten Anstrengung. Die Frei-heit, die sie meint, ist dieselbe, welche die bürger-liche Gesellschaft einzig der Erholung vorbehältund durch solche Reglementierung zugleich zurück-nimmt. Umgekehrt ist dem, der von Freiheit weiß,alles von dieser Gesellschaft tolerierte Vergnügenunerträglich, und außerhalb seiner Arbeit, die frei-lich einschließt, was die Bürger als „Kultur" auf den

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Feierabend verlegen, mag er auf keine Ersatzlustsich einlassen. Work while you work, play whileyou play — das zählt zu den Grundregeln der re-pressiven Selbstdisziplin. Eltern, denen es Prestige-sache war, daß ihr Kind gute Zeugnisse nach Hausebrachte, konnten es am wenigsten leiden, wenn esabends zu lange las oder überhaupt, nach ihren Be-griffen, geistig sich überanstrengte. Aus ihrer Tor-heit aber sprach das Ingenium ihrer Klasse. Die seitAristoteles eingeschliffene Lehre vom Maßhalten alsder vernunftgemäßen Tugend ist neben anderm einVersuch, die gesellschaftlich notwendige Aufteilungdes Menschen in voneinander unabhängige Funk-tionen so fest zu begründen, daß es keiner von die-sen mehr beikommt, in die andere überzugehen undan den Menschen zu erinnern. Man könnte aberNietzsche so wenig in einem Büro, in dessen Vor-raum die Sekretärin das Telefon betreut, bis fünfUhr am Schreibtisch sich vorstellen, wie nach voll-brachtem Tagewerk Golf spielend. Einzig listigeVerschränkung von Glück und Arbeit läßt untermDruck der Gesellschaft eigentliche Erfahrung nochoffen. Sie wird stets weniger geduldet. Audi diesogenannten geistigen Berufe werden durch An-ähnelung ans Geschäft der Lust vollends entäußert.Die Atomisierung schreitet nicht nur zwischen den

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Menschen, sondern auch im einzelnen Individuum,zwischen seinen Lebenssphären, fort. Keine Erfül-lung darf an die Arbeit sich heften, die sonst ihrefunktionelle Bescheidenheit in der Totalität derZwecke verlöre, kein Funke der Besinnung darf indie Freizeit fallen, weil er sonst auf die Arbeitsweltüberspringen und sie in Brand setzen könnte. "Wäh-rend der Struktur nach Arbeit und Vergnügeneinander immer ähnlicher werden, trennt man siezugleich durch unsichtbare Demarkationslinien im-mer strenger. Aus beiden wurden Lust und Geistgleichermaßen ausgetrieben. Hier wie dort waltettierischer Ernst und Pseudoaktivität.

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M u s t e r u n g . — Wer, wie das so heißt, in derPraxis steht, Interessen zu verfolgen, Pläne zu ver-wirklichen hat, dem verwandeln die Menschen, mitdenen er in Berührung kommt, automatisch sich inFreund und Feind. Indem er sie daraufhin ansieht,wie sie seinen Absichten sich einfügen, reduziert ersie gleichsam vorweg zu Objekten: die einen sindverwendbar, die andern hinderlich. Jede abwei-chende Meinung erscheint auf dem Bezugssystem je

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einmal vorgegebener Zwecke, ohne welches keinePraxis auskommt, als lästiger Widerstand, Sabo-tage, Intrige; jede Zustimmung, und käme sie ausdem gemeinsten Interesse, wird zur Förderung, zumBrauchbaren, zum Zeugnis der Bundesgenossen-schaft. So tritt Verarmung im Verhältnis zu anderenMenschen ein: die Fähigkeit, den andern als solchenund nicht als Funktion des eigenen Willens wahr-zunehmen, vor allem aber die des fruchtbarenGegensatzes, die Möglichkeit, durch Einbegreifendes Widersprechenden über sich selber hinauszu-gehen, verkümmert. Sie wird ersetzt durch beur-teilende Menschenkenntnis, für die schließlich nochder Beste das kleinere Übel ist und der Schlechtestenicht das größte. Diese Reaktionsweise aber, dasSchema aller Administration und Personalpolitik,tendiert bereits von sich aus, vor aller politischenWillensbildung und aller Festlegung auf ausschlie-ßende Tickets, zum Faschismus. Wer es einmal zuseiner Sache macht, Eignungen zu beurteilen, siehtdie Beurteilten aus gewissermaßen technologischerNotwendigkeit als Zugehörige oder Außenseiter,Arteigene oder Artfremde, Helfershelfer oderOpfer. Der starr prüfende, bannende und gebannteBlick, der allen Führern des Entsetzens eigen ist,hat sein Modell im abschätzenden des Managers,

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der den Stellenbewerber Platz nehmen heißt undsein Gesicht so beleuchtet, daß es ins Helle der Ver-wendbarkeit und ins Dunkle, Anrüchige des Un-qualifizierten erbarmungslos zerfällt. Das Ende istdie medizinische Untersuchung nach der Alternative:Arbeitseinsatz oder Liquidation. Der neutestament-liche Satz: „Wer nicht für mich ist, ist wider mich",war von jeher dem Antisemitismus aus dem Herzengesprochen. Es gehört zum Grundbestand der Herr-schaft, jeden, der nicht mit ihr sich identifiziert, umder bloßen Differenz willen ins Lager der Feindezu verweisen: nicht umsonst ist Katholizismus nurein griechisches Wort für das lateinische Totalität,das die Nationalsozialisten realisiert haben. Sie be-deutet die Gleichsetzung des Verschiedenen, sei's der„Abweichung", sei's des Andersrassigen, mit demGegner. Der Nationalsozialismus hat auch darindas historische Bewußtsein seiner selbst erreicht:Carl Schmitt definierte das Wesen des Politischengeradezu durch die Kategorien Freund und Feind.Der Fortschritt zu solchem Bewußtsein macht dieRegression auf die Verhaltensweise des Kindes sichzu eigen, das gern hat oder sich fürchtet. Die aprio-rische Reduktion auf das Freund-Feind-Verhältnisist eines der Urphänomene der neuen Anthropolo-gie. Freiheit wäre, nicht zwischen schwarz und

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weiß zu wählen, sondern aus solcher vorgeschrie-benen Wahl herauszutreten.

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Manschen k l e i n . — Der Intellektuelle,und gar der philosophisch gerichtete, ist von dermateriellen Praxis abgeschnitten: der Ekel vor ihrtrieb ihn zur Befassung mit den sogenannten gei-stigen Dingen. Aber die materielle Praxis ist nichtnur die Voraussetzung seiner eigenen Existenz, son-dern liegt auch auf dem Grunde der Welt, mitderen Kritik seine Arbeit zusammenfällt. Weiß ernichts von der Basis, so zielt er ins Leere. Er stehtvor der Wahl, sich zu informieren oder dem Ver-haßten den Rücken zu kehren. Informiert er sich,so tut er sich Gewalt an, denkt gegen seine Impulseund ist obendrein in Gefahr, selber so gemein zuwerden wie das, womit er sich abgibt, denn dieÖkonomie duldet keinen Spaß, und wer sie auchnur verstehen will, muß „ökonomisch denken". Läßter sich aber nicht darauf ein, so hypostasiert er sei-nen an der ökonomischen Realität, dem abstraktenTauschverhältnis überhaupt erst gebildeten Geistals Absolutes, während er zum Geist werden könnte

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einzig in der Besinnung auf die eigene Bedingtheit.Der Geistige wird dazu verführt, eitel und be-ziehungslos den Reflex für die Sache unterzuschie-ben. Die einfältig-verlogene Wichtigkeit, wie sieGeistesprodukten im öffentlichen Kulturbetrieb zu-gewiesen wird, fügt Steine zu der Mauer hinzu,welche die Erkenntnis von der wirtschaftlichenBrutalität absperrt. Dem Geistesgeschäft verhilftdie Isolierung des Geistes vom Geschäft zur beque-men Ideologie. Das Dilemma teilt sich den intel-lektuellen Verhaltensweisen bis in die subtilstenReaktionen hinein mit. Nur wer gewissermaßensich rein erhält, hat Haß, Nerven, Freiheit undBeweglichkeit genug, der Welt zu widerstehen, abergerade vermöge der Illusion der Reinheit — denner lebt als „dritte Person" — läßt er die Welt nichtdraußen bloß, sondern noch im Innersten seinerGedanken triumphieren. Wer aber das Getriebeallzu gut kennt, verlernt darüber es zu erkennen;ihm schwinden die Fähigkeiten der Differenz, undwie den anderen der Fetischismus der Kultur, sobedroht ihn der Rückfall in die Barbarei. Daß dieIntellektuellen zugleich Nutznießer der schlechtenGesellschaft und doch diejenigen sind, von derengesellschaftlich unnützer Arbeit es weithin abhängt,ob eine von Nützlichkeit emanzipierte Gesellschaft

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gelingt — das ist kein ein für allemal akzeptablerand dann irrelevanter Widerspruch. Er zehrt un-ablässig an der sachlichen Qualität. Wie der In-tellektuelle es macht, macht er es falsch. Er erfährtdrastisch, als Lebensfrage die schmähliche Alter-native, vor welche insgeheim der späte Kapitalis-mus all seine Angehörigen stellt: auch ein Erwach-sener zu werden oder ein Kind zu bleiben.

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R i n g v e r e i n . — Es gibt einen Typus vonIntellektuellen, dem um so gründlicher zu mißtrauenist, je mehr er durch Redlichkeit des Bemühens,„geistigen Ernst", oft auch durch bescheidene Sach-lichkeit für sich einnimmt. Das sind die ringendenMenschen, die permanent im Kampf mit sich selbst,in Entscheidungen unter Einsatz der ganzen Personleben. Aber so schrecklich geht es gar nicht zu. Stehtihnen doch für ihr radikales sich aufs Spiel Setzeneine zuverlässige Armatur zur Verfügung, derenschlagfertige Anwendung den Kampf mit demEngel zugleich Lügen straft: man braucht nur inden Büchern des Verlegers Eugen Diederichs zublättern oder in denen einer gewissen Art mucker-

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haft-emanzipierter Theologen. Das markige Voka-bular weckt Zweifel an der Fairness der von derInnerlichkeit arrangierten und ausgefochtenenRing-kampfe. Die Ausdrücke sind allesamt von Krieg,leibhafter Gefahr, wirklicher Vernichtung entlehnt,aber sie beschreiben bloß Vorgänge der Reflexion,die zwar bei Kierkegaard und Nietzsche, auf welchedie Ringer mit Vorliebe hinweisen, mit dem töd-lichen Ausgang zusammenhängen mochten, ganzgewiß aber nicht bei ihren unerbetenen Gefolgs-leuten, die sich selber aufs Wagnis berufen. Wäh-rend sie die Sublimierung des Daseinskampfs sichzur doppelten Ehre, der der Vergeistigung und desMutes anrechnen, ist zugleich durch die Verinner-lichung das Gefahrmoment neutralisiert, zu einemIngredienz selbstgefällig wurzelhafter, kerngesun-der Weltanschauung herabgesetzt. Der Außenweltsteht man indifferent-überlegen gegenüber, vormErnst der Entscheidung kommt sie gar nicht in Be-tracht; so wird sie gelassen, wie sie ist, und amEnde doch anerkannt. Die wilden Ausdrücke sindkunstgewerblicher Schmuck wie die Kaurimuschelnder Gymnastikmädchen, mit denen die Ringer sogern sich zusammenfinden. Der Schwertertanz istvorentschieden. Ganz gleich, ob der Imperativ siegtoder das Recht des Individuums — ob es dem Kan-

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didaten gelingt, vom persönlichen Gottesglaubensich zu befreien oder ihn wieder zu gewinnen, ober dem Abgrund des Seins gegenübersteht oderdem erschütternden Erlebnis des Sinnes, er fälltauf die Füße. Denn die Macht, welche die Konfliktelenkt, das Ethos von Verantwortung und Aufrich-tigkeit, ist allemal autoritärer Art, eine Maske desStaates. Wählen sie die anerkannten Güter, dannist sowieso alles in Ordnung. Kommen sie zu rebel-lischen Beschlüssen, so entsprechen sie auftrumpfendder Nachfrage nach prächtigen, unabhängigen Män-nern. In jedem Fall billigen sie als gute Söhne dieStelle, welche sie zur Verantwortung ziehen könnte,und in deren Namen doch eigentlich der ganze in-wendige Prozeß angestrengt ward: der Blick, unterdem man wie zwei ungezogene Schuljungen sich zubalgen scheint, ist von vornherein der strafende.Kein Ringkampf ohne Richter: die ganze Balgereiist inszeniert von der ins Individuum eingewander-ten Gesellschaft, die zugleich den Kampf über-wacht und mitspielt. Sie triumphiert um so fataler,je oppositioneller die Resultate sind: Pfaffen undOberlehrer, deren Gewissen ihnen weltanschaulicheKonfessionen abnötigte, die sie mit ihren Behör-den in Schwierigkeiten brachten, sympathisiertenstets mit Verfolgung und Gegenrevolution. Wie

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dem sich selbst bestätigenden Konflikt ein wahn-haftes Element beigesellt ist, so liegt in der ange-drehten Dynamik der Selbstquälerei die Repres-sion auf dem Sprunge. Sie entfalten den ganzenseelischen Betrieb nur, weil es ihnen nicht erlaubtward, Wahn und Wut draußen loszulassen, undsind bereit, den Kampf mit dem inneren Feindwiederum in die Tat umzusetzen, die nach ihrerMeinung ohnehin am Anfang war. Ihr Prototyp istLuther, der Erfinder der Innerlichkeit, der seinTintenfaß dem leibhaftigen Teufel, den es nichtgibt, an den Kopf warf und schon die Bauern undJuden meinte. Nur der verkrüppelte Geist brauchtden Selbsthaß, um sein geistiges Wesen, das dieUnwahrheit ist, mit Brachialgewalt zu demon-strieren.

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Du mme r Aug us t . — Daß das Individuummit Haut und Haaren liquidiert werde, ist nochzu optimistisch gedacht. Wäre doch in seiner bün-digen Negation, der Abschaffung der Monade durchSolidarität, zugleich die Rettung des Einzelwesensangelegt, das gerade in seiner Beziehung aufs All-

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gemeine erst ein Besonderes würde. Weit entferntdavon ist der gegenwärtige Zustand. Das Unheilgeschieht nicht als radikale Auslöschung des Ge-wesenen, sondern indem das geschichtlich Verurteiltetot, neutralisiert, ohnmächtig mitgeschleppt wirdund schmählich hinunterzieht. Mitten unter denstandardisierten und verwalteten Menscheneinhei-ten west das Individuum fort. Es steht sogar unterSchutz und gewinnt Monopolwert. Aber es ist inWahrheit bloß noch die Funktion seiner eigenenEinzigkeitj ein Ausstellungsstück wie die Miß-geburten, welche einstmals von Kindern bestauntund belacht wurden. Da es keine selbständige öko-nomische Existenz mehr führt, gerät sein Charak-ter m Widerspruch mit seiner objektiven gesell-schaftlichen Rolle. Gerade um dieses Widerspruchswillen wird es im Naturschutzpark gehegt, inmüßiger Kontemplation genossen. Die nach Ame-rika importierten Individualitäten, die durch denImport bereits keine mehr sind, heißen colorfulPersonality. Ihr eifrig hemmungsloses Temperament,ihre quicken Einfälle, ihre „Originalität", wäre esauch nur besondere Häßlichkeit, selbst ihr Kauder-welsch verwerten das Menschliche als Clowns-kostüm. Da sie dem universalen Konkurrenzmecha-nismus unterliegen und durch nichts anderes dem

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Markt sich angleichen und durchkommen könnenals durch ihr erstarrtes Anderssein, so stürzen siesich passioniert ins Privileg ihres Selbst und über-treiben sich dermaßen, daß sie vollends ausrotten,wofür sie gelten. Sie pochen schlau auf ihre Naive-tät, welche, wie sie rasch herausbekommen, die Maß-gebenden so gern mögen. Sie verkaufen sich alsHerzenswärmer in der kommerziellen Kälte, schmei-cheln sich ein durch aggressive Witze, die von denProtektoren masochistisch genossen werden, und be-stätigen durch lachende Würdelosigkeit die ernsteWürde des Wirtsvolkes. Ähnlich mögen die Grae-culi im römischen Imperium sich benommen haben.Die ihre Individualität feilhalten, machen als ihreigener Richter freiwillig den Urteilsspruch sich zueigen, den die Gesellschaft über sie verhängt hat.So rechtfertigen sie auch objektiv das Unrecht, dasihnen widerfuhr. Die allgemeine Regression unter-bieten sie als privat Regredierte, und selbst ihrlauter Widerstand ist meist nur ein verschlageneresMittel der Anpassung aus Schwäche.

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Schwarze Post. — Wem nicht zu raten ist,ist nicht zu helfen, sagten die Bürger, die mit demRat, der nichts kostet, von der Hilfe sich loskaufenund zugleich Macht über den Erledigten gewinnenwollten, der zu ihnen kam. Aber es steckte wenig-stens noch der Appell an die Vernunft darin, dieIm Bittenden und im nicht Gewährenden als diegleiche vorgestellt war und von fern an Gerechtig-keit erinnerte: wer den klugen Rat befolgte, demmochte zuweilen selbst ein Ausweg sich zeigen. Dasist vorbei. Wer nicht helfen kann, sollte darum auchnicht raten: in einer Ordnung, in der alle Mause-löcher verstopft sind, wird der bloße Rat unmittel-bar zum Verdammungsurteil. Er läuft unweiger-lich darauf hinaus, daß der Bittende genau das tunmuß, wogegen am heftigsten sich sträubt, was vonseinem Ich etwa noch übrigblieb. Durch tausendSituationen gewitzigt, weiß er denn auch schonalles, was man ihm raten möchte, und kommt erst,wenn er mit der Klugheit zu Ende ist und etwasgeschehen müßte. Er wird nicht besser dabei. Wereinmal Rat wollte und keine Hilfe mehr findet,schließlich überhaupt der Schwächere, erscheint vor-weg als Erpresser, dessen Verhaltensweise in der

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Tat mit der Vertrustung unaufhaltsam sich aus-breitet. Man kann das am schärfsten an einem be-stimmten Typus von Hilfsbereiten beobachten,welche die Interessen bedürftiger und ohnmächtigerFreunde wahren, in ihrem Eifer jedoch etwas finsterDrohendes annehmen. Noch ihre letzte Tugend,Selbstlosigkeit, ist zweideutig. Während sie zu Rechtfür den eintreten, der nicht zugrunde gehen soll,steht hinter dem beharrlichen „Du mußt helfen"schon schweigende Berufung auf die Übermacht derKollektive und Gruppen, mit denen es zu verder-ben keiner mehr sich leisten kann. Indem sie denUnbarmherzigen nicht auslassen, werden die Barm-herzigen zu Sendboten der Unbarmherzigkeit.

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Taubs tummenans ta l t . — Während d ieSchulen die Menschen im Reden drillen wie in derersten Hilfe für die Opfer von Verkehrsunfällenund im Bau von Segelflugzeugen, werden die Ge-schulten immer stummer. Sie können Vorträge hal-ten, jeder Satz qualifiziert sie fürs Mikrophon, vordas sie als Stellvertreter des Durchschnitts plaziertwerden, aber die Fähigkeit miteinander zu spre-

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dien erstickt. Sie setzte mitteilenswerte Erfahrung,Freiheit zum Ausdruck, Unabhängigkeit zugleichund Beziehung voraus. Im allumgreifenden Systemwird Gespräch zur Bauchrednerei. Jeder ist seineigener Charlie McCarthy: daher dessen Populari-tät. Insgesamt werden die Worte den Formelngleich) die ehedem der Begrüßung und dem Ab-schied vorbehalten waren. Ein mit Erfolg auf diejüngsten Desiderate hin erzogenes Mädchen etwamüßte in jedem Augenblick genau sagen, was die-sem als einer „Situation" angemessen ist, und wo-für probate Anweisungen vorliegen. Solcher Deter-minismus der Sprache durdi Anpassung aber ist ihrEnde: die Beziehung zwischen Sache und Ausdrudeist durchschnitten, und wie die Begriffe der Posi-tivisten bloß noch Spielmarken sein sollen, so sinddie der positivistisdien Menschheit buchstäblich zuMünzen geworden. Es geschieht den Stimmen derRedenden, was der Einsicht der Psychologie zufolgeder des Gewissens widerfuhr, von deren Resonanzalle Rede lebt: sie werden bis in den feinsten Ton-fall durch einen gesellschaftlich präparierten Mecha-nismus ersetzt. Sobald er nicht mehr funktioniert,Pausen eintreten, die in den ungeschriebenen Ge-setzbüchern nicht vorgesehen waren, folgt Panik.Um ihretwillen hat man sich auf umständliches

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Spiel und andere Freizeitbeschäftigungen verlegt,die von der Gewissenslast der Sprache dispensierensollen. Der Schatten der Angst aber fällt verhäng-nisvoll über die Rede, die noch übrig ist. Unbefan-genheit und Sachlichkeit in der Erörterung vonGegenständen verschwinden noch im engsten Kreis,so wie in der Politik längst die Diskussion vomMachtwort abgelöst ward. Das Sprechen nimmteinen bösen Gestus an. Es wird sportifiziert. Manwill möglichst viele Punkte machen: keine Unter-haltung, in die nicht wie ein Giftstoff die Gelegen-heit zur Wette sich eindrängte. Die Affekte, die immenschenwürdigen Gespräch dem Behandelten gal-ten, heften sich verbohrt ans pure Rechtbehalten,außer allem Verhältnis zur Relevanz der Aussage.Als reine Machtmittel aber nehmen die entzauber-ten Worte magische Gewalt über die an, die siegebrauchen. Immer wieder kann man beobachten,daß einmal Ausgesprochenes, mag es noch so ab-surd, zufällig oder unrecht sein, weil es einmal ge-sagt ward, den Redenden als sein Besitz so tyran-nisiert, daß er nicht davon ablassen kann. Wörter,Zahlen, Termine machen, einmal ausgeheckt undgeäußert, sich selbständig und bringen jedem Un-heil, der in ihre Nähe kommt. Sie bilden eine Zoneparanoischer Ansteckung, und es bedarf aller Ver-

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nunft, um ihren Bann zu brechen. Die Magisierungder großen und nichtigen politischen Schlagwortewiederholt sich privat, bei den scheinbar neutral-sten Gegenständen: die Totenstarre der Gesellschaftüberzieht noch die Zelle der Intimität, die vor ihrsich geschützt meint. Nichts wird der Menschheitnur von außen angetan: das Verstummen ist derobjektive Geist.

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Vandalen. — Was seit dem Aufkommender großen Städte als Hast, Nervosität, Unstetig-keit beobachtet wurde, breitet nun so epidemischsich aus wie einmal Pest und Cholera. Dabei kom-men Kräfte zum Vorschein, von denen die pres-sierten Passanten des neunzehnten Jahrhundertsnichts sich träumen ließen. Alle müssen immerzuetwas vorhaben. Freizeit verlangt ausgeschöpft zuwerden. Sie wird geplant, auf Unternehmungenverwandt, mit Besuch aller möglichen Veranstal-tungen oder auch nur mit möglichst rascher Fort-bewegung ausgefüllt. Der Schatten davon fällt überdie intellektuelle Arbeit. Sie geschieht mit schlech-tem Gewissen, als wäre sie von irgendwelchen dring-

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lichen, wenngleich nur imaginären Beschäftigungenabgestohlen. Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen,praktiziert sie den Gestus des Hektischen, des Hoch-drucks, des unter Zeitnot stehenden Betriebs, derjeglicher Besinnung, ihr selber also, im Wege steht.Oft ist es, als reservierten die Intellektuellen fürihre eigentliche Produktion nur eben die Stunden,die ihnen von Verpflichtungen, Ausgängen, Verab-redungen und unvermeidlichen Vergnügungen übrigbleiben. Widerwärtig, doch einigermaßen rationalist noch der Prestigegewinn dessen, der als so wich-tiger Mann sich präsentieren kann, daß er überalldabei sein muß. Er stilisiert sein Leben mit absicht-lich schlecht gespielter Unzufriedenheit als eineneinzigen acte de pre'sence. Die Freude, mit der ereine Einladung unter Hinweis auf eine bereits ak-zeptierte ablehnt, meldet den Triumph in der Kon-kurrenz an. "Wie darin, so wiederholen sich allgemeindie Formen des Produktionsprozesses imPrivatlebenoder in den von jenen Formen ausgenommenen Be-reichen der Arbeit. Das ganze Leben soll wie Berufaussehen und durch solche Ähnlichkeit verbergen,was noch nicht unmittelbar dem Erwerb gewidmetist. Die Angst, die darin sich äußert, reflektiert abernur eine viel tiefere. Die unbewußten Innervatio-nen, die jenseits der Denkprozesse die individuelle

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Existenz auf den historischen Rhythmus einstim-men, gewahren die heraufziehende Kollektivierungder Welt. Da jedoch die integrale Gesellschaft nichtsowohl die Einzelnen positiv in sich aufhebt, als viel-mehr zu einer amorphen und fügsamen Masse siezusammenpreßt, so graut jedem einzelnen vor demals unausweichlich erfahrenen Prozeß des Aufge-saugtwerdens. Doing things and going places istein Versuch des Sensoriums, eine Art Reizschutzgegen die drohende Kollektivierung herzustellen,auf diese sich einzuüben, indem man gerade in denscheinbar der Freiheit überlassenen Stunden sich sel-ber als Mitglied der Masse schult. Die Technikdabei ist, die Gefahr womöglich zu überbieten. Manlebt gewissermaßen noch schlimmer, also mit nochweniger Ich, als man erwartet leben zu müssen. Zu-gleich lernt man durch das spielerische Zuviel anSelbstaufgabe, daß einem im Ernst ohne Ich zuleben nicht schwerer fallen könnte sondern leichter.Dabei hat man es sehr eilig, denn beim Erdbebenwird nicht geläutet. Wenn man nicht mitmacht, unddas will sagen, wenn man nicht leibhaft im Stromder Menschen schwimmt, fürchtet man, wie beimallzu späten Eintritt in die totalitäre Partei, denAnschluß zu verpassen und die Rache des Kollek-tivs auf sich zu ziehen. Pseudoaktivität ist eine

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Rückversicherung, der Ausdruck der Bereitschaftzur Selbstpreis gäbe, durch die einzig man noch dieSelbsterhaltung zu garantieren ahnt. Sekurität winktin der Anpassung an die äußerste Insekurität. Siewird als Freibrief auf die Flucht vorgestellt, dieeinen möglichst rasch an einen anderen Ort bringt.In der fanatischen Liebe zu den Autos schwingt dasGefühl physischer Obdachlosigkeit mit. Es liegtdem zugrunde, was die Bürger zu Unrecht die Fluchtvor sich selbst, vor der inneren Leere zu nennenpflegten. Wer mit will, darf sich nicht unterscheiden.Psychologische Leere ist selber erst das Ergebnis derfalschen gesellschaftlichen Absorption. Die Lange-weile, vor der die Menschen davonlaufen, spiegeltbloß den Prozeß des Davonlaufens zurück, in demsie längst begriffen sind. Darum allein erhält dermonströse Vergnügungsapparat sich am Leben undschwillt immer mehr auf, ohne daß ein einzigerVergnügen davon hätte. Er kanalisiert den Drangdabei zu sein, der sonst wahllos, anarchisch, alsPromiskuität oder wilde Aggression dem Kollektivsich an den Hals werfen würde, das zugleich dochaus niemand anderem besteht als aus denen unter-wegs. Am nächsten verwandt sind sie den Süchtigen.Ihr Impuls reagiert exakt auf die Dislokation derMenschheit, wie sie von der trüben Verwischung

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des Unterschieds von Stadt und Land, der Ab-schaffung des Hauses, über die Züge von MillionenErwerbsloser, bis zu den Deportationen und Völ-kerverschiebungen im verwüsteten europäischenKontinent führt. Das Nichtige, Inhaltslose allerkollektiven Rituale seit der Jugendbewegung stelltnachträglich als tastende Vorwegnahme übermäch-tiger historischer Schläge sich dar. Die Unzähligen,die plötzlich der eigenen abstrakten Quantität undMobilität; dem von der Stelle Kommen in Schwär-men wie einem Rauschgift verfallen, sind Rekrutender Völkerwanderung, in deren verwilderten Räu-men die bürgerliche Geschichte zu verenden sichanschickt.

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B i l d e r b u c h ohne B i l d e r . — Der objek-tiven Tendenz der Aufklärung, die Macht allerBilder über die Menschen zu tilgen, entspricht keinsubjektiver Fortschritt des aufgeklärten Denkenszur Bilderlosigkeit. Indem der Bildersturm nach denmetaphysischen Ideen unaufhaltsam die ehedem alsrational verstandenen, die eigentlich gedachten Be-griffe demoliert, geht das von Aufklärung entbun-

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dene und gegen Denken geimpfte Denken in zweiteBildlichkeit, eine bilderlose und befangene, über.Mitten im Netz der ganz abstrakt gewordenen Be-ziehungen der Menschen untereinander und zu denSachen entschwindet die Fähigkeit zur Abstraktion.Die Entfremdung der Schemata und Klassifikationenvon den darunter befaßten Daten, ja die reineQuantität des verarbeiteten Materials, die demUmkreis der einzelmenschlichen Erfahrung ganz in-kommensurabel geworden ist, zwingt unablässigzur archaischen Rückübersetzung in sinnliche Zeichen.Die Männchen und Häuschen, die hieroglyphen-haft die Statistik durchsetzen, mögen in jedem Ein-zelfall akzidentiell, als bloße Hilfsmittel erscheinen.Aber sie sehen nicht umsonst ungezählten Rekla-men, Zeitungsstereotypen, Spielzeugfiguren so ähn-lich. In ihnen siegt die Darstellung übersDargestellte.Ihre übergroße, simplistische und daher falscheVerständlichkeit bekräftigt die UnverständHdhkeitder intellektuellen Verfahren selber, die von derenFalschheit — der blinden begriffslosen Subsum-tion — nicht getrennt werden kann. Die allgegen-wärtigen Bilder sind keine, weil sie das ganz Allge-meine, den Durchschnitt, das Standardmodell alsje Eines, Besonderes präsentieren zugleich und ver-lachen. Aus der Abschaffung des Besonderen wird

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auch noch hämisch das Besondere gemacht. Das Ver-langen danach hat sich bereits im Bedürfnis sedimen-tiert und wird allerorten von der Massenkultur,nach dem Muster der Funnies, vervielfacht. Waseinmal Geist hieß, wird von Illustration abgelöst.Nicht bloß daß die Menschen sidi nicht mehr vor-zustellen vermögen, was ihnen nicht abgekürzt ge-zeigt und eingedrillt wird. Sogar der Witz, in demeinmal die Freiheit des Geistes mit den Faktenzusammenstieß und diese explodieren machte, istan die Illustration übergegangen. Die Bildwitze,welche die Magazine füllen, sind großenteils ohnePointe, sinnleer. Sie bestehen in nichts anderem alsin der Herausforderung des Auges zum Wettkampfmit der Situation. Man soll, durch ungezählte Prä-zedenzfälle geschult, rascher sehen, was „los ist",als die Bedeutungsmomente der Situation sich ent-falten. Was von solchen Bildern vorgemacht, vomgewitzigten Betrachter nachvollzogen wird, ist, imEinschnappen auf die Situation, in der widerstands-losen Unterwerfung unter die leere Übermacht derDinge alles Bedeuten wie einen Ballast abzuwerfen.Der zeitgemäße Witz ist der Selbstmord der Inten-tion. Wer ihn begeht, findet sich belohnt durch Auf-nahme ins Kollektiv der Lacher, welche die grau-samen Dinge auf ihrer Seite haben. Wollte man

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solche Witze denkend zu verstehen trachten, so bliebeman hilflos hinterm Tempo der losgelassenen Sachenzurück, die in der einfachsten Karikatur noch rasenwie in der Hetzjagd am Ende des Trickfilms. Ge-scheitheit wird ganz unmittelbar zur Dummheit imAngesicht des regressiven Fortschritts. Dem Gedan-ken bleibt kein Verstehen als das Entsetzen vormUnverständlichen. Wie der besonnene Blick, derdem lachenden Plakat einer Zahnpastaschönheit be-gegnet, in ihrem angestellten Grinsen der Qual derFolter gewahr wird, so springt ihm aus jedem Witz,ja eigentlich aus jeder Bilddarstellung das Todes-urteil übers Subjekt entgegen, das im universalenSieg der subjektiven Vernunft eingeschlossen liegt.

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I n t e n t i o n u n d A b b i l d . — Der Pseudo-realismus der Kulturindustrie, ihr Stil, bedarf nichterst der betrügerischen Veranstaltung der Film-magnaten und ihrer Lakaien, sondern wird unterden herrschenden Bedingungen der Produktion vomStilprinzip des Naturalismus selber erzwungen.Wollte nämlich, etwa nach der Forderung Zolas,der Film sich blind der Darstellung des alltäglichen

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Lebens überlassen, wie es mit den Mitteln der be-wegten Photographie und der Klangaufnahme inder Tat durchzuführen wäre, so entstünde ein denSehgewohnheiten des Publikums fremdes, diffuses,nach außen unartikuliertes Gebilde. Der radikaleNaturalismus, den die Technik des Films nahe-legt, würde jeglichen Sinnzusammenhang an derOberfläche auflösen und in den äußersten Gegen-satz zum vertrauten Realismus geraten. Der Filmwürde in den assoziativen Strom der Bilder über-gehen und seine Form einzig als deren reine, imma-nente Konstruktion empfangen. Bemüht er sich je-doch aus kommerzieller Rücksicht, oder selbst einersachlichen Intention zuliebe, statt dessen Worte undGesten so zu wählen, daß sie auf eine sinnverleihendeIdee bezogen werden, so gerät der vielleicht unver-meidliche Versuch in ebenso unvermeidlichen Wider-spruch mit der naturalistischen Voraussetzung. Diegeringere Dichte der Abbildlichkeit in der naturali-stischen Literatur ließ für Intentionen noch Raum:in dem lückenlosen Gefüge der Verdoppelung derRealität durch die technische Apparatur des Filmswird jede Intention, und wäre es selbst die Wahr-heit, zur Lüge. Das Wort, das dem Zuhörer denCharakter des Redenden oder gar die Bedeutungdes Ganzen einhämmern soll, klingt, verglichen mit

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der buchstäblichen Treue des Abbilds, „unnatürlich".Es rechtfertigt schon die Welt als selber gleicher-maßen sinnvolle, ehe nur der erste planvolle Schwin-del, die erste eigentliche Entstellung begangen ist.So redet kein Mensch, so bewegt sich kein Mensch,während der Film immerzu urgiert, so täten es alle.Man ist in einer Falle: der Konformismus wird apriori vom Bedeuten an sich bewirkt, gleichgültigwas die konkrete Bedeutung sein mag, währenddoch nur durch Bedeuten der Konformismus, dierespektvolle Wiederholung des Faktischen, erschüt-tert werden könnte. Wahre Intentionen wären mög-lich erst beim Verzicht auf die Intention. Daß dieseund der Realismus unvereinbar, daß die Synthesezur Lüge wurde, liegt am Begriff der Deutlichkeit.Er ist zweideutig. Ungeschieden bezieht er sich aufdie Organisation der Sache als solcher und auf ihreÜbermittlung ans Publikum. Diese Zweideutigkeitaber ist kein Zufall. Deutlichkeit bezeichnet den In-differenzpunkt von objektiver Vernunft und Kom-munikation. In ihr ist das Recht enthalten, daß dieobjektive Gestalt, der realisierte Ausdruck aus sichheraus nach außen sich wendet und spricht, und dasUnrecht, die Gestalt durch Einrechnung des Ange-redeten zu verderben. Eine jede künstlerische, auchtheoretische Arbeit muß der Not solchen Doppel-

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sinns gewachsen sich zeigen. Deutliche Gestaltung,sei sie noch so esoterisch, gibt dem Konsum nach;undeutliche ist dilettantisch nach ihren immanentenKriterien. Die Qualität entscheidet sich nach derTiefe, in der das Gebilde die Alternative in sichselbst aufnimmt und so sie meistert.

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Staatsaktion. — Fürs Absterben der Kunstspricht die zunehmende Unmöglichkeit der Darstel-lung des Geschichtlichen. Daß es kein zureichendesDrama über den Faschismus gibt, liegt nicht amMangel an Talent, sondern das Talent verküm-mert an der Unlösbarkeit der dringlichsten Aufgabedes Dichters. Er hat zwischen zwei Prinzipien zuwählen, die beide der Sache gleich unangemessensind: der Psychologie und dem Infantilismus. Jene,mittlerweile ästhetisch veraltet, ist von den bedeu-tenden Künstlern als Trick und mit schlechtem Ge-wissen gehandhabt worden, seitdem das neuereDrama seinen Gegenstand in der Politik zu erblik-ken lernte. In Schillers Vorrede zu Fiesco heißt es:"Wenn es wahr ist, daß nur Empfindung Empfin-dung weckt, so müßte, däucht mich, der politische

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Held in eben dem Grade kein Subjekt für die Bühneseyn, in welchem er den Menschen hintansetzenmuß, um der politische Held zu seyn. Es stand da-bei nicht bei mir, meiner Fabel jene lebendige Gluteinzuhauchen, welche durch das lautere Produktder Begeisterung herrscht, aber die kalte, unfrucht-bare Staatsaktion aus dem menschlichen Herzenherauszuspinnen, und eben dadurch an das mensch-liche Herz wieder anzuknüpfen — den Mann durchden staatsklugen Kopf zu verwickeln — und vonder erfinderischen Intrigue Situationen für dieMenschheit zu entlehnen — das stand bei mir. MeinVerhältnis mit der bürgerlichen Welt machte michauch mit dem Herzen bekannter, als mit dem Kabi-nett, und vielleicht ist eben diese politische Schwächezu einer poetischen Tugend geworden." Schwerlich.Die Anknüpfung der entfremdeten Geschichte ansmenschliche Herz war schon bei Schiller ein Vor-wand, die Unmenschlichkeit der Geschichte alsmenschlich-verständlich zu rechtfertigen, und wurdedramaturgisch Lügen gestraft, wann immer dieTechnik den „Mann" und den „staatsklugen Kopf"in eins setzte; so bei der buffonesk-zufälligen Er-mordung Leonores durch den Verräter seiner eige-nen Verschwörung. Die Tendenz zur ästhetischenReprivatisierung zieht der Kunst den Boden unter

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den Füßen fort, während sie den Humanismus zukonservieren trachtet. Die Kabalen der allzu gutgebauten Stücke Schillers sind ohnmächtige Hilfs-konstruktionen zwischen den Leidenschaften derMenschen und der ihnen bereits inkommensurablenund darum in menschlichen Motivationen nichtmehr greifbaren sozialen und politischen Realität.Jüngst ist daraus der Eifer der biographischenSchundliteratur geworden, berühmte Leute unbe-rühmten menschlich näher zu bringen. Dem gleichenDrang zur falschen Vermenschlichung entspringtdie berechnende Wiedereinführung des plots, derHandlung als eines einstimmigen, nachvollziehbarenSinnzusammenhangs. Dieser wäre unter den Vor-aussetzungen des photographischen Realismus imFilm nicht zu halten. Indem man ihn willkürlichrestauriert, fällt man hinter die Erfahrungen dergroßen Romane zurück, von denen der Film para-sitär lebt; sie besaßen ihren Sinn gerade in der Auf-lösung des Sinnzusammenhangs.

Macht man jedoch mit all dem reinen Tisch undsucht die politische Sphäre in ihrer Abstraktheitund Außermenschlichkeit darzustellen, unter Aus-schluß der trugvollen Vermittlungen des Inwen-digen, so fährt man nicht besser. Denn es ist geradedie essentielle Abstraktheit dessen, was wirklich sich

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ereignet, die dem ästhetischen Bilde schlechterdingssich verweigert. Um sie überhaupt ausdrucksfähigzu machen, sieht der Dichter sich gezwungen, sie ineine Art Kindersprache, in Archetypen zu überset-zen und so ein zweites Mal „nahezubringen" —nicht länger der Einfühlung, aber jenen Instanzender auffassenden Betrachtung, die noch vor der Kon-stitution der Spradie liegen, deren selbst das epischeTheater nicht entraten kann. Der Appell an dieseInstanzen sanktioniert formal bereits die Auflösungdes Subjekts in der kollektiven Gesellschaft. DasObjekt aber wird von solcher Übersetzungsarbeitkaum weniger verfälscht als ein Religionskrieg durchdie Deduktion aus den erotischen Nöten einer Kö-nigin. Denn so infantil wie die simplistische Dra-matik sind heute gerade die Menschen, deren Dar-stellung sie abschwört. Die politische Ökonomiejedoch, deren Darstellung sie sich statt dessen zurAufgabe setzt, ist unverändert im Prinzip, dochin jedem ihrer Momente so differenziert und fort-geschritten, daß sie der schematischen Parabel sichentzieht. Vorgänge innerhalb der großen Industrieals solche zwischen gaunerhaften Gemüsehändlernzu präsentieren, reicht eben aus für den schnell ver-brauchten Schock, nicht aber für die dialektischeDramatik. Die Illustration des späten Kapitalismus

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durch Bilder aus dem agraren oder kriminalistischenVorstellungsschatz läßt nicht das Unwesen der heu-tigen Gesellschaft aus seiner Vermummung durchkomplizierte Phänomene rein hervortreten. Son-dern die Unbesorgtheit um die Phänomene, die sel-ber aus dem Wesen zu entfalten wären, entstelltdas Wesen. Sie interpretiert die Machtübernahmedurch die Größten harmlos als Machination vonRackets außerhalb der Gesellschaft, nicht als dasZusichselbstkommen der Gesellschaft an sich. DieUndarstellbarkeit des Faschismus aber rührt daher,daß es in ihm so wenig wie in seiner BetrachtungFreiheit des Subjekts mehr gibt. Vollendete Unfrei-heit läßt sich erkennen, nicht darstellen. Wo in po-litischen Erzählungen heute Freiheit als Motiv vor-kommt, wie beim Lob heroischen Widerstands, hat esdas Beschämende der ohnmächtigen Versicherung. DerAusgang wirkt allemal als durch die große Politikvorgezeichnet, und Freiheit selber triu ideologisch,als Rede über Freiheit, mit stereotypen Deklama-tionen, nicht in menschlich kommensurablen Hand-lungen hervor. Kunst läßt nach der Auslöschung desSubjekts amwenigsten durch dessenAusstopfungsichretten, und das Objekt, das heute ihrer allein würdigwäre, das reine Unmenschliche, entzieht sich ihrzugleich durch Unmaß und Unmenschlichkeit.

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Dämpfer und Trommel . — Geschmackist der treueste Seismograph der historischen Erfah-rung. Wie kaum ein anderes Vermögen ist er fähig,sogar das eigene Verhalten aufzuzeichnen. Erreagiert gegen sich selber und erkennt sich als ge-schmacklos. Künstler, die abstoßen, chokieren, Spre-cher der ungemilderten Grausamkeit lassen in ihrerIdiosynkrasie vom Geschmack sich leiten: das GenreStill und Fein jedoch, die Domäne der neuroman-tisch Nervösen, Sensiblen liegt selbst bei ihren Pro-tagonisten als so derb und ahnungslos zutage wieder Rilkevers „Denn Armut ist ein großer Glanzaus Innen..." Der zarte Schauder, das Pathos desVerschiedenseins sind nur noch genormte Maskenim Kult der Unterdrückung. Gerade den ästhetischavancierten Nerven ist das selbstgerecht Ästhetischeunerträglich geworden. So durch und durch ge-schichtlich ist das Individuum, daß es mit dem fei-nen Gefädel seiner spätbürgerlichen Organisationgegen das feine Gefädel spätbürgerlicher Organi-sation zu rebellieren vermag. Im Widerwillen gegenallen künstlerischen Subjektivismus, gegen Aus-druck und Beseeltheit sträuben sich die Haaregegen den Mangel an historischem Takt, nicht

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anders als nur je der Subjektivismus selber vor denbürgerlichen Convenus zurückzuckte. Noch die Ab-sage an die Mimesis, das innerste Anliegen der neuenSachlichkeit, ist mimetisch. Das Urteil über densubjektiven Ausdruck wird nicht von außen gefällt,in politisch-gesellschaftlicher Reflexion, sondern inunmittelbaren Regungen, deren jegliche, im Ange-sicht der Kulturindustrie zur Scham gezwungen, ihrAntlitz abwendet von ihrem Spiegelbild. Obenansteht die Verfemung des erotischen Pathos, von derdie Verschiebung der lyrischen Akzente nicht we-niger Zeugnis ablegt, als die unter einem kollektivenBann stehende Sexualität in den Dichtungen Kaf-kas. In der Kunst seit dem Expressionismus ist dieHure zur Schlüsselfigur geworden, während sie inder Realität ausstirbt, weil einzig an der Schamlosendas Geschlecht ohne ästhetische Beschämung nochgestaltet werden kann. Solche Verschiebungen dertiefsten Reaktionsweise haben es dahin gebracht,daß Kunst in ihrer individualistischen Gestalt ver-fiel, ohne daß sie als kollektive möglich wäre. Essteht nicht bei der Treue und Unabhängigkeit deseinzelnen Künstlers, unbeirrt an der Sphäre des Ex-pressiven festzuhaken und dem brutalen Zwangder Kollektivierung sich entgegenzusetzen, sonderner muß diesen Zwang noch in den geheimsten Zel-

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len seiner Isoliertheit, und wäre es gegen seinenWillen, verspüren, wenn er nicht durch anachro-nistische Humanität hinterm Inhumanen unwahrund hilflos zurückbleiben will. Selbst der intran-sigente literarische Expressionismus, die LyrikStramms, die Dramen Kokoschkas zeigen als Kehr-seite ihres echten Radikalismus einen naiven, liberal-vertrauensvollen Aspekt. Der Fortschritt über siehinaus aber ist nicht weniger fragwürdig. Kunst-werke, die wissend die Harmlosigkeit der absolutenSubjektivität beseitigen wollen, erheben damit denAnspruch einer positiven Gemeinsamkeit, die nichtin ihnen selbst gegenwärtig, sondern willkürlichzitiert ist. Das macht sie zum bloßen Sprachrohr desVerhängnisses und zur Beute der letzten Naivetät,die sie aufhebt: der, überhaupt noch Kunst zu sein.Die Aporie der verantwortlichen Arbeit kommt derunverantwortlichen zugute. Gelingt es einmal, dieNerven ganz abzuschaffen, so ist gegen die Renais-sance des Liederfrühlings kein Kraut gewachsen,und der Volksfront vom barbarischen Futurismusbis zur Ideologie des Films steht nichts mehr imWege.

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J a n u s p a l a s t . — Wollte man sich darauf ein-lassen, das System der Kulturindustrie in großewelthistorische Perspektiven zu stellen, so wäre esals die planmäßige Ausbeutung des uralten Bruchszwischen den Menschen und ihrer Kultur zu defi-nieren. Der Doppelcharakter des Fortschritts, derstets zugleich das Potential der Freiheit und dieWirklichkeit der Unterdrückung entwickelte, hat esmit sich gebracht, daß die Völker immer vollstän-diger der Naturbeherrschung und gesellschaftlichenOrganisation eingeordnet wurden, daß sie aber zu-gleich vermöge des Zwangs, den Kultur ihnen an-tat, unfähig wurden, das zu verstehen, womit Kul-tur über solche Integration hinausging. Fremd istden Menschen das Menschliche an der Kultur ge-worden, das Nächste, das ihre eigene Sache gegendie Welt vertritt. Sie machen mit der Welt gemein-same Sache gegen sich, und das Entfremdetste, dieAllgegenwart der Waren, ihre eigene Herrichtungzu Anhängseln der Maschinerie wird ihnen zumTrugbild der Nähe. Die großen Kunstwerke undphilosophischen Konstruktionen sind nicht um ihrerallzu großen Distanz vom Kern der menschlichenErfahrung, sondern um des Gegenteils willen un-

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verstanden geblieben, und das Unverständnis selberließe leicht genug auf allzu großes Verständnis sichzurückführen: Scham über die Teilhabe am univer-salen Unrecht, die übermächtig würde, sobald manzu verstehen sich gestattete. Dafür klammern sie sichan das, was ihrer spottet, indem es die verstüm-melte Gestalt ihres Wesens durch die Glätte seinereigenen Erscheinung bestätigt. Von solcher unaus-weichlichen Verblendung haben zu allen Zeitenstädtischer Zivilisation Lakaien des Bestehenden pa-rasitär existiert: die spätere attische Komödie, dashellenistische Kunstgewerbe sind schon Kitsch, auchwenn sie noch nicht über die Technik der mecha-nischen Reproduktion und jene industrielle Appa-ratur verfügen, deren Urbild die Ruinen von Pom-peji geradeswegs zu beschwören scheinen. Liest manhundert Jahre alte Unterhaltungsromane wie dieCoopers, so findet man darin rudimentär das ganzeSchema von Hollywood. Die Stagnation der Kultur-industrie ist wahrscheinlich nicht erst das Resultatihrer Monopolisierung, sondern war der sogenanntenUnterhaltung von Anbeginn eigen. Der Kitsch istjenes Gefüge von Invarianten, das die philoso-phische Lüge ihren feierlichen Entwürfen zuschreibt.Nichts darin darf sich grundsätzlich ändern, weilder ganze Unfug der Menschheit einhämmern muß,

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daß nichts sich ändern darf. Solange aber der Gangder Zivilisation planlos und anonym sich vollzog,ist der objektive Geist jenes barbarischen Elementsals eines ihm notwendig innewohnenden sich nichtbewußt gewesen. Im Wahn, unmittelbar der Frei-heit zu helfen, wo er die Herrschaft vermittelte,hat er es wenigstens verschmäht, unmittelbar zuderen Reproduktion herzuhalten. Er hat den Kitsch,der ihn wie sein Schatten begleitete, mit einem Eiferverfemt, in dem freilich selber wieder das schlechteGewissen der hohen Kultur sich ausspricht, die ahnt,daß sie es unter der Herrschaft nicht ist, und dievom Kitsch an ihr eigenes Unwesen erinnert wird.Heute, da das Bewußtsein der Herrschenden mitder Gesamttendenz der Gesellschaft zusammenzu-fallen beginnt, zergeht die Spannung von Kulturund Kitsch. Kultur schleift nicht länger ohnmächtigihren verachteten Widersacher hinter sich her, son-dern nimmt ihn in Regie. Indem sie die ganzeMenschheit verwaltet, verwaltet sie auch den Bruchzwischen Menschheit und Kultur. Noch über Roheit,Stumpfheit und Beschränktheit, die den Unterwor-fenen objektiv auferlegt sind, wird mit subjektiverSouveränität im Humor verfügt. Nichts bezeichnetden zugleich integralen und antagonistischen Zu-stand genauer als solcher Einbau der Barbarei. Da-

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bei aber kann der Wille der Verfügenden auf denWeifwillen sich berufen. Ihre Massengesellschaft hatnicht erst den Schund für die Kunden, sondern dieKunden selber hervorgebracht. Diese haben nachFilm, Radio und Magazin gehungert; was immer inihnen unbefriedigt blieb durch die Ordnung, dieihnen nimmt, ohne dafür zu geben, was sie ver-spricht, hat nur darauf gebrannt, daß der Kerker-meister ihrer sich erinnere und ihnen endlich mit derlinken Hand Steine anbietet für den Hunger, demdie Rechte das Brot vorenthält. Widerstandslos lau-fen seit einem Vierteljahr hundert ältere Bürger, dienoch vom andern wissen sollten, der Kulturindustriezu, welche die darbenden Herzen so genau auskal-kuliert. Sie haben keinen Grund, über jene Jugendsich zu entrüsten, die vom Faschismus bis ins Markverdorben worden sei. Die Subjektlosen, kulturellEnterbten sind die echten Erben der Kultur.

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Monade. — Das Individuum verdankt seineKristallisation den Formen der politischen Öko-nomie, insbesondere dem städtischen Marktwesen.Noch als Opponent des Druckes der Vergesellschaf-

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tung bleibt es deren eigenstes Produkt und ihr ähn-lich. Was ihm den Widerstand erlaubt, jeder Zugvon Unabhängigkeit, entspringt im monadologischenEinzelinteresse und dessen Niederschlag als Cha-rakter. Das Individuum spiegelt gerade in seinerIndividuation das vorgeordnete gesellschaftliche Ge-setz der sei's noch so sehr vermittelten Exploitationwider. Das besagt aber auch, daß sein Verfall in dergegenwärtigen Phase selber nicht individualistisch,sondern aus der gesellschaftlichen Tendenz abge-leitet werden muß, wie sie vermöge der Individua-tion und nicht als deren bloßer Feind sich durch-setzt. Daran scheidet sich die reaktionäre Kritik derKultur von der anderen. Die reaktionäre erreichtoft genug die Einsicht in den Verfall der Indivi-dualität und die Krise der Gesellschaft, aber bürdetdie ontologische Verantwortung dafür dem Indivi-duum an sich, als einem losgelösten und inwendigen,auf: daher ist der Einwand der Flachheit, Glaubens-losigkeit, Substanzlosigkeit das letzte Wort, das siezu sagen hat, und Umkehr ihr Trost. Individualistenwie Huxley und Jaspers verdammen das Indivi-duum um seiner mechanischen Leere und neuro-tischen Schwäche willen, aber es ist der Sinn ihresVerdammungsurteils, lieber noch es selber zu opfernals Kritik am gesellschaftlichen principium indivi-

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duationis zu üben. Ihre Polemik ist als halbe Wahr-heit schon die ganze Unwahrheit. Die Gesellschaftwird dabei als das unmittelbare Zusammenlebenvon Menschen angesprochen, aus deren Haltunggleichsam das Ganze folgt, anstatt als ein System,das sie nicht bloß umklammert und deformiert, son-dern noch in jene Humanität hinabreicht, die sieeinmal als Individuen bestimmte. Durch die all-menschliche Interpretation des Zustands, wie er ist,wird noch in der Anklage die krude materielle Rea-lität hingenommen, die das Menschsein an die Un-menschlichkeit bindet. In seinen besseren Tagen hatdas Bürgertum, wo es historisch reflektierte, vonsolcher Verflochtenheit sehr wohl gewußt, und erstseitdem seine Doktrin zur sturen Apologetik gegenden Sozialismus entartet ist, hat sie daran ver-gessen. Unter den Verdiensten von Jakob Burck-hardts griechischer Kulturgeschichte ist nicht das ge-ringste, daß er die Verödung der hellenistischenIndividualität nicht bloß mit dem objektiven Ver-fall der Polis, sondern gerade mit dem Kultus desIndividuums zusammenbringt: „An politischen Per-sönlichkeiten aber wird die Stadt seit dem Tode desDemosthenes und des Phokion erstaunlich arm, undnicht bloß an diesen, sondern der schon 342 in einerattischen Kleruchenfamilie auf Samos geborene

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Epikur ist überhaupt der letzte weltgeschichtlicheAthener" (3. Aufl., 4. Band, S. 515). Der Zustand, indem das Individuum verschwindet, ist zugleich derfessellos individualistische, in dem „alles möglich"ist: „Vor allem feiert man jetzt Individuen stattGötter" (ibd. S. 516). Daß die Freisetzung des In-dividuums durch die ausgehöhlte Polis nicht etwaden Widerstand stärkt, sondern ihn, ja die Indivi-dualität selber eliminiert, wie es dann in Diktatur-staaten sich vollendet, ist das Modell eines derzentralen Widersprüche, die vom neunzehnten Jahr-hundert in den Faschismus trieben. BeethovensMusik, deren Schauplatz die gesellschaftlich über-mittelten Formen sind und die, asketisch gegen denprivaten Gefühlsausdruck, widerhallt vom bestimmtgelenkten Echo des gesellschaftlichen Kampfes, ziehtgerade aus solcher Askese alle Fülle und Gewalt desIndividuellen. Die von Richard Strauß, ganz demindividuellen Anspruch dienstbar und auf die Ver-herrlichung des selbstgenügsamen Individuums ausge-richtet, setzt es eben damit zum bloßen Rezeptions-organ des Marktes, zum Nachbildner unverbindlichausgewählter Ideen und Stile herab. Innerhalbder repressiven Gesellschaft kommt die Emanzi-pation des Individuums diesem nicht bloß zugute,sondern tut ihm Eintrag. Freiheit von der Gesell-

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schaft beraubt es der Kraft zur Freiheit. Denn soreal es in seiner Beziehung zu anderen sein mag, esist, als Absolutes betrachtet, eine bloße Abstraktion.Es hat keinerlei Inhalt, der nicht gesellschaftlichkonstituiert, keine über die Gesellschaft hinaus-gehende Regung, die nicht darauf gerichtet wäre,daß der gesellschaftliche Zustand über sich selberhinausgeht. Noch die christliche Lehre von Tod undUnsterblichkeit, in der die Konzeption der abso-luten Individualität gründet, wäre ganz nichtig,wenn sie nicht die Menschheit einschlösse. Der Ein-zelne, der absolut und für sich allein auf Unsterb-lichkeit hofft, würde in solcher Beschränkung nurdas Prinzip der Selbstcrhaltung ins Widersinnigevergrößern, dem das Wirf weg, damit du gewinnst,Einhalt gebietet. Gesellschaftlich zeigt die Ver-absolutierung des Individuums den Übergang vonder universalen Vermittlung des gesellschaftlichenVerhältnisses, die als Tausch stets zugleich auch Ein-schränkung des in diesem realisierten je eigenen In-teresses erheischt, zur unmittelbaren Herrschaft an,deren die Stärksten sich bemächtigen. Durch, dieseAuflösung alles Vermittelnden im Individuum sel-ber, vermöge dessen es doch auch ein Stück ge-sellschaftliches Subjekt war, verarmt, verroht undregrediert es auf den Stand des bloßen gesellschaft-

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lichen Objekts. Als im Hegelschen Sinn abstraktverwirklichtes hebt das Individuum sich selber auf:die Zahllosen, die nichts mehr kennen als sich undihr nacktes schweifendes Interesse, sind die gleichen,die kapitulieren, sobald Organisation und Terrorsie einfängt. Wenn heute die Spur des Menschlicheneinzig am Individuum als dem untergehenden zuhaften scheint, so mahnt sie, jener Fatalität ein Endezu machen, welche die Menschen individuiert, einzig,um sie in ihrer Vereinzelung vollkommen brechenzu können. Das bewahrende Prinzip ist allein nochin seinem Gegenteil aufgehoben.

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Vermächtnis. — Dialektisches Denken istder Versuch, den Zwangscharakter der Logik mitderen eigenen Mitteln zu durchbrechen. Aber indemes dieser Mittel sich bedienen muß, steht es in jedemAugenblick in Gefahr, dem Zwangscharakter selberzu verfallen: die List der Vernunft möchte nochgegen die Dialektik sich durchsetzen. Nicht andersläßt das Bestehende sich überschreiten als vermöge desAllgemeinen, das dem Bestehenden selbst entlehntist. Das Allgemeine triumphiert übers Bestehende

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durch dessen eigenen Begriff, und darum droht insolchem Triumph die Macht des bloß Seiendenstets sich wiederherzustellen aus der gleichen Ge-walt, die sie brach. Durch die Alleinherrschaft derNegation wird nach dem Schema des immanentenGegensatzes die Bewegung des Gedankens wie derGeschichte eindeutig, ausschließlich, mit unerbitt-licher Positivität geführt. Alles wird unter die inder gesamten Gesellschaft historisch je maßgebendenwirtschaftlichen Hauptphasen und ihre Entfaltungsubsumiert: das ganze Denken hat etwas von dem,was Pariser Künstler le genre chef d'oeuvre nennen.Daß das Unheil gerade von der Stringenz solcherEntfaltung bewirkt wird; daß jene geradezu mit derHerrschaft zusammenhängt, ist in der kritischenTheorie zumindest nicht explizit, welche wie dietraditionelle vom Stufengang auch das Heil erwar-tet. Stringenz und Totalität, die bürgerlichen Denk-ideale von Notwendigkeit und Allgemeinheit, um-schreiben in der Tat die Formel der Geschichte, abereben darum schlägt in den festgehaltenen herrschaft-lich großen Begriffen die Verfassung der Gesell-schaft sich nieder, gegen welche dialektische Kri-tik und Praxis sich richtet. Wenn Benjamin davonsprach, die Geschichte sei bislang vom Standpunktdes Siegers geschrieben worden und müsse von dem

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der Besiegten aus geschrieben werden, so wäre demhinzuzufügen, daß zwar Erkenntnis die unseligeGeradlinigkeit der Folge von Sieg und Niederlagedarzustellen hat, zugleich aber dem sich zuwendenmuß, was in solche Dynamik nicht einging, am Wegeliegen blieb — gewissermaßen den Abfallstoffen undblinden Stellen, die der Dialektik entronnen sind.Es ist das Wesen des Besiegten, in seiner Ohnmachtunwesentlich, abseitig, skurril zu scheinen. Was dieherrschende Gesellschaft transzendiert, ist nicht nurdie von dieser entwickelte Potentialität, sondernebensowohl das, was nicht recht in die historischenBewegungsgesetze hineinpaßte. Die Theorie siehtsich aufs Quere, Undurchsichtige, Unerfaßte ver-wiesen, das als solches zwar vorweg ein Ana-chronistisches an sich trägt, aber nicht aufgeht imVeralteten, weil es der historischen Dynamik einSchnippchen schlug. An der Kunst läßt sich das amehesten einsehen. Kinderbücher wie Alice in Won-derland oder der Struwwelpeter, vor denen dieFrage nach Fortschritt und Reaktion lächerlich wäre,enthalten unvergleichlich beredtere Chiffern selbstder Geschichte als die mit der offiziellen Thematikvon tragischer Schuld, Wende der Zeiten, Weltlaufund Individuum befaßte Großdramatik Hebbels,und in den schnöden und albernen Klavierstücken

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Saties blitzen Erfahrungen auf, von denen die Kon-sequenz der Schönbergschule, hinter der alles Pa-thos der musikalischen Entwicklung steht, nichts sichträumen läßt. Gerade die Großartigkeit der Folge-rungen mag unversehens den Charakter des Provin-ziellen annehmen. Benjamins Schriften sind derVersuch, in immer erneutem Ansatz das von dengroßen Intentionen nicht bereits Determinierte philo-sophisch fruchtbar zu machen. Sein Vermächtnis be-steht in der Aufgabe, solchen Versuch nicht den ver-fremdenden Rätselbildern des Gedankens einzig zuüberlassen, sondern das Intentionslose durch denBegriff einzuholen: der Nötigung, dialektisch zu-gleich und undialektisch zu denken.

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Goldprobe. — Unter den Begriffen, in welchedie bürgerliche Moral nach der Auflösung ihrerreligiösen und der Formalisierung ihrer autonomenNormen sich zusammenzieht, rangiert Echtheit oben-an. Wenn nichts anderes verbindlich mehr vomMenschen gefordert werden könne, dann wenigstens,daß er ganz und gar das sei, was er ist. In derIdentität jedes einzelnen mit sich selber wird das

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Postulat unbestechlicher Wahrheit sowohl wie dieGlorifizierung des Faktischen von der aufgeklärtenErkenntnis auf die Ethik übertragen. Gerade diekritisch unabhängigen, der traditionellen Urteileund idealistischen Phrasen überdrüssigen Denker desspäteren Bürgertums stimmen darin überein. Ibsensfreilich gebrochenes Verdikt über die Lebenslüge,Kierkegaards Existenzlehre haben das Echtheits-ideal zum Hauptstück der Metaphysik gemacht. InNietzsches Analyse steht das Wort ächt bereits alsFragloses, von der Arbeit des Begriffs Ausgenom-menes. Den bekehrten und unbekehrten Philosophendes Faschismus werden schließlich Werte wie Eigent-lichkeit, heroisches Aushalten in der „Geworfenheit"der individuellen Existenz, Grenzsituation zum Mit-tel, religiös-autoritäres Pathos ohne jeglichen religiö-sen Inhalt zu usurpieren. Es treibt zur Denunziationalles dessen, was nicht kernig genug, nicht aus Schrotund Korn sein soll, also der Juden: hat doch schonRichard Wagner die echte deutsche Art gegen denwelschen Tand ausgespielt und damit die Kritik amKulturmarkt für die Apologie der Barbarei miß-braucht. Solcher Mißbrauch ist aber dem Begriff derEchtheit nicht äußerlich. Im Ausverkauf seiner ab-getragenen Montur kommen Nähte und schadhafteStellen heraus, die in den großen Tagen der Oppo-

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sition unsichtbar schon vorhanden waren. Die Un-wahrheit steckt im Substrat von Echtheit selber, demIndividuum. Wenn im principium individuationis,wie die Antipoden Hegel und Schopenhauer ge-meinsam erkannten, das Gesetz des Weltlaufs sichversteckt, so wird die Anschauung von der letztenund absoluten Substantialität des Ichs Opfer einesScheins, der die bestehende Ordnung schützt, wäh-rend ihr Wesen bereits verfällt. Die Gleichsetzungvon Echtheit und Wahrheit ist nicht zu halten. Ge-rade die unbeirrte Selbstbesinnung — jene Verhal-tensweise, die Nietzsche Psychologie nannte —, alsodie Insistenz auf der Wahrheit über einen selber,ergibt immer wieder, schon in den ersten bewußtenErfahrungen der Kindheit, daß die Regungen, aufdie man reflektiert, nicht ganz „echt" sind. Stetsenthalten sie etwas von Nachahmung, Spiel, Anders-seinwollen. Der Wille, durch Versenkung in die jeeigene Individualität anstatt durch deren gesell-schaftliche Erkenntnis auf das unbedingt Feste, aufsSein des Seienden zu stoßen, führt in eben dieschlechte Unendlichkeit, welche seit Kierkegaard derBegriff der Echtheit exorzieren soll. Keiner hat dasunverblümter ausgesprochen als Schopenhauer. Derverdrossene Ahnherr der Existenzphilosophie undboshafte Erbe der großen Spekulation hat in den

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Höhlen und Schluchten des individuellen Absolutis-mus unübertrefflich sich ausgekannt. Seine Einsichtschließt sich an die spekulative These an, das Indi-viduum sei nur die Erscheinung, nicht das Ding ansich. „Jedes Individuum", heißt es in einer Fußnoteaus dem vierten Buch der "Welt als Wille und Vor-stellung, „ist einerseits das Subjekt des Erkennens,das heißt, die ergänzende Bedingung der Möglich-keit der ganzen objektiven Welt, und andererseitseinzelne Erscheinung des Willens, desselben, der sichin jedem Dinge objektiviert. Aber diese Duplizitätunseres Wesens ruht nicht in einer für sich beste-henden Einheit: sonst würden wir uns unserer selbstan uns selbst und unabhängig von den Objekten desErkennens und Wollens bewußt werden können:dies können wir aber schlechterdings nicht, sondernsobald wir, um es zu versuchen, in uns gehen unduns, indem wir das Erkennen nach Innen richten,einmal völlig besinnen wollen; so verlieren wir unsin eine bodenlose Leere, finden uns gleich der glä-sernen Hohlkugel, aus deren Leere eine Stimmespricht, deren Ursache aber nicht darin anzutreffenist, und indem wir so uns selbst ergreifen wollen,erhaschen wir, mit Schaudern, nichts, als ein be-standloses Gespenst" (Großherzog- Wilhelm-Ernst -Ausgabe, I, S. 371 f). Er hat damit den mythischen

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Trug des reinen Selbst als nichtig beim Namen ge-rufen. Es ist eine Abstraktion. Was als ursprüng-liche Entität, als Monade auftritt, resultiert erst auseiner gesellschaftlichen Trennung vom gesellschaft-lichen Prozeß. Gerade als Absolutes ist das Indivi-duum bloße Reflexionsform der Eigentumsverhält-nisse. In ihm wird der fiktive Anspruch erhoben,das biologisch Eine gehe dem Sinne nach dem ge-sellschaftlichen Ganzen voran, aus dem nur Gewaltes isoliert, und seine Zufälligkeit wird fürs Maßder Wahrheit ausgegeben. Nicht bloß ist das Ich indie Gesellschaft verflochten, sondern verdankt ihrsein Dasein im wörtlichsten Sinn. All sein Inhaltkommt aus ihr, oder schlechterdings aus der Bezie-hung zum Objekt. Es wird um so reicher, je freieres in dieser sich entfaltet und sie zurückspiegelt,während seine Abgrenzung und Verhärtung, die esals Ursprung reklamiert, eben damit es beschränkt,verarmen läßt und reduziert. Versuche wie derKierkegaards, im Zurücktreten des Einzelnen in sichselber seiner Fülle habhaft zu werden, sind nichtumsonst gerade aufs Opfer des Einzelnen und aufdieselbe Abstraktheit hinausgelaufen, die er an denidealistischen Systemen diffamierte. Echtheit istnichts anderes als das trotzige und verstockte Be-harren auf der monadologischen Gestalt, welche die

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gesellschaftliche Unterdrückung den Menschen auf-prägt. Was nicht verdorren will, nimmt lieber dasStigma des Unechten auf sich. Es zehrt von demmimetischen Erbe. Das Humane haftet an der Nach-ahmung: ein Mensch wird zum Menschen überhaupterst, indem er andere Menschen imitiert. In solchemVerhalten, der Urform von Liebe, wittern diePriester der Echtheit Spuren jener Utopie, welchedas Gefüge der Herrschaft zu erschüttern ver-möchte. Daß Nietzsche, dessen Reflexion bis in denBegriff der Wahrheit drang, dogmatisch vor demder Echtheit innehielt, macht ihn zu dem, was eram letzten sein wollte, einem Lutheraner, und seinWüten gegen die Schauspielerei ist vom Schlage desAntisemitismus, der an dem Erzschauspieler Wagnerihn empörte. Nicht Schauspielerei hätte er Wagnervorwerfen sollen — denn alle Kunst, und Musikvorab, ist dem Schauspiel verwandt, und in jederPeriode Nietzsches hallt das tausendjährige Echoder Rhetorenstimmen aus dem römischen Senat —,sondern die Verleugnung der Schauspielerei durchden Schauspieler. Ja es wäre nicht erst das Unechte,das als seinshaltig sich aufspielt, der Lüge zu über-führen, sondern das Echte selber wird zur Lüge,sobald es zum Echten überhaupt wird, also in derReflexion auf sich, in seiner Setzung als Echtes, in

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der es bereits die Identität überschreitet, die es imgleichen Atemzug behauptet. Vom Selbst wäre nichtals dem ontologischen Grunde zu reden, sonderneinzig allenfalls theologisch, im Namen der Gottes-ebenbildlichkeit. Wer am Selbst festhält und dertheologischen Begriffe sich entschlägt, trägt bei zurRechtfertigung des teuflisch Positiven, des kahlenInteresses. Ihm erborgt er die Aura des Sinnes undmacht der Befehlsgewalt der selbsterhaltenden Ver-nunft einen hochtrabenden Überbau, während dasreale Selbst in der Welt schon zu dem geworden ist,als was Schopenhauer es in der Selbstversenkungerkannte, zum Gespenst. Sein Scheincharakter läßtsich einsehen an den historischen Implikationen desBegriffs der Echtheit als solcher. In ihm steckt dieVorstellung von der Suprematie des Ursprungsübers Abgeleitete. Die ist aber stets mit sozialemLegitimismus verbunden. Alle Herrenschichten be-rufen sich darauf, älter eingesessen, autochthon zusein. Die ganze Philosophie der Innerlichkeit, mitdem Anspruch der Weltverachtung, ist die letzteSublimierung der barbarischen Brutalität, daß, werzuerst da war, das größere Recht habe, und diePriorität des Selbst ist so unwahr wie die aller, diebei sich zu Hause sind. Daran ändert sich nichts,wenn Echtheit auf den Gegensatz von physei und

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thesei sich zurückzieht, darauf, daß, was ohne mensch-löiches Zutun existiert, besser sei als das Artifizielle.Je dichter die Welt vom Netz des von MenschenGemachten überzogen wird, um so krampfhafterbetonen die, welche es ihr antun, ihre eigene Natur-wüchsigkeit und Primitivität. Die Entdeckung derEchtheit als letzten Bollwerks der individualistischenEthik ist ein Reflex der industriellen Massenproduk-tion. Erst indem ungezählte standardisierte Güterum des Profits willen vorspiegeln, ein Einmaligeszu sein, bildet sich als Antithese dazu, doch nachden gleichen Kriterien, die Idee des nicht zu Ver-vielfältigenden als des eigentlich Echten. Vorherdürfte geistigen Gebilden gegenüber die Frage nachEchtheit so wenig gestellt worden sein, wie die nachOriginalität, welche noch der Ära Bachs unbekanntwar. Der Trug der Echtheit geht zurück auf diebürgerliche Verblendung dem Tauschvorgang gegen-über. Echt erscheint, worauf die Waren und anderenTauschmittel reduziert werden, Gold zumal. Wiedas Gold aber wird die von seinem Feingehalt ab-strahierte Echtheit zum Fetisch. Beide werden be-handelt, als wären sie das Substrat, das doch inWahrheit ein gesellschaftliches Verhältnis ist, wäh-rend Gold und Echtheit gerade nur Fungibilität, dieVergleichbarkeit der Sachen ausdrücken; gerade sie

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sind nicht an sich, sondern für anderes. Die Unecht-heit des Echten rührt daher, daß es in der vomTausch beherrschten Gesellschaft prätendieren muß,das zu sein, wofür es einsteht, ohne es doch je seinzu können. Die Echtheitsapostel der Macht, die derZirkulation zuleibe rückt, tanzen dieser zur Toten-feier den Geldschleiertanz.

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S u r l'Eau. — Auf die Frage nach dem Ziel deremanzipierten Gesellschaft erhält man Antwortenwie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeitenoder den Reichtum des Lebens. So illegitim die un-vermeidliche Frage, so unvermeidlich das Absto-ßende, Auftrumpfende der Antwort, welche dieErinnerung an das sozialdemokratische Persönlich-keitsideal vollbärtiger Naturalisten der neunzigerJahre aufruft, die sich ausleben wollten. Zart wäreeinzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll.Alles andere setzt für einen Zustand, der nachmenschlichen Bedürfnissen zu bestimmen wäre, einmenschliches Verhalten an, das am Modell der Pro-duktion als Selbstzweck gebildet ist. In das Wunsch-bild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpfe-

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rischen Menschen ist eben der Fetischismus der Wareeingesickert, der in der bürgerlichen GesellschaftHemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immer-gleichen mit sich führt. Der Begriff der Dynamik,der zu der bürgerlichen „Geschichtslosigkeit" kom-plementär gehört, wird zum Absoluten erhöht, wäh-rend er doch, als anthropologischer Reflex der Pro-duktionsgesetze, in der emanzipierten Gesellschaftselber dem Bedürfnis kritisch konfrontiert werdenmüßte. Die Vorstellung vom fessellosen Tun, demununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Uner-sättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb zehrt vonjenem bürgerlichen Naturbegriff, der von je einzigdazu getaugt hat, die gesellschaftliche Gewalt alsunabänderliche, als ein Stück gesunder Ewigkeit zuproklamieren. Dann und nicht in der vorgeblichenGleichmacherei verharrten die positiven Entwürfedes Sozialismus, gegen die Marx sich sträubte, in derBarbarei. Nicht das Erschlaffen der Menschheit imWohlleben ist zu fürchten, sondern die wüste Er-weiterung des in Allnatur vermummten Gesell-schaftlichen, Kollektivität als blinde Wut desMachens. Die naiv unterstellte Eindeutigkeit derEntwicklungstendenz auf Steigerung der Produk-tion ist selber ein Stück jener Bürgerlichkeit, dieEntwicklung nach einer Richtung nur zuläßt, weil

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sie, als Totalität zusammengeschlossen, von Quanti-fizierung beherrscht, der qualitativen Differenz feind-lich ist. Denkt man die emanzipierte Gesellschaft alsEmanzipation gerade von solcher Totalität, dannwerden Fluchtlinien sichtbar, die mit der Steigerungder Produktion und ihren menschlichen Spiegelun-gen wenig gemein haben. Wenn hemmungslose Leutekeineswegs die angenehmsten und nicht einmal diefreiesten sind, so könnte wohl die Gesellschaft, derenFessel gefallen ist, darauf sich besinnen, daß auchdie Produktivkräfte nicht das letzte Substrat desMenschen, sondern dessen auf die Warenproduk-tion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben. Viel-leicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltungüberdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten un-genützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremdeSterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Notnicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem"Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen,welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zuentgehen, und welche die Not mit dem Reichtumerweitert reproduzierten. Genuß selber würde da-von berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema vonder Betriebsamkeit, dem Planen, seinen WillenHaben, Unterjochen nicht getrennt werden kann.Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen

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und friedlich in den Himmel schauen, „sein, sonstnichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfül-lung" könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllentreten und so wahrhaft das Versprechen der dia-lektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zumünden. Keiner unter den abstrakten Begriffenkommt der erfüllten Utopie näher als der vomewigen Frieden. Zaungäste des Fortschritts wieMaupassant und Sternheim haben dieser Intentionzum Ausdruck verholfen, so schüchtern, wie es derenZerbrechlichkeit einzig verstattet ist.

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MINIMA MORALIA

Dritter Teil

1946-47

Avalanche, veux-tu m'emporter dans ta chute? Baudelaire

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T r e i b h a u s p f l a n z e . — Die Rede vonFrüh- und Spätreifen, selten frei vom Todeswunschfür jene, ist nicht stichhaltig. Wer früh reift, lebtin der Antizipation. Seine Erfahrung ist apriorisch,ahnende Sensibilität, die an Bild und Wort ertastet,was Ding und Mensch später erst einlösen. SolcheAntizipation, gesättigt gleichsam in sich selber, ziehtvon der Außenwelt ab und verleiht dem Verhält-nis zu_dieser leicht die Farbe des neurotisch Spiele-rischen. Ist der Frühreife mehr als der Besitzer vonGeschicklichkeiten, so ist er darum dann gezwungensich einzuholen, ein Zwang, der von den Normalengern als moralisches Gebot ausstaffiert wird. Müh-sam muß er der Beziehung zu den Objekten denRaum erobern, der von seiner Vorstellung einge-nommen ist: zu leiden selbst muß er lernen. DieFühlung mit dem Nicht-Ich, dem angeblich spätReifen kaum je von innen her gestört, wird demFrühreifen zur Not. Die narzißtische Triebrichtung,angezeigt vom Übergewicht der Imagination in sei-ner Erfahrung, verzögert seine Reife gerade. Nach-träglich erst macht er Situationen, Ängste, Leiden-

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schaften, die in der Antizipation überaus gemildertwaren, mit krasser Gewalt durch, und sie verwan-deln sich, im Konflikt mit seinem Narzißmus, inskrankhaft Verzehrende. So verfällt er dem Kin-dischen, das er einmal mit allzu geringer Anstren-gung bewältigt hatte und das nun seinen Preis ver-langt; er wird unreif und reif die anderen, die aufjeder Stufe waren, wie es von ihnen erwartet wurde,auch albern, und denen unverzeihlich dünkt, wasnun den ehemals Frühreifen außer jeglicher Pro-portion überfällt. Von Passion wird er geschlagen;allzu lange gewiegt in der Sicherheit seiner Autarkie,taumelt er hilflos, wo er einmal die luftigen Brückenbaute. Nicht umsonst warnen die HandschriftenFrühreifer durch infantile Züge. Sie sind ein Ärger-nis der naturhaften Ordnung, und hämische Gesund-heit weidet sich an der Gefahr, die ihnen droht, sowie die Gesellschaft ihnen als sichtbarer Negationder Gleichung von Erfolg und Anstrengung miß-traut. In ihrer inwendigen Ökonomie vollzieht sich,bewußtlos, doch unerbittlich, die Strafe, die manihnen stets gönnte. Was ihnen mit trügender Gut-mütigkeit vorgestreckt war, wird gekündigt. Nochim psychologischen Schicksal wacht eine Instanz dar-über,daß für alles entgolten werde.Das individuelleGesetz ist ein Vexierbild des Äquivalententauschs.

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I m m e r l a n g s a m v o r a n . — Rennen aufder Straße hat den Ausdruck des Schreckens. Es istschon das Stürzen des Opfers nachgeahmt in seinemVersuch, dem Sturz zu entfliehen. Die Haltung desKopfs, der oben bleiben möchte, ist die des Ertrin-kenden, das angespannte Gesicht gleicht der Gri-masse der Qual. Er muß geradeaus sehen, vermagkaum zurückzublicken, ohne zu straucheln, als säßeim Nacken der Verfolger, dessen Antlitz erstarrenläßt. Einmal rannte man vor Gefahren, die zu ver-zweifelt waren zum Standhalten, und ohne es zuwissen zeugt davon noch, wer dem enteilenden Auto-bus nachläuft. Die Verkehrsordnung braucht mit wil-den Tieren nicht mehr zu rechnen, aber sie hat dasRennen nicht zugleich befriedet. Es verfremdet dasbürgerliche Gehen. Die Wahrheit wird sichtbar, daßes mit der Sicherheit nichts Rechtes ist, daß man wiestets nur den losgelassenen Mächten des Lebens,wären es auch bloß Vehikel, entkommen muß. DieGewohnheit des Leibes ans Gehen als das Normalestammt aus der guten alten Zeit. Es war die bürger-liche "Weise, von der Stelle zu kommen: physischeEntmythologisierung, frei vom Bann des hiera-tischen Schreitens, der obdachlosen Wanderschaft,

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der atemlosen Flucht. Menschenwürde bestand aufdem Recht zum Gang, einem Rhythmus, der nichtdem Leib von Befehl oder Schrecken abgedrungenwird. Spaziergang, Flanieren waren Zeitvertreib desPrivaten, Erbschaft des feudalen Lustwandelns imneunzehnten Jahrhundert. Mit dem liberalen Zeit-alter stirbt das Gehen ab, selbst wo nicht Auto ge-fahren wird. Die Jugendbewegung, die solche Ten-denzen mit untrüglichem Masochismus ertastete,sagte den elterlichen Sonntagsausflügen die Fehdean und ersetzte sie durch freiwillige Gewaltmärsche,welche sie mittelalterlich Fahrt taufte, während zudieser bald schon das Fordmodell zur Verfügungstand. Vielleicht verbirgt sich im Kultus der tech-nischen Geschwindigkeiten wie im Sport der Impuls,den Schrecken des Rennens zu meistern, indem manes vom eigenen Leib abwendet und zugleich selbst-herrlich überbietet: der Triumph des aufsteigendenMeilenzeigers beschwichtigt ritual dieAngst des Ver-folgten. Wenn aber einem Mensch zugerufen wird:„lauf", vom Kind, das der Mutter ein vergessenesTäschchen aus dem ersten Stock holen soll, bis zumGefangenen, dem die Eskorte die Flucht befiehlt, umeinen Vorwand zu haben, ihn zu ermorden, dannwird die archaische Gewalt laut, die unhörbar sonstjeden Schritt lenkt.

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H e i d e k n a b e . — Was man ohne realenGrund, scheinbar von fixen Ideen besessen, ammeisten furchtet, hat den schnöden Hang, Ereigniszu werden. Die Frage, die man um keinen Preishören möchte, bringt ein Subalterner mit perfidfreundlicher Teilnahme vor; die Person, von derman die Geliebte am ängstlichsten fernzuhaltenwünscht, wird diese, und wäre es über dreitausendMeilen Entfernung, dank wohlmeinender Empfeh-lungen gewiß einladen und jene Art von Bekannt-schaften herbeiführen, von denen die Gefahr droht.Es steht dahin, wieweit man selber solche Schreckenfördert; ob man etwa jene Frage durchs allzu eifrigeVerschweigen dem Hämischen auf die Zunge legt;ob man den fatalen Kontakt provoziert, indem manin albern destruktivem Vertrauen den Vermittlerbittet, nicht vermitteln zu wollen. Psychologie weiß,daß, wer das Unheil sich ausmalt, es irgend auchwill. Wieso aber kommt es so eifrig ihm entgegen?Auf die paranoide Phantasie spricht etwas in derRealität an, die von jener verbogen wird. Der la-tente Sadismus aller errät untrüglich die latenteSchwäche aller. Und die Verfolgungsphantasie stecktan: wann immer sie begegnet, sind Zuschauer un-

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widerstehlich dazu getrieben, sie nachzuahmen. Dasgelingt am leichtesten, wenn man ihr zum Rechtverhilft, indem man das vom anderen Gefürchtetetut. „Ein Narr macht viele" — die abgründige Ein-samkeit des Wahns hat eine Tendenz zur Kol-lektivierung, die das Wahnbild ins Leben zitiert.Dieser pathische Mechanismus harmoniert mit demheute bestimmenden sozialen, daß die zur verzwei-felten Isolierung Vergesellschafteten nach Miteinan-dersein hungern und zu kalten Haufen sich zu-sammenrotten. So wird Narrheit epidemisch: dieirren Sekten wachsen nach dem gleichen Rhythmuswie die großen Organisationen. Es ist der der tota-len Zerstörung. Die Erfüllung der Verfolgungsphan-tasien rührt her von ihrer Affinität zum blutigenWesen. Gewalt, auf der Zivilisation basiert, meintVerfolgung aller durch alle, und der Verfolgungs-wahnsinnige bringt sich in Nachteil bloß, indem erdem Nächsten zuschiebt, was vom Ganzen ange-richtet wird, im hilflosen Versuch, die Inkommen-surabilität kommensurabel zu machen. Er verbrennt,weil er unmittelbar, gleichsam mit bloßen Händen,den objektiven Wahn greifen möchte, dem er gleicht,während das Absurde selber gerade in der vollen-deten Mittelbarkeit besteht. Er fällt als Opfer fürden Fortbestand des Verblendungszusammenhangs.

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Noch die schlimmste und unsinnigste Vorstellungvon Ereignissen, die wildeste Projektion enthält diebewußtlose Anstrengung des Bewußtseins, das töd-liche Gesetz zu erkennen, kraft dessen die Gesell-schaft ihr Leben perpetuiert. Die Aberration isteigentlich nur der Kurzschluß der Anpassung: dieoffene Narretei des einen ruft irrtümlich im anderendie Narretei des Ganzen beim richtigen Namen,und der Paranoiker ist das Spottbild des richtigenLebens, indem er auf eigene Faust dem falschen esgleichzutun beliebt. Wie aber beim Kurzschluß dieFunken sprühen, so kommunizieren blitzhaft Wahnund Wahn in der Wahrheit. Kommunikations-punkte sind die schlagenden Bestätigungen derVerfolgungsphantasien, die den Erkrankten damitäffen, daß er recht hat, und um so tiefer nur ihnhinabstoßen. Die Oberfläche des Daseins schließtsogleich sich wieder und beweist ihm, so schlimm seies gar nicht und er verrückt. Er antizipiert sub-jektiv den Zustand, in dem, unvermittelt, der ob-jektive Wahnsinn und die Ohnmacht des Einzel-nen ineinander übergehen, so wie der Faschismusals Diktatur Verfolgungswahnsinniger alle Verfol-gungsängste der Opfer verwirklicht. Ob daher einüberspannter Verdacht paranoisch sei oder realitäts-gerecht, das schwache private Echo des Tobens der

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Geschichte, läßt bloß nachträglich sich entscheiden.Psychologie reicht ans Grauen nicht heran.

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G o l d e n Gate. — Dem Gekränkten, Zurück-gesetzten geht etwas auf, so grell wie heftigeSchmerzen den eigenen Leib beleuchten. Er erkennt,daß im Innersten der verblendeten Liebe, die nichtsdavon weiß und nichts wissen darf, die Forderungdes Unverblendeten lebt. Ihm geschah unrecht; dar-aus leitet er den Anspruch des Rechts ab und mußihn zugleich verwerfen, denn was er wünscht, kannnur aus Freiheit kommen. In solcher Not wird derVerstoßene zum Menschen. Wie Liebe unabdingbardas Allgemeine ans Besondere verrät, in dem alleinjenem Ehre widerfährt, so wendet tödlich nun dasAllgemeine als Autonomie des Nächsten sich gegensie. Gerade die Versagung, in der das Allgemeinesich durchsetzte, erscheint dem Individuum als Aus-geschlossensein vom Allgemeinen; der Liebe verlor,weiß von allen sich verlassen, darum verschmähter den Trost. In der Sinnlosigkeit des Entzuges be-kommt er das Unwahre aller bloß individuellenErfüllung zu spüren. Damit aber erwacht er zum

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paradoxen Bewußtsein des Allgemeinen: des unver-äußerlichen und unklagbaren Menschenrechtes, vonder Geliebten geliebt zu werden. Mit seiner aufkeinen Titel und Anspruch gegründeten Bitte umGewährung appelliert er an eine unbekannte In-stanz, die aus Gnade ihm zuspricht, was ihm gehörtund doch nicht gehört. Das Geheimnis der Gerechtig-keit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, aufdie Liebe mit sprachloser Gebärde deutet. „So mußübervorteilt / Albern doch überall sein die Liebe."

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Nur e i n V i e r t e l s t ü n d c h e n . — Schlaf-lose Nacht: dafür gibt es eine Formel, qualvolleStunden, ohne Aussicht auf Ende und Dämmerunghingedehnt in der vergeblichen Anstrengung, dieleere Dauer zu vergessen. Entsetzen aber bereitenschlaflose Nächte, in denen die Zeit sich zusammen-zieht und fruchtlos durch die Hände rinnt. Einerlöscht das Licht aus in der Hoffnung auf lange Stun-den der Ruhe, die ihm helfen möchten. Aber wäh-rend er nicht die Gedanken beschwichtigen kann,vergeudet sich ihm der heilsame Vorrat der Nacht,und bis er fähig wäre, unter den brennend ge-

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schlossenen Augen nichts mehr zu sehen, weiß er,daß es zu spät ist, daß ihn bald der Morgen auf-schrecken wird. Ähnlich mag dem zum Tode Ver-urteilten die letzte Frist unaufhaltsam, ungenütztverstreichen. Was aber in solcher Kontraktion derStunden sich offenbart, ist das Gegenbild der er-füllten Zeit. Wenn in dieser die Macht der Erfah-rung den Bann der Dauer bricht und Vergangenesund Zukünftiges in die Gegenwart versammelt, sostiftet Dauer in der hastig schlaflosen Nacht uner-trägliches Grauen. Das Menschenleben wird zumAugenblick, nicht indem es Dauer aufhebt, sondernindem es zum Nichts verfällt, zu seiner Vergeblich-keit erwacht im Angesicht der schlechten Unendlich-keit von Zeit selber. Im überlauten Ticken der Uhrvernimmt man den Hohn der Lichtjahre auf dieSpanne des eigenen Daseins. Die Stunden, die alsSekunden schon vorbei sind, ehe der innere Sinn sieaufgefaßt hat, und ihn fortreißen in ihrem Sturz,melden ihm, wie er samt allem Gedächtnis dem Ver-gessen geweiht ist in der kosmischen Nacht. Dessenwerden die Menschen heute zwangshaft gewahr. ImStande der vollendeten Ohnmacht scheint dem In-dividuum, was ihm noch zu leben gelassen ward,als kurze Galgenfrist. Es erwartet nicht, sein Lebenaus sich zu Ende zu leben. Die Aussicht auf gewalt-

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samen Tod und Marter, einem jeden präsent, setztsich fort in der Angst, daß die Tage gezählt sind,die Länge des eigenen Lebens unter der Statistiksteht; daß Altwerden gleichsam zum unlauterenVorteil ward, der dem Durchschnitt abgelistet wer-den muß. Vielleicht ist die von der Gesellschaftwiderruflich zur Verfügung gestellte Lebensquotebereits aufgebraucht. Solche Angst registriert derKörper in der Flucht der Stunden. Die Zeit fliegt.

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D i e B l ü m l e i n a l l e . — Der Satz, von JeanPaul wohl, die Erinnerungen seien der einzige Be-sitz, den niemand uns wegnehmen könne, gehört inden Vorrat des ohnmächtig sentimentalen Trostes,der die entsagende Zurücknahme des Subjekts in dieInnerlichkeit jenem als eben die Erfüllung einredenmöchte, von der es abläßt. Mit der Einrichtung desArchivs seiner selbst beschlagnahmt das Subjekt deneigenen Erfahrungsbestand als Eigentum und machtihn damit wieder zu einem dem Subjekt ganzÄußerlichen. Das vergangene Innenleben wird zumMobiliar, wie umgekehrt jedes Biedermeierstück ge-schaffen ward als holzgewordene Erinnerung. Das

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Interieur, in dem die Seele die Sammlung ihrerDenkwürdigkeiten und Kuriositäten unterbringt,ist hinfällig. Erinnerungen lassen sich nicht in Schub-laden und Fächern aufbewahren, sondern in ihnenverflicht unauflöslich das Vergangene sich mit demGegenwärtigen. Keiner verfügt mit der Freiheit undWillkür darüber, deren Lob die Sätze Jean Paulsschwellt. Gerade wo sie beherrschbar und gegen-ständlich werden, wo das Subjekt ihrer ganz ver-sichert sich meint, verschießen die Erinnerungen wiezarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht. Wo sieaber, geschützt durchs Vergessene, ihre Kraft be-wahren, sind sie gefährdet wie alles Lebendige. Diegegen Verdinglichung gewandte Konzeption Berg-sons und Prousts, derzufolge das Gegenwärtige, dieUnmittelbarkeit nur vermittelt durchs Gedächtnissich konstituiert, die Wechselwirkung von Jetzt undDamals, hat darum nicht bloß den rettenden, son-dern auch den infernalischen Aspekt. Wie kein frü-heres Erlebnis wirklich ist, das nicht durch unwill-kürliches Eingedenken aus der Totenstarre seinesisolierten Daseins gelöst ward, so ist umgekehrtkeine Erinnerung garantiert, an sich seiend, indiffe-rent gegen die Zukunft dessen, der sie hegt; keinVergangenes durch den Übergang in die bloße Vor-stellung gefeit vorm Fluch der empirischen Gegen-

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wart. Die seligste Erinnerung an einen Menschenkann ihrer Substanz nach widerrufen werden durchspätere Erfahrung. Wer liebte und Liebe verrät, tutSchlimmes nicht nur dem Bilde des Gewesenen, son-dern diesem selber an. Mit unwiderstehlicher Evi-denz drängt in die Erinnerung eine unwillige Ge-bärde beim Erwachen, ein abwesender Tonfall, eineleise Hypokrisie der Lust sich ein und macht dieNähe von einst schon zu der Fremdheit, die sie heutgeworden ist. Verzweiflung hat den Ausdruck desUnwiderruflichen nicht, weil es nicht noch einmalbesser werden könnte, sondern weil sie die Vorzeitselber in ihren Schlund hineinzieht. Darum ist estöricht und sentimental, vor der Schmutzflut desGegenwärtigen Vergangenes rein erhalten zu wol-len. Diesem ist keine Hoffnung gelassen, als daß es,schutzlos dem Unheil ausgeliefert, aus diesem alsanderes wieder hervortrete. Wer aber verzweifeltstirbt, dessen ganzes Leben war umsonst.

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Ne c h e r c h e z p l u s mon coeur. — DerErbe der Balzacschen Besessenheit, Proust, dem jedemondäne Einladung den Sesam des wiederherge-

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stellten Lebens aufzutun scheint, geleitet in Laby-rinthe, wo prähistorischer Klatsch die finsteren Ge-heimnisse allen Glanzes ihm zuträgt, bis dieser unterden allzu nahen und sehnsüchtigen Augen stumpfund rissig wird. Aber das Placet futile, die Sorgeum eine geschichtlich verurteilte Luxusklasse, derjeder Bürger die Überflüssigkeit vorrechnet, die ab-surde Energie, die an die Verschwender sich ver-schwendet, findet gründlicher sich belohnt als derunbefangene Blick fürs Relevante. Das Schema desZerfalls, nach dem Proust das Bild seiner societyzitiert, erweist sich als das einer großen gesellschaft-lichen Entwicklungstendenz. Was in Charlus, Samt-Loup und Swann zugrunde geht, ist das gleiche,was der gesamten nachgeborenen Generation, dieden Namen des letzten Dichters schon nicht mehrkennt, mangelt. Die exzentrische Psychologie derdecadence entwirft die negative Anthropologie derMassengesellschaft: Proust gibt allergische Rechen-schaft von dem, was dann aller Liebe angetan wird.Das Tauschverhältnis, dem sie durchs bürgerlicheZeitalter hindurch partiell sich widersetzte, hat sieganz aufgesogen; die letzte Unmittelbarkeit fälltder Ferne aller Kontrahenten von allen zum Opfer.Liebe erkaltet am Wert, den das Ich sich selber zu-schreibt. Sein Lieben erscheint ihm als ein mehr

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Lieben, und wer mehr liebt, setzt sich ins Unrecht.Er macht sich der Geliebten verdächtig, und auf sichselbst zurückgeworfen, erkrankt seine Neigung anpossessiver Grausamkeit und selbstzerstörender Ein-bildung. „Die Beziehung zur Geliebten", heißt esim Temps Retrouve, „mag aus ganz anderem Grundeals der Keuschheit der Frau wegen platonisch blei-ben und auch nicht um des sinnlichen Charaktersder Liebe willen, die jene einflößt. Vielleicht ist derLiebende im Übermaß seiner Liebe unfähig, mit zu-reichender Verstellung oder Gleichgültigkeit denAugenblick der Erfüllung abzuwarten. Er kommtihr unablässig entgegen, hört nicht auf ihr zu schrei-ben, sucht sie zu sehen; sie weigert sich, und er ver-zweifelt. Von diesem Augenblick an versteht sie,daß, wenn sie ihm nur ihre Gesellschaft oder Freund-schaft gewährt, solche Gunst dem, der die Hoff-nung bereits aufgab, so groß erscheint, daß sie sichdie Mühe ersparen darf, ihm irgend mehr zuzuge-stehen, so daß sie zuversichtlich warten mag, bis er,unfähig, länger sie nicht mehr zu sehen, sich bereitfindet, den Krieg um jeden Preis zu beenden: dannkann sie einen Frieden diktieren, dessen erste Be-dingung der platonische Charakter der Beziehungist... All das errät die Frau instinktiv und weiß,daß sie sich den Luxus gestatten kann, nie dem

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Manne sich zu geben, dessen unstillbares Verlangensie fühlt, wenn er zu hoch geartet ist, um es ihrvon Anbeginn zu verbergen. Der Strichjunge Morelist stärker als sein hochmögender Liebhaber. „Erbehielt stets die Oberhand, wenn er sich nur ver-sagte, und, um sich zu versagen, genügte es ihmwahrscheinlich, sich geliebt zu wissen." Das privateMotiv der Balzacschen Duchesse de Langeais hatuniversal sich ausgebreitet. Der Qualität eines jedender ungezählten Autos, die am Sonntagabend nachNew York zurückkehren, entspricht genau dieHübschheit des Mädchens, das darin sitzt. — Dieobjektive Auflösung der Gesellschaft kommt sub-jektiv daran zutage, daß der erotische Trieb zuschwach ward, um die sich selbst erhaltenden Mo-naden zu verbinden, so als ob die Menschheit diephysikalische Theorie vom explodierenden Weltallimitiere. Der frigiden Unerreichbarkeit des gelieb-ten Wesens, mittlerweile einer anerkannten Institu-tion der Massenkultur, antwortet das „unstillbareVerlangen" des Liebenden. Wenn Casanova eineFrau vorurteilslos nannte, so meinte er, daß keinereligiöse Konvention sie daran hindere, sich herzu-schenken; heute wäre vorurteilslos die Frau, dienicht langer an die Liebe glaubt, nicht übers Ohrsich hauen läßt, indem sie mehr investiert, als sie

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zurückerwarten kann. Sexualität, um deretwillenangeblich doch das Getriebe sich erhält, ist zu demWahn geworden, der früher in der Versagung be-stand. Indem die Einrichtung des Lebens der ihrerselbst bewußten Lust keine Zeit mehr läßt und siedurch physiologische Verrichtungen ersetzt, wirddas enthemmte Geschlecht selber desexualisiert.Eigentlich wollen sie schon gar nicht mehr denRausch, sondern bloß noch den Entgelt, der auf derLeistung steht, die sie als überflüssig am liebsteneinsparen möchten.

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P r i n z e s s i n E i d e c h s e . — Phantasie wirdentflammt von Frauen, denen Phantasie gerade ab-geht. Am farbigsten leuchtet der Nimbus derer, dieungebrochen nach außen gewandt, ganz nüchternsind. Ihre Attraktion rührt her vom Mangel desBewußtseins ihrer selbst, ja eines Selbst überhaupt:Oscar Wilde hat den Namen der rätsellosen Sphinxdafür gefunden. Sie gleichen dem zubestimmtenBilde: je reiner sie Schein sind, ungestört von jedereigenen Regung, um so ähnlicher sind sie Arche-typen, Preziosa, Peregrina, Albertine, die alle In-

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dividuation gerade als bloßen Schein ahnen lassenund die doch immer wieder enttäuschen müssendurch das, was sie sind. Ihr Leben wird aufgefaßtwie Illustrationen oder ein ewig währendes Kinder-fest, und von solcher Wahrnehmung widerfährtihrem bedürftigen empirischen Dasein Unrecht.Storm hat das in der hintergründigen Kinder-geschichte „Pole Poppenspäler" behandelt. Derfriesische Knabe verliebt sich in das kleine Mäd-chen der Fahrenden aus Bayern. „Als ich endlichumkehrte, sah ich ein rotes Kleidchen mir ent-gegenkommen; und wirklich, und wirklich, es wardie kleine Puppenspielerin; trotz ihres verschos-senen Anzugs schien sie mir von einem Märchen-glanz umgeben. Ich faßte mir ein Herz und redetesie an: ,Willst du Spazierengehen, Lisei?' Sie sahmich mißtrauisch aus ihren schwarzen Augen an.,Spazieren?' wiederholte sie gedehnt. ,Ach du —du bist g'scheidt!' ,Wohin willst du denn?' — ,ZumEllenkramer will i!' ,Willst du dir ein neues Kleidkaufen?' fragte ich tölpelhaft genug. Sie lachte lautauf. ,Geh! Laß mi aus! — Nein; nur so Fetzeln!',Fetzeln, Lisei?' — ,Freili! Halt nur so Resteln zuG'wandl für die Pupp'n; 's kost't immer nit viel'."Die Armut verhält Lisei dazu, aufs Schäbige —„Fetzeln" — sich zu richten, obwohl sie es gern sel-

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ber anders möchte. Verständnislos muß sie allem alsüberspannt mißtrauen, was nicht praktisch sichrechtfertigt. Phantasie tritt der Armut zu nahe.Denn das Schäbige hat Zauber nur für den Betrach-ter. Und doch bedarf Phantasie der Armut, der sieGewalt antut: das Glück, dem sie nachhängt, istden Zügen von Leiden einbeschrieben. So heißtSades Justine, die von einer Falle der Tortur indie nächste stürzt, notre interessante heroine, undebenso Mignon in dem Augenblick, in dem sie ge-schlagen wird, das interessante Kind. Traumprin-zessin und Prügelmädchen sind dieselbe, und sieahnt nichts davon. Spuren dessen sind noch imVerhältnis der nordischen Völker zu den südlichen:die begüterten Puritaner suchen umsonst bei denBrünetten aus der Fremde, was der von ihnenkommandierte Weltlauf nicht bloß ihnen selbst,sondern erst recht den Vaganten abschneidet. DerSeßhafte beneidet das Nomadentum, die Suchenach frischen Weideplätzen, und der grüne Wagenist das Haus auf Rädern, dessen Zug die Gestirnebegleitet. Infantilität, gebannt in planloser Bewe-gung, dem glücklos unsteten, momentanen Drangzum Weiterleben, steht ein fürs Unentstellte, fürErfüllung, und schließt sie doch aus, im Innerstender Selbsterhaltung gleich, von der zu erlösen

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sie vortäuscht. Das ist der Zirkel der bürgerlichenSehnsucht nach dem Naiven. Das Seelenlose derer,denen am Rande der Kultur das Tägliche dieSelbstbestimmung verbietet, Anmut und Qual zu-gleich, wird zur Phantasmagorie von Seele für dieWohlbestallten, welche von Kultur lernten, derSeele sich zu schämen. Liebe verliert sich ans Seelen-lose als an die Chiffre des Beseelten, weil ihr dieLebendigen Schauplatz sind für die verzweifelteBegierde des Rettens, die nur am Verlorenen ihrenGegenstand hat: der Liebe geht Seele erst an derenAbsenz auf. So ist menschlich gerade der Ausdruckder Augen, welche denen des Tiers am nächstensind, der kreaturhaften, fern von der Reflexion desIchs. Am Ende ist Seele selber die Sehnsucht desUnbeseelten nach Rettung.

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L ' i n u t i l e b e a u t é . — Frauen von beson-derer Schönheit sind zum Unglück verurteilt. Auchsolche, denen alle Bedingungen günstig sind, denenGeburt, Reichtum, Talent beistehen, scheinen wieverfolgt oder besessen vom Drange zur Zerstörungihrer selbst und aller menschlichen Verhältnisse, in

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die sie eintreten. Ein Orakel stellt sie vor dieWahl zwischen Verhängnissen. Entweder sie tau-schen klug die Schönheit um den Erfolg. Dannzahlen sie mit dem Glück für dessen Bedingung;wie sie nicht mehr lieben können, vergiften sie dieLiebe zu ihnen und bleiben mit leeren Händen zu-rück. Oder das Privileg der Schönheit gibt ihnenMut und Sicherheit, den Tauschvertrag aufzusagen.Sie nehmen das Glück ernst, das in ihnen sich ver-heißt, und geizen nicht mit sich, so bestätigt vonder Neigung aller, daß sie ihren Wert nicht erstsich dartun müssen. In ihrer Jugend haben sie dieWahl. Das macht sie wahllos: nichts ist definitiv,alles läßt sogleich sich ersetzen. Ganz früh, ohneviel Überlegung, heiraten sie und verpflichten da-mit sich auf pedestre Bedingungen, entäußern ingewissem Sinn sich des Privilegs der unendlichenMöglichkeit, erniedrigen sich zu Menschen. Zu-gleich aber halten sie an dem Kindertraum der All-macht fest, den ihnen ihr Leben vorgaukelte, undlassen nicht ab — darin unbürgerlich —, wegzu-werfen, wofür morgen ein Besseres dasein kann.Das ist ihr Typus des destruktiven Charakters.Gerade daß sie einmal hors de concours waren,bringt sie ins Hintertreffen der Konkurrenz, die sienun manisch betreiben. Der Gestus der Unwider-

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stehlichkeit bleibt übrig, während diese schon zer-ging; Zauber zerfällt, sobald er, anstatt bloß Hoff-nung darzustellen, sich häuslich niederläßt. DieWiderstehliche aber ist sogleich das Opfer: sie ge-rät unter die Ordnung, die sie einmal überflog. IhrerGenerosität wird die Strafe bereitet. Die Verkom-mene wie die Besessene sind Märtyrinnen desGlücks. Eingegliederte Schönheit ward mittlerweilezum kalkulabeln Element des Daseins, bloßer Er-satz fürs nicht existente Leben, ohne darüber immindesten noch hinauszureichen. Sie hat sich undden anderen ihr Glücksversprechen gebrochen. Diejedoch, welche dazu steht, nimmt die Aura des Un-heils an und wird selber vom Unheil ereilt. Darinhat die aufgeklärte Welt den Mythos ganz undgar aufgesogen. Der Neid der Götter hat dieseüberlebt.

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Constanze. — Überall besteht die bürger-liche Gesellschaft auf der Anstrengung des Wil-lens; nur die Liebe soll unwillkürlich sein, reineUnmittelbarkeit des Gefühls. In der Sehnsuchtdanach, die den Dispens von der Arbeit meint,

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transzendiert die bürgerliche Idee von Liebe diebürgerliche Gesellschaft. Aber indem sie das Wahreunvermittelt im allgemeinen Unwahren aufrichtet,verkehrt sie jenes in dieses. Nicht bloß, daß das reineGefühl, soweit es im ökonomisch determiniertenSystem noch möglich ist, eben damit gesellschaft-lich zum Alibi für die Herrschaft des Interesseswird und eine Humanität bezeugt, die nicht exi-stiert. Sondern die Unwillkürlichkeit von Liebeselber, auch wo sie nicht vorweg praktisch einge-richtet ist, trägt zu jenem Ganzen bei, sobald siesich als Prinzip etabliert. Soll Liebe in der Gesell-schaft eine bessere vorstellen, so vermag sie es nichtals friedliche Enklave, sondern nur im bewußten'Widerstand. Der jedoch fordert eben jenes Mo-ment von Willkür, das die Bürger, denen Liebe nienatürlich genug sein kann, ihr verbieten. Liebenheißt fähig sein, die Unmittelbarkeit sich nicht ver-kümmern zu lassen vom allgegenwärtigen Druckder Vermittlung, von der Ökonomie, und in sol-cher Treue wird sie vermittelt in sich selber, hart-näckiger Gegendruck. Nur der liebt, wer die Krafthat, an der Liebe festzuhalten. Wenn der gesell-schaftliche Vorteil, sublimiert, noch die sexuelleTriebregung vorformt, durch tausend Schattierun-gen des von der Ordnung Bestätigten bald diesen

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bald jenen spontan als attraktiv erscheinen läßt,dann widersetzt dem sich die einmal gefaßte Nei-gung, indem sie ausharrt, wo die Schwerkraft derGesellschaft, vor aller Intrige, die dann regelmäßigvon jener in den Dienst genommen wird, es nichtwill. Es ist die Probe aufs Gefühl, ob es übers Ge-fühl hinausgeht durch Dauer, wäre es auch selbstals Obsession. Jene aber, die, unterm Schein derunreflektierten Spontaneität und stolz auf die vor-gebliche Aufrichtigkeit, sich ganz und gar dem über-läßt, was sie für die Stimme des Herzens hält, undwegläuft, sobald sie jene Stimme nicht mehr zuvernehmen meint, ist in solcher souveränen Unab-hängigkeit gerade das Werkzeug der Gesellschaft.Passiv, ohne es zu wissen, registicrt sie die Zah-len, die in der Roulette der Interessen je heraus-kommen. Indem sie den Geliebten verrät, verrätsie sich selber. Der Befehl zur Treue, den die Ge-sellschaft erteilt, ist Mittel zur Unfreiheit, aber nurdurch Treue vollbringt Freiheit Insubordinationgegen den Befehl der Gesellschaft.

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Phi lemon und Baucis , — Der Haus-tyrann läßt von seiner Frau in den Mantel sichhelfen. Eifrig besorgt sie den Liebesdienst und be-gleitet ihn mit einem Blick, der sagt: was soll ichmachen, laßt ihm die kleine Freude, so ist er nuneinmal, nur ein Mann. Die patriarchale Ehe rächtsich an dem Herrn durch die Nachsicht, welche dieFrau übt und welche in den ironischen Klagen übermännliche Wehleidigkeit und Unselbständigkeitzur Formel geworden ist. Unterhalb der verloge-nen Ideologie, welche den Mann als Überlegenenhinstellt, liegt eine geheime, nicht minder unwahr,die ihn zum Inferioren, zum Opfer von Manipu-lation, Manövern, Betrug herabsetzt. Der Pan-toffelheld ist der Schatten dessen, der hinaus mußins feindliche Leben. Mit dem gleichen borniertenScharfsinn wie der Gatte von der Gattin werdenallgemein Erwachsene von Kindern eingeschätzt.In dem Mißverhältnis zwischen seinem autoritärenAnspruch und seiner Hilflosigkeit, das in derPrivatsphäre notwendig zutage tritt, steckt einLächerliches. Jedes gemeinsam auftretende Ehepaarist komisch, und das versucht das geduldige Ver-stehen der Frau auszugleichen. Kaum eine länger

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Verheiratete, die nicht durch Tuscheln über kleineSchwachen den Gemahl desavouierte. Falsche Nähereizt zur Bosheit, und im Bereich des Konsums iststärker, wer die Hände auf den Dingen hat. HegelsDialektik von Herr und Knecht gilt nach wie vorin der archaischen Ordnung des Hauses und wirdverstärkt, weil die Frau verbissen an dem Anachro-nismus festhält. Als verdrängte Matriarchin wirdsie dort gerade zum Meister, wo sie dienen muß,und der Patriarch braucht nur als solcher zuerscheinen, um Karikatur zu sein. Solche gleich-zeitige Dialektik der Zeitalter hat dem indivi-dualistischen Blick sich als „Kampf der Geschlech-ter" präsentiert. Beide Gegner haben Unrecht. Inder Entzauberung des Mannes, dessen Macht aufdem Geldverdienen beruht, das als menschlicherRang sich aufspielt, drückt die Frau zugleich dieUnwahrheit der Ehe aus, in der sie ihre ganzeWahrheit sucht. Keine Emanzipation ohne die derGesellschaft.

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Et d o n a f e r e n t e s . — Deutsche Freiheits-philister haben stets besonders viel auf das Gedicht

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vom Gott und der Bajadere sich zugute getan, mitder Schlußfanfare, daß Unsterbliche verlorene Kin-der mit feurigen Armen zum Himmel emporheben.Der approbierten Großherzigkeit ist nicht zutrauen. Sie eignet das bürgerliche Urteil über diekäufliche Liebe gründlich sich zu; den Effekt all-väterlichen Verstehens und Verzeihens erzielt sienur, indem sie die liebliche Gerettete mit schaudern-dem Entzücken als Verlorene anschwärzt. DerGnadenakt ist an Kautelen gebunden, die ihn illu-sorisch machen. Um sich die Erlösung zu verdienen— als ob eine verdiente Erlösung überhaupt nocheine wäre—, darf das Mädchen selbst an „des La-gers vergnüglicher Feier" „nicht um Wollust nochGewinnst"' teilnehmen. Ja warum denn sonst?Tastet nicht die reine Liebe, die ihr zugemutet wird,plump den Zauber an, den Goethes Tanzrhythmenum die Gestalt winden und der dann freilich selbstdurch die Rede vom tiefen Verderben nicht mehrzu tilgen ist? Aber es soll aus ihr durchaus auch soeine gute Seele werden, die sich einmal nur verges-sen. Um ins Gehege der Humanität zugelassen zuwerden, muß die Buhlerin, auf deren TolerierungHumanität pocht, erst aufhören eine zu sein. Esfreut sich die Gottheit der reuigen Sünder. Dieganze Expedition dorthin, wo die letzten Häuser

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sind, ist eine Art von metaphysischer slummingparty, eine Veranstaltung der patriarchalen Ge-meinheit, sidi doppelt groß aufzuspielen, indem sieerst die Distanz von männlichem Geist und weib-licher Natur ins Ungemessene steigert und dann auchnoch die Machtvollkommenheit, den selbstgeschaf-fenen Unterschied zurückzunehmen, als höchsteGüte drapiert. Der Bürger braucht die Bajadere,nicht bloß um des Vergnügens willen, das er jenerzugleich mißgönnt, sondern um sich recht als Gottzu fühlen. Je mehr er sich dem Rand seines Be-reiches nähert und seine Würde vergißt, desto kras-ser das Ritual der Gewalt. Die Nacht hat ihreLust, aber die Hure wird doch verbrannt. Der Restist die Idee.

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S p i e l v e r d e r b e r . — Die von der psycho-logischen Allerweltsweisheit bemerkte Affinität vonAskese und Rausch, die Haßliebe von Heiligenund Huren hat den objektiv triftigen Grund, daßdie Askese der Erfüllung mehr von ihrem Rechtgibt als die kulturelle Abschlagszahlung. Lustfeind-schaft läßt gewiß vom Einverständnis mit der Dis-

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ziplin einer Gesellschaft nicht sich trennen, die ihrWesen daran hat, mehr zu verlangen als zu ge-währen. Aber es gibt auch ein Mißtrauen gegen dieLust aus der Ahnung heraus, jene sei keine in die-ser Welt. Eine Konstruktion Schopenhauers drücktbewußtlos etwas von solcher Ahnung aus. DerÜbergang von der Bejahung zur Verneinung desWillens zum Leben geschieht in der Entfaltung desGedankens, daß jede Hemmung des Willens durchein Hindernis, „welches sich zwischen ihn und seineinstweiliges Ziel stellt, leidet; hingegen sein Er-reichen des Ziels Befriedigung, Wohlseyn, Glück"sei. Während aber solches „Leiden", Schopenhauersintransigenter Erkenntnis zufolge, so anzuwachsentendiert, daß der Tod leicht genug wünschbar werde,sei der Zustand der „Befriedigung" selber unbefrie-digend, weil „sobald Noth und Leiden dem Men-schen eine Rast vergönnen, die Langeweile gleichso nahe ist, daß er des Zeitvertreibs nothwendigbedarf. Was alle Lebenden beschäftigt und in Be-wegung erhält, ist das Streben nach Daseyn. Mitdem Daseyn aber, wenn es ihnen gesichert ist, wis-sen sie nichts anzufangen: daher ist das Zweite, wassie in Bewegung setzt, das Streben, die Last desDaseyns los zu werden, es unfühlbar zu machen,,dle Zeit zu tödten', d. h. der Langeweile zu ent-

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gehen" (Sämtliche Werke, Insel-Verlag Leipzig,o. J., I, Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 415).Aber der Begriff dieser Langeweile, zu so unver-muteter Dignität erhoben, ist, was Schopenhauersgeschichtsfeindlicher Sinn am letzten zugestehenmöchte, durch und durch bürgerlich. Sie gehört alsKomplement zur entfremdeten Arbeit, als Erfah-rung der antithetisch „freien Zeit", sei es, daß diesebloß die verausgabte Kraft reproduzieren soll, seies, daß die Aneignung fremder Arbeit als Hypo-thek auf ihr lastet. Die freie Zeit bleibt der Reflexauf den dem Subjekt heteronom auferlegten Rhyth-mus der Produktion, der auch in den müden Pausenzwangshaft festgehalten ist. Das Bewußtsein derUnfreiheit der ganzen Existenz, das der Druckder Anforderungen des Erwerbs, also Unfreiheitselber, nicht aufkommen läßt, tritt erst im Inter-mezzo der Freiheit hervor. Die nostalgie du di-manche ist nicht das Heimweh nach der Arbeits-woche, sondern nach dem von dieser emanzipier-ten Zustand; der Sonntag läßt unbefriedigt, nichtweil an ihm gefeiert wird, sondern weil sein eigenesVersprechen unmittelbar zugleich als unerfülltessich darstellt; wie der englische ist jeder Sonntages zu wenig. Wem die Zeit qualvoll sich dehnt, derwartet vergeblich, enttäuscht darüber, daß es aus

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blieb, daß morgen schon wieder gestern weiter-geht. Die Langeweile derer jedoch, die nichts zuarbeiten brauchen, ist davon nicht durchaus ver-schieden. Gesellschaft als Totalität verhängt überdie Verfügungsgewaltigen was sie den anderen an-tun, und was diese nicht dürfen, erlauben jene kaumsich selber. Die Bürger haben aus der Sattheit, dieder Seligkeit verwandt wäre, ein Schimpfwort ge-macht. Weil die anderen hungern, will die Ideo-logie, daß die Absenz von Hunger für ordinär gilt.So klagen die Bürger den Bürger an. Ihr eigenesAusgenommensein von Arbeit verwehrt das Lobder Faulheit: diese sei langweilig. Der hektischeBetrieb, den Schopenhauer meint, gilt weniger derUnerträglichkeit des privilegierten Zustands alsseiner Ostentation, die je nach der geschichtlichenLage den sozialen Abstand vergrößern oder durchvorgeblich wichtige Veranstaltungen zum Scheinherabsetzen, die Nützlichkeit der Herren bekräftigensoll. Wenn man sich wirklich droben langweilt, sorührt das nicht von zuviel Glück her, sondern da-von, daß es vom allgemeinen Unglück gezeichnetist; vom Warencharakter, der die Vergnügungender Idiotie überantwortet, von der Roheit desKommandos, deren Echo in der Ausgelassenheitder Herrschenden schreckhaft tönt, schließlich von

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ihrer Angst vor der eigenen Oberflüssigkeit. Keiner,der vom Profitsystem profitiert, vermag darin ohneSchande zu existieren, und sie entstellt noch dieunentstellte Lust, obwohl die Ausschweifungen,welche die Philosophen beneiden, zu Zeiten garnicht so langweilig mögen gewesen sein, wie jeneversichern. Daß in der realisierten Freiheit Lange-weile verschwände, dafür spricht manches an Er-fahrungen, die der Zivilisation geraubt werden. DerSatz omne animal post coitum triste ist von derbürgerlichen Menschenverachtung ersonnen wor-den: nirgends mehr als an dieser Stelle unterscheidetdas Humane sich von der kreatürlichen Trauer.Nicht auf den Rausch sondern auf die gesellschaft-lich approbierte Liebe folgt der Ekel: sie ist, nachIbsens Wort, klebrig. Dem erotisch Ergriffenenwandelt die Müdigkeit sich in die Bitte um Zärt-lichkeit, und das momentane Unvermögen des Ge-schlechts wird als Zufälliges, der Leidenschaft ganzÄußerliches begriffen. Nicht umsonst hat Baudelairedie hörige erotische Obsession und die aufleuch-tende Vergeistigimg zusammengedacht und Kuß,Duft, Gespräch gleichermaßen unsterblich genannt.Die Vergänglichkeit von Lust, auf die Askese sichberuft, steht dafür ein, daß außer in den minutesheureuses, in denen das vergessene Leben des Lie-

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benden in den Knien der Geliebten widerstrahlt,Lust überhaupt noch nicht sei. Selbst die christ-lichen Denunziationen des Sexus in TolstoisKreutzersonate können die Erinnerung daran in-mitten aller Kapuzinerpredigt nicht ganz austilgen.Was er der sinnlichen Liebe vorhält, ist nicht nurdas großartig sich überschlagende theologische Motiv der Selbstverleugnung, daß kein Mensch je einenanderen sich zum Objekt machen darf, eigentlichalso der Protest gegen die patriarchale Verfügung,sondern zugleich auch Eingedenken an die bürger-liche Mißgestalt des Sexus, an dessen trübe Ver-filzung mit jeglichem materiellen Interesse, an dieEhe als schmählichen Kompromiß, soviel auch anRousseauschem Ressentiment gegen den in der Re-flexion gesteigerten Genuß mit unterläuft. Der An-griff auf die Verlobungszeit trifft die Familien-photographie, der das Wort Bräutigam ähnelt.''Dazu kam noch diese widerwärtige Gewohnheitdes Konfektmitbringens, der Überladung mit aller-hand Süßigkeiten und alle die abscheulichen Vor-bereitungen zur Hochzeit: nur von der Wohnung,dem Schlafzimmer, den Betten, von Haus- undSchlafröcken, Wäsche, Toiletteartikeln hörte manringsum reden." Ähnlich spottet er über die Flitter-wochen, die der Enttäuschung nach dem Besuch

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einer marktschreierisch empfohlenen und „höchstuninteressanten" Jahrmarktsbude verglichen wer-den. Am degoüt tragen weniger die erschöpftenSinne schuld als das Institutionelle, Erlaubte, Ein-gebaute, die falsche Immanenz der Lust in einerOrdnung, von der sie zugerichtet wird und die siezum Todtraurigen macht in dem Augenblick, indem sie sie verordnet. Solcher Widerwille vermagso anzuwachsen, daß schließlich aller Rausch inmit-ten der Versagungen Heber unterbleibt, als durchVerwirklichung an seinem Begriff zu freveln.

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Heliotrop. — Dem, zu dessen Eltern Logier-besuch kommt, schlägt das Herz mit größerer Er-wartung als je vor Weihnachten. Sie gilt nichtGeschenken sondern dem verwandelten Leben. DasParfüm, das die eingeladene Dame auf die Kom-mode stellt, während er beim Auspacken zusehendarf, hat den Duft, der der Erinnerung gleicht,schon wenn er ihn zum ersten Mal atmet. Die Kof-fer mit den Schildern vom Suvrettahaus und vonMadonna di Campiglio sind Truhen, in denen dieEdelsteine Aladdins und Ali Babas, eingehüllt in

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kostbare Gewebe, die Kimonos des Logierbesuchs,aus den Karawansereien der Schweiz und Südtirolsin Schlafwagensänften herbeigeschleppt werden zurgesättigten Betrachtung. Und wie im Märchen Feenzu Kindern reden, so redet der Besuch ernsthaft,ohne Herablassung zum Kinde des Hauses. Ver-ständig fragt es nach Land und Leuten, und die,für welche es nicht täglich vertraut ist und dienichts sieht als die Faszination in seinen Augen,antwortet ihm mit Schicksalssprüchen von der Ge-hirnerweichung des Schwagers und den Ehehändelndes Neffen. So fühlt das Kind mit einem Male inden mächtigen und geheimnisvollen Bund der Er-wachsenen sich aufgenommen, die magische Rundeder vernünftigen Leute. Mit der Ordnung des Tages— vielleicht darf am folgenden die Schule ver-säumt werden — sind auch die Grenzen zwischenden Generationen suspendiert, und die wahre Pro-miskuität ahnt, wer um elf Uhr immer noch nichtins Bett geschickt wird. Der eine Besuch weiht denDonnerstag zum Fest, in dessen Rauschen man mitder ganzen Menschheit zu Tische zu sitzen meint.Denn der Gast kommt von weither. Sein Erschei-nen verspricht dem Kind das Jenseits der Familieund gemahnt es daran, daß diese das letzte nichtsei. Die Sehnsucht ins ungestalte Glück, in den Teich

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der Salamander und Störche, die das Kind müh-sam zu bändigen lernte und durch das Schreckbilddes schwarzen Mannes, des Unholds, der es ent-führen will, verstellte — hier findet es ohne Angstnun sie wieder. Mitten unter den Seinen und ihnenbefreundet erscheint die Figur dessen, was andersist. Die wahrsagende Zigeunerin, durch die Vorder-tür eingelassen, wird in der besuchenden Dame los-gesprochen und verklärt sich zum rettenden Engel.Sie nimmt vom Glück der nächsten Nähe den Fluch,indem sie es der äußersten Ferne vermählt. Daraufwartet das ganze Dasein des Kindes, und so mußspäter noch warten können, wer das Beste der Kind-heit nicht vergißt. Liebe zählt die Stunden bis zujener, da der Logierbesuch über die Schwelle trittund das verfärbte Leben wieder herstellt durch einUnmerkliches: „Da bin ich wieder / hergekommenaus weiter Welt."

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R e i n e r Wein. — Ob ein Mensch es gut mitdir meint, dafür gibt es ein fast untrügliches Kri-terium: wie jener unfreundliche oder feindseligeÄußerungen über dich referiert. Meist sind solche

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Berichte überflüssig, nichts als Vorwände, Übelwol-len ohne Verantwortung, ja im Namen des Gutendurchdringen zu lassen. Wie alle Bekannten dieNeigung verspüren, von allen gelegentlich Schlech-tes zu sagen, wohl auch weil sie gegen das Grauder Bekanntschaft aufbegehren, so ist jeder zugleichgegen die Ansichten eines jeden empfindlich undwünscht sich insgeheim, dort noch geliebt zu wer-den, wo er selber gar nicht liebt: nicht wenigerwahllos und allgemein als die Entfremdung zwi-schen den Menschen ist die Sehnsucht, sie zu durch-brechen. In diesem Klima gedeiht der Kolporteur,dem es nie an Stoff und Unheil fehlt, und der stetsdamit rechnen darf, daß, wer möchte, daß alle ihnmögen, begierig lauert, das Gegenteil zu erfahren.Abfällige Bemerkungen sollte man wiedergeben nur,wenn es unmittelbar und durchsichtig um gemein-same Entscheidungen, die Beurteilung von Men-schen geht, auf die man sich zu verlassen, mit denenman etwa zu arbeiten hat. Je uninteressierter derBericht, desto trüber das Interesse, die verdrückteLust, Schmerz zuzufügen.Harmlos ist es noch, wennder Erzähler die beiden Kontrahenten schlicht gegen-einander aufhetzen und zugleich seine eigenenQualitäten ins Licht rücken will. Häufiger tritt erals unausdrücklich berufenes Mundstück der öffent-

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lichen Meinung auf und gibt gerade durch affekt-lose Objektivität dem Opfer die ganze Gewalt desAnonymen zu verstehen, vor dem es ducken soll.Die Lüge wird offenbar an der unnützen Sorge umdie Ehre des Beleidigten, der von der Beleidigungnichts weiß, um klare Verhältnisse, um innere Rein-lichkeit: sobald diese in der verstrickten Welt ver-fochten wird, befördert man seit Gregers Werledie Verstrickung. Kraft des moralischen Eifers wirdder Wohlmeinende zum Zerstörer.

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Und h ö r e n u r , w i e b ö s er war. —Solche, die in unvermutete Lebensgefahr, jähe Kata-strophen hineingerieten, berichten oft, daß sie zueinem überraschenden Maße frei von Angst waren.Der allgemeine Schrecken kehrt sich nicht spezifischgegen sie, sondern trifft sie als bloße Einwohnereiner Stadt, Mitglieder eines größeren Verbandes. InsZufällige, gleichsam Unbeseelte schicken sie sich, alsginge es sie eigentlich nichts an. Psychologisch wirdAngstlosigkeit durch Mangel an Angstbereitschaftgegenüber dem überwältigenden Schlag erklärt. DieFreiheit der Augenzeugen hat etwas Beschädigtes,

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der Apathie Verwandtes. Der psychische Organis-mus gleich dem Leib ist auf Erlebnisse einer Größen-ordnung eingestimmt, die ihm selber irgend ent-spricht. Steigert der Gegenstand der Erfahrung sichüber die Proportion zum Individuum hinaus, so er-fährt es ihn eigentlich gar nicht mehr, sondernregistriert ihn unvermittelt, durch den anschauungs-losen Begriff, als ein ihm Äußerliches, Inkommen-surables, zu dem es so kalt sich verhält, wie derkatastrophische Schock zu ihm. Im Moralischen gibtes ein Analogon dazu. Wer Handlungen begeht,die nach den anerkannten Normen als großes Un-recht gelten, wie die Rache an Feinden, die Ver-weigerung von Mitleid, wird dabei kaum der Schuldspontan sich bewußt sein und eher diese mit müh-samer Anstrengung sich selbst vergegenwärtigen.Die Lehre von der Staatsraison, die Trennung vonMoral und Politik ist nicht unberührt von diesemSachverhalt. In seinem Sinne faßt sie den extremenGegensatz von öffentlichem Wesen und Einzel-existenz auf. Der große Frevel stellt in weitem Maßdem Individuum als bloßes Vergehen gegen dieKonvention sich dar, nicht bloß weil jene Normen,die er verletzt, selber ein Konventionelles, Erstarr-tes, für das lebendige Subjekt Unverbindlicheshaben, sondern weil ihre Objektivierung als solche,

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auch wo ihnen Substanz zugrunde liegt, sie dermoralischen Innervation, dem Umkreis des Gewis-sens entrückt. Der Gedanke an einzelne Taktlosig-keiten jedoch, Mikroorganismen des Unrechts, dievielleicht kein anderer bemerkte: daß man auf einerGesellschaft zu früh an einen Tisch sich setzte, oderbei einem Tee Kärtchen mit den Namen der Gästeauf ihre Plätze legte, wie es erst beim Diner sichgehört — solche Lappalien mögen den Delinquen-ten mit unbezwinglicher Reue und leidenschaftlichschlechtem Gewissen erfüllen, zuweilen mit so bren-nender Scham, daß er sie keinem Menschen und amliebsten nicht einmal sich selbst eingestünde. Er istdabei keineswegs durchaus edel, denn er weiß, daßdie Gesellschaft gegen Unmenschlichkeit gar nichts,gegen falsches Benehmen um so mehr einzuwendenhat, und daß ein Mann, der die kleine Freundinwegschickt und als rechter Herr sich bewährt, dersozialen Sanktion sicher sein kann, einer aber, dereinem gar zu jungen Mädchen von Familie respekt-voll die Hand küßt, der Lächerlichkeit sich aus-setzt. Jedoch die luxuriös narzißtischen Sorgen ge-währen noch einen zweiten Aspekt: den des Refu-giums der von der vergegenständlichten Ordnungzurückprallenden Erfahrung. An die kleinsten Zügedes Verfehlten oder Korrekten reicht das Subjekt

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heran und vermag an ihnen als richtig oder falschhandelndes sich zu bewähren; seine Indifferenzgegen die sittliche Schuld aber ist getönt von demBewußtsein, daß die Ohnmacht der eigenen Ent-scheidung anwächst mit der Dimension ihres Ge-genstands. Stellt man nachträglich fest, daß mandamals, als man mit der Freundin im Bösen aus-einanderging, ohne sie wieder anzurufen, in derTat sie verstoßen habe, so wohnt der Vorstellungdavon ein leicht Komisches inne; es klingt wie dieStumme von Portici. „Murder", heißt es in einemDetektivroman von Ellery Queen, „is so ... news-papery. It doesn't happen to you. You read aboutit in a paper, or in a detective story, and it makesyou wriggle with disgust, or sympathy. But itdoesn't mean anythmg". Autoren wie ThomasMann haben daher zeitungsfähige Katastrophen,vom Eisenbahnunglück bis zur Mordtat der Ver-schmähten, grotesk beschrieben und gleichsam dasLachen, das die feierliche Hauptbegebenheit wie dasBegräbnis unwiderstehlich sonst provoziert, ge-bannt, indem sie es zur Sache des poetischen Sub-jekts machten. Im Gegensatz dazu sind die mini-malen Verstöße darum so relevant, weil wir inihnen gut und böse sein können, ohne darüber zulächeln, wäre auch unser Ernst ein wenig wahnhaft.

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An ihnen lernen wir mit dem Moralischen um-gehen, es bis in die Haut hinein — als Erröten —spüren, dem Subjekt es zueignen, das auf dasgigantische Sittengesetz in sich so hilflos blickt wieauf den gestirnten Himmel, den jenes schlecht nach-ahmt. Daß jene Begegnisse an sich amoralisch seien,während doch auch spontan gute Regungen, mensch-liche Teilnahme ohne das Pathos der Maxime sichereigneten, entwertet nicht die Verliebtheit ins Ge-ziemende. Denn indem die gute Regung, ohne umEntfremdung sich zu kümmern, das Allgemeinegeraden Weges ausdrückt, läßt sie leicht genug dasSubjekt als ein sich selbst Entfremdetes, als bloßenAgenten der Gebote hervortreten, mit denen es sicheins dünkt: als prächtigen Menschen. Umgekehrtvermag der, dessen moralischer Impuls aufs ganzÄußerliche, die fetischisierte Konvention anspricht,im Leiden an der unüberwindlichen Divergenz voninnen und außen, die er in ihrer Verhärtung fest-hält, das Allgemeine zu ergreifen, ohne sich selberund die Wahrheit seiner Erfahrung darüber zuopfern. Seine Überspannung aller Distanzen meintdie Versöhnung. Dabei verhält der Monomane sichnicht ohne einige Rechtfertigung durch den Gegen-stand. In der Sphäre des Umgangs, auf die er sichkapriziert, kehren alle Aporien des falschen Lebens

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wieder, und seine Verranntheit hat es mit demGanzen zu tun, nur daß er hier den sonst seinerReichweite entrücktes Konflikt paradigmatisch, inStrenge und Freiheit austragen kann. "Wer dagegenseiner Reaktionsweise nach mit der gesellschaft-lichen Realität konformiert, dessen Privatleben ge-bärdet sich genau so formlos, wie die Abschätzungder Machtverhältnisse ihre Form ihm aufzwingt.Er hat die Neigung, wo immer er der Aufsicht durchdie Außenwelt entzogen ist, wo immer er im er-weiterten Umkreis des eigenen Ichs zu Hause sichfühlt, rücksichtslos und brutal aufzutreten. Andenen, die ihm nahe sind, rächt er sich für alleDisziplin und allen Verzicht auf die unmittelbareÄußerung der Aggression, den die Fernen ihm auf-erlegen. Er verhält sich nach außen, gegen dieobjektiven Feinde höflich und freundlich, in Freun-desland aber kalt und feindselig. Wo ihn nichtZivilisation als Selbsterhaltung zur Zivilisation alsHumanität nötigt, läßt er seiner Wut gegen diesefreien Lauf und widerlegt die eigene Ideologie vonHeim, Familie und Gemeinschaft. Dagegen geht diemikrologisch verblendete Moral an. Sie wittert imentspannt Familiären, Formlosen den bloßen Vor-wand der Gewalt, die Berufung darauf, wie gutman miteinander sei, um nach Herzenslust böse

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sein zu können. Sie unterwirft das Intime demkritischen Anspruch, weil Intimitäten entfremden,die unwägbar feine Aura des anderen antasten, dieihn zum Subjekt erst krönt. Einzig durch die An-erkennung von Ferne im Nächsten wird Fremdheitgemildert: hineingenommen ins Bewußtsein. DerAnspruch ungeschmälerter, je schon erreichter Nähejedoch, die Verleugnung der Fremdheit gerade, tutdem andern das äußerste Unrecht an, negiert ihnvirtuell als besonderen Menschen und damit dasMenschliche in ihm, „rechnet ihn dazu", verleibtihn dem Inventar des Besitzes ein. Wo das Un-mittelbare sich selber setzt und verschanzt, setzteben dadurch die schlechte Mittelbarkeit der Ge-sellschaft hintersinnig sich durch. Der Sache vonUnmittelbarkeit nimmt einzig noch die behutsamsteReflexion sich an. Darauf wird die Probe im Klein-sten gemacht.

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11 s e r v o p a d r o n e . — Zu den stumpf-sinnigen Leistungen, welche die herrschaftliche Kul-tur von den Unterklassen verlangt, werden diesefähig allein durch permanente Regression. Gerade

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das Umgeformte an ihnen ist Produkt der gesell-schaftlichen Form. Die Erzeugung von Barbarendurch die Kultur ist aber stets von dieser dazuausgenutzt worden, ihr eigenes barbarisches We-sen am Leben zu erhalten. Herrschaft delegiertdie physische Gewalt, auf der sie beruht, an Be-herrschte. Während diesen die Genugtuung zuteilwird, ihre verbogenen Instinkte als das kollektivRechte und Billige auszutoben, lernen sie zu ver-üben, wessen die Edlen bedürfen, damit sie es sichleisten können, edel zu bleiben. Die Selbsterziehungder herrschenden Clique mit allem, was sie an Dis-ziplin, Abdrosselung jeder unmittelbaren Regung,zynischer Skepsis und blinder Kommandolust er-heischt, käme nicht zustande, wenn nicht die Unter-drücker durch gedungene Unterdrückte sich selberein Stück der Unterdrückung bereiteten, die sie denanderen bereiten. Daher wohl sind die psycholo-gischen Differenzen zwischen den Klassen so vielgeringer als die objektiv-ökonomischen. Die Har-monie des Unversöhnlichen kommt dem Fortbestandder schlechten Totalität zugute. Die Gemeinheit desVorgesetzten und die Schneidigkeit des Gemeinenverstehen sich. Von den Dienstboten und Gouver-nanten, die Kinder aus guten Häusern dem Ernstdes Lebens zuliebe schikanieren, über die Lehrer aus

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dem Westerwald, die ihnen wie den Gebrauch derFremdwörter so die Lust an aller Sprache austreiben,über die Beamten und Angestellten, die sie Schlangestehen lassen, die Unteroffiziere, die sie treten, gehtes schnurstracks zu den Folterknechten der Gestapound den Bürokraten der Gaskammern. Auf dieDelegierung der Gewalt an die Unteren sprechenfrüh die Regungen der Oberen selber an. Wem esbei der Wohlerzogenheit der Eltern graut, flüchtetin die Küche und wärmt sich an den Kraftaus-drücken der Köchin, die insgeheim das Prinzip derelterlichen Wohlerzogenheit abgeben. Die feinenLeute zieht es zu den unfeinen, deren Roheit trü-gend ihnen verheißt, worum die eigene Kultur siebringt. Sie wissen nicht, daß das Unfeine, das ihnenanarchische Natur dünkt, nichts ist als der Reflexauf den Zwang, gegen den sie sich sträuben. Zwi-schen der Klassensolidarität der Oberen und ihrerAnbiederung an die Abgesandten der Unterklassevermittelt ihr berechtigtes Schuldgefühl den Armengegenüber. Wer aber den Ungefügen sich fügenlernte, wem das „So wird das hier gemacht" bisins Innerste drang, der ist schließlich selbst soeiner geworden. Bettelheims Beobachtung vonder Identifikation der Opfer mit den Henkernder Nazilager enthält das Urteil über die ge#

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hobenen Pflanzstätten der Kultur, die englischePublic School, die deutsche Kadettenanstalt. DerWidersinn wird durch sich selbst perpetuiert:Herrschaft erbt sich fort durch die Beherrschtenhindurch.

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H i n u n t e r u n d immer w e i t e r . — Esscheinen die privaten Beziehungen zwischen denMenschennach demModell des industriellen bottle-neck sich zu formen. Noch in der kleinsten Ge-meinschaft gehorcht das Niveau dem Subalternstenihrer Mitglieder. Wer in der Konversation etwaüber den Kopf auch nur eines einzigen hinwegredet,wird taktlos. Der Humanität zuliebe beschränktdas Gespräch sich aufs Nächste, Stumpfste undBanalste, wenn nur ein Inhumaner anwesend ist.Seitdem die Welt den Menschen die Rede verschla-gen hat, behält der Unansprechbare recht. Er brauchtbloß stur auf seinem Interesse und seiner Beschaf-fenheit zu beharren, um durchzudringen. Schon daßder andere, vergeblich um Kontakt bemüht, in plä-dierenden oder werbenden Tonfall gerät, macht ihnzum Schwächeren. Da das bottleneck keine Instanz

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kennt, die übers Tatsächliche sich erhöbe, währendGedanke und Rede notwendig auf eine solche In-stanz verweisen, wird Intelligenz zur Naivetät,und das nehmen die Dummköpfe unwiderleglichwahr. Das Eingeschworensein aufs Positive wirktals Schwerkraft, die alle hinunterzieht. Sie zeigtder opponierenden Regung sich überlegen, indemsie in die Verhandlung mit dieser gar nicht mehreintritt. Der Differenziertere, der nicht untergehenwill, bleibt zur Rücksicht auf alle Rücksichtslosenstrikt verhalten. Von der Unruhe des Bewußtseinsbrauchen diese nicht länger sich plagen zu lassen.Geistige Schwäche, bestätigt als universales Prinzip,erscheint als Kraft zum Leben. Formalistisch-admini-stratives Erledigen, Schubfächerweise Trennung allesdem Sinne nach Untrennbaren, verbohrte Insistenzauf der zufälligen Meinung bei Abwesenheit jeg-lichen Grundes, kurz die Praktik, jeden Zug dermißlungenen Ichbildung zu verdinglichen, dem Pro-zeß der Erfahrung zu entziehen und als das letzteSo bin ich nun einmal zu behaupten, genügt, un-bezwingliche Positionen zu erobern. Man darf desEinverständnisses der anderen, ähnlich Deformier-ten, wie des eigenen Vorteils gewiß sein. Im zy-nischen Pochen auf den eigenen Defekt lebt dieAhnung, daß der objektive Geist auf der gegen

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wärtigen Stufe den subjektiven liquidiert. Sie sinddown to earth wie die zoologischen Ahnen, ehediese sich auf die Hinterbeine stellten.

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T u g e n d s p i e g e l . — Allbekannt ist der Zu-sammenhang von Unterdrückung und Moral alsTriebverzicht. Aber die moralischen Ideen unter-drücken nicht nur die anderen, sondern sind vonder Existenz der Unterdrücker unmittelbar deriviert.Seit Homer läßt der griechische Sprachgebrauch dieBegriffe des Guten und des Reichen ineinander spie-len. Die Kalokagathie, die von den Humanistender neuzeitlichen Gesellschaft als Muster ästhetisch-moralischer Harmonie vorgehalten wurde, hat stetsschwere Akzente auf den Besitz gelegt, und dieAristotelische Politik gesteht unbefangen die Fusiondes inneren Wertes mit dem Status zu in der Be-stimmung des Adels, der „ererbter Reichtum, mitTrefflichkeit verbunden" sei. Die Konzeption derPolis im klassischen Zeitalter, in der innerliches undäußerliches Wesen, die Geltung des Individuumsim Stadtstaat und sein Selbst als Einheit behauptetwaren, hat es erlaubt, dem Reichtum moralischen

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Rang zuzusprechen, ohne dabei dem groben Ver-dacht sich auszusetzen, der der Doktrin damalsschon gebührt hatte. Wenn die sichtbare Wirkungim bestehenden Staat den Maßstab für den Men-schen abgibt, dann ist es nichts als konsequent, denmateriellen Reichtum, der ihm jene Wirkung hand-greiflich bestätigt, als Eigenschaft ihm gutzuschrei-ben, da ja seine moralische Substanz selber, nichtanders als später in Hegels Philosophie, durch seineTeilhabe an der objektiven, sozialen konstituiertsein soll. Erst das Christentum hat jene Identifika-tion negiert im Satz, daß eher ein Kamel durchsNadelöhr als ein Reicher in den Himmel komme.Aber die besondere theologische Prämie auf frei-willig gewählte Armut zeigt an, wie tief das allge-meine Bewußtsein von der Moralität des Besitzesgeprägt ist. Festes Eigentum unterscheidet von dernomadischen Unordnung, gegen die alle Norm ge-richtet ist; gut sein und Gut haben fallen von An-beginn zusammen. Der Gute ist, der sich selbst be-herrscht als seinen eigenen Besitz: sein autonomesWesen ist der materiellen Verfügung nachgebildet.Nicht sowohl sind daher die Reichen der Unmoralzu zeihen — der Vorwurf gehört von je zur Arma-tur politischer Unterdrückung —, als ins Bewußt-sein zu heben, daß sie den anderen die Moral dar-

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stellen. In ihr reflektiert sich die Habe. Reichtumals Gutsein ist ein Element des Kitts der Welt: derzähe Schein solcher Identität verhindert die Kon-frontation der Moralideen mit der Ordnung, in derdie Reichen recht haben, während zugleich anderekonkrete Bestimmungen des Moralischen als dievom Reichtum abgezogenen nicht konzipiert wer-den konnten. Je mehr späterhin Individuum undGesellschaft in der Konkurrenz der Interessen aus-einander treten, und je mehr das Individuum insich selbst zurückgeworfen wird, um so sturer hältes an der Vorstellung vom moralischen Wesen desReichtums fest. Er soll die Möglichkeit der Wieder-vereinigung des Entzweiten, von innen und außenverbürgen. Das ist das Geheimnis der innerwelt-lichen Askese, der von Max Weber fälschlich hypo-stasierten unbegrenzten Anstrengung des Geschäfts-mannes ad majorem dei gloriam. Der materielleErfolg verbindet Individuum und Gesellschaft nichtbloß in dem komfortablen und mittlerweile frag-lichen Sinn, daß der Reiche der Einsamkeit entrin-nen kann, sondern in einem weit radikaleren: wirddas blinde, isolierte Eigeninteresse nur weit genuggetrieben, so geht es mit der ökonomischen in ge-sellschaftliche Macht über und offenbart sich alsInkarnation des allverbindenden Prinzips. Wer reich

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ist oder Reichtum erwirbt, erfährt sich als den, der„aus eigener Kraft", als Ich vollbringt, was der ob-jektive Geist, die wahrhaft irrationale Gnadenwahleiner durch brutale ökonomische Ungleichheit zu-sammengehaltenen Gesellschaft, will. So mag dennder Reiche als Güte sich zurechnen, was doch nurderen Absenz bezeugt. Er selbst und andere erfahrenihn als Verwirklichung des allgemeinen Prinzips.Weil es die Ungerechtigkeit ist, deshalb wird derUngerechte regelmäßig zum Gerechten, und nicht inbloßer Illusion, sondern getragen von der Allmachtdes Gesetzes, nach dem die Gesellschaft sich reprodu-ziert. Reichtum des Einzelnen ist untrennbar vomFortschritt in der Gesellschaft der 'Vorgeschichte'.Die Reichen verfügen über die Produktionsmittel.Die technischen Fortschritte, an denen die Gesamt-gesellschaft partizipiert, werden daher primär als„ihre" Fortschritte, heute die der Industrie ver-bucht, und die Fords erscheinen notwendig zugleichum ebensoviel als Wohltäter, wie sie es im Rahmender bestehenden Produktionsverhältnisse tatsäch-lich auch sind. Ihr vorweg etabliertes Privileg läßtes aussehen, als gäben sie von dem Ihren — nämlichden Zuwachs auf der Gebrauchswertseite — ab,während sie in den von ihnen verwalteten Segnun-gen doch nur Teile des Gewinns zurückfließen lassen.

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Das ist der Grund des Verblendungscharakters dermoralischen Hierarchie. Wohl ist Armut stets ver-herrlicht worden als Askese, die gesellschaftlicheBedingung zum Erwerb eben des Reichtums, in demSittlichkeit sich manifestiere, aber trotzdem bedeu-tet, wie man weiß, „What a man is worth" dasBankkonto und im Jargon des deutschen Handels-verkehrs „der Mann ist gut", daß er zahlen kann.Was jedoch die Staatsraison der allmächtigenWirtschaft so zynisch einbekennt, das reicht unein-gestanden in die Verhaltensweisen der Einzelnen.Generosität im privaten Verkehr, wie sie vermeint-lich die Reichen sich leisten können, der Abglanzvon Glück, der auf ihnen ruht, und von dem etwasnoch auf jene fällt, die sie heranlassen, all daswirkt am Schleier. Sie bleiben nett, the right people,die besseren Leute, die Guten. Reichtum distanziertvom unmittelbaren Unrecht. Der Schutzmann schlägtmit dem Gummiknüppel auf den Streikenden los,der Sohn des Fabrikanten darf gelegentlich mitdem progressiven Schriftsteller Whisky trinken.Nach allen Desideraten der privaten Moral, undwären es die avanciertesten, könnte der Reiche, wenner es nur könnte, in der Tat stets besser sein als derArme. Jene real freilich ungenützte Möglichkeitspielt ihre Rolle in der Ideologie derer, die sie nicht

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haben: noch dem ertappten Hochstapler, der immer-hin den legitimen Trustherren vorzuziehen seinmag, wird nachgerühmt, er habe doch ein so schönesHaus gehabt, und der hochbezahlte executive wirdzum warmen Menschen, wenn er opulente Abend-essen serviert. Die barbarische Erfolgsreligion vonheute ist demnach nicht einfach widermoralisch,sondern in ihr findet das Abendland heim zu denehrwürdigen Sitten der Väter. Selbst die Normen,welche die Einrichtung der Welt verdammen, ver-danken sich deren eigenem Unwesen. Alle Moralhat sich am Modell der Unmoral gebildet und bisheute auf jeder Stufe diese wiederhergestellt. DieSklavenmoral ist schlecht in der Tat: sie ist immernoch Herrenmoral.

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Rosenkavalier. — Zu den eleganten Leu-ten zieht die Erwartung, sie seien privat frei vonder Gier nach Vorteil, der ihnen durch ihre Positionsowieso zufließt, und von der sturen Befangenheitin nächsten Verhältnissen, die selber von derenEnge bewirkt wird. Man traut Ihnen Abenteuerlustdes Gedankens, Souveränität gegenüber der eigenen

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versagt ist. So wie sie nicht fähig sind, den uner-meßlich angewachsenen Reichtum selber zu genie-ßen, so sind sie zugleich unfähig, gegen sich selberzu denken. Vergebens die Suche nach Frivolität.Zur Verewigung des realen Unterschieds von obenund unten hilft, daß er als Unterschied zwischenden Bewußtseinsweisen hier und dort mehr stetsverschwindet. Die Armen werden von der Diszi-plin der anderen am Denken verhindert, die Reichenvon der eigenen. Das Bewußtsein der Herrschendenvollendet allem Geist gegenüber, was zuvor derReligion widerfuhr. Kultur wird dem großen Bür-gertum ein Element der Repräsentation. Daß einerklug oder gebildet sei, rangiert unter den Quali-täten, die ihn einladens- oder heiratswert machen,wie gutes Reiten, Naturliebe, Charme oder eintadellos sitzender Frack. Auf Erkenntnis sind sienicht neugierig. Meist gehen die Sorgenfreien imTäglichen auf wie die Kleinbürger. Sie richtenHäuser ein, bereiten Gesellschaften vor, beschaffenvirtuos Hotel- und Flugzeugreservationen. Sonstzehren sie vom Abhub des europäischen Irrationalis-mus. Plump rechtfertigen sie die eigene Geistfeind-schaft, die bereits im Gedanken selber, der Unab-hängigkeit von irgendeinem Gegebenen, Seiendendas Subversive wittert und nicht einmal mit Un-

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recht. Wie zu Nietzsches Zeiten die Bildungsphilisteran den Fortschritt, die bruchlose Höherentwicklungder Massen und das größtmögliche Glück der größt-möglichen Anzahl glaubten, so glauben sie heute,ohne selbst das mehr recht zu wissen, an das Gegen-teil, die Widerrufung von 1789, die Unverbesser-lichkeit der Menschennatur, die anthropologischeUnmöglichkeit des Glücks — eigentlich nur daran,daß es den Arbeitern auf jeden Fall zu gut geht.Die Tiefe von vorgestern ist in die äußerste Ba-nalität umgeschlagen. Von Nietzsche und Bergson,den letzten rezipierten Philosophien, bleibt nichtsübrig als der trübste Antiintellektualismus im Na-men der von Ihren Apologeten geschundenen Natur.„Nichts ist mir so arg am Dritten Reich", sagte 1933die jüdische Frau eines Generaldirektors, die späterin Polen ermordet wurde, „wie daß wir jetzt nichtmehr das Wort erdhaft gebrauchen dürfen, weildie Nationalsozialisten es beschlagnahmt haben",und noch nach der Niederlage der Faschisten wußtedie holzgeschnitzte österreichische Schloßherrin, diebei einer Cocktail Party einem Arbeiterführer be-gegnete, der versehentlich für radikal galt, in ihrerBegeisterung für seine Persönlichkeit nichts alsbestialisch zu wiederholen: „und dabei ist er ganzunintellektuell, ganz unintellektuell." Ich erinnere

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mich meines Schreckens, als das aristokratische Mäd-chen vager Herkunft, das kaum deutsch ohne affek-tiert fremdländischen Akzent reden konnte, mir seineSympathien für Hitler bekannte, mit dessen Bilddas ihre unvereinbar schien. Damals dachte ich, hol-der Schwachsinn verhülle ihr, wer sie selber sei.Aber sie war klüger als ich, denn was sie darstellte,existierte schon gar nicht mehr, und indem ihrKlassenbewußtsein ihre individuelle Bestimmungdurchstrich, verhalf es ihrem Sein an sich, dem So-zialcharakter, zum Durchbruch. Man ist oben da-bei, so eisern sich zu integrieren, daß die Möglich-keit der subjektiven Abweichung entfällt und dieDifferenz nirgends mehr gesucht werden kann alsbeim aparteren Schnitt des Abendkleids.

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R e q u i e m f ü r Odette. — Die Anglomanieder Oberschicht des kontinentalen Europas rührtdavon her, daß auf der Insel feudale Übungen ri-tualisiert sind, die sich selbst genug sein sollen. Kul-tur behauptet sich da nicht als abgespaltene Sphäredes objektiven Geistes, als Teilhabe an Kunst oderPhilosophie, sondern als Form der empirischen Exi-

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mich meines Schreckens, als das aristokratische Mäd-chen vager Herkunft, das kaum deutsch ohne affek-tiert fremdländischen Akzent reden konnte, mir seineSympathien für Hitler bekannte, mit dessen Bilddas ihre unvereinbar schien. Damals dachte ich, hol-der Schwachsinn verhülle ihr, wer sie selber sei.Aber sie war klüger als ich, denn was sie darstellte,existierte schon gar nicht mehr, und indem ihrKlassenbewußtsein ihre individuelle Bestimmungdurchstrich, verhalf es ihrem Sein an sich, dem So-zialcharakter, zum Durchbruch. Man ist oben da-bei, so eisern sich zu integrieren, daß die Möglich-keit der subjektiven Abweichung entfällt und dieDifferenz nirgends mehr gesucht werden kann alsbeim aparteren Schnitt des Abendkleids.

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R e q u i e m f ü r Odette. — Die Anglomanieder Oberschicht des kontinentalen Europas rührtdavon her, daß auf der Insel feudale Übungen ri-tualisiert sind, die sich selbst genug sein sollen. Kul-tur behauptet sich da nicht als abgespaltene Sphäredes objektiven Geistes, als Teilhabe an Kunst oderPhilosophie, sondern als Form der empirischen Exi

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stenz. Das high life will das schöne Leben sein. Esbringt denen, die daran teilhaben, ideologischenLustgewinn. Dadurch, daß die Gestaltung des Da-seins zu einer Aufgabe wird, in der man Spielregelnzu befolgen, einen Stil artifiziell zu bewahren, dasdelikate Gleichgewicht von Korrektheit und Unab-hängigkeit zu halten hat, erscheint das Dasein selberals sinnvoll und beruhigt das schlechte Gewissender gesellschaftlich Überflüssigen. Die unablässigeForderung, das genau dem Status und der SituationAngemessene zu tun und zu sagen, verlangt eineArt von moralischem Effort. Man macht es sichschwer, der zu sein, der man ist, und glaubt so dempatriarchalen Noblesse oblige zu genügen. Zugleichentbindet die Verlagerung der Kultur von ihrenobjektiven Manifestationen aufs unmittelbare Lebenvom Risiko der Erschütterung der eigenen Unmit-telbarkeit durch den Geist. Dieser wird als Stören-fried des sicheren Stils, als geschmacklos verworfen,aber nicht mit der peinlichen Roheit des ostelbi-schen Junkers, sondern nach einem selber gleichsamgeistigen Kriterion, der Ästhetisierung des Alltags.Es kommt die schmeichelhafte Illusion heraus, mansei von der Spaltung in Überbau und Unter-bau, Kultur und leibhafte Wirklichkeit verschontgeblieben. Aber das Ritual fällt, bei allem aristo-

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kratischen Gehabe, in die spätbürgerliche Gewohn-heit, den Vollzug eines an sich Sinnlosen als Sinnzu hypostasieren, den Geist auf die Verdopplungdessen herunterzubringen, was ohnehin ist. DieNorm, die man befolgt, ist fiktiv, ihre gesellschaft-lichen Voraussetzungen so gut wie ihr Modell, dasHofzeremonial, sind geschwunden, und sie wirdanerkannt nicht, weil sie als bindend erfahren wäre,sondern um die Ordnung zu legitimieren, von derenIllegitimität man den Vorteil hat. Proust hat dennauch mit der Unbestechlichkeit des Verführbarenbeobachtet, daß Anglomanie und Kult formvollerLebensführung weniger bei den Aristokraten sichfindet als bei denen, die in die Hohe wollen: vomSnob zum Parvenü ist es nur ein Schritt. Daher dieVerwandtschaft von Snobismus und Jugendstil, demVersuch der durch den Tausch definierten Klasse,sich ins Bild einer vom Tausch reinen, gleichsamvegetabilischen Schönheit zu projezieren. Daß dassich selbst veranstaltende Leben nicht das Mehr alsLeben sei, kommt zutage an der Langeweile derCocktailparties und der Weekend-Einladungen aufdem Lande, des für die ganze Sphäre symbolischenGolfs und der Organisation von Social Arraks —Privilegien, an denen keiner rechten Spaß hat undmit denen die Privilegierten nur noch sich darüber

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betrügen, wie sehr es im glücklosen Ganzen auchihnen an der Möglichkeit von Freude mangelt. Imjüngsten Stadium reduziert sich das schöne Lebenauf das, wofür Veblen es durch die Zeitalter hin-durch ansehen wollte, die Ostentation, das bloßeDazugehören, und der Park bietet keinen anderenGenuß mehr als den der Mauer, an welcher diedraußen die Nase sich plattdrücken. Die Ober-schicht, deren Bosheiten ohnehin unaufhaltsam demo-kratisiert werden, läßt kraß erkennen, was längstfür die Gesellschaft gilt: Leben ist zur Ideologieseiner eigenen Absenz geworden.

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Monogramme. — Odi profanum vulgus etarceo, sagte der Sohn des Freigelassenen.

Von sehr bösen Menschen kann man sich eigent-lich gar nicht vorstellen, daß sie sterben.

Wir sagen und Ich meinen ist eine von den aus-gesuchtesten Kränkungen.

Zwischen „es träumte mir" und „ich träumte"liegen die Weltalter. Aber was ist wahrer? So wenig

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die Geister den Traum senden, so wenig ist es dasIch, das träumt.

Vorm fünfundachtzigsten Geburtstag eines inallen Stücken wohlversorgten Mannes legte ich mirim Traum die Frage vor, was ich ihm schenkenkönne, um ihm wirklich eine Freude zu machen,und erteilte mir sogleich selber die Antwort: einenFührer durch das Totenreich.

Daß Leporello über schmale Kost und wenig Geldzu klagen hat, läßt an der Existenz Don Juanszweifeln.

Früh in der Kindheit sah ich die ersten Schnee-schaufler in dünnen schäbigen Kleidern. Auf meineFrage wurde mir geantwortet, das seien Männerohne Arbeit, denen man diese Beschäftigung gäbe,damit sie sich ihr Brot verdienten. Recht ge-schieht ihnen, daß sie Schnee schaufeln müssen,rief ich wütend aus, um sogleich fassungslos zuweinen.

Liebe ist die Fähigkeit, Ähnliches an Unähn-lichem wahrzunehmen.

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Pariser Zirkusreklame vor dem zweiten Krieg: Plussport que le theätre, plus vivant que le clnema.

Vielleicht könnte ein Film, der dem Code desHays Office in allem streng Genüge tut, als großesKunstwerk geraten, aber nicht in einer Welt, in der esein Hays Office gibt.

Verlaine: die läßliche Todsünde.

Brideshead Revisited von Evelyn Waugh: so-zialisierter Snobismus.

Zille klopft dem Elend auf den Popo.

Scheler: Le Boudoir dans la Philosophie-

In einem Gedicht Liliencrons wird die Militär-musik beschrieben. Erst heißt es: „Und um die Eckebrausend brichts, wie Tubaton des Weltgerichts",und es schließt: „Zog da ein bunter Schmetterling /tsching-tsching bum, um die Ecke?" Poetische Ge-schichtsphilosophie der Gewalt, mit dem Welt-gericht am Anfang und dem Falter am Ende.

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In Trakls „Entlang" findet sich der Vers: „Sag wielang wir gestorben sind"; in Däublers „GoldenenSonetten": „Wie wahr, daß wir schon alle langestarben." Die Einheit des Expressionismus besteht imAusdruck dessen, daß die einander ganz entfremdetenMenschen, in welche Leben sich zurückgezogen hat,damit eben zu Toten wurden.

Unter den Formen, dieBorchardt ausprobte, fehlt esnicht an Umbildungen von volksliedhaften. Er scheutsich „Im Volkston" zu sagen, und nennt sie dafür: „ImTone des Volkes." Das aber klingt wie: „Im Namendes Gesetzes." Der wiederherstellende Dichter schlägtin den preußischen Polizisten um.

Nicht die letzte der Aufgaben, vor welche Denkensich gestellt sieht, ist es, alle reaktionären Argumentegegen die abendländische Kultur in den Dienst derfortschreitenden Aufklärung zu stellen.

Wahr sind nur die Gedanken, die sich selber nichtverstehen.

Als das alte Weiblein Holz zum Scheiterhaufenbeischleppte, rief Hus: Sancta simplicitas. Wie abersteht es um den Grund seines Opfers, das Abend-

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mahl in beiderlei Gestalt? Jede Reflexion erscheintnaiv vor der höheren, und nichts ist einfältig, weilalles einfältig wird auf der trostlosen Fluchtbahndes Vergessens.

Geliebt wirst du einzig, wo du schwach dichzeigen darfst, ohne Stärke zu provozieren.

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Der b ö s e Kamerad. — Eigentlich müßteich den Faschismus aus der Erinnerung meinerKindheit ableiten können. Wie ein Eroberer infernste Provinzen, hatte er dorthin seine Sendbotenvorausgeschickt, längst ehe er einzog: meine Schul-kameraden. Wenn die Bürgerklasse seit undenk-lichen Zeiten den Traum der wüsten Volksgemein-schaft, der Unterdrückung aller durch alle hegt,dann haben Kinder, die schon mit Vornamen Horstund Jürgen und mit Nachnamen Bergenroth, Bo-junga und Eckhardt hießen, den Traum tragiert,ehe die Erwachsenen historisch reif dazu waren, ihnzu verwirklichen. Ich fühlte die Gewalt des Schreck-bilds, dem sie zustrebten, so überdeutlich, daß allesGlück danach mir wie widerruflich und erborgt

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schien. Der Ausbruch des Dritten Reiches über-raschte mein politisches Urteil zwar, doch nichtmeine unbewußte Angstbereitschaft. So nah hattenalle Motive der permanenten Katastrophe mich ge-streift, so unverlöschlich waren die Mahnmale desdeutschen Erwachens mir eingebrannt, daß ich einjegliches dann in Zügen der Hitlerdiktatur wieder-erkannte: und oft kam es meinem törichten Ent-setzen vor, als wäre der totale Staat eigens gegenmich erfunden worden, um mir doch noch das an-zutun, wovon ich in meiner Kindheit, seiner Vor-welt, bis auf weiteres dispensiert geblieben war. Diefünf Patrioten, die über einen einzelnen Kamera-den herfielen, ihn verprügelten und ihn, als er beimLehrer sich beklagte, als Klassenverräter diffamier-ten — sind es nicht die gleichen, die Gefangene fol-terten, um die Ausländer Lügen zu strafen, diesagten, daß jene gefoltert würden? Deren Hallokein Ende nahm, wenn der Primus versagte —haben sie nicht grinsend und verlegen den jüdischenSchutzhäftling umstanden und sich mokiert, wenner allzu ungeschickt sich aufzuhängen versuchte?Die keinen richtigen Satz; zustande brachten, aberjeden von mir zu lang fanden — schafften sie nichtdie deutsche Literatur ab und ersetzten sie durchihr Schrifttum? Manche bedeckten die Brust mit

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rätselhaften Abzeichen und wollten im BinnenlandMarineoffiziere werden, als es längst keine Marinemehr gab: sie haben sich zu Sturmbann- und Stan-dartenführern erklärt, Legitimisten der Illegitimität. Die verkniffen Intelligenten, die so wenig Er-folg in der Klasse hatten wie unterm Liberalismusder begabte Bastler ohne Konnexionen; die darumden Eltern zu Gefallen sich mit Laubsägearbeitenbeschäftigten oder gar zur eigenen Freude an langenNachmittagen verwickelte Reißbrettzeichnungen mitbunten Tinten auszogen, verhalfen dem DrittenReich zur grausamen Tüchtigkeit und werden noch-mals betrogen. Jene aber, die immerzu trotzig ge-gen die Lehrer aufmuckten und, wie man es wohlnannte, den Unterricht störten, vom Tag, ja derStunde des Abiturs an jedoch mit den gleichen Leh-rern am gleichen Tisch beim gleichen Bier zumMännerbund sich zusammensetzten, waren zur Ge-folgschaft berufen, Rebellen, in deren ungeduldigemFaustschlag auf den Tisch die Anbetung der Herrenschon dröhnte. Sie brauchten nur sitzenzubleiben,um die zu überholen, die ihre Klasse verlassen hat-ten, und an ihnen sich zu rächen. Seitdem sie, Amts-walter und Todeskandidaten, sichtbar aus demTraum hervorgetreten sind und mich meines ver-gangenen Lebens und meiner Sprache enteignet

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haben, brauche ich nicht mehr von ihnen zu träumen. Im Faschismus ist der Alp der Kindheit zusich selber gekommen. 1935.

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V e x i e r b i l d . — Warum trotz der zur Oli-garchie vorgetriebenen historischen Entwicklungdie Arbeiter immer weniger wissen, daß sie es sind,läßt sich immerhin aus manchen Beobachtungenerraten. Während objektiv das Verhältnis derEigentümer und der Produzenten zum Produk-tionsapparat starrer stets sich verfestigt, fluktuiertum so mehr die subjektive Klassenzugehörig-keit. Das wird von der ökonomischen Entwick-lung selber begünstigt. Die organische Zusammen-setzung des Kapitals verlangt, wie oft konstatiertward, Kontrolle durch technisch Verfügende eherals durch Fabrikbesitzer. Diese waren gleichsamder Gegenpart der lebendigen Arbeit, jene ent-sprechen dem Anteil der Maschinen am Kapital.Die Quantifizierung der technischen Prozesse aber,ihre Zerlegung in kleinste, von Bildung und Erfah-rung weitgehend unabhängige Operationen, machtdie Expertenschaft jener Leiter neuen Stils in er-

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heblichem Maße zur bloßen Illusion, hinter dersich das Privileg des Zugelassenwerdens verbirgt.Daß die technische Entwicklung einen Stand erreichthat, der eigentlich alle Funktionen allen erlaubenwürde — dies immanent-sozialistische Element desFortschritts wird unterm späten Industrialismus tra-vestiert. Zugehörigkeit zur Elite scheint jedem er-reichbar. Man wartet nur auf die Kooption. Eignungbesteht in Affinität, von der libidinösen Besetzungallen Hantierens über gesund technokratische Ge-sinnung bis zur frisch-fröhlichen Realpolitik. Exper-ten sind sie nur als solche der Kontrolle. Daß jederes könnte, hat nicht zu deren Ende geführt, sonderndazu, daß jeder berufen werden mag. Bevorzugtwird, wer am genauesten hineinpaßt. Gewiß blei-ben die Erwählten verschwindende Minorität, aberdie strukturelle Möglichkeit genügt, den Schein dergleichen Chance erfolgreich unter dem System fest-zuhalten, das die freie Konkurrenz eliminiert hat,die von jenem Schein lebte. Daß die technischenKräfte den privilegienlosen Zustand erlaubten, wirdtendenziell von allen, auch von denen im Schatten,den gesellschaftlichen Verhältnissen zugute gehal-ten, die es verhindern. Allgemein zeigt die subjek-tive Klassenzugehörigkeit heute eine Mobilität,welche die Starrheit der ökonomischen Ordnung

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selber vergessen macht: stets ist das Starre zugleichdas Verschiebbare. Selbst die Ohnmacht des Einzel-nen, sein ökonomisches Schicksal noch vorauszu-kalkulieren, trägt das ihre zu solcher tröstlichenMobilität bei. Über den Sturz entscheidet nicht Un-tüchtigkeit, sondern ein undurchsichtiges hierar-chisches Gefüge, in dem keiner, kaum die oberstenSpitzen, sicher sich fühlen darf: Egalität des Be-drohtseins. Wenn im erfolgreichsten Spitzenfilmeines Jahres der heroische Fliegerkapitän zurück-kehrt, um als drugstore jerk von Kleinbürgerkari-katuren sich schikanieren zu lassen, so befriedigt ernicht nur die unbewußte Schadenfreude der Zu-schauer, sondern bestärkt sie überdies im Bewußt-sein, alle Menschen seien wirklich Brüder. ÄußersteUngerechtigkeit wird zum Trugbild der Gerechtig-keit, die Entqualifizierung der Menschen zu demihrer Gleichheit. Soziologen aber sehen der grim-migen Scherzfrage sich gegenüber: Wo ist das Prole-tariat?

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Olet. — In Europa hatte die vorbürgerliche Ver-gangenheit überlebt in der Scham, für persönlicheLeistungen oder Gefälligkeiten sich bezahlen zu

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lassen. Davon weiß der neue Kontinent nichts mehr.Auch auf dem alten tat keiner etwas umsonst, aberdas gerade ward als Wunde gespürt. Wohl ist Vor-nehmheit, die selber von nichts Besserem stammt alsdem Bodenmonopol, Ideologie. Aber sie war doch indie Charaktere tief genug eingedrungen, um ihnenden Nacken gegen den Markt zu stärken. Diedeutsche herrschende Schicht hat Geld anders alsdurch Privilegien oder Kontrolle über die Produk-tion zu verdienen bis tief ins zwanzigste Jahrhun-dert hinein verpönt. Was an den Künstlern oderGelehrten für anrüchig galt, war, wogegen dieseselber am meisten rebellierten, die Remuneration,und der Hofmeister Hölderlin so gut wie noch derPianist Liszt haben daran eben jene Erfahrungengemacht, die sich dann in ihren Gegensatz zum herr-schenden Bewußtsein umsetzten. Bis auf unsereTage bestimmte krud über die Zugehörigkeit einesMenschen zur Ober- oder Unterklasse, ob er Geldnahm oder nicht. Zuweilen schlug der schlechteHochmut in bewußte Kritik um. Jedes Kind dereuropäischen Oberschicht errötete über das Geld-geschenk, das ihm von Verwandten gemacht ward,und wenn auch die Vormacht der bürgerlichen Uti-lität solche Reaktionen brach und überkompen-sierte, so blieb doch der Zweifel wach, ob der

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Mensch bloß zum Tauschen geschaffen sei. Die Restedes Älteren waren im europäischen Bewußtsein Fer-mente des Neuen. In Amerika dagegen hat keinKind selbst gutsituierter Eltern Hemmungen, durchZeitungsaustragen ein paar Cents zu verdienen, undsolche Bedenkenlosigkeit hat sich niedergeschlagenim Habitus der Erwachsenen. Darum erscheinen soleicht dem ununterrichteten Europäer die Ameri-kaner allesamt als Leute ohne Würde, bereit zu ent-lohnten Diensten, sowie umgekehrt jene ihn für einenVagabunden und Prinzenimitator zu halten geneigtsind. Die Selbstverständlichkeit der Maxime, daßArbeit nicht schändet, die arglose Absenz einesjeglichen Snobismus gegenüber dem im feudalenSinne Entehrenden des Marktverhältnisses, dieDemokratie des Erwerbsprinzips trägt bei zumFortbestand des schlechthin Antidemokratischen, desökonomischen Unrechts, der menschlichen Entwür-digung. Keinem fällt es ein, daß es irgend Leistun-gen geben könnte, die nicht im Tauschwert aus-drückbar wären. Das ist die reale Voraussetzungfür den Triumph jener subjektiven Vernunft, dieein an sich verpflichtend Wahres nicht einmal zudenken vermag und es einzig als für andere Seien-des, Austauschbares wahrnimmt. War drüben derStolz die Ideologie, so ist es hier die Belieferung

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des Kunden. Das gilt auch für die Erzeugnisse desobjektiven Geistes. Der unmittelbare, je eigene Vor-teil im Tauschakt, das subjektiv Beschrankteste also,verbietet den subjektiven Ausdruck. Verwertbar-keit, das Apriori der konsequent marktgerechtenProduktion, läßt das spontane Bedürfnis nach ihm,nach der Sache selbst gar nicht mehr aufkommen.Noch die mit größtem Aufwand in die Welt gesetz-ten und verteilten Kulturerzeugnisse wiederholen,wäre es auch kraft einer undurchschaubaren Ma-schinerie, die Gesten des Wirtshausmusikanten, dernach dem Teller auf dem Klavier schielt, währender seinen Gönnern ihre Lieblingsmelodie einpaukt.Die Budgets der Kulturindustrie gehen in die Mil-liarden, aber das Formgesetz ihrer Leistungen ist dasTrinkgeld. Das übermäßig Blanke, hygienischSaubere der industrialisierten Kultur ist das einzigeRudiment jener Scham, ein beschwörendes Bild, ver-gleichbar den Fräcken der obersten Hotelmanagers,die, um nur ja nicht mehr wie Oberkellner auszu-sehen, die Aristokraten an Eleganz überbieten unddamit wieder als Oberkellner erkennbar werden.

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I. Q. — Die jeweils dem fortgeschrittensten tech-nischen Entwicklungsstand angemessenen Verhal-tensweisen beschränken sich nicht auf die Sektoren,in denen sie eigentlich gefordert sind. So unterwirftDenken sich der gesellschaftlichen Leistungskon-trolle nicht dort bloß, wo sie ihm beruflich aufge-zwungen wird, sondern gleicht seine ganze Kom-plexion ihr an. "Weil nachgerade der Gedanke indie Losung von zugewiesenen Aufgaben sich ver-kehrt, wird auch das nicht Zugewiesene nach demSchema der Aufgabe behandelt. Der Gedanke, derAutonomie verlor, getraut sich nicht mehr, Wirk-liches um seiner selbst willen in Freiheit zu begrei-fen. Das überläßt er mit respektvoller Illusion denHöchstbezahlten und macht dafür sich selber meß-bar. Er benimmt sich tendenziell bereits von sichaus, als ob er unablässig seine Tauglichkeit darzu-tun hätte. Auch wo es nichts zu knacken gibt, wirdDenken zum Training auf irgend abzulegendeÜbungen. Zu seinen Gegenständen verhält es sichwie zu bloßen Hürden, als permanenter Test deseigenen in Form Seins. Überlegungen, die sich durchBeziehung zur Sache und damit vor sich selber ver-antworten möchten, fordern den Argwohn heraus,

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sie seien eitle, windige, asoziale Selbstbefriedigung.Wie den Neopositivisten Erkenntnis sich spaltet indie angehäufte Empirie und den logischen Forma-lismus, so polarisiert sich die geistige Tätigkeit desTypus, dem die Einheitswissenschaft auf den Leibgeschrieben ist, ins Inventar des Gewußten und dieStichprobe der Denkfähigkeit: jeder Gedanke wirdihnen zum Quiz entweder der Informiertheit oderder Eignung. Irgendwo müssen die richtigen Ant-worten schon verzeichnet stehen. Instrumentalism,die jüngste Version des Pragmatismus, ist längstnicht mehr bloß Sache der Anwendung des Denkens,sondern das Apriori seiner eigenen Form. Wennoppositionelle Intellektuelle aus solchem Bannkreisden Inhalt der Gesellschaft anders wollen, so lähmtsie die Gestalt des eigenen Bewußtseins, die vorwegnach dem Bedarf dieser Gesellschaft modelliert ist.Während der Gedanke verlernt hat sich selbst zudenken, ist er zugleich zur absoluten Prüfungs-instanz seiner selbst geworden. Denken heißt nichtsanderes mehr als in jedem Augenblick darüberwachen, ob man auch denken kann. Daher das Er-stickte noch jeder scheinbar unabhängigen geistigenProduktion, der theoretischen nicht weniger als derkünstlerischen. Die Vergesellschaftung des Geisteshält ihn Überdacht, gebannt, unter Glas, solange die

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Gesellschaft selber gefangen ist. Wie Denken vor-dem die einzelnen von außen befohlenen Pflich-ten verinnerlichte, so hat es heute seine Integrationin den umfassenden Apparat sich einverleibt undgeht daran zugrunde, noch ehe die ökonomischenund politischen Verdikte es recht ereilen.

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W h i s h f u l Thinking. — Intelligenz isteine moralische Kategorie. Die Trennung von Ge-fühl und Verstand, die es möglich macht, denDummkopf frei und selig zu sprechen, hypostasiertdie historisch zustandegekommene Aufspaltung desMenschen nach Funktionen. Im Lob der Einfaltschwingt die Sorge darum mit, daß nur ja das Ge-trennte nicht zueinander finde und das Unwesenstürze. „Hast du Verstand und ein Herz", lautetein Distichon Hölderlins, „so zeige nur eines vonbeiden. / Beides verdammen sie dir, zeigst du bei-des zugleich." Die Schmähung des beschränktenVerstandes im Vergleich mit der unendlichen, aberals unendliche dem endlichen Subjekt stets zugleichunerforschlichen Vernunft, von der die Philosophiewiderhallt, klingt trotz ihres kritischen Rechts an

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die Weise: „Üb immer Treu und Redlichkeit" an.Wenn Hegel dem Verstand seine Dummheit demon-striert, so bringt er dabei nicht bloß die isolierte Re-flexionsbestimmung, den Positivismus jeden Namens,auf ihr Maß an Unwahrheit, sondern wird zum Mit-schuldigen am Denkverbot, beschneidet die nega-tive Arbeit des Begriffs, welche die Methode selbstzu leisten beansprucht, und beschwört auf der höch-sten Höhe der Spekulation den protestantischenPfarrer, der seiner Herde empfiehlt, es zu bleiben,anstatt auf ihr schwaches Licht sich zu verlassen.Vielmehr wäre es an der Philosophie, im Gegen-satz von Gefühl und Verstand deren Einheit auf-zusuchen: eben die moralische. Intelligenz, als Kraftdes Urteils, widersetzt sich in dessen Vollzug demje Vorgegebenen, indem sie es zugleich ausdrückt.Das Vermögen des gegen die Triebregung sich ab-dichtenden Urteilens geiade wird ihr gerecht durchein Moment des Gegendrucks gegen den gesell-schaftlichen. Urteilskraft mißt sich an der Festig-keit des Ichs. Damit aber auch an jener Dynamikder Triebe, welche von der Arbeitsteilung der Seeledem Gefühl überantwortet wird. Instinkt, der Willestandzuhalten, ist ein Sinnesimplikat der Logik.Indem in ihr das urteilende Subjekt an sich vergißt,unbestechlich sich zeigt, erficht es seine Siege. Wie

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dagegen im engsten Umkreis Menschen dort ver-dummen, wo ihr Interesse anfängt, und dann ihrRessentiment gegen das kehren, was sie nicht ver-stehen wollen, weil sie es allzu gut verstehen könn-ten, so ist noch die planetarische Dummheit, welchedie gegenwärtige Welt daran verhindert, den Aber-witz ihrer eigenen Einrichtung zu sehen, das Produktdes unsublimiertcn, unaufgehobenen Interesses derHerrschenden. Kurzfristig und doch unaufhaltsamverhärtet es sich zum anonymen Schema des ge-schichtlichen Ablaufs. Dem entspricht die Dumm-heit und Verstocktheit des Einzelnen; Unfähigkeit,die Macht von Vorurteil und Betrieb bewußt zuverneinen. Sie findet mit dem moralisch Defek-ten, dem Mangel an Autonomie und Verantwor-tung regelmäßig sich zusammen, während so vielzutrifft am Sokratischen Rationalismus, daß maneinen ernsthaft klugen Menschen, dessen Gedankenauf Gegenstände gerichtet sind und nicht forma-listisch in sich kreisen, kaum je als Bösen sich vor-stellen kann. Denn die Motivation des Bösen, blindeBefangenheit in der Zufälligkeit des Eigenen, ten-diert dazu, im Medium des Gedankens zu zergehen.Schelers Satz, alle Erkenntnis sei in Liebe fundiert,war Lüge, weil er unmittelbar die Liebe zum An-geschauten verlangte. Aber er würde zur Wahrheit,

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wenn Liebe zur Auflösung allen Scheins von Un-mittelbarkeit drängte und damit freilich unversöhn-lich würde mit dem Gegenstand der Erkenntnis.Gegen die Abspaltung des Gedankens hilft nicht dieSynthese der einander entfremdeten psychischenRessorts, nicht die therapeutische Versetzung derratio mit irrationalen Fermenten, sondern dieSelbstbesinnung auf das Element des "Wunsches, dasantithetisch Denken als Denken konstituiert. Erstwenn jenes Element rein, ohne heteronomen Restin die Objektivität des Gedankens aufgelöst wird,treibt es zur Utopie.

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R e g r e s s i o n e n . — Meine älteste Erinnerungan Brahms, und gewiß nicht nur meine, ist „GutenAbend, gut' Nacht". Vollkommenes Mißverständ-nis des Textes: ich wußte nicht, daß Näglein einWort für Flieder oder in manchen Gegenden fürNelken ist, sondern stellte mir kleine Nägel, Reiß-nägel darunter vor, mit denen die Gardine vormHimmelbettchen, meinem eigenen, ganz dicht zuge-steckt sei, so daß das Kind, in seinem Dunkel vorjeder Lichtspur geschützt, unendlich lange — „bis

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die Kuh ein' Batzen gilt", sagt man in Hessen —ohne Angst schlafen könne. Wie bleiben die Blütenzurück hinter der Zärtlichkeit solcher Vorhänge.Nichts steht uns für die ungeschmälerte Helle einals das bewußtlose Dunkel; nichts für das, was wireinmal sein könnten, als der Traum, wir wären niegeboren.

„Schlaf in guter Ruh, / tu die Äuglein zu, / höre,wie der Regen fällt, / hör wie Nachbars Hündchenbellt. / Hündchen hat den Mann gebissen, / hat desBettlers Kleid zerrissen, / Bettler lauft der Pfortezu, / schlaf in guter Ruh." Die erste Strophe vonTauberts Wiegenlied ist zum Fürchten. Und dochbeseligen ihre beiden letzten Zeilen den Schlaf mitder Verheißung des Friedens. Er verdankt sich abernicht ganz der bürgerlichen Härte, dem Behagen,daß der Eindringling abgewehrt ward. Das müdlauschende Kind hat die Austreibung des Fremd-lings, der im Schottschen Liederbuch aussieht wieein Jude, schon halb vergessen, und ahnt in demVers „Bettler läuft der Pforte zu" Ruhe ohne dasElend anderer. Solange es noch einen Bettler gibt,heißt es in einem Fragment Benjamins, gibt es nochMythos; erst mit dem Verschwinden des letztenwäre der Mythos versöhnt. Wäre aber dann die

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Gewalt selber nicht so vergessen wie im dämmern-den Einschlafen des Kindes? Würde nicht doch amEnde das Verschwinden des Bettlers alles wiedergutmachen, was ihm je angetan ward und was nichtwieder sich gutmachen läßt? Versteckt nicht gar inaller Verfolgung durch die Menschen, die mit demHündchen die ganze Natur aufs Schwächere hetzen,sich die Hoffnung, daß die letzte Spur der Verfol-gung getilgt werde, die selber das Teil des Natür-lichen ist? Wäre nicht der Bettler, der durch diePforte der Zivilisation hinausgedrängt ward, ge-borgen in seiner Heimat, die befreit ist vom Bannder Erde? „Kannst nun ruhig sein, Bettler kehrtschon ein."

Seit ich denken kann, bin ich glücklich gewesenmit dem Lied: „Zwischen Berg und tiefem, tiefemTal": von den zwei Hasen, die sich am Gras gütlichtaten, vom Jäger niedergeschossen wurden, und alssie sich besonnen hatten, daß sie noch am Lebenwaren, von dannen liefen. Aber spät erst habe ichdie Lehre darin verstanden: Vernunft kann es nurin Verzweiflung und Überschwang aushalten; esbedarf des Absurden, um dem objektiven Wahn-sinn nicht zu erliegen. Man sollte es den beidenHasen gleichtun: wenn der Schuß fällt, närrisch

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für tot hinfallen, sich sammeln und besinnen, undwenn man noch Atem hat, von dannen laufen. DieKraft zur Angst und die zum Glück sind dasgleiche, das schrankenlose, bis zur Selbstpreisgabegesteigerte Aufgeschlossensein für Erfahrung, in derder Erliegende sich wiederfindet. Was wäre Glück,das sich nicht mäße an der unmeßbaren Trauer des-sen was ist? Denn verstört ist der Weltlauf. Werihm vorsichtig sich anpaßt, macht eben damit sichzum Teilhaber des Wahnsinns, während erst derExzentrische standhielte und dem Aberwitz Einhaltgeböte. Nur er dürfte auf den Schein des Unheils,die „Unwirklichkeit der Verzweiflung", sich besin-nen und dessen innewerden, nicht bloß daß er nochlebt, sondern daß noch Leben ist. Die List der ohn-mächtigen Hasen erlöst mit ihnen selbst den Jäger,dem sie seine Schuld stibitzt.

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D i e n s t am Kunden. — Scheinheilig bean-sprucht die Kulturindustrie, nach den Konsumen-ten sich zu richten und ihnen zu liefern, was sie sichwünschen. Aber während sie beflissen jeden Ge-danken an ihre eigene Autonomie verpönt und ihre

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Opfer als Richter proklamiert, übertrifft ihre ver-tuschte Selbstherrlichkeit alle Exzesse der auto-nomen Kunst. Nicht sowohl paßt Kulturindustriesich den Reaktionen der Kunden an, als daß sie jenefingiert. Sie übt sie ihnen ein, indem sie sich be-nimmt, als wäre sie selber ein Kunde. Man könnteden Verdacht schöpfen, das ganze Adjustment, demauch sie zu gehorchen versichert, sei Ideologie; dieMenschen trachteten um so mehr danach, den an-deren und dem Ganzen sich anzugleichen, je mehrsie darauf aus sind, durch übertriebene Gleichheit,den Offenbarungseid gesellschaftlicher Ohnmacht,an Macht zu partizipieren und Gleichheit zu hinter-treiben. „Die Musik hört für den Hörer", und derFilm praktiziert im Trustmaßstab den widerlichenTrick von Erwachsenen, die, wenn sie Kindernetwas aufschwatzen, dabei die Beschenkten mit derSprache überfallen, von der es ihnen paßte, wennjene sie redeten, und die ihnen die meist fragwür-dige Gabe mit eben dem Ausdruck des schmatzen-den Entzückens präsentieren, das sie hervorrufenwollen. Kulturindustrie ist zugeschnitten auf diemimetische Regression, aufs Manipulieren der ver-drängten Nachahmungsimpulse. Dabei bedient siesich der Methode, die Nachahmung ihrer selbstdurch den Betrachter vorwegzunehmen, und das

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Einverständnis, das sie bewirken will, als bereitsbestehendes erscheinen zu lassen. Sie ist um so bes-ser daran, als sie im stabilen System mit solchemEinverständnis in der Tat rechnen kann und es eherrituell zu wiederholen als eigentlich hervorzubrin-gen hat. Ihr Produkt ist gar kein Stimulus, sondernein Modell für Reaktionsweisen auf nicht vorhan-dene Reize. Daher im Lichtspiel der begeisterteMusiktitel, die alberne Kindersprache, die blin-zelnde Volkstümlichkeit; noch die Großaufnahmedes Stars ruft gleichsam aus: wie schön! Mit diesemVerfahren rückt die Kulturmaschine dem Betrachterso nahe auf den Leib wie der frontal photogra-phierte Schnellzug im Spannungsmoment. Der Ton-fall eines jeden Films aber ist der der Hexe, die denKleinen, die sie verzaubern oder fressen will, dieSpeise verabreicht mit dem schauerlichen Murmeln:„Gut Süppchen, schmeckt das Süppchen? Wohl solldirs bekommen, wohl bekommen." In Kunst hatdiesen Küchenfeuerzauber Wagner erfunden, dessen sprachliche Intimitäten und musikalische Ge-würze immerzu sich selber abschmecken, und hatzugleich mit genialem Geständniszwang die ganzeProzedur demonstriert in der Szene des Rings, daMime Siegfried den giftigen Labetrunk darbietet.Wer aber soll dem Monstrum den Kopf abschlagen,

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nachdem es längst selber mit blondem Haarschopfunter der Linde liegt?

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Grau und grau. — Auch ihr schlechtes Ge-wissen hilft der Kulturindustrie nichts. So objektivist ihr Geist, daß er seinen eigenen Subjekten insGesicht schlägt, und so wissen denn diese, die Agen-ten alle, Bescheid und suchen, durch Mentalreser-vate von dem Unfug sich zu distanzieren, den sieanstiften. Das Zugeständnis, daß die Filme Ideo-logien verbreiten, ist selber schon verbreitete Ideo-logie. Sie wird administrativ gehandhabt in derstarren Unterscheidung zwischen den synthetischenTagträumen einerseits, Vehikeln zur Flucht aus demAlltag, „escape"; andererseits wohlmeinenden Pro-dukten, die zu richtigem sozialem Verhalten er-muntern, eine Botschaft zustellen, „conveying amessage". Die prompte Subsumtion unter escapeund message drückt die Unwahrheit beider Typenaus. Der Spott gegen das escape, die standardi-sierte Empörung über Oberflächlichkeit, ist nichtsals das erbärmliche Echo des alteingesessenen Ethos,das gegens Spiel wettert, weil es in der herrschen-

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den Praxis nicht mitspielt. Nicht darum sind dieescape-Filme so abscheulich, weil sie der ausgelaug-ten Existenz den Rücken kehren, sondern weilsie es nicht energisch genug tun, weil sie gerade soausgelaugt sind, weil die Befriedigungen, die sievortäuschen, zusammenfallen mit der Schmach derRealität, der Versagung. Die Träume haben keinenTraum. Wie die Technicolorheiden nicht eine Se-kunde vergessen lassen, daß sie Normalmenschen, ge-typte Prominentengesichter und Investitionen sind,so zeichnet sich unter dem dünnen Flitter der sche-matisch hergestellten Phantastik das Skelett derKinoontologie unmißverständlich ab, die ganze an-befohlene Werthierarchie, der Kanon des Uner-wünschten und Nachzuahmenden. Nichts praktischerals escape, nichts dem Betrieb inniger anverlobt: eswird in die Ferne entführt nur, um aus der Distanzdie Gesetze empiristischer Lebensführung ungestörtvon empirischen Ausweichungen ins Bewußtsein zuhämmern. Das escape ist voller message. So siehtdenn auch message, das Gegenteil, aus, das vor derFlucht fliehen will, Es verdinglicht den Widerstandgegen Verdinglichung. Man muß nur Fachleuterühmen hören, dies prächtige Leinwandwerk habeneben anderen Meriten auch Gesinnung, im gleichenTonfall, in dem einer hübschen Schauspielerin

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attestiert wird, außerdem habe sie personality. DieExekutive könnte auf der Konferenz bequem ent-scheiden, es müsse nebst kostspieligerer Kompar-serie dem escape-Film ein Ideal eingelegt werdenwie: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Los-getrennt von der immanenten Logik des Gebildes,der Sache, wird das Ideal selber zu einer, aus demFundus zu beschaffen, damit greifbar und nichtigzugleich, Reform abstellbarer Mißstände, verklärteSozialfürsorge. Am liebsten verkünden sie dieWiedereingliederung von Trunkenbolden, denensie noch den armseligen Rausch neiden. Indem dienach anonymen Gesetzen sich verhärtende Gesell-schaft dargestellt wird, als reichte in ihr der guteWille zur Abhilfe aus, wird sie verteidigt noch imehrlichen Angriff. Man spiegelt eine Art Volksfrontaller recht und billig Denkenden vor. Der praktischeGeist des message, die handfeste Demonstrationdessen, wie es besser zu machen sei, paktiert mitdem System in der Fiktion, daß ein gesamtgesell-schaftliches Subjekt, das es als solches in derGegenwart gar nicht gibt, alles in Ordnung brin-gen kann, wenn man nur jeweils sich zusammen-setzt und über die Wurzel des Übels ins Reinekommt. Man fühlt sich ganz wohl, wo man sotüchtig sich bewähren kann. Message wird zum

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escape: wer bei der Säuberung des Hauses, in demman wohnt, fest zugreift, vergißt darüber, auf wel-chem Grunde es gebaut ward. Was im Ernst escapewäre, der bildgewordene Widerwille gegen dasGanze bis in die formalen Konstituentien hinein,könnte in message umschlagen, ohne es auszuspre-chen, ja gerade durch hartnäckige Askese gegen denVorschlag.

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Wolf a l s G r o ß m u t t e r . — Als stärkstesArgument haben die Apologeten des Films dasgröbste, seine massenweise Konsumtion für sich.Sie erklären ihn, das drastische Medium der Kultur-industrie, zur Volkskunst. Unabhängigkeit von denNormen des autonomen Werks soll ihn von derästhetischen Verantwortung entbinden, deren Maß-stäbe ihm gegenüber als reaktionär sich erwiesen,wie denn in der Tat alle Intentionen seiner künstle-rischen Veredelung ein Schiefes, schlecht Gehobenes,die Form Verfehlendes haben — etwas vom Im-port für den Connaisseur. Je mehr der Film Kunstprätendiert, um so talmihafter wird er. Daraufkönnen die Protagonisten deuten und sich auch noch,

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als Kritiker der mittlerweile verkitschten Innerlich-keit, mit ihrem roh stofflichen Kitsch als Avant-garde vorkommen. Begibt man sich erst einmal aufsolchen Boden, so sind sie, gestärkt durch technischeErfahrung und Materialnähe, fast unwiderstehlich.Der Film sei keine Massenkunst, sondern bloß zumBetrug der Massen manipuliert? Aber über denMarkt machten sich doch die Wünsche des Publi-kums unablässig geltend; allein schon die kollektiveHerstellung garantiere das kollektive Wesen; nurWeltfremdheit vermute in den Produzenten schlaueDrahtzieher; die meisten seien talentlos, gewiß,aber wo die rechten Begabungen sich zusammenfän-den, könne es trotz aller Beschränkungen des Sy-stems gelingen. Der Massengeschmack, dem der Filmgehorcht, sei gar nicht der der Massen selber, son-dern oktroyiert? Aber von einem anderen Massen-geschmack zu reden als dem, den jene nun einmalhaben, sei töricht, und was je Volkskunst hieß, habestets schon die Herrschaft reflektiert. Nur in derkompetenten Anpassung der Produktion an gege-bene Bedürfnisse, nicht in der Rücksicht auf eineutopische Hörerschaft vermag nach solcher Logikder namenlose Allgemeinwille Gestalt zu gewinnen.Der Film sei voll der Lüge der Stereotypie? AberStereotypie ist das Wesen der Volkskunst, die Mär-

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chen kennen den rettenden Prinzen und den Teufelwie der Film den Helden und den Schuft, und nochdie barbarische Grausamkeit, mit der die Welt inGute und Böse aufgeteilt wird, hat der Film mitden höchsten Märchen gemein, welche die Stief-mutter in glühenden Eisenschuhen zu Tode sichtanzen lassen.

All dem wäre zu begegnen nur durch Erwägungder von den Apologeten vorausgesetzten Grund-begriffe. Die schlechten Filme lassen nicht der In-kompetenz sich zur Last legen: der Begabteste wirdvom Betrieb gebrochen, und daß die Unbegabtenihm zuströmen, liegt an der Wahlverwandtschaftvon Lüge und Schwindler. Der Stumpfsinn ist ob-jektiv; personelle Verbesserungen könnten keineVolkskunst stiften. Deren Idee ist an agrarischenVerhältnissen oder der einfachen Warenwirtschaftgebildet. Solche Verhältnisse und ihre Ausdrucks-charaktere sind die von Herren und Knechten, Profi-tierenden und Benachteiligten, aber in unmittel-barer, nicht ganz vergegenständlichter Gestalt. Wohlsind sie nicht weniger durchfurcht von Klassendiffe-renzen als die späte Industriegesellschaft, aber ihreMitglieder sind noch nicht von der Totalstrukturumklammert, welche die einzelnen Subjekte erst zubloßen Momenten reduziert, um sie dann, als Ohn-

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mächtige und Abgetrennte, zum Kollektiv zu ver-einen. Daß es kein Volk mehr gibt, heißt darumjedoch nicht, wie die Romantik propagierte, dieMassen seien schlechter. Vielmehr enthüllt sich ge-rade erst in der neuen, radikal entfremdeten Gestaltder Gesellschaft die Unwahrheit der älteren. Ebendie Züge, in denen die Kulturindustrie das Erbe derVolkskunst reklamiert, werden durch jene selberverdächtig. Der Film hat rückwirkende Kraft: seinoptimistisches Grauen legt am Märchen zutage, wasimmer schon dem Unrecht diente, und läßt in dengemaßregelten Bösewichtern das Antlitz derer däm-mern, welche die integrale Gesellschaft verurteiltund welche zu verurteilen von je der Traum derVergesellschaftung war. Daher ist das Absterbender individualistischen Kunst keine Rechtfertigungfür eine, die sich gebärdet, als wäre ihr Subjekt, dasarchaisch reagiert, das natürliche, während es dasgewiß bewußtlose Syndikat der paar großen Fir-men ist. Haben selbst die Massen, als Kunden, Ein-fluß auf den Film, so bleibt jener so abstrakt wieder Kassenausweis, der an Stelle von nuanciertemApplaus trat: bloße Wahl zwischen Ja und Neinzu einem Offerierten, eingespannt in das Mißver-hältnis von konzentrierter Macht und zerstreuterOhnmacht. Daß schließlich beim Film zahlreiche

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Experten, auch einfache Techniker mitzuredenhaben, garantiert so wenig seine Humanität wie dieEntscheidung kompetenter wissenschaftlicher Gre-mien die von Bomben und Giftgas.

Das feinsinnige Gerede von Filmkunst zwar stehtden Skribenten an, die sich empfehlen wollen; diebewußte Berufung auf die Naivetät aber, auf dielängst durch den Gedanken der Herren hindurch-gegangene Dumpfheit der Knechte taugt nicht mehr.Der Film, der heute so unausweichlich an die Men-schen sich hängt, als wärs ein Stück von ihnen, istihrer menschlichen Bestimmung, die von einem Tagzum anderen sieh verwirklichen ließe, zugleich amallerfernsten, und die Apologetik lebt von demWiderstand dagegen, diese Antinomie zu denken.Daß die Leute, welche die Filme machen, keineswegsIntriganten sind, besagt gar nichts dagegen. Der ob-jektive Geist der Manipulation setzt sich in Erfah-rungsregeln, Einschätzungen der Situation, tech-nischen Kriterien, wirtschaftlich unvermeidlichenKalkulationen, dem ganzen Eigengewicht der indu-striellen Apparatur durch, ohne daß erst eigens zen-siert wird, und selbst wer die Massen befragte, demwürden sie die Ubiquität des Systems zurückspie-geln. Die Herstellenden fungieren so wenig alsSubjekte wie ihre Arbeiter und Abnehmer, sondern

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lediglich als Teile der verselbständigten Maschine-rie. Das Hegelisch klingende Gebot aber, Massen-kunst habe den realen Geschmack der Massen zurespektieren und nicht den der negativistischen In-tellektuellen, ist Usurpation. Der Gegensatz desFilms als allumspannender Ideologie zu den objek-tiven Interessen der Menschen, die Verfilzung mitdem Status quo des Profitwesens, schlechtes Gewis-sen und Betrug lassen bündig sich erkennen. KeineBerufung auf einen tatsächlich vorfindlichen Be-wußtseinsstand hatte je das Vetorecht gegen Ein-sicht, welche über diesen Bewußtseinsstand hinaus-reicht, indem sie seinen Widerspruch zu sich selbstund zu den objektiven Verhältnissen trifft. Möglichdaß der deutsche faschistische Professor recht hatteund daß auch die Volkslieder, die es waren, schonvom herabgesunkenen Kulturgut der Oberschichtlebten. Nicht umsonst ist alle Volkskunst brüchigund, gleich den Filmen, nicht „organisch". Aberzwischen dem alten Unrecht, dessen klagendeStimme dort noch hörbar ist, wo es sich verklärt,und der sich selbst als Verbundenheit behauptendenEntfremdung, welche den Schein menschlicher Nähemit Lautsprecher und Reklamepsychologie abgefeimterweckt, ist ein Unterschied gleich dem zwischen derMutter, die dem Kind, um seine Dämonenangst zu

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beschwichtigen, das Märchen erzählt, in dem dieGuten belohnt und die Bösen bestraft werden, unddem Kinoprodukt, das den Zuschauern die Gerech-tigkeit jeglicher Weltordnung in jeglichem Landegrell, drohend in die Augen und Ohren treibt, umsie aufs neue, und gründlicher, das alte Fürchten zulehren. Die Märchenträume, die so eifrig sich aufdas Kind im Manne berufen, sind nichts als die vonder totalen Aufklärung organisierte Rückbildung,und wo sie den Betrachtern am zutraulichsten aufdie Schulter klopfen, verraten sie jene am gründ-lichsten. Unmittelbarkeit, die von den Filmen her-gestellte Volksgemeinschaft läuft auf die Vermitt-lung ohne Rest hinaus, welche die Menschen undalles Menschliche so vollkommen zu Dingen herab-setzt, daß ihr Gegensatz zu den Dingen, ja derBann von Verdinglichung selber gar nicht mehrwahrgenommen werden kann. Dem Film ist dieVerwandlung der Subjektein gesellschaftliche Funk-tionen so differenzlos gelungen, daß die ganz Er-faßten, keines Konflikts mehr eingedenk, die eigeneEntmenschlichung als Menschliches, als Glück derWärme genießen. Der totale Zusammenhang derKulturindustrie, der nichts ausläßt, ist eins mit dertotalen gesellschaftlichen Verblendung. Darum hater mit den Gegenargumenten so leichtes Spiel.

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Piperdruck. — Die Gesellschaft ist integral,schon ehe sie totalitär regiert wird. Ihre Organi-sation umgreift noch die, welche sie befehden, undnormt ihr Bewußtsein. Auch solche Intellektuelle,die politisch alle Argumente gegen die bürgerlicheIdeologie parat haben, unterliegen einem Prozeßder Standardisierung, der sie, bei kraß kontrastie-rendem Inhalt, durch die Bereitschaft, auch ihrer-seits sich anzubequemen, dem vorherrschenden Geistso nahebringt, daß ihr Standpunkt sachlich immerzufälliger, bloß noch von dünnen Präferenzen odervon ihrer Einschätzung der eigenen Chance abhän-gig wird. Was ihnen subjektiv radikal dünkt, ge-horcht objektiv so durchaus einer für ihresgleichenreservierten Sparte des Schemas, daß der Radikalis-mus aufs abstrakte Prestige hinunterkommt, Legi-timation dessen, der weiß, wofür und wogegen einIntellektueller heutzutage zu sein hat. Die Güter,für die sie optieren, sind längst ebenso anerkannt,der Zahl nach ebenso beschränkt, in der Wert-hierarchie ebenso fixiert wie die der Studenten-brüderschaften. Während sie gegen den offiziellenKitsch eifern, ist ihre Gesinnung wie ein folgsamesKind auf vorweg ausgesuchte Nahrung verwiesen,

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auf Klischees der Klischeefeindschaft. Die Wohnungsolcher jungen Bohemiens gleicht ihrem geistigenHaushalt. An der Wand die täuschend original-getreuen Farbendrucke nach berühmten van Goghswie den Sonnenblumen oder dem Cafe von Arles,auf dem Bücherbrett der Absud von Sozialismusund Psychoanalyse und ein wenig Sexualkunde fürHemmungslose mit Hemmungen. Dazu die RandomHouse Ausgabe von Proust — Scott-MoncrieffsÜbersetzung hätte ein besseres Los verdient —,Exklusivität zu herabgesetzten Preisen, allein schondurchs Aussehen, die kompakt-ökonomische Gestaltdes „Omnibus", Hohn auf den Autor, der in jedemSatz kurrente Meinungen außer Aktion setzt, wäh-rend er nun als preisgekrönter Homosexueller beiden Jünglingen eine ähnliche Rolle spielt wie dieBücher über die Tiere unseres Waldes und die Nord-polespedition im deutschen Heim. Dazu das Gram-mophon mit der Lincolnkantate eines Bravgesinn-ten, in der es sich wesentlich um Eisenbahnstationenhandelt, nebst pflichtgemäß bestaunter Folklore ausOklahoma und ein paar lauten Jazzplatten, beidenen man sich zugleich kollektiv, kühn und be-haglich fühlt. Jedes Urteil ist von den Freundenapprobiert, alle Argumente wissen sie immer schonvorher. Daß alle Kulturprodukte, auch die nicht

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konformierenden, dem Verteilungsmedianismus desgroßen Kapitals einverleibt sind, daß im entwickelt-sten Lande ein Erzeugnis, das nicht das Imprimaturder massenweisen Herstellung trägt, überhauptkaum mehr einen Leser, Betrachter, Hörer erreichenkann, verweigert der abweidienden Sehnsucht vor-weg den Stoff. Noch Kafka wird zum Inventar-stück des untergemieteten Ateliers. Die Intellek-tuellen selber sind schon so sehr auf das in ihrerisolierten Sphäre Bestätigte festgelegt, daß sienichts mehr begehren, als was ihnen unter der Markehighbrow serviert wird. Der Ehrgeiz geht alleindarauf, im akzeptierten Vorrat sich auszukennen,die korrekte Parole zu treffen. Das Außenseitertumder Eingeweihten ist Illusion und bloße Wartezeit.Daß sie Renegaten seien, greift noch zu hoch; sietragen die Hornbrille mit Fenstergläsern vorm Ge-sicht der Durchschnittlichkeit einzig, um dadurchvor sich selber und auch im allgemeinen Wettrennenals „brilliant" besser abzuschneiden. Sie sind schongerade so. Die subjektive Vorbedingung zur Oppo-sition, ungenormtes Urteil, stirbt ab, während ihrGehabe als Gruppenritual weiter vollführt wird.Stalin braucht sich nur zu räuspern, und sie werfenKafka und van Gogh auf den Müllhaufen.

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Be i t r a g z u r G e i s t e s g e s ch i ch t e . — I nmeinem Exemplar des Zarathustra, vom Jahre 1910,finden sich am Ende Anzeigen des Verlags. Sie sindallesamt auf den Stamm der Nietzscheleser zuge-schnitten, wie Alfred Kröner in Leipzig, der sichauskennen mußte, ihn sich vorstellte. „Ideale Le-bensziele von Adalbert Svoboda. Svoboda hat inseinem Werke ein weithin leuchtendes Höhenfeuerder Aufklärung entzündet, welches helles Licht überalle Probleme des forschenden Menschengeistes ver-breitet und die wahren Ideale der Vernunft, Kunstund Kultur uns klar vor die Augen rückt. Das großangelegte und prächtig ausgestattete Buch ist vomAnfang bis zum Ende packend geschrieben, fesselnd,anregend, belehrend und wirkt auf alle wirklichfreien Geister stimulierend, wie ein nervenstählen-des Bad und erfrischende Bergesluft". Gezeichnet:Menschentum, und beinahe so empfehlenswert wieDavid Friedrich Strauß. „Zu Zarathustra von MaxZerbst. Es gibt zwei Nietzsche, Der eine ist derweltberühmte ,Mode-Philosoph', der glänzendeDichter und sprachgewaltige Meister des Stils, derjetzt in aller Munde lebt, aus dessen Werken einpaar mißverstandene Schlagworte zum bedenk-

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liehen Allgemeingut der ,Gebildeten' geworden sind.Der andere Nietzsche, das ist der unergründliche,unerschöpfbare Denker und Psycholog, der großeMenschen-Späher und Lebens-Werter von unerreichter Geistes-Kraft und Gedanken-Macht, dem diefernste Zukunft gehört. Diesem anderen Nietzschedie Einsichtsvollen und Ernsten unter den moder-nen Menschen näher zu bringen, ist die Absicht derin dem vorliegenden Büchlein enthaltenen beidenVorträge." Ich würde dann doch den einen vor-ziehen. Der andere nämlich heißt: „Philosoph undEdelmensch, ein Beitrag zur Charakteristik Fried-rich Nietzsches von Meta von Salis-Marschlins. DasBuch fesselt durch die ehrliche Wiedergabe allerEmpfindungen, die Nietzsches Persönlichkeit ineiner selbstbewußten Frauenseele ausgelöst hat."Vergiß die Peitsche nicht, lernte Zarathustra. Stattdessen wird angeboten: „Die Philosophie der Freudevon Max Zerbst. Dr. Max Zerbst geht von Nietzscheaus, strebt aber, gewisse Einseitigkeiten Nietzscheszu überwinden... Kühle Abstraktionen sind desAutors Sache nicht, es ist mehr ein Hymnus, einphilosophischer Hymnus auf die Freude, den erzum besten gibt." Wie einen Studentenulk. Nurkeine Einseitigkeiten. Lieber stracks in den Atheisten-himmel: „Die vier Evangelien, Deutsch, mit Ein-

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leitung und Anmerkungen von Dr. Heinrich Schmidt.Im Gegensatz zu der korrumpierten, vielfach über-arbeiteten Form, in welcher uns das Evangeliumliterarisch überliefert ist, geht diese Neuausgabe aufdie Quellen zurück und dürfte von hohem Wertwerden nicht allein für wahrhaft religiöse Men-schen, sondern auch für jene ,Antichristen', die esdrängt, sozial zu wirken." Die Wahl wird einemschwer, aber man kann getrost annehmen, daß beideEliten ebenso verträglich sind wie die Synoptiker:„Das Evangelium vom neuen Menschen (Eine Syn-these: Nietzsche und Christus) von Carl Martin.Ein wundervolles Erbauungsbüchlein. Alles, was inWissenschaft und Kunst der Gegenwart den Kampfmit den Geistern der Vergangenheit aufgenommenhat, alles dies hat in diesem reifen und doch sojungen Gemüt Wurzel geschlagen und Blüten er-schlossen. Und merkwürdig: Dieser ,neue', ganzneue Mensch schöpft sich und uns den erquickend-sten Labetrunk aus einem uralten Quickborn: jeneranderen Heilsbotschaft, deren reinste Klänge inder Bergpredigt ertönen... Auch in der Form dieSchlichtheit und Größe jener Worte!" Gezeichnet:Ethische Kultur. Das Wunder passierte schon vorbald vierzig Jahren, immerhin auch zwanzig, nach-dem das Ingenium in Nietzsche mit Recht sich ent-

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schieden hatte, die Kommunikation mit der Weltabzubrechen. Es half alles nichts — beschwingtungläubige Pfaffen und Exponenten jener organi-sierten ethischen Kultur, die später in New YorkEmigrantinnen, denen es einmal gut ging, als Ser-vierfräulein abrichtete, haben an der Hinterlassen-schaft dessen sich gütlich getan, der bangte, ob einerihm zuhörte, als er „heimlich ein Gondellied" sichsang. Schon damals war die Hoffnung, in der Flutder hereinbrechenden Barbarei Flaschenposten zuhinterlassen, eine freundliche Vision: die verzwei-felten Lettern sind im Schlamm steckengebliebenund von einer Bande von Edelmenschen und ande-rem Gesindel zu hochkünstlerischem, aber preis-wertem Wandschmuck verarbeitet worden. Seitdemkam der Fortschritt der Kommunikation erst rechtin Schwung. Wer will es schließlich selbst den aller-freiesten Geistern verübeln, wenn sie nicht mehrfür eine imaginäre Nachwelt schreiben, deren Zu-traulichkeit die der Zeitgenossen womöglich nochüberbietet, sondern einzig für den toten Gott?

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J u v e n a l s Irrtum. — Schwer, eine Satirezu schreiben. Nicht bloß weil der Zustand, der ihrermehr bedürfte als je einer, allen Spottes spottet.Das Mittel der Ironie selber ist in Widerspruch zurWahrheit geraten. Ironie überführt das Objekt, in-dem sie es hinstellt, als was es sich gibt, und ohneUrteil, gleichsam unter Aussparung des betrachten-den Subjekts, an seinem An sich Sein mißt. DasNegative trifft sie dadurch, daß sie das Positivemit seinem eigenen Anspruch auf Positivität kon-frontiert. Sie hebt sich auf, sobald sie das auslegendeWort hinzufügt. Dabei setzt sie die Idee des Selbst-verständlichen, ursprünglich der gesellschaftlichenResonanz voraus. Nur wo ein zwingender Consen-sus der Subjekte angenommen wird, ist subjektiveReflexion, der Vollzug des begrifflichen Akts über-flüssig. Der bedarf des Beweises nicht, welcher dieLacher auf seiner Seite hat. Historisch hat demzu-folge die Satire über Jahrtausende, bis zum Vol-taireschen Zeitalter, gern mit Stärkeren es gehal-ten, auf die Verlaß war, mit Autorität. Meistagierte sie für ältere, durch jüngere Stufen der Auf-klärung bedrohte Schichten, die mit aufgeklärtenMitteln ihren Traditionalismus zu stützen suchten:

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ihr unverwüstlicher Gegenstand war der Verfallvon Sitten. Darum präsentiert sich, was einmal alsFlorett fuchtelte, den Nachgeborenen durchwegs alsplumper Knüppel. Doppelzüngige Vergeistigungder Erscheinung will allemal den Satiriker amüsant,auf der Höhe des Fortschritts zeigen; der Maßstababer ist der je vom Fortschritt gefährdete, der dochsoweit als geltende Ideologie vorausgesetzt bleibt,daß das aus der Art geschlagene Phänomen verwor-fen wird, ohne daß ihm die Gerechtigkeit rationalerVerhandlung widerführe. Die Aristophanische Ko-mödie, in der die Zote die Unzucht bloßstellen soll,rechnete als modernistische laudatio temporis actiauf den Pöbel, den sie verleumdete. Mit dem Siegder Bürgerklasse in der christlichen Ära hat danndie Funktion der Ironie sich gelockert. Sie ist zu-zeiten zu den Unterdrückten übergelaufen, beson-ders wo sie es in Wahrheit schon nicht mehr waren.Freilich hat sie, als Gefangene der eigenen Form,des autoritären Erbes, der einspruchslosen Hämisch-keit nie ganz sich entäußert. Erst mit dem bürger-lichen Verfall hat sie zum Appell an Ideen vonMenschheit sich sublimiert, die keine Versöhnungmit dem Bestehenden und seinem Bewußtsein mehrduldeten. Aber sogar zu diesen Ideen zählte Selbst-verständlichkeit: kein Zweifel an der objektiv-

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unmittelbaren Evidenz kam auf; kein Witz vonKarl Kraus zaudert in der Entscheidung darüber, weranständig und wer ein Schurke, was Geist und wasDummheit, was Sprache und was Zeitung sei. Sol-cher Geistesgegenwart verdanken seine Sätze ihreGewalt. Wie sie, im blitzschnellen Bewußtsein desSachverhalts, mit keiner Frage sich aufhalten, solassen sie keine Frage zu. Je emphatischer jedoch dieKraussche Prosa ihren Humanismus als invariantsetzt, um so mehr nimmt sie restaurative Züge an.Sie verdammt Korruption und Dekadenz, den Lite-raten und den Futuristen, ohne vor den Zelotengeistigen Naturstandes etwas anderes vorauszu-haben als die Erkenntnis von deren Schlechtigkeit.Daß am Ende die Intransigenz gegen Hitler nach-giebig gegen Schuschnigg sich zeigte, bezeugt nichtSchwäche des Tapferen, sondern die Antinomie derSatire. Diese braucht, woran sie sich halten kann,und der den Nörgler sich nannte, beugt sich ihrerPositivität. Noch die Denunziation des Schmocksenthält, neben ihrer Wahrheit, dem kritischen Ele-ment, etwas von dem common sense, der nicht lei-den kann, daß einer so geschwollen daherredet. DerHaß gegen den, der mehr scheinen möchte als er ist,legt ihn aufs Faktum seiner Beschaffenheit fest. DieUnbestechlichkeit gegenüber dem Gemachten, der

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uneingelösten und zugleich kommerziell ausgespitz-ten Prätention des Geistes, demaskiert die, welchenes mißlang, dem gleichzuwerden, was als Höheresihnen vor Augen steht. Dies Höhere ist Macht undErfolg und offenbart sich durch die verpfuschteIdentifikation selber als Lüge. Aber es verkörpertdem Faiseur stets zugleich die Utopie: noch diefalschen Brillanten strahlen vom ohnmächtigen Kin-dertraum, und dieser wird mitverdammt, weil erscheiterte, selber gleichsam vors Forum des Erfolgszitiert. Alle Satire ist blind gegen die Kräfte, die imZerfall freiwerden. Daher hat denn der vollendeteVerfall die Kräfte der Satire an sich gezogen. DerSpott der Führer des Dritten Reiches über Emigran-ten und liberale Staatsmänner, dessen Gewalt einzignoch die brachiale ist, war der letzte. Schuld an derUnmöglichkeit von Satire heute hat nicht, wieSentimentalität es will, der Relativismus der Werte,die Abwesenheit verbindlicher Normen. SondernEinverständnis selber, das formale Apriori derIronie, ist zum inhaltlich universalen Einverständnisgeworden. Als solches wäre es der einzig würdigeGegenstand von Ironie und entzieht ihr zugleichden Boden. Ihr Medium, die Differenz zwischenIdeologie und Wirklichkeit, ist geschwunden. Jeneresigniert zur Bestätigung der Wirklichkeit durch

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deren bloße Verdopplung. Ironie drückte aus: das be-hauptet es zu sein,so aber ist es; heute jedoch beruftdie Welt noch in der radikalen Lüge sich darauf,daß es eben so sei, und solcher einfache Befundkoinzidiert ihr mit dem Guten. Kein Spalt im Felsdes Bestehenden, an dem der Griff des Ironikerssich zu halten vermöchte. Dem Stürzenden schalltdas Hohngelächter des tückischen Objekts nach, dasihn entmächtigte. Der Gestus des begriffslosen Soist es ist genau der, den die Welt einem jeglichenihrer Opfer zukehrt, und das transzendentale Ein-verständnis, das der Ironie innewohnt, wird lächer-lich vor dem realen derer, die sie zu attackieren hätte.Gegen den blutigen Ernst der totalen Gesellschaft,die ihre Gegeninstanz eingezogen hat als den hilf-losen Einspruch, den ehedem Ironie niederschlug,steht einzig noch der blutige Ernst, die begriffeneWahrheit.

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Lämmergeier. — Zu diktieren ist nicht bloßbequemer, spornt nicht bloß zur Konzentration an,sondern hat überdies einen sachlichen Vorzug. DasDiktat ermöglicht es dem Schriftsteller, sich in den

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frühesten Phasen des Produktionsprozesses in diePosition des Kritikers hineinzumanövrieren. Waser da hinstellt, ist unverbindlich, vorläufig, bloßerStoff zur Bearbeitung, tritt ihm jedoch zugleich,einmal transkribiert, als Entfremdetes und in ge-wissem Maße Objektives gegenüber. Er braucht sichgar nicht erst zu fürchten etwas festzulegen, wasdoch nicht stehenbliebe, denn er muß es ja nichtschreiben: aus Verantwortung spielt er dieser einenSchabernack. Das Risiko der Formulierung nimmtdie harmlose Gestalt erst des ihm leichthin präsen-tierten Memorials, dann der Arbeit an einem schonDaseienden an, so daß er die eigene Verwegenheitgar nicht recht mehr wahrnimmt. Angesichts der insDesperate angewachsenen Schwierigkeit einer jeg-lichen theoretischen Äußerung werden solche Trickssegensreich. Sie sind technische Hilfsmittel des dia-lektischen Verfahrens, das Aussagen macht, um siezurückzunehmen und dennoch festzuhalten. Dankaber gebührt dem, der das Diktat aufnimmt, wenner den Schriftsteller durch Widerspruch, Ironie,Nervosität, Ungeduld und Respektlosigkeit imrechten Augenblick aufscheucht. Er zieht Wut aufsich. Sie wird vom Vorrat des schlechten Gewissensabgezweigt, mit dem der Autor sonst dem eigenenGebilde mißtraut und das ihn um so sturer in den

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vermeintlich heiligen Text sich verbeißen läßt. DerAffekt, der gegen den lästigen Helfer undankbar sichkehrt, reinigt wohltätig die Beziehung zur Sache.

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E x h i b i t i o n i s t . — Künstler sublimierennicht. Daß sie ihre Begierde weder befriedigen nochverdrängen, sondern in sozial wünschbare Leistun-gen, ihre Gebilde, verwandeln, ist eine psycho-analytische Illusion; übrigens sind legitime Kunst-werke ohne Ausnahme heute sozial unerwünscht.Vielmehr zeigen Künstler heftige, frei flutende undzugleich mit der Realität kollidierende, neurotischgezeichnete Instinkte. Noch der Spießertraum vomSchauspieler oder Geiger als einer Synthese ausNervenbündel und Herzensbrecher trifft eher zuals die nicht minder spießbürgerliche Triebökono-mie, der zufolge die Sonntagskinder der Versagunges in Symphonien und Romanen loswerden. IhrTeil ist vielmehr hysterisch outrierte Hemmungs-losigkeit über allen erdenklichen Ängsten; Narziß-mus, bis an die paranoische Grenze getrieben. Gegendas Sublimierte haben sie Idiosynkrasien. Unver-söhnlich sind sie den Ästheten, gleichgültig gegen

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gepflegte Milieus, und in geschmackvoller Lebens-führung erkennen sie so sicher die mindere Reak-tionsbildung gegen den Hang zum Minderen wiedie Psychologen, von denen sie selber verkanntwerden. Sie lassen seit den Briefen Mozarts andas Augsburger Basle bis zu den Wortwitzen desverbitterten Korrepetitors vom Derben, Albernen,Unanständigen sich verlocken. In die FreudischeTheorie passen sie nicht, weil es jener an einemzureichenden Begriff des Ausdrucks mangelt, trotzaller Einsicht ins Funktionieren der Symbolik vonTraum und Neurose. Daß eine unzensiert ausge-drückte Triebregung auch dann nicht verdrängtbeißen kann, wenn sie das Ziel, das sie nicht findet,gar nicht mehr erlangen will, leuchtet gewiß ein.Andererseits liegt die analytische Unterscheidungmotorischer — „realer" — und halluzinatorischerBefriedigung in der Richtung auf die Differenz vonBefriedigung und unverstelltem Ausdruck. AberAusdruck ist nicht Halluzination. Er ist Schein, ge-messen am Realitätsprinzip und mag es umgehen.Nie jedoch versucht durch ihn, so wie durchs Symp-tom, Subjektives an Stelle der Realität wahnhaftsich zu substituieren. Ausdruck negiert die Realität,indem er ihr vorhält, was ihr nicht gleicht, aber erverleugnet sie nicht; er sieht dem Konflikt ins Auge,

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der im Symptom blind resultiert. Soviel bleibt demAusdruck mit der Verdrängung gemeinsam, daß inihm die Regung durch die Realität blockiert sichfindet. Jener Regung, und dem gesamten Erfah-rungszusammenhang, dem sie zugehört, ist die un-mittelbare Kommunikation mit dem Objekt ver-wehrt. Als Ausdruck kommt sie zur unverfälschtenErscheinung ihrer selbst und damit des Widerstan-des, in sinnlicher Nachahmung. Sie ist so stark, daßihr die Modifikation zum bloßen Bild, Preis desÜberlebens, widerfährt, ohne sie auf dem Wegenach außen zu verstümmeln. An Stelle des Zieleswie der eigenen subjektiv-zensorischen „Bearbei-tung" setzt sie die objektive: ihre polemische Offen-barung. Das unterscheidet sie von der Sublimierung:jeder gelungene Ausdruck des Subjekts, ließe sichsagen, ist ein kleiner Sieg über das Kräftespiel seinereigenen Psychologie. Das Pathos von Kunst haftetdaran, daß sie, gerade durch Zurücktreten in dieImagination, der Übermacht der Realität das Ihregibt, und doch nicht zur Anpassung resigniert, nichtdie Gewalt des Auswendigen in der Deformationdes Inwendigen fortsetzt. Die das vollbringen, habendafür als Individuen ausnahmslos teuer zu zahlen,hilflos zurückgeblieben hinter dem eigenen Aus-druck, der ihrer Psychologie entrann. Damit aber

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wecken sie nicht weniger als ihre Produkte Zweifelan der Einordnung der Kunstwerke unter die kul-turellen Leistungen ex definitione. Kein Kunstwerkkann, in der gesellschaftlichen Organisation, seinerZugehörigkeit zur Kultur sich entziehen, aber kei-nes, das mehr als Kunstgewerbe ist, existiert, dasnicht der Kultur die abweisende Geste zukehrte:daß es zum Kunstwerk ward. Kunst ist so kunst-feindlich wie die Künstler. Im Verzicht aufs Trieb-ziel hält sie diesem die Treue, die das gesellschaft-lich Erwünschte demaskiert, welches Freud naiv alsdie Sublimierung verherrlicht, die es wahrschein-lich gar nicht gibt.

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K l e i n e S c h m e r z e n , g r o ß e L iede r . —Die zeitgenössische Massenkultur ist historisch not-wendig nicht bloß als Folge der Umklammerung desgesamten Lebens durch Monstreunternehmen, son-dern als Konsequenz dessen, was der heute herrschen-den Standardisierung des Bewußtseins am äußerstenentgegengesetzt scheint, der ästhetischen Subjek-tivierung. Wohl haben die Künstler, je mehr sienach innen gingen, auf den infantilen Spaß an der

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Nachahmung des Auswendigen verzichten gelernt.Aber zugleich lernten sie vermöge der Reflexion aufdie Seele mehr und mehr über sich selber verfügen.Der Fortschritt ihrer Technik, der ihnen stets grö-ßere Freiheit und Unabhängigkeit vom Heterogenenbrachte, resultierte in einer Art von Verdinglichung,Technifizierung der Inwendigkeit als solcher. Jeüberlegener der Künstler sich ausdrückt, um soweniger muß er „sein", was er ausdrückt, und inum so größerem Maße wird das Auszudrückende,ja der Inhalt von Subjektivität selber zu einerbloßen Funktion des Produktionsprozesses. Das hatNietzsche gespürt, als er Wagner, den Dompteurdes Ausdrucks, der Heuchelei zieh, ohne zu erken-nen, daß es dabei nicht um Psychologie, sondernum die geschichtliche Tendenz geht. Die Verwand-lung des Ausdrucksgehalts aus einer ungesteuertenRegung in einen Stoff der Manipulation aber machtihn zugleich handfest, ausstellbar, verkäuflich. Dielyrische Subjektivierung bei Heine etwa steht nichtzu seinen kommerziellen Zügen in einfachem Wider-spruch, sondern das Verkäufliche ist selber die vonSubjektivität verwaltete Subjektivität. Der vir-tuose Gebrauch der „Skala", der den Artisten seitdem neunzehnten Jahrhundert definiert, geht ausder eigenen Triebkraft, nicht erst durch Verrat in

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Journalismus, Spektakel, Kalkulation über. DasBewegungsgesetz der Kunst, das der Beherrschungund damit Vergegenständlichung des Subjekts durchsich selber gleichkommt, meint ihren Untergang: dieKunstfeindschaft des Films, der alle Stoffe undEmotionen administrativ durchmustert, um sie anden Mann zu bringen, die zweite Äußerlichkeit,entspringt in Kunst als der anwachsenden Herr-schaft über innere Natur. Die vielberufene Schau-spielerei der neueren Künstler jedoch, ihr Exhibi-tionismus, ist der Gestus, durch welchen sie sichselber als Waren auf den Markt bringen.

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Who is who. — Die schmeichelhafte Über-zeugung von der Naivetät und Reinheit des Künst-lers oder Gelehrten lebt fort in seiner Neigung,Schwierigkeiten mit der verschlagenen Interessiert-heit, dem praktisch berechnenden Geist der Kon-trahenten zu erklären. Aber wie jede Konstruktion,in der man sich recht und der Welt unrecht gibt,jedes Bestehen auf dem eigenen Titel dahin tendiert,gerade der Welt in einem selber recht zu geben, sosteht es auch um die Antithese von reinem Willen

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und Schlauheit. Reflektiert, von tausend politischenund taktischen Erwägungen geleitet, vorsichtig undargwöhnisch verhält sich heute gerade der intellek-tuelle Außenseiter, der weiß, was zu gewärtigen ist.Die Einverstandenen aber, deren Reich längst überdie Parteigrenzen hinweg zum Lebensraum zusam-menschoß, haben die Berechnung, deren man siefür fähig hielt, nicht mehr nötig. Sie sind so zuver-lässig auf die Spielregeln der Vernunft verpflichtet,ihre Interessenlagen haben so selbstverständlich inihrem Denken sich sedimentiert, daß sie wiederharmlos geworden sind. Forscht man nach ihrendunklen Plänen, so urteilt man zwar metaphysischwahr, weil sie dem finsteren Weltlauf verwandtsind, psychologisch aber falsch: man gerät selber inden objektiv anwachsenden Verfolgungswahn. Dieihrer Funktion nach Verrat und Gemeinheit be-gehen und der Macht sich und ihre Freunde ver-kaufen, bedürfen dazu keiner List und keinesHintergedankens, keiner planenden Veranstaltungendes Ichs, sondern müssen sich umgekehrt nur ihrenReaktionen überlassen und der Forderung desAugenblicks bedenkenlos Genüge tun, um spielendzu vollbringen, was andere einzig durch abgründigeÜberlegungen leisten könnten. Sie erwecken Ver-trauen, indem sie es bekunden. Sie sehen, was für sie

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abfällt, leben von der Hand in den Mund und emp-fehlen sich als unegoistisch zugleich und als Subskri-benten eines Zustands, der es ihnen schon an nichtsfehlen lassen wird. Weil alle ohne Konflikt einzigdem Sonderinteresse nachhängen, erscheint es geradewiederum als allgemein und gleichsam uninteressiert.Ihre Gesten sind freimütig, spontan, entwaffnend.Sie sind nett und böse ihre "Widersacher. Weil ihnengar nicht mehr die Unabhängigkeit zu einer Hand-lung gelassen ist, die dem Interesse entgegengesetztwäre, sind sie auf den guten Willen der anderenangewiesen und selber guten Willens. Das ganzVermittelte, das abstrakte Interesse, schafft einezweite Unmittelbarkeit, während der noch nichtvollends Erfaßte sich als unnatürlich kompromit-tiert. Um nicht unter die Räder zu kommen, mußer die Welt an Weltlichkeit umständlich überbietenund wird des ungeschickten Zuviel leicht überführt.Argwohn, Machtgier, Mangel an Kameradschaft,Falschheit, Eitelkeit und Inkonsequenz lassen sichzwingend ihm vorhalten. Gesellschaftliche Zaubereimacht unausweichlich den, welcher nicht mitspielt,zum Eigennützigen, und der ohne Selbst dem Prin-zip der Realität nachlebt, heißt selbstlos.

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U n b e s t e l l b a r . — Kultivierte Banausen pfle-gen vom Kunstwerk zu verlangen, daß es ihnenetwas gebe. Sie entrüsten sich nicht mehr über dasRadikale, sondern ziehen auf die unverschämt be-scheidene Behauptung sich zurück, sie verstündennicht. Diese beseitigt noch den Widerstand, dieletzte negative Beziehung zur Wahrheit, und dasanstößige Objekt wird lächelnd unter seinesunglei-chen, den Gebrauchsgütern katalogisiert, zwischendenen man die Auswahl hat, und die man ablehnenkann, ohne selbst nur dafür die Verantwortung zutragen. Man sei eben zu dumm, zu altmodisch, mankönne einfach nicht mit, und je kleiner man sichmacht, um so zuverlässiger partizipiert man ammächtigen Unisono der vox inhumana populi, ander richtenden Gewalt des petrifizierten Zeitgeists.Das Unverständliche, von dem niemand etwas hat,wird aus dem aufreizenden Verbrechen zur bemit-leidenswerten Narretei. Mit dem Stachel schiebtman die Versuchung fort. Daß einem etwas gegebenwerden soll, dem Scheine nach das Postulat vonSubstantialität und Fülle, schneidet diese gerade abund läßt das Gebende verarmen. Darin aber kommtdas Verhältnis zu Menschen dem ästhetischen gleich.

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Der Vorwurf, daß einer nichts gebe, ist jämmerlich.Ward die Beziehung steril, soll man sie lösen. Demaber, der daran festhält und doch klagt, geht alle-mal das Organ des Empfangens ab: Phantasie.Beide müssen etwas geben, Glück als das geradenicht Tauschbare, nicht Klagbare, aber solches Gebenist untrennbar von dem Nehmen. Es ist aus, wennden anderen nicht mehr erreicht, was man für ihnfindet. Keine Liebe, die nicht Echo wäre. In denMythen war die Gewähr der Gnade Annahme desOpfers; um diese aber bittet Liebe, das Nachbildder Opferhandlung, wenn sie nicht unterm Fluchsich fühlen soll. Zum Verfall des Schenkens heuteschickt sich die Verhärtung gegen das Nehmen. Sieläuft aber auf jene Verleugnung von Glück selberhinaus, die allein den Menschen es gestattet, anihrer Art Glück festzuhalten. Durchschlagen wäreder Wall, wo sie vom andern empfingen, was siemit verkniffenem Mund sich selber verwehren müs-sen. Das aber wird ihnen schwer um der Anstren-gung willen, die das Nehmen ihnen zumutet. Ver-gafft in die Technik, übertragen sie den Haß gegendie überflüssige Anstrengung ihrer Existenz auf denEnergieaufwand, dessen die Lust als eines Mo-ments ihres Wesens bis in all ihre Sublimierungenhinein bedarf. Trotz der ungezählten Erleichterun-

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gen bleibt ihre Praxis absurde Mühe; Vergeudungder Kraft im Glück jedoch, dessen Geheimnis, dul-den sie nicht. Da muß es nach den englischen For-meln relax und take it easy hergehen, die aus derSprache der Krankenschwestern kommen, nicht derdes Überschwanges. Gluck ist überholt: unöko-nomisch. Denn seine Idee, die geschlechtliche Ver-einigung, ist das Gegenteil des Gelösten, seligeAnspannung, so wie alle unterjochte Arbeit dieunselige.

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C o n s e c u t i o temporum. — Als meinerster Kompositionslehrer versuchte, mir die ato-nalen Mucken auszutreiben und mit erotischenSkandalgeschichten über die Neutöner nicht durch-drang, verfiel er darauf, mich dort zu fassen, wo ermeine Schwäche vermutete, beim Wunsch, sich zeit-gemäß zu erweisen. Das Ultramoderne, so lautetesein Argument, sei bereits nicht mehr modern, dieReize, die ich suchte, seien schon stumpf geworden,die Ausdrucksfiguren, die mich erregten, gehörteneiner altmodischen Sentimentalität an, und dieneue Jugend hätte, wie er es mit Vorliebe nannte,

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mehr rote Blutkörperchen. Seine eigenen Stücke,deren orientalische Themen regelmäßig durch diechromatische Skala fortgesetzt wurden, erwiesensolche pikfeinen Überlegungen als das Manövereines Konservatoriumsdirektors mit schlechtem Ge-wissen. Aber bald mußte ich entdecken, daß dieMode, die er meiner Modernität entgegenhielt, inder Urheimat der großen Salons tatsächlich demähnelte, was er in der Provinz ausgeheckt hatte. DerNeoklassizismus, jener Typus Reaktion, der sichnicht als solche bekennt, sondern auch noch dasreaktionäre Moment selber für avanciert ausgibt,war die Vorhut einer massiven Tendenz, die untermFaschismus und in der Massenkultur rasch lernte,der zarten Rücksicht auf die stets noch allzu sen-siblen Artisten sich zu begeben und den Geist derCourths-Mahler mit dem des technischen Fortschrittszu vereinen. Das Moderne ist wirklich unmoderngeworden. Modernität ist eine qualitative Kategorie,keine chronologische. So wenig sie auf die abstrakteForm sich bringen läßt, so notwendig ist ihr dieAbsage an den konventionellen Oberflächenzusam-menhang, an den Schein von Harmonie, an die vombloßen Abbild bekräftigte Ordnung. Die faschi-stischen Kampfbündler, die biderb über Futurismuszeterten, haben in ihrer Wut mehr verstanden als

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die Moskauer Zensoren, die den Kubismus auf denIndex setzen, weil er hinter dem Geist der kollek-tiven Zeit in privater Ungebühr zurückgeblieben sei,oder die schnoddrigen Theaterkritiker, die einStück von Strindberg oder Wedekind passe finden,aber eine Untergrundreportage up-to-date. Gleich-wohl spricht die blasierte Banausie eine abscheulicheWahrheit aus: daß hinter dem Zug der Gesamt-gesellschaft, die allen Äußerungen ihre Organisationoktroyieren möchte, zurückbleibt, was der vonLindberghs Gattin so genannten Welle der Zukunftsich entgegenstellt, die kritische Konstruktion desWesens. Diese wird keineswegs bloß von der kor-rumpierten öffentlichen Meinung geächtet, sondernder Aberwitz affiziert die Sache. Die Übermacht desSeienden, das den Geist dazu verhält, es ihm gleich-zutun, ist so überwältigend, daß selbst die unassimi-Herte Äußerung des Protests ihr gegenüber etwasHandgewebtes, Unorientiert.es, Ungewitzigtes an-nimmt und an jene Provinzialität gemahnt, dieeinmal prophetisch das Moderne der Rückständig-keit verdächtigte. Der psychologischen Regressionder Individuen, die ohne Ich existieren, ist ange-messen eine Regression des objektiven Geistes, inder Stumpfsinn, Primitivität und Ausverkauf daslängst historisch Verfallene als jüngste geschichtliche

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Macht durchsetzen und dafür alles dem Verdikt desVorgestrigen überantworten, was dem Zug der Re-gression nicht eifrig sich anvertraut. Solches quidpro quo von Fortschritt und Reaktion macht dieOrientierung in der zeitgenössischen Kunst fast soschwierig wie die politische, und lähmt überdies dieProduktion selber, in der, wer an extremen Inten-tionen festhält, wie ein Hinterwäldler sich fühlenmuß, während der Konformist nicht länger ver-schämt in der Gartenlaube sitzt, sondern mit demRaketenflugzeug vorstößt ins Plusquamperfekt.

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La Nuance / encor ' . — Die Forderung desVerzichts von Denken und Ausdruck auf Nuancenist nicht summarisch damit abzufertigen, daß siedem vorherrschenden Stumpfsinn sich beuge. Könntedie sprachliche Nuance nicht mehr wahrgenommenwerden, so beträfe das sie selber und nicht bloß dieRezeption. Sprache ist der eigenen objektiven Sub-stanz nach gesellschaftlicher Ausdruck, auch wo sieals individueller schroff von der Gesellschaft sichsonderte. Veränderungen, die in der Kommunika-tion ihr widerfahren, reichen in das unkommuni-

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kative Material des Schriftstellers hinein. Was anWorten und Sprachformen vom Gebrauch verdor-ben ward, gelangt beschädigt in die zurückgezogeneWerkstatt. Dort aber lassen sich die geschichtlichenSchäden nicht reparieren. Geschichte tangiert dieSprache nicht nur, sondern ereignet sich mitten inihr. Was dem Gebrauch zum Trotz weitergebrauchtwird, stellt einfältig provinziell oder gemächlichrestaurativ sich dar. So gründlich werden alle Nu-ancen in „flavor" verkehrt und losgeschlagen, daßselbst avancierte literarische Subtilitäten an ver-kommene Wörter wie Glast, versonnen, lauschig,würzig erinnern. Die Veranstaltungen gegen denKitsch werden kitschig, kunstgewerblich, mit einemBeiklang des dümmlich Tröstenden aus jener Weltder Frau, deren Seelentum in Deutschland samtLaute und Eigenkleid sich gleichschaltete. In demgepflegten Niveauschund, mit dem glücklich dortüberlebende Intellektuelle um die vakanten Stellender Kultur sich bewerben, liest sich als altfränkischeZiererei, was gestern noch sprachlich bewußt undkonventionsfeindlich dünkte. Das Deutsche scheintvor die Alternative eines abscheulich zweiten Bieder-meiers oder der administrativ-papierenen Banausiegestellt. Die Simplifizierung jedoch, die nicht bloßvom Marktinteresse, sondern von triftigen poli-

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tischen Motiven und schließlich vom geschichtlichenStand der Sprache selber suggeriert wird, überwin-det nicht sowohl die Nuance, als daß sie deren Ver-fall tyrannisch befördert. Sie bringt Opfer derAllmacht der Gesellschaft dar. Aber diese ist ge-rade um ihrer Allmacht willen dem Subjekt vonErkenntnis und Ausdruck so inkommensurabel undfremd wie nur in den harmloseren Zeiten, da es derAlltagssprache auswich. Daß die Menschen von derTotalität aufgesaugt werden, ohne der Totalität alsMenschen mächtig zu sein, macht die institutionali-sierten Sprachformen so nichtig wie die naiv indi-viduellen Valeurs, und ebenso fruchtlos bleibt derVersuch, jene durch Aufnahme ins literarische Me-dium umzufunktionieren: Ingenieurpose dessen, derkein Diagramm lesen kann. Die Kollektivsprache,die den Schriftsteller lockt, der seiner Isolierung alsRomantik mißtraut, ist nicht weniger romantisch:er usurpiert die Stimme derer, für die er unmittel-bar, als einer von ihnen, gar nicht sprechen kann,weil seine Sprache, durch Verdinglichung, von ihnenso getrennt ist, wie alle voneinander; weil die gegen-wärtige Gestalt des Kollektivs an sich selber sprach-los ist. Kein Kollektiv heute, dem der Ausdruck desSubjekts sich überließe, ist schon Subjekt. Wer nichtdem offiziellen Hymnenton totalitär überwachter

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Befreiungsfeste sich verschreibt, sondern mit der vonRoger Caillois zweideutig genug empfohlenen ariditeernst es meint, erfährt die objektive Disziplin ledig-lich privativ, ohne ein konkret Allgemeines dafür zu-rückzuerhalten. Der Widerspruch zwischen der Ab-straktheit jener Sprache, die mit dem bürgerlichSubjektiven aufräumen will, und ihren nachdrück-lich konkreten Gegenständen liegt nicht beim Unver-mögen der Schriftsteller, sondern bei der historischenAntinomie. Jenes Subjekt will sich ans Kollektivzedieren, ohne in ihm aufgehoben zu sein. Darumbehält gerade sein Verzicht aufs Private ein Pri-vates, Schimärisches. Seine Sprache ahmt auf eigeneFaust die straffe Konstruktion der Gesellschaft nachund wähnt, sie hätte den Beton zur Rede erweckt.Zur Strafe begeht die unbestätigte Gemeinschafts-sprache unablässig faux pas, Sachlichkeit auf Kostender Sache, nicht gar so verschieden vom Bürger,wenn er einmal hohen Stil deklamierte. Die Konse-quenz aus dem Verfall der Nuance wäre nicht, ander verfallenen obstinat festzuhalten und auch nicht,jegliche zu exstirpieren, sondern sie an Nuanciert-heit womöglich zu überbieten, so weit sie zu treiben,bis sie aus der subjektiven Abschattung umschlägtin die reine spezifische Bestimmung des Gegenstan-des. Der Schreibende muß die genaueste Kontrolle

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darüber, daß das Wort die Sache und nur diese,ohne Seitenblick, meint, verbinden mit dem Ab-klopfen jeglidier Wendung, der geduldigen Anstren-gung zu hören, was sprachlich, an sich, trägt undwas nicht. Die Furcht aber, trotz allem hinter demZeitgeist zurückzubleiben und auf den Kehricht-haufen der ausrangierten Subjektivität geworfen zuwerden, ist daran zu erinnern, daß das arriviertZeitgemäße und das dem Gehalt nach Fortgeschrit-tene nicht mehr eines sind. In einer Ordnung, diedas Moderne als rückständig liquidiert, kann sol-chem Rückständigen, ist es einmal vom Urteil er-eilt, die Wahrheit zufallen, über die der historischeProzeß hinwegrollt. Weil keine Wahrheit ausge-drückt werden kann, als die das Subjekt zu füllenvermag, wird der Anachronismus zur Zuflucht desModernen.

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Dem fo lg t deu t scher Gesang . — Denfreien Vers haben Künstler wie George als Miß-fornij als Zwitter von gebundener Rede und Prosaverworfen. Sie werden darin von Goethe und vonHölderlins späten Hymnen widerlegt. Ihr tech-

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nischer Blick nimmt den freien Vers hin, wie er sichgibt. Sie machen sich taub gegen die Geschichte, dieseinen Ausdruck prägt. Nur im Zeitalter ihres Ver-falls sind die freien Rhythmen nichts als unterein-ander gesetzte Prosaperioden von gehobenem Ton.Wo der freie Vers als Form eigenen Wesens sicherweist, ist er aus der gebundenen Strophe hervor-gegangen, über die Subjektivität hinausdrängt. Erwendet das Pathos des Metrons gegen dessen eigenenAnspruch, strenge Negation des Strengsten, so wiedie musikalische Prosa, von der Symmetrie derAchttaktigkeit emanzipiert, sich den unerbittlichenKonstruktionsprinzipien verdankt, die in der Arti-kulation des tonal Regelmäßigen heranreiften. Inden freien Rhythmen werden die Trümmer derkunstvoll-reimlosen antiken Strophen beredt. Fremdragen diese in die neuen Sprachen hinein und taugenkraft solcher Fremdheit zum Ausdruck dessen, wasin Mitteilung sich nicht erschöpft. Aber unrettbargeben sie der Flut der Sprachen nach, in denen sieaufgerichtet waren. Brüchig nur, mitten im Reichder Kommunikation und durch keine Willkür vondiesem zu scheiden, bedeuten sie Distanz und Stili-sierung, inkognito gleichsam und privilegienlos, bisin solcher Lyrik wie der Trakls die Wellen desTraums über den hilflosen Versen zusammenschla-

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gen. Nicht umsonst war die Epoche der freien Rhyth-men die französische Revolution, der Einstandvon Menschenwürde und -gleichheit. Aber ist nichtdas bewußte Verfahren solcher Verse ähnlich demGesetz, welchem Sprache überhaupt in ihrer be-wußtlosen Geschichte gehorcht? Ist nicht alle gear-beitete Prosa eigentlich ein System freier Rhythmen,der Versuch, den magischen Bann des Absolutenund die Negation seines Scheins zur Deckung zubringen, eine Anstrengung des Geistes, die meta-physische Gewalt des Ausdrucks vermöge ihrer eige-nen Säkularisierung zu erretten? Wäre dem so, dannfiele ein Strahl von Licht auf die Sisyphuslast, diejeder Prosaschriftsteller auf sich genommen hat,seitdem Entmythologisierung in die Zerstörung vonSprache selber übergegangen ist. Sprachliche DonQuixoterie ward zum Gebot, weil jedes Satzgefügebeiträgt zur Entscheidung darüber, ob die Spracheals solche, zweideutig von Urzeiten her, dem Be-trieb verfällt und der geweihten Lüge, die zu die-sem gehört, oder ob sie zum heiligen Text sich be-reitet, indem sie sich, spröde macht gegen das sakraleElement, aus dem sie lebt. Die asketische Abdich-tung der Prosa gegen den Vers gilt der Beschwörungdes Gesangs.

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In n u c e. — Aufgabe von Kunst heute ist es,Chaos in die Ordnung zu bringen.

Künstlerische Produktivität ist das Vermögen derWillkür im Unwillkürlichen.

Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheitzu sein.

Da die Kunstwerke nun einmal von den Fetischenabstammen — sind die Künstler zu tadeln, wennsie zu ihren Produkten ein wenig fetischistisch sichverhalten?

Die Kunstform, welche von altersher als Darstel-lung der Idee den höchsten Anspruch auf Vergeisti-gung erhebt, das Drama, ist zugleich seinen innerstenVoraussetzungen nach unabdingbar auf ein Publi-kum verwiesen.

Wenn Benjamin meinte, daß in Malerei und Pla-stik die stumme Sprache der Dinge in eine höhere,aber ihr ähnliche übersetzt sei, so ließe von derMusik sich annehmen, daß sie den Namen als reinen

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Laut errettet — aber um den Preis seiner Trennungvon den Dingen.

Vielleicht ist der strenge und reine Begriff vonKunst überhaupt nur der Musik zu entnehmen,während große Dichtung und große Malerei — ge-rade die große — notwendig ein Stoffliches, denästhetischen Bannkreis Überschreitendes, nicht indie Autonomie der Form Aufgelöstes mit sich führt.Je tiefer und folgerichtiger die Ästhetik, um so un-angemessener ist sie etwa den bedeutenden Roma-nen des neunzehnten Jahrhunderts. Dies Interessehat Hegel in seiner Polemik gegen Kant wahr-genommen.

Der von den Ästhetikern verbreitete Glaube, dasKunstwerk wäre, als Gegenstand unmittelbarer An-schauung, rein aus sich heraus zu verstehen, ist nichtstichhaltig. Er hat seine Grenze keineswegs bloßan den kulturellen Voraussetzungen eines Gebildes,seiner „Sprache", der nur der Eingeweihte folgenkann. Sondern selbst wo keine Schwierigkeiten sol-cher Art im Wege sind, verlangt das Kunstwerkmehr, als daß man ihm sich überläßt. Wer dieFledermaus schön finden will, der muß wissen, daßes die Fledermaus ist: ihm muß die Mutter erklärt

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haben, daß es nicht um das geflügelte Tier, sondernum ein Maskenkostüm sich handelt; er muß daransich erinnern, daß ihm gesagt ward: morgen darfstdu in die Fledermaus. In der Tradition stehen hieß:das Kunstwerk als ein bestätigtes, geltendes erfah-ren; in ihm teilhaben an den Reaktionen all derer,die zuvor es sahen. Fällt das einmal fort, so liegtdas Werk in seiner Blöße und Fehlbarkeit zutage.Die Handlung wird aus einem Ritual zur Idiotie,die Musik aus einem Kanon sinnvoller Wendungenschal und abgestanden. Es ist wirklich nicht mehrso schön. Daraus zieht die Massenkultur ihr Rechtzur Adaptation. Die Schwäche aller traditionellenKultur außerhalb ihrer Tradition liefert den Vor-wand, sie zu verbessern und damit barbarisch zuverschandeln.

Das Tröstliche der großen Kunstwerke liegtweniger in dem, was sie aussprechen, als darin, daßes ihnen gelang, dem Dasein sich abzutrotzen. Hoff-nung ist am ehesten bei den trostlosen.

Kafka: der Solipsist ohne ipse.

Kafka war ein eifriger Leser Kierkegaards, aberer hängt mit der Existentialphilosophie nur so weit

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zusammen, wie man von „vernichteten Existenzen"spricht.

Der Surrealismus bricht die promesse du bonheur.Er opfert den Schein des Glucks, den jegliche inte-grale Form vermittelt, dem Gedanken an dessenWahrheit auf.

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Z a u b e r f l ö t e . — Jene kulturkonservativeIdeologie, welche Aufklärung und Kunst in ein-fachen Gegensatz bringt, ist unwahr auch insofern,als sie das Moment von Aufklärung in der Genesisdes Schönen verkennt. Aufklärung löst nicht bloßalle Qualitäten auf, an denen das Schöne haftet,sondern setzt zugleich erst die Qualität des Schönenselber. Das interesselose Wohlgefallen, das Kantzufolge Kunstwerke erregen, kann nur kraft einerhistorischen Antithetik verstanden werden, die injedem ästhetischen Objekte nachzittert. Wohlgefäl-lig ist das interesselos Betrachtete, weil es einmaldas äußerste Interesse beanspruchte und damit derBetrachtung gerade sich entzog. Diese ist ein Tri-umph aufgeklärter Selbstdisziplin. Gold und Edel-

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steine, in deren Perzeption Schönheit und Luxusungeschieden noch ineinander liegen, waren als ma-gisch verehrt. Das Licht, das sie zurückstrahlen, galtfür ihr eigenes Wesen. Ihrem Bann gehorcht, wasvon jenem Licht getroffen wird. Seiner bedient sichfrühe Naturbeherrschung. Sie sah in ihnen Instru-mente, den Weltlauf mit seiner eigenen, ihm abge-listeten Kraft zu unterjochen. Der Zauber hafteteam Schein von Allmacht. Solcher Schein zerging mitder Selbstaufklärung des Geistes, aber der Zauberhat überlebt als Macht der aufleuchtenden Dingeüber die Menschen, die davor einstmals erschauerten,und deren Auge von solchem Schauer gebanntbleibt, auch nachdem sein herrschaftlicher Anspruchdurchschaut war. Kontemplation ist als Restbe-stand fetischistischer Anbetung zugleich eine Stufevon deren Überwindung. Indem die aufleuchtendenDinge ihres magischen Anspruchs sich begeben,gleichsam auf die Gewalt verzichten, die das Sub-jekt ihnen zutraute und mit ihrer Hilfe selber aus-zuüben gedachte, wandeln sie sich zu Bildern desGewaltlosen, zum Versprechen eines Glücks, dasvon der Herrschaft über Natur genas. Das ist dieUrgeschichte des Luxus, eingewandert in den Sinnaller Kunst. Im Zauber dessen, was in absoluterOhnmacht sich enthüllt, des Schönen, vollkommen

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und nichtig in eins, spiegelt der Schein von Allmachtnegativ als Hoffnung sich wider. Es ist jeglicherMachtprobe entronnen. Totale Zwecklosigkeit de-mentiert die Totalität des Zweckmäßigen in derWelt der Herrschaft und nur kraft solcher Ver-neinung, welche das Bestehende an seinem eigenenVernunftprinzip aus dessen Konsequenz vollbringt,wird bis zum heutigen Tage die existierende Ge-sellschaft einer möglichen sich bewußt. Die Selig-keit von Betrachtung besteht im entzaubertenZauber. Was aufleuchtet, ist die Versöhnung desMythos.

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K u n s t f i g u r . — Den Unvorbereiteten er-schrecken angehäufte Hausgreuel durch ihre Ver-wandtschaft mit den Kunstwerken. Noch der halb-kugelförmige Briefbeschwerer, der unter Glas eineFichtenlandschaft mit der Unterschrift Gruß ausBad Wüdungen trägt, mahnt in etwas an Stiftersgrüne Fichtau, noch der polychrome Gartenzwergan einen Wicht aus Balzac oder Dickens. Schuld sindweder bloß die Sujets noch die abstrakte Ähnlich-keit allen ästhetischen Scheins überhaupt. Albern

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und unverhohlen vielmehr spricht die Existenz desSchunds den Triumph aus, daß es den Menschengelang, von sich aus ein Stück dessen noch einmalhervorzubringen, worin sie sonst als Mühselige ge-bannt sich finden, und den Zwang der Anpassungsymbolisch zu brechen, indem sie selber schaffen,was sie fürchteten; und vom Echo des gleichen Tri-umphs hallen die mächtigsten Werke wider, die ihnsich versagen und als reines Selbst ohne Beziehungauf ein Nachgeahmtes sich dünken. Hier wie dortwird Freiheit von Natur zelebriert und bleibt dabeimythisch befangen. Was den Menschen in Schauerverhielt, wird zu seiner eigenen verfügbaren Sache.Bilder und Bildchen haben gemein, daß sie die Urbil-der hantierbar machen. Die Illustration „L'automne"im Lesebuch ist ein deja vu, die Eroica, gleich dergroßen Philosophie, stellt die Idee als totalen Pro-zeß dar, doch als wäre dieser unmittelbar, sinnlichgegenwärtig. Am Ende ist die Empörung über denKitsch die Wut darüber, daß er schamlos im Glückder Nachahmung schwelgt, die mittlerweile vomTabu ereilt ward, während die Kraft der Kunst-werke geheim stets noch von Nachahmung gespeistwird. Was dem Bann des Daseins, seinen Zweckenentrinnt, ist nicht nur das protestierende Bessere,sondern auch das zur Selbstbehauptung Unfähige,

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Dümmere. Diese Dummheit wachst an, je mehrautonome Kunst ihre abgespaltene, vorgeblich un-schuldige Selbstbehauptung an Stelle der realen,schuldhaft herrischen vergötzt. Indem die subjek-tive Veranstaltung als gelungene Rettung objek-tiven Sinnes auftritt, wird sie unwahr. Dessen über-führt sie der Kitsch; seine Lüge fingiert nicht erstWahrheit. Er zieht Feindschaft auf sich, weil er dasGeheimnis von Kunst ausplaudert und etwas vonder Verwandtschaft der Kultur mit den Wilden.Jedes Kunstwerk hat seinen unauflöslichen Wider-spruch in der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck", durchdie Kant das Ästhetische definierte; daran, daß eseine Apotheose des Machens, der naturbeherrschen-den Fähigkeit darstellt, die als Schöpfung zweiterNatur absolut, zweckfrei, an sich seiend sich setzt,während doch zugleich Machen selber, ja gerade dieGloriole des Artefakts untrennbar ist von eben derZweckrationalität, aus der Kunst ausbrechen will.Der Widerspruch des Gemachten und Seienden istdas Lebenselement der Kunst und umschreibt ihrEntwicklungsgesetz, aber er ist auch ihre Schande:indem sie, wie sehr auch vermittelt, dem je vorfind-üchen Schema der materiellen Produktion folgt undihre Gegenstände „macht", kann sie als seinesgleichender Frage des Wozu nicht entgehen, deren Negation

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gerade ihr Zweck ist. Je näher die Produktionsweisedes Artefakts der materiellen Massenproduktionsteht, um so naiver gleichsam provoziert es jenetödliche Frage. Die Kunstwerke aber versuchen dieFrage zum Schweigen zu verhalten. „Das Vollkom-mene soll", nach Nietzsches Wort, „nicht gewordensein" (Menschliches, Allzu Menschliches I, Aph. 145,S. 157 f), nämlich als nicht gemacht erscheinen. Jekonsequenter jedoch es durch Vollkommenheit vomMachen sich distanziert, um so brüchiger wird not-wendig zugleich sein eigenes gemachtes Dasein: dieendlose Mühe, die Spur des Machens zu verwischen,lädiert die Kunstwerke und verurteilt sie zum Frag-mentarischen. Kunst hat, nach dem Zerfall der Ma-gie, es unternommen, die Bilder fortzuerben. Andies Werk aber begibt sie sich kraft des gleichenPrinzips, das die Bilder zerstörte: der Stamm ihresgriechischen Namens ist der gleiche wie der vonTechnik. Ihre paradoxe Verflechtung in den zivili-satorischen Prozeß bringt sie in Konflikt mit dereigenen Idee. Die Archetypen von heutzutage, dieder Film und die Schlager für die verödete Anschau-ung der spätindustriellen Phase synthetisch zuberei-ten, liquidieren Kunst nicht bloß, sondern sprengenim eklatanten Schwachsinn den Wahn zutage, derden ältesten Kunstwerken schon eingemauert ist

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und der noch dem reifsten die Gewalt verleiht.Grell bestrahlt das Grauen des Endes den Trug desUrsprungs. — Es ist die Chance und Schranke derfranzösischen Kunst, daß sie den Stolz des Bildchen-machens nie ganz ausrottete, wie sie denn von derdeutschen am sinnfälligsten dadurch sich unterschei-det, daß sie den Begriff des Kitschs nicht anerkennt.In zahllosen bedeutenden Manifestationen wirft sieeinen versöhnlichen Blick auf das, was gefällt, weiles geschickt gefertigt ward: das sublim Artistischehält sich am sinnlichen Leben durch ein Moment desharmlosen Vergnügens am bien fait. Während da-mit auf den absoluten Anspruch des ungewordenVollkommenen, die Dialektik von Wahrheit undSchein verzichtet ist, wird zugleich die Unwahrheitder von Haydn so genannten Großmogule vermie-den, die mit dem Spaß an Männchen und Bildchenschlechterdings nichts mehr zu schaffen haben möch-ten und dem Fetischismus verfallen, indem sie dieFetische austreiben. Geschmack ist die Fähigkeit,den Widerspruch zwischen dem Gemachten und demSchein des Ungewordenen in der Kunst zu balan-cieren; die wahren Kunstwerke aber, niemals einigmit dem Geschmack, sind die, welche jenen Wider-spruch im Extrem ausprägen und zu sich selberkommen, indem sie daran zugrunde gehen.

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Kaufmannsl aden . — Hebbel wi r f t ineiner überraschenden Tagebuchnotiz die Frage auf,was „dem Leben den Zauber in späteren Jahren"nähme. „Weil wir in all den bunten verzerrtenPuppen die Walze sehen, die sie in Bewegung setzt,und weil eben darum die reizende Mannigfaltigkeitder Welt sich in eine hölzerne Einförmigkeit auf-löst. Wenn einmal ein Kind die Seiltänzer singen,die Musikanten blasen, die Mädchen Wasser tra-gen, die Kutscher fahren sieht, so denkt es, das ge-schähe alles aus Lust und Freude an der Sache; eskann sich gar nicht vorstellen, daß diese Leute auchessen und trinken, zu Bett gehen und wieder auf-stehen. Wir aber wissen, worum es geht." Nämlichum den Erwerb, der alle jene Tätigkeiten als bloßeMittel beschlagnahmt, vertauschbar reduziert aufdie abstrakte Arbeitszeit. Die Qualität der Dingewird aus dem Wesen zur zufälligen Erscheinungihres Wertes. Die „Äquivalentform" verunstaltetalle Wahrnehmungen: das, worin nicht mehr dasLicht der eigenen Bestimmung als „Lust an derSache" leuchtet, verblaßt dem Auge. Die Organefassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merkender Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für

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sich da ist oder für ein anderes; sie ermüden an derfalschen Vielfalt und tauchen alles in Grau, ent-täuscht durch den trugvollen Anspruch der Quali-täten, überhaupt noch da zu sein, während sie nachden Zwecken der Aneignung sich richten, Ja ihnenweithin ihre Existenz einzig verdanken. Die Ent-zauberung der Anschauungswelt ist die Reaktiondes Sensoriums auf ihre objektive Bestimmung als„Warenwelt". Erst die von Aneignung gereinigtenDinge wären bunt und nützlich zugleich: unteruniversalem Zwang läßt beides nicht sich versöhnen.Die Kinder aber sind nicht sowohl, wie Hebbelmeint, befangen in Illusionen über die „reizendeMannigfaltigkeit", als daß ihre spontane Wahrneh-mung den Widerspruch zwischen dem Phänomenund der Fungibilität, an den die resignierte derErwachsenen schon nicht mehr heranreicht, nochbegreift und ihm zu entrinnen sucht. Spiel ist ihreGegenwehr. Dem unbestechlichen Kind fällt die„Eigentümlichkeit der Äquivalentform" auf: „Ge-brauchswert wird zur Erscheinungsform seines Ge-genteils, des Werts" (Marx, Kapital I, Wien 1932,S. 61). In seinem zwecklosen Tun schlägt es mit einerFinte sich auf die Seite des Gebrauchswerts gegen denTauschwert. Gerade indem es die Sachen, mit denenes hantiert, ihrer vermittelten Nützlichkeit ent-

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äußert, sucht es im Umgang mit ihnen zu erretten,womit sie den Menschen gut und nicht dem Tausch-verhältnis zu willen sind, das Menschen und Sachengleichermaßen deformiert. Der kleine Rollwagenfährt nirgendwohin, und die winzigen Fässer dar-auf sind leer; aber sie halten ihrer Bestimmung dieTreue, indem sie sie nicht ausüben, nicht teilhabenan dem Prozeß der Abstraktionen, der jene Bestim-mung an ihnen nivelliert, sondern als Allegoriendessen stillhalten, wozu sie spezifisch da sind. Ver-sprengt zwar, doch unverstrickt warten sie, ob ein-mal die Gesellschaft das gesellschaftliche Stigma aufihnen tilgt; ob der Lebensprozeß zwischen Menschund Sache, die Praxis aufhören wird praktisch zusein. Die Unwirklichkeit der Spiele gibt kund, daßdas Wirkliche es noch nicht ist. Sie sind bewußtloseÜbungen zum richtigen Leben. Vollends beruht dasVerhältnis der Kinder zu den Tieren darauf, daßdie Utopie in jene sich vermummt, denen Marx esnicht einmal gönnt, daß sie als Arbeitende Mehr-wert liefern. Indem die Tiere ohne den Menschenirgend erkennbare Aufgabe existieren, stellen sieals Ausdruck gleichsam den eigenen Namen vor,das schlechterdings nicht Vertauschbare. Das machtsie den Kindern lieb und ihre Betrachtung selig.Ich bin ein Nashorn, bedeutet die Figur des Nas-

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horns. Märchen und Operetten kennen solche Bilder,und die lächerliche Frage der Frau, woher wirwüßten, daß der Orion auch in der Tat Orionheißt, erhebt sich zu den Sternen.

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N o v i s s i m u m O r g a n u m . Längs t warddargetan, daß die Lohnarbeit die neuzeitlichenMassen geformt, ja den Arbeiter selbst hervorgebracht hat. Allgemein ist das Individuum nichtbloß das biologische Substrat, sondern zugleichdie Reflexionsform des gesellschaftlichen Prozesses, und sein Bewußtsein von sich selbst als einem ansich Seienden jener Schein, dessen es zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bedarf, während derIndividuierte in der modernen Wirtschaft als bloßerAgent des Wertgesetzes fungiert. Die innere Kom-position des Individuums an sich, nicht bloß dessengesellschaftliche Rolle wäre daraus abzuleiten. Ent-scheidend ist dabei in der gegenwärtigen Phase dieKategorie der organischen Zusammensetzung desKapitals. Darunter verstand die Akkumulations-theorie „das Wachstum in der Masse der Produk-tionsmittel, verglichen mit der Masse der sie beleben-

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den Arbeitskraft" (Kapital, Volksausgabe 1932,1. Band, Buch I, S. 655). Wenn die Integration derGesellschaft, zumal in den totalitären Staaten, dieSubjekte immer ausschließlicher als Teilmomente imZusammenhang der materiellen Produktion be-stimmt, dann setzt die „Veränderung in der tech-nischen Zusammensetzung des Kapitals" in dendurch die technologischen Anforderungen des Pro-duktionsprozesses Erfaßten und eigentlich über-haupt erst Konstituierten sich fort. Es wächst dieorganische Zusammensetzung des Menschen an.Das, wodurch die Subjekte in sich selber als Pro-duktionsmittel und nicht als lebende Zwecke be-stimmt sind, steigt wie der Anteil der Maschinengegenüber dem variablen Kapital. Die geläufigeRede von der „Mechanisierung" des Menschenist trügend, weil sie diesen als ein Statischesdenkt, das durch „Beeinflussung" von außen, An-passung an ihm äußerliche Produktionsbedingun-gen gewissen Deformationen unterliege. Aber esgibt kein Substrat solcher „Deformationen", keinontisch Innerliches, auf welches gesellschaftlicheMechanismen von außen bloß einwirkten: die De-formation ist keine Krankheit an den Menschen,sondern die der Gesellschaft, die ihre Kinder sozeugt, wie der Biologismus auf die Natur es proji-

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ziert: sie „erblich belastet". Nur indem der Prozeß,der mit der Verwandlung von Arbeitskraft in Wareeinsetzt, die Menschen samt und sonders durch-dringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart desTauschverhältnisses a priori zugleich kommensura-bel macht und vergegenständlicht, wird es möglich,daß das Leben unter den herrschenden Produktions-verhältnissen sich reproduziert. Seine Durchorgani-sation verlangt den Zusammenschluß von Toten.Der Wille zum Leben sieht sich auf die Verneinungdes Willens zum Leben verwiesen: Selbsterhaltungannulliert Leben an der Subjektivität. Dem gegen-über sind alle die Leistungen von Anpassung, alledie Akte des Konformierens, welche Sozialpsycho-logie und kulturelle Anthropologie beschreiben,bloße Epiphänomene. Die organische Zusammen-setzung des Menschen bezieht sich keineswegs nurauf die spezialistischen technischen Fähigkeiten, son-dern — und das will die übliche Kulturkritik umkeinen Preis worthaben — ebenso auf deren Gegen-satz, die Momente des Naturhaften, die freilichihrerseits schon in gesellschaftlicher Dialektik ent-sprangen und ihr nun verfallen. Noch was im Men-schen von der Technik differiert, wird als eine Artvon Rubrikation der Technik eingegliedert. Diepsychologische Differenzierung, wie sie ursprünglich

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aus der Arbeitsteilung und der Zerlegung des Men-schen nach Sektoren des Produktionsprozesses undder Freiheit sich ergab, tritt am Ende selbst noch inden Dienst der Produktion. „Der spezialistische,Virtuose'", schrieb ein Dialektiker vor dreißig Jah-ren, „der Verkäufer seiner objektivierten und ver-sachlichten geistigen Fähigkeiten ... gerät auch ineine kontemplative Attitüde zu dem Funktionierenseiner eigenen, objektivierten und versachlichtenFähigkeiten. Am groteskesten zeigt sich diese Struk-tur im Journalismus, wo gerade die Subjektivitätselbst, das Wissen, das Temperament, die Aus-drucksfähigkeit zu einem abstrakten, sowohl vonder Persönlichkeit des ,Besitzers' wie von dem mate-riell-konkreten Wesen der behandelten Gegenständeunabhängigen und eigengesetzlich in Gang gebrach-ten Mechanismus wird. Die Besinnungslosigkeit'der Journalisten, die Prostitution ihrer Erlebnisseund Überzeugungen ist nur als Gipfelpunkt derkapitalistischen Verdinglichung begreifbar." Washier an den „Entartungserscheinungen" des Bürger-tums festgestellt wird, die es selber noch denun-zierte, ist mittlerweile als die gesellschaftliche Normhervorgetreten, als Charakter der vollwertigen Exi-stenz unterm späten Industrialismus. Längst han-delt es sich nicht mehr um den bloßen Verkauf des

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Lebendigen. Unterm Apriori der Verkäuflichkeithat das Lebendige als Lebendiges sich selber zumDing gemacht, zur Equipierung. Das Ich nimmt denganzen Menschen als seine Apparatur bewußt inden Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ichals Betriebsleiter so viel von sich an das Ich als Be-triebsmittel ab, daß es ganz abstrakt, bloßer Be-zugspunkt wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst.Die Eigenschaften, von der echten Freundlichkeitbis zum hysterischen Wutanfall, werden bedienbar,bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechtenEinsatz aufgehen. Mit ihrer Mobilisierung verän-dern sie sich. Sie bleiben nur noch als leichte, starreund leere Hülsen von Regungen zurück, beliebigtransportabler Stoff, eigenen Zuges bar. Sie sindnicht mehr Subjekt, sondern das Subjekt richtet sichauf sie als sein inwendiges Objekt. In ihrer grenzen-losen Gefügigkeit gegens Ich sind sie diesem zu-gleich entfremdet: als ganz passive nähren sie esnicht länger. Das ist die gesellschaftliche Patho-genese der Schizophrenie. Die Trennung der Eigen-schaften vom Triebgrund sowohl wie vom Selbst,das siekommandiert, wo es vormals bloß zusammen-hielt, läßt den Menschen für seine anwachsende in-nere Organisation mit anwachsender Desintegrationbezahlen. Die im Individuum vollendete Arbeits-

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teilung, seine radikale Objektivation, kommt aufseine kranke Aufspaltung heraus. Daher der »psy-chotische Charakter", die anthropologische Voraus-setzung aller totalitären Massenbewegungen. Ge-rade der Übergang fester Eigenschaften in einschnap-pende Verhaltensweisen -— scheinbar Verlebendi-gung — ist Ausdruck der steigenden organischen Zu-sammensetzung. Quickes Reagieren, ledig der Ver-mittlung durchs Beschaffensein, stellt nicht Spon-taneität wieder her, sondern etabliert die Personals Meßinstrument, disponibel und ablesbar für dieZentrale. Je unmittelbarer es seinen Ausschlag gibt,desto tiefer hat in Wahrheit Vermittlung sich nieder-geschlagen: in den prompt antwortenden, wider-standslosen Reflexen ist das Subjekt ganz gelöscht.So sind denn auch die biologischen Reflexe, Modelleder gegenwärtigen gesellschaftlichen, gemessen anSubjektivität ein Gegenständliches, Fremdes: nichtumsonst heißen sie oft „mechanisch". Je näher Or-ganismen dem Tod, um so mehr regredieren sie aufZuckungen. Danach wären die Destruktionstenden-zen der Massen, die in den totalitären Staaten bei-der Spielart explodieren, nicht so sehr Todes-wünsche wie Manifestationen dessen, wozu sie schongeworden sind. Sie morden, damit ihnen gleicht,was lebendig ihnen dünkt.

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A b d e c k e r e i . — Die metaphysischen Kate-gorien sind nicht bloß die verdeckende Ideologie desgesellschaftlichen Systems, sondern drücken jeweilszugleich dessen Wesen aus, die Wahrheit über es,und in ihren Veränderungen schlagen die der zen-tralsten Erfahrungen sich nieder. So fällt der Todin die Geschichte und diese läßt umgekehrt an ihmsich begreifen. Seine Würde glich der des Indivi-duums. Dessen ökonomisdi entsprungene Autonomievollendet sich in der Vorstellung seiner Absolutheit,sobald die theologische Hoffnung auf seine Unsterb-lichkeit, die empirisch es relativierte, verblaßt. Dementsprach das emphatische Bild des Todes, der dasIndividuum, das Substrat allen bürgerlichen Ver-haltens und Denkens, ganz auslöscht. Er war derabsolute Preis des absoluten Wertes. Nun stürzt ermit dem gesellschaftlich aufgelösten Individuum.Wo er mit der alten Würde bekleidet wird, klap-pert er als die Lüge, die in seinem Begriff stets schonbereit stand: das Undurchdringliche zu nennen, überdas Subjektlose zu prädizieren, das Herausfallendeeinzubauen. Im vorwaltenden Bewußtsein aber istWahrheit und Unwahrheit seiner Würde dahin,nicht kraft jenseitiger Hoffnung, sondern angesichts

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der hoffnungslosen Unkraft des Diesseitigen. „Lemonde moderne", notierte der radikale KatholikCharles Péguy 1907 schon, „a réussi à avilir ce qu'ily a peut-être de plus difficile à avilir au monde,parce que c'est quelque chose qui a en soi, commedans sa texture, une sorte particulière de dignité,comme une incapacité singulière d'être avili: il avilitla mort" (Men and Saints, New York, 1944, S. 98).Wenn das Individuum, das der Tod vernichtet,nichtig, der Selbstbeherrschung und des eigenen Seinsbar ist, dann wird nichtig auch die vernichtendeMacht, wie im Witz auf die Heideggersche Formelvom nichtenden Nichts. Die radikale Ersetzbar-keit des Einzelnen macht praktisch, in vollkomme-ner Verachtung seinen Tod zu dem Widerruflichen,als das er einst im Christentum mit paradoxem Pa-thos konzipiert war. Als quantité négligeable aberwird der Tod ganz eingegliedert. Die Gesellschafthält für jeden Menschen, mit all seinen Funktionen,den wartenden Hintermann bereit, dem jener so-wieso von Anbeginn als störender Inhaber der Ar-beitsstelle, als Todesanwärter gilt. Danach wandeltsich die Erfahrung des Todes in die des Austauschsvon Funktionären, und was vom Natur Verhältnisdes Todes ins gesellschaftliche nicht vollends ein-geht, wird der Hygiene überlassen. Indem der Tod

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als nichts anderes mehr wahrgenommen ist denn alsdas Ausscheiden eines natürlichen Lebewesens ausdem Verband der Gesellschaft, hat dieser ihn schließ-lich domestiziert: Sterben bestätigt bloß noch dieabsolute Irrelevanz des natürlichen Lebewesens ge-genüber dem gesellschaftlich Absoluten. Wenn irgenddie Kulturindustrie Zeugnis ablegt von den Ver-änderungen in der organischen Zusammensetzungder Gesellschaft, dann durchs kaum verhüllte Ein-geständnis dieser Sachverhalte. Unter ihrer Linse be-ginnt der Tod komisch zu werden. "Wohl ist dasLachen, das ihn in einem gewissen Genre der Produk-tion grüßt, zweideutig. Es meldet noch die Angst anvor dem Amorphen unter dem Netz, mit welchem dieGesellschaft die ganze Natur übersponnen hat. Aberdie Hülle ist schon so groß und dicht, daß das Ge-dächtnis ans Unbedeckte läppisch, sentimental dünkt.Seitdem der Detektivroman in den Büchern vonEdgar Wallace verfiel, die ihre Leser durch mindererationale Konstruktion, ungelöste Rätsel und roheÜbertreibung zu verspotten schienen und dabei dochdie kollektive Imago des totalitären Schreckensso großartig vorwegnahmen, hat sich der Typus derMordkomödie ausgebildet. Während sie weiter vor-gibt, über die falschen Schauer sich lustig zu machen,demoliert sie die Bilder des Todes. Sie stellt die

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Leiche vor als das, wozu sie geworden ist, als Re-quisit. Noch gleicht sie dem Menschen und ist dochnur ein Ding, wie in dem Film „A slight case ofmurder", wo Leichen unablässig hin- und hertrans-portiert werden, Allegorien dessen, was sie vorherschon waren. Komik kostet die falsche Abschaffungdes Todes aus, die Kafka längst zuvor in der Ge-schichte vom Jäger Gracchus mit Panik beschrieb:um ihretwillen beginnt wohl auch Musik komischzu werden. Was die Nationalsozialisten an Mil-lionen von Menschen verübt haben, die MusterungLebender als Toter, dann die Massenproduktionund Verbilligung des Todes, warf seinen Schattenvoraus über jene, die von Leichen zum Lachen sichinspirieren lassen. Entscheidend ist die Aufnahmeder biologischen Zerstörung in den bewußten ge-sellschaftlichen Willen. Nur eine Menschheit, derder Tod so gleichgültig geworden ist wie ihre Mit-glieder: eine die sich selber starb, kann ihn admini-strativ über Ungezählte verhängen, Rilkes Gebetum den eigenen Tod ist der klägliche Betrug dar-über, daß die Menschen nur noch krepieren.

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H a l b l a n g . — Der Kritik an Tendenzen dergegenwärtigen Gesellschaft wird automatisch, ehesie nur ganz ausgesprochen ist, entgegengehalten, sosei es immer schon gewesen. Die Aufregung, derenman sich prompt erwehrt, zeuge bloß von mangeln-der Einsicht in die Invarianz der Geschichte; voneiner Unvernunft, die alle stolz als Hysterie dia-gnostizieren. Überdies wird dem Ankläger bedeutet,er wolle durch seine Attacke sich aufspielen, dasPrivileg des Besonderen in Anspruch nehmen, wäh-rend doch, worüber er sich empört, allbekannt undtrivial sei, so daß man niemand zumuten könne,Interesse daran zu verschwenden. Die Evidenz desUnheils kommt dessen Apologie zugute: weil allees wissen, soll niemand es sagen dürfen, und ge-deckt vom Schweigen mag es denn unangefochtenweitergehen. Gehorcht wird dem, was die Philo-sophie aller Nuancen den Menschen in die Köpfegetrommelt hat: daß, was die beharrliche Schwer-kraft des Daseins auf seiner Seite hat, eben damitsein Recht bewies. Man braucht nur unzufrieden zusein und ist bereits als Weltverbesserer verdächtig.Das Einverständnis bedient sich des Tricks, demOpponenten eine reaktionäre These von Verfall

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zuzuschieben, die sich nicht halten läßt — dennperenniert nicht in der Tat das Grauen? —, mit sei-nem vorgeblichen Denkfehler die konkrete Einsichtins Negative selber zu diskreditieren, und den, dergegen das Finstere aufbegehrt, als Dunkelmann an-zuschwärzen. Aber mag es selbst schon immer sogewesen sein, obwohl doch weder Timur und Dschin-gis Khan noch die indische Kolonialverwaltungplangemäß Millionen von Menschen mit Gas dieLungen zerreißen ließen, dann offenbart doch dieEwigkeit des Entsetzens sich daran, daß jede seinerneuen Formen die ältere überbietet. Was über-dauert, ist kein invariantes Quantum von Leid, son-dern dessen Fortschritt zur Hölle: das ist der Sinnder Rede vom Anwachsen der Antagonismen. Jederandere wäre harmlos und ginge in vermittelndePhrasen über, den Verzicht auf den qualitativenSprung. Der die Todeslager als Betriebsunfall deszivilisatorischen Siegeszuges, das Martyrium derJuden als welthistorisch gleichgültig registriert, fälltnicht bloß hinter die dialektische Ansicht zurück,sondern verkehrt den Sinn der eigenen Politik: demÄußersten Einhalt zu tun. Nicht nur in der Entfal-tung der Produktivkräfte, auch in der Steigerungdes Drucks der Herrschaft schlägt die Quantität indie Qualität um. Wenn die Juden als Gruppe aus-

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gerottet werden, während die Gesellschaft das Le-ben der Arbeiter weiter reproduziert, dann wirdder Hinweis, jene seien Bürger und ihr Schicksalunwichtig für die große Dynamik, zur ökonomisti-schen Schrulle, selbst wofern der Massenmord tat-sächlich durchs Sinken der Profitrate zu erklären wäre.Das Entsetzen besteht darin, daß es immer dasselbebleibt — die Fortdauer der „Vorgeschichte" —, aberunablässig als ein anderes, Ungeahntes, alle Bereit-schaft Übersteigendes sich verwirklicht, getreuerSchatten der sich entfaltenden Produktivkräfte. Vonder Gewalt gilt die gleiche Doppelheit, welche dieKritik der politischen Ökonomie an der materiel-len Produktion nachwies: „Es gibt allen Produk-tionsstufen gemeinsame Bestimmungen, die vomDenken als allgemeine fixiert werden, aber die so-genannten allgemeinen Bedingungen aller Produk-tion sind nichts als ... abstrakte Momente, mitdenen keine wirkliche Produktionsstufe begriffenist." Mit anderen Worten, die Ausabstraktion desgeschichtlich Unveränderten ist nicht, kraft wissen-schaftlicher Objektivität gegen die Sache neutral,sondern dient, selbst wo sie zutrifft, als Nebel, indem das Greifbar-Angreifbare verschwimmt. Diesgenau wollen die Apologeten nicht worthaben. Siesind einesteils versessen auf die dernière nouveauté,

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und leugnen andererseits die Höllenmaschine, dieGeschichte ist. Man kann nicht Auschwitz auf eineAnalogie mit der Zernichtung der griechischenStadtstaaten bringen als bloß graduelle Zunahmedes Grauens, der gegenüberman den eigenen Seelen-frieden bewahrt. Wohl aber fällt von der nie zu-vor erfahrenen Marter und Erniedrigung der inViehwagen Verschleppten das tödlich-grelle Lichtnoch auf die fernste Vergangenheit, in derenstumpfer und planloser Gewalt die wissensdiaftlichausgeheckte ideologisch bereits mitgesetzt war.Die Identität liegt in der Nichtidentität, dem nochnicht Gewesenen, das denunziert, was gewesen ist.Der Satz, es sei immer dasselbe, ist unwahr inseiner Unmittelbarkeit, wahr erst durch die Dyna-mik der Totalität hindurch. Wer sich die Erkennt-nis vom Anwachsen des Entsetzens entwinden läßt,verfällt nicht bloß der kaltherzigen Kontemplation,sondern verfehlt mit der spezifischen Differenz desNeuesten vom Vorhergehenden zugleich die wahreIdentität des Ganzen, des Schreckens ohne Ende.

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E x t r a b l a t t . — An zentralen Stellen bei Poeund Baudelaire ist der Begriff des Neuen aufge-richtet. Bei jenem in der Beschreibung des Mael-stroms, von dessen Schauer, der mit the novelgleichgesetzt wird, keiner der herkömmlichen Be-richte eine Vorstellung soll geben können; bei die-sem in der letzten Zeile des Zyklus La Mort, dieden Sturz in den Abgrund wählt, gleichgültig obHölle oder Himmel, „au fond de l'inconnu pourtrouver du nouveau". Beide Male ist es eine unbe-kannte Drohung, der das Subjekt sich anvertraut,und die in schwindelndem Umschlag Lust verheißt.Das Neue, eine Leerstelle des Bewußtseins, gleich-sam geschlossenen Auges erwartet, scheint die For-mel, unter der dem Grauen und der VerzweiflungReizwert abgewonnen wird. Sie macht das Böse zurBlume. Aber ihr kahler Umriß ist ein Kryptogrammder eindeutigsten Reaktions weise. Er umschreibt denpräzisen Bescheid, den das Subjekt der abstrakt ge-wordenen Welt, dem industriellen Zeitalter erteilt.Im Kultus des Neuen und damit in der Idee derModerne wird dagegen rebelliert, daß es nichtsNeues mehr gebe. Die Immergleichheit der ma-schinenproduzierten Güter, das Netz der Vergesell-

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schaftung, das die Objekte und den Blick auf diesegleichermaßen einfängt und assimiliert, verwandeltalles Begegnende zum je Dagewesenen, zum zufäl-ligen Exemplar einer Gattung, zum Doppelgängerdes Modells. Die Schicht des nicht schon Vorge-dachten, des Intentionslosen, an der einzig die In-tentionen gedeihen, scheint aufgezehrt. Von ihrträumt die Idee des Neuen. Selber unerreichbar,setzt es sich an Stelle des gestürzten Gottes imAngesicht des ersten Bewußtseins vom Verfall derErfahrung. Aber sein Begriff bleibt im Bann ihrerErkrankung, und davon legt seine AbstraktheitZeugnis ab, ohnmächtig der entgleitenden Konkre-tion zugekehrt. Über die „Urgeschichte der Moderne"könnte die Analyse des Bedeutungswechsels beleh-ren, der mit dem Worte Sensation sich zutrug, demexoterischen Synonym fürs Baudelairesche Nouveau.Das Wort ist in der europäischen Bildung allgemeingeworden durch die Erkenntnistheorie. Bei Lockemeint es die einfache, unmittelbare Wahrnehmung,den Gegensatz zur Reflexion. Daraus ist späterdann das große Unbekannte geworden und endlichdas massenhaft Erregende, destruktiv Berauschende,der Schock als Konsumgut. Überhaupt noch etwaswahrnehmen können, unbekümmert um die Quali-tät, ersetzt Glück, weil die allmächtige Quantifizie-

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rung die Möglichkeit von Wahrnehmung selberweggenommen hat. An Stelle der erfüllten Bezie-hung der Erfahrung auf die Sache ist ein bloß Sub-jektives und zugleich physikalisch Isoliertes getreten,Empfindung, die sich im Ausschlag des Manometerserschöpft. So setzt sich die historische Emanzipationvom An sich Sein in die Form der Anschauung um,ein Prozeß, dem die Sinnespsychologie des neun-zehnten Jahrhunderts Rechnung trug, indem sie dasSubstrat der Erfahrung zum bloßen „Grundreiz"reduzierte, von dessen besonderer Beschaffenheit diespezifischen Sinnesenergien unabhängig seien. Baude-laires Dichtung aber ist erfüllt von jenem Blitzlicht,welches das geschlossene Auge sieht, das ein Schlagtrifft. So phantasmagorisch dies Licht, so phantas-magorisch auch die Idee des Neuen selber. Was auf-blitzt, während gelassene Wahrnehmung bloß nochden gesellschaftlich präformierten Abguß der Dingeerreicht, ist selber Wiederholung. Das Neue, umseiner selbst willen gesucht, gewissermaßen im La-boratorium hergestellt, zum begrifflichen Schemaverhärtet, wird im jähen Erscheinen zur zwangs-haften Rückkehr des Alten, nicht unähnlich dentraumatischen Neurosen. Dem Geblendeten zerreißtder Schleier der zeitlichen Sukzession vor den Arche-typen der Immergleichheit: darum ist die Entdek-

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kung des Neuen satanisch, ewige Wiederkehr alsVerdammnis. Die Poesche Allegorie des Novel be-steht in der atemlos kreisenden, doch gleichsam still-stehenden Bewegung des ohnmächtigen Bootes imWirbel des Maelstroms. Die Sensationen, in denender Masochist dem Neuen sich preisgibt, sind eben-soviele Regressionen. So viel ist wahr an der Psycho-analyse, daß die Ontologie der BaudelaireschenModerne wie jeglicher darauf folgenden den infan-tilen Partialtrieben antwortet. Ihr Pluralismus istdie bunte Fata Morgana, in der dem Monismus derbürgerlichen Vernunft seine Selbstzerstörung gleiß-nerisch als Hoffnung sich verspricht. Dies Verspre-chen macht die Idee der Moderne aus, und um sei-nes Kernes, der Immergleichheit willen nimmt allesModerne, kaum daß es veraltete, den Ausdruck desArchaischen an. Der Tristan, der in der Mitte desneunzehnten Jahrhunderts als Obelisk der Modernesich erhebt, ist zugleich das ragende Monument desWiederholungszwangs. Zweideutig ist das Neue seitseiner Inthronisierung. Während in ihm alles sichverbindet, was über die Einheit des immer starrerBestehenden hinausdrängt, ist es die Absorptiondurchs Neue zugleich, die unterm Druck jener Ein-heit den Zerfall des Subjekts in konvulsivischeAugenblicke, in denen es zu leben wähnt, entschei-

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dend befördert, und damit schließlich die totale Ge-sellschaft, die neumodisch das Neue austreibt. Bau-delaires Gedicht von der Märtyrin des Sexus, demOpfer des Mords, feiert allegorisch die Heiligkeitder Lust im schreckhaft befreienden Stilleben desVerbrechens, aber der Rausch im Angesicht desnackten enthaupteten Leibes ist bereits dem ähnlich,welcher noch die prospektiven Opfer des Hitler-regimes dazu trieb, gierig-gelähmt die Zeitungen zukaufen, in denen die Maßnahmen standen, die ihnenselber den Untergang ankündigten. Faschismus wardie absolute Sensation: in einer Erklärung zur Zeitder ersten Pogrome rühmte Goebbels, langweiligwenigstens seien die Nationalsozialisten nicht. Ge-nossen ward im Dritten Reich der abstrakte Schrek-ken von Nachricht und Gerücht als der einzige Reiz,der zureichte, das geschwächte Sensorium der Mas-sen momentweise zum Erglühen zu bringen. Ohnedie fast unwiderstehliche Gewalt der Begierde nachSchlagzeilen, die würgend das Herz in die Vorweltzurück sich krampfen läßt, wäre das Unaussprech-liche nicht von den Zuschauern, ja nicht einmal vonden Tätern zu ertragen gewesen. Im Verlauf desKrieges wurden schließlich selbst Schreckensnachrich-ten den Deutschen groß dargeboten und der langsamemilitärische Zusammenbruch nicht vertuscht. Begriffe

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wie Sadismus und Masochismus reichen nicht mehrzu. In der Massengesellschaft technischer Verbrei-tung sind sie durch Sensation, das kometenhafte, fern-gerückte, extrem Neue vermittelt. Es überwältigtdas Publikum, das unterm Schock sich windet undvergißt, wem das Ungeheure angetan ward, einemselbst oder anderen. Der Inhalt des Schocks wirdgegenüber seinem Reizwert real gleichgültig, wie eres in der Beschwörung der Dichter ideell war; mög-lich sogar, daß das von Poe und Baudelaire aus-gekostete Grauen, von Diktatoren verwirklicht, seineSensationsqualität verliert, ausbrennt. Die ge-walttätige Rettung der Qualitäten im Neuen warqualitätslos. Alles kann, als Neues, seiner selbst ent-äußert, Genuß werden, so wie abgestumpfte Mor-phinisten wahllos schließlich zu allen Drogen, auchzu Atropin, greifen. Mit der Unterscheidung derQualitäten geht in der Sensation jedes Urteil unter:das eigentlich läßt diese zum Agens der katastro-phischen Rückbildung werden. Im Entsetzen derregressiven Diktaturen hat Moderne, das dialek-tische Bild des Fortschritts, zur Explosion sich voll-endet. Das Neue in, seiner kollektiven Gestalt, vonder schon der journalistische Zug in Baudelaire wiedie Lärmtrommel Wagners etwas verrät, ist in derTat das zum stimulierenden und lähmenden Rausch-

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gift ausgekochte äußere Leben: nicht umsonst warenPoe, Baudelaire, Wagner süchtige Charaktere. Zumbloß Bösen wird das Neue erst durch die totalitäreZurichtung, in der jene Spannung des Individuumszur Gesellschaft sich ausgleicht, die einmal die Kate-gorie des Neuen zeitigte. Heute ist das Ansprechenaufs Neue, gleichgültig gegen seine Art, wofern esnur archaisch genug Ist, universal geworden, das all-gegenwärtige Medium der falschen Mimesis. DieDekomposkion des Subjekts vollzieht sich durchdessen sich Überlassen ans immer andere Immer-gleiche. Von diesem wird alles Feste aus den Cha-rakteren gesaugt. Wessen Baudelaire kraft des Bil-des mächtig war, fällt der willenlosen Faszinationzu. Treulosigkeit und Unidentität, das pathischeAnsprechen auf die Situation werden ausgelöstdurch den Reiz eines Neuen, das als Reiz schonkeiner mehr ist. Vielleicht wird darin der Verzichtder Menschheit deklariert, sich Kinder zu wünschen,weil jedem das Schlimmste zu prophezeien steht:das Neue ist die heimliche Figur aller Ungeborenen.Malthus gehört zu den Urvätern des neunzehntenJahrhunderts, und Baudelaire hat mit Grund dieUnfruchtbare verherrlicht. Die Menschheit, die anihrer Reproduktion verzweifelt, wirft bewußtlosden Wunsch des Überlebens in die Schimäre des nie

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gekannten Dinges, aber diese gleicht dem Tode. Sieweist auf den Untergang einer Gesamtverfassung,die virtuell ihrer Angehörigen nicht mehr bedarf.

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T h e s e n g e g e n d e n O k k u l t i s mu s . —I. Die Neigung zum Okkultismus ist ein Symp-tom der Rückbildung des Bewußtseins. Es hat dieKraft verloren, das Unbedingte zu denken und dasBedingte zu ertragen. Anstatt beides, nach Einheitund Differenz, in der Arbeit des Begriffs zu bestim-men, vermischt es beides unterschiedslos. Das Un-bedingte wird zum Faktum, das Bedingte unmittel-bar wesenhaft. Der Monotheismus zersetzt sich inzweite Mythologie. „Ich glaube an Astrologie, weilich nicht an Gott glaube", antwortete ein Befragterin einer amerikanischen sozialpsychologischen Unter-suchung. Die rechtsprechende Vernunft, die zum Be-griff des einen Gottes sich erhoben hatte, scheint indessen Sturz hineingerissen. Geist dissoziiert sich inGeister und büßt darüber die Fähigkeit ein zu er-kennen, daß es jene nicht gibt. Die verschleierteUnheilstendenz der Gesellschaft narrt ihre Opferin falscher Offenbarung, im halluzinierten Phäno-

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men. Umsonst hoffen sie, in dessen fragmentarischerSinnfälligkeit dem totalen Verhängnis ins Auge zublicken und standzuhalten. Panik bricht nach Jahr-tausenden von Aufklärung wieder herein über eineMenschheit, deren Herrschaft über Natur als Herr-schaft über Menschen an Grauen hinter sich läßt,was je Menschen von Natur zu fürchten hatten.

II. Die zweite Mythologie ist unwahrer als dieerste. Diese war der Niederschlag des Erkenntnis-standes ihrer Epochen, deren jede das Bewußtseinvom blinden Naturzusammenhang um einiges freierzeigt als die vorhergehende. Jene, gestört und be-fangen, wirft die einmal gewonnene Erkenntnisvon sich inmitten einer Gesellschaft, die durchs all-umfassende Tauschverhältnis eben das Elementa-rische eskamotiert, dessen die Okkultisten mächtigzu sein behaupten. Der Blick des Schiffers zu denDioskuren, die Beseelung von Baum und Quelle, inallem wahnhaften Benommensein vorm Unerklär-ten, war historisch Erfahrungen des Subjekts vonseinen Aktionsobjekten angemessen. Als rationellverwertete Reaktion gegen die rationalisierte Ge-sellschaft jedoch, in den Buden und Konsultations-räumen der Geisterseher aller Grade, verleugnet derwiedergeborene Animismus die Entfremdung, von

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der er selber zeugt und lebt, und surrogiert nicht-vorhandene Erfahrung. Der Okkultist zieht ausdem Fetischcharakter der Ware die äußerste Kon-sequenz: die drohend vergegenständlichte Arbeitspringt ihn mit ungezählten Dämonenfratzen ausden Gegenständen an. Was in der zum Produkt ge-ronnenen Welt vergessen ward, ihr Produziertseindurch Menschen, wird abgespalten, verkehrt erin-nert, als ein an sich Seiendes dem An sich der Ob-jekte hinzugefügt und gleichgestellt. Weil dieseunterm Strahl der Vernunft erkaltet sind, denSchein des Beseelten verloren haben, wird das Be-seelende, ihre gesellschaftlicheQualität,als natürlich-übernatürliche verselbständigt, Ding unter Dingen.

III. Die Regression auf magisches Denken untermSpätkapitalismus assimiliert es an spätkapitalistischeFormen. Die zwielichtig-asozialen Randphänomenedes Systems, die armseligen Veranstaltungen, durchseine Mauerritzen zu schielen, offenbaren zwarnichts yon dem, was draußen wäre, um so mehraber von den Kräften des Zerfalls im Innern. Jenekleinen Weisen, die vor der Kristallkugel ihreKlienten terrorisieren, sind Spielzeugmodelle dergroßen, die das Schicksal der Menschheit in Händenhalten. So verfeindet und verschworen wie die Dun-

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kelmänner des Psychic Research ist die Gesellschaftselber. Die Hypnose, welche die okkulten Dingeausüben, ähnelt dem totalitären Schrecken: in denzeitgemäßen Prozessen geht beides ineinanderüber. Augurenlachen hat sich zum Hohngelächterder Gesellschaft über sich selber ausgewachsen; esweidet sich an der unmittelbaren materiellen Aus-beutung der Seelen. Das Horoskop entspricht denDirektiven der Büros an die Völker, und dieZahlenmystik bereitet auf die Vcrwaltungsstatisti-ken und Kartellpreise vor. Integration selber er-weist sich am Ende als Ideologie für die Desinte-gration in Machtgruppen, die einander ausrotten.Wer hineingerät, ist verloren.

IV. Okkultismus ist eine Reflexbewegung auf dieSubjektivierung allen Sinnes, das Komplement zurVerdinglichung. Wenn die objektive Realität denLebendigen taub erscheint wie nie zuvor, so suchensie ihr mit Abrakadabra Sinn zu entlocken. Wahl-los wird er dem nächsten Schlechten zugemutet: dieVernünftigkeit des Wirklichen, mit der es nichtrecht mehr stimmt, durch hüpfende Tische und dieStrahlen von Erdhaufen ersetzt. Der Abhub derErscheinungswelt wird fürs erkrankte Bewußtseinzum mundus intelligibilis. Beinahe wäre es die spe-

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kulative Wahrheit, so wie Kafkas Odradek fast einEngel wäre, und ist doch in einer Positivität, welchedas Medium des Gedankens ausläßt, nur das barba-risch Irre, die sich selber entäußerte und darum imObjekt sich verkennende Subjektivität. Je vollkom-mener die Schnödheit dessen, was als „Geist" aus-gegeben wird — und in allem Beseelteren würde jadas aufgeklärte Subjekt sogleich sich wiederfin-den — um so mehr wird der dort aufgespürte Sinn,der an sich ganz fehlt, zur bewußtlosen, zwangs-haften Projektion des wo nicht klinisch, so histo-risch zerfallenden Subjekts. Dem eigenen Zerfallmöchte es die Welt gleichmachen: darum hat es mitRequisiten zu tun und bösen Wünschen. „Die dritteliest mir aus der Hand / Sie will mein Unglücklesen!" Im Okkultismus stöhnt der Geist untermeigenen Bann wie ein Schlimmes Träumender, des-sen Qual sich steigert mit dem Gefühl, daß er träumt,ohne daß er darüber erwachen könnte.

V. Die Gewalt des Okkultismus wie des Faschis-mus, mit dem jenen Denkschemata vom Schlag desantisemitischen verbinden, ist nicht nur die pa-thische. Sie liegt vielmehr darin, daß in den min-deren Panazeen, Deckbildern gleichsam, das nachWahrheit darbende Bewußtsein eine ihm dunkel

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gegenwärtige Erkenntnis meint greifen zu können,die der offizielle Fortschritt jeglicher Gestalt geflis-sentlich ihm vorenthält. Es ist die, daß die Gesell-schaft, indem sie die Möglichkeit des spontanenUmschlags virtuell ausschließt, zur totalen Kata-strophe gravitiert. Der reale Aberwitz wird abge-bildet vom astrologischen, der den undurchsichtigenZusammenhang entfremdeter Elemente — nichtsfremder als die Sterne — als Wissen über das Sub-jekt vorbringt. Die Drohung, die aus den Konstel-lationen herausgelesen wird, gleicht der historischen,die in der Bewußtlosigkeit, dem Subjektlosen ge-rade sich weiterwälzt. Daß alle prospektive Opfereines Ganzen sind, das bloß von ihnen selber ge-bildet wird, können sie ertragen nur, indem sie jenesGanze weg von sich auf ein ihm Ähnliches, Äußer-liches übertragen. In dem jämmerlichen Blödsinn, densie betreiben, dem leeren Grauen, dürfen sie denungefügen Jammer, die krasse Todesangst herauslas-sen und sie doch weiter verdrängen, wie sie es müs-sen, wenn sie weiter leben wollen. Der Bruch in derLebenslinie, der einen lauernden Krebs indiziert, istSchwindel nur an der Stelle, wo er behauptet wird,in der Hand des Individuums; wo sie keine Dia-gnose stellen, beim Kollektiv, wäre sie richtig. MitRecht fühlen die Okkulten von kindisch monströsen

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naturwissenschaftlichen Phantasien sich angezogen.Die Konfusion, die sie zwischen ihren Emanationenund den Isotopen des Urans anstiften, ist die letzteKlarheit. Die mystischen Strahlen sind bescheideneVorwegnahmen der technischen. Der Aberglaube istErkenntnis, weil er die Chiffern der Destruktionzusammen sieht, welche auf der gesellschaftlichenOberfläche zerstreut sind; er ist töricht, weil er inall seinem Todestrieb noch an Illusionen festhält:von der transfigurierten, in den Himmel versetztenGestalt der Gesellschaft die Antwort sich verspricht,die nur gegen die reale erteilt werden könnte.

VI. Okkultismus ist die Metaphysik der dummenKerle. Die Subalternität der Medien ist so wenigzufällig wie das Apokryphe, Läppische des Ge-offenbarten. Seit den frühen Tagen des Spiritismushat das Jenseits nichts Erheblicheres kundgetanals Gruße der verstorbenen Großmutter nebst derProphezeiung, eine Reise stünde bevor. Die Aus-rede, es könne die Geisterwelt der armen Menschen-vernunft nicht mehr kommunizieren, als diese auf-zunehmen imstande sei, ist ebenso albern, Hilfs-hypothese des paranoischen Systems: weiter als dieReise zur Großmutter hat es das lumen naturaledoch gebracht, und wenn die Geister davon keine

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Notiz nehmen wollen, dann sind sie unmanierlicheKobolde, mit denen man besser den Verkehr ab-bricht. Im stumpf natürlichen Inhalt der übernatür-lichen Botschaft verrät sich ihre Unwahrheit. Wäh-rend sie drüben nach dem Verlorenen jagen, stoßensie dort nur aufs eigene Nichts. Um nicht aus dergrauen Alltäglichkeit herauszufallen, in der sie alsunverbesserliche Realisten zu Hause sind, wird derSinn, an dem sie sich laben, dem Sinnlosen ange-glichen, vor dem sie fliehen. Der faule Zauber istnicht anders als die faule Existenz, die er bestrahlt.Dadurch macht er es den Nüchternen so bequem.Fakten, die sich von anderem, was der Fall ist, nurdadurch unterscheiden, daß sie es nicht sind, werdenals vierte Dimension bemüht. Einzig ihr Nichtseinist ihre qualitas occulta. Sie liefern dem Schwach-sinn die Weltanschauung. Schlagartig, drastisch er-teilen die Astrologen und Spiritisten jeder Frageeine Antwort, die sie nicht sowohl löst, als durchkrude Setzungen jeder möglichen Losung entzieht.Ihr sublimes Bereich, vorgestellt als Analogon zumRaum, braucht so wenig gedacht zu werden wieStühle und Blumenvasen. Damit verstärkt es denKonformismus. Nichts gefällt dem Bestehenden bes-ser, als daß Bestehen als solches Sinn sein soll.

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VII. Die großen Religionen haben entweder, wiedie jüdische, die Rettung der Toten nach dem Bilder-verbot mit Schweigen bedacht, oder die Auferste-hung des Fleisches gelehrt. Sie haben ihren Ernst ander Untrennbarkeit des Geistigen und Leiblichen.Keine Intention, nichts „Geistiges", das nicht inleibhafter Wahrnehmung irgend gründete undwiederum nach leibhafter Erfüllung verlangte. DenOkkulten, die sich für den Gedanken der Auferste-hung zu gut sind und die eigentlich Rettung garnicht wollen, ist das zu grob. Ihre Metaphysik, dieselbst Huxley von Metaphysik nicht mehr unter-scheiden kann, ruht auf dem Axiom: „Die Seeleschwinget sich wohl in die Höh' juchhe, / der Leib,der bleibet auf dem Kanapee." Je munterer dieSpiritualität, desto mechanistischer: nicht einmalDescartes hat so sauber geschieden. Arbeitsteilungund Verdinglichung werden auf die Spitze getrie-ben: Leib und Seele in gleichsam perennierenderVivisektion auseinandergeschnitten. Reinlich soll dieSeele aus dem Staub sich machen, um in lichterenRegionen ihre eifrige Tätigkeit stracks an der glei-chen Stelle fortzusetzen, an der sie unterbrochenward. In solcher Unabhängigkeitserklärung aberwird die Seele zur billigen Imitation dessen, wovonsie falsch sich emanzipierte. An Stelle der Wechsel-

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Wirkung, wie sie noch die starreste Philosophie be-hauptete, richtet der Astralleib sich ein, die schmäh-liche Konzession des hypostasierten Geistes an seinenWiderpart. Nur im Gleichnis des Leibes ist der Be-griff des reinen Geistes überhaupt zu fassen, und eshebt ihn zugleich auf. Mit der Verdinglichung derGeister sind diese schon negiert.

VIII. Das zetert über Materialismus. Aber denAstralleib wollen sie wiegen. Die Objekte ihres In-teresses sollen zugleich die Möglichkeit von Erfah-rung übersteigen und erfahren werden. Es soll strengwissenschaftlich zugehen; je größer der Humbug,desto sorgfältiger die Versuchsanordnung. DieWichtigtuerei wissenschaftlicher Kontrolle wird adabsurdum geführt, wo es nichts zu kontrollierengibt. Die gleiche rationalistische und empiristischeApparatur, die den Geistern den Garaus gemachthat, wird angedreht, um sie denen wieder aufzu-drängen, die der eigenen ratio nicht mehr trauen.Als ob nicht jeder Elementargeist Reißaus nehmenmußte vor den Fallen der Naturbeherrschung, dieseinem flüchtigen Wesen gestellt werden. Aber selbstdas noch machen die Okkulten sich zunutze. Weildie Geister die Kontrolle nicht mögen, muß ihnen,mitten unter den Sicherheitsvorkehrungen, ein

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Türchen offengehalten werden, durch das sie unge-stört ihren Auftritt machen können. Denn die Ok-kulten sind praktische Leute. Sie treibt nicht eitleNeugier, sie suchen Tips. Fix geht es von den Ster-nen zum Termingeschäft. Meist läuft der Bescheiddarauf hinaus, daß mit irgendwelchen armen Be-kannten, die sich etwas erhoffen, Unglück ins Haussteht.

IX. Die Kardinalsünde des Okkultismus ist dieKontamination von Geist und Dasein, das selberzum Attribut des Geistes wird. Dieser ist im Daseinentsprungen, als Organ, sich am Leben zu erhalten.Indem jedoch Dasein im Geist sich reßektiert, wirder zugleich ein anderes. Das Daseiende negiert sichals Eingedenken seiner selbst. Solche Negation istdas Element des Geistes. Ihm selber wiederum posi-tive Existenz, wäre es auch höherer Ordnung, zuzu-schreiben, lieferte ihn an das aus, wogegen er steht.Die spätere bürgerliche Ideologie hatte ihn noch-mals zu dem gemacht, was er dem Präanimismuswar, einem an sich Seienden, nach dem Maße dergesellschaftlichen Arbeitsteilung, des Bruches zwi-schen physischer und geistiger Arbeit, der planendenHerrschaft über jene. Im Begriff des an sich seiendenGeistes rechtfertigte das Bewußtsein das Privileg

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ontologisch und verewigte es, indem es ihn gegen-über dem gesellschaftlichen Prinzip verselbständigte,das ihn konstituiert. Solche Ideologie explodiert imOkkultismus: er ist gleichsam der zu sich selbst ge-kommene Idealismus. Gerade kraft der starrenAntithese von Sein und Geist wird dieser zu einemSeins-Ressort. Hatte der Idealismus einzig für dasGanze, die Idee gefordert, daß das Sein Geist seiund dieser existiere, so zieht der Okkultismus dieabsurde Konsequenz daraus, daß Dasein bestimmtesSein heißt: „Daseyn ist, nach seinem "Werden, über-haupt Seyn mit einem Nichtseyn, sodaß dieß Nicht-seyn in einfache Einheit mit dem Seyn aufgenom-men ist. Das Nichtseyn in das Seyn aufgenommen,daß das konkrete Ganze in der Form des Seyns, derUnmittelbarkeit ist, macht die Bestimmtheit alssolche aus" (Hegel, Wissenschaft der Logik I, ed.Glockner, S. 123). Die Okkulten nehmen buchstäb-lich das Nichtsein in „einfache Einheit mit demSein", und ihre Art Konkretheit ist eine schwin-delnde Abkürzung des Weges vom Ganzen zum Be-stimmten, die darauf sich berufen kann, daß alseinmal Bestimmtes das Ganze schon keines mehr ist.Sie rufen der Metaphysik Hic Rhodus hic salta zu:wenn die philosophische Investition von Geist mitDasein sich bestimmen soll, so müßte schließlich,

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spüren sie, beliebiges, versprengtes Dasein als be-sonderer Geist sich rechtfertigen. Die Lehre von derExistenz des Geistes, äußerste Erhebung des bürger-lichen Bewußtseins, trüge danach ideologisch schonden Geisterglauben, äußerste Erniedrigung, in sich.Der Übergang zum Dasein, stets „positiv" undRechtfertigung der Welt, impliziert zugleich dieThese von der Positivität des Geistes, seine Ding-festmachung, die Transposition des Absoluten in dieErscheinung. Ob die ganze dinghafte Welt, als „Pro-dukt", Geist sein soll oder irgendein Ding irgend-ein Geist, wird gleichgültig und der Weltgeist zumobersten Spirit, zum Schutzengel des Bestehenden,Lntgeisteten. Davon leben die Okkulten: ihre My-stik ist das enfant terrible des mystischen Momentsin Hegel. Sie treiben die Spekulation zum betrüge-rischen Bankrott. Indem sie bestimmtes Sein alsGeist ausgeben, unterwerfen sie den vergegenständ-lichten Geist der Daseinsprobe, und sie muß negativausfallen. Kein Geist ist da.

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V o r M i ß b r a u c h w i r d g e w a r n t . — DieDialektik ist in der Sopbistik entsprungen, ein Ver-fahren der Diskussion, um dogmatische Behaup-tungen zu erschüttern und, wie die Staatsanwälteund Komiker es nannten, das mindere Wort zumstärkeren zu machen. Sie hat sich in der Folge gegen-über der philosophia perennis zur perennierendenMethode der Kritik ausgebildet, Asyl allen Gedan-kens der Unterdrückten, selbst des nie von ihnengedachten. Aber sie war als Mittel, Recht zu behal-ten, von Anbeginn auch eines zur Herrschaft, for-male Technik der Apologie unbekümmert um denInhalt, dienstbar denen, die zahlen konnten: dasPrinzip, stets und mit Erfolg den Spieß umzudre-hen. Ihre Wahrheit oder Unwahrheit steht dahernicht bei der Methode als solcher, sondern bei ihrerIntention im historischen Prozeß. Die Spaltung derHegelschen Schule in einen linken und rechten Flü-gel gründet im Doppelsinn der Theorie nicht weni-ger als in der politischen Lage des Vormärz. Dia-lektisch ist nicht bloß die Marxische Lehre, daß dasProletariat als das absolute Objekt der Geschichtezu deren erstem gesellschaftlichem Subjekt zu wer-den, die bewußte Selbstbestimmung der Menschheit

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zu realisieren vermöchte, sondern auch der Witz,den Gustave Doré einem parlamentarischen Reprä-sentanten des Ancien Régime in den Mund legt:daß, es ohne Ludwig XVI. nie zur Revolution ge-kommen wäre, daß daher diesem die Menschen-rechte zu verdanken seien. Die negative Philosophie,universale Auflösung, löst stets auch das Auflösendeselber auf. Aber die neue Gestalt, in der sie beides,Aufgelöstes und Auflösendes, aufzuheben bean-sprucht, kann in der antagonistischen Gesellschaftnie rein hervortreten. Solange Herrschaft sich re-produziert, solange kommt in der Auflösung desAuflösenden die alte Qualität roh wieder zutage:in einem radikalen Sinn gibt es da gar keinenSprung. Der wäre erst das Ereignis, das hinausführt.Weil die dialektische Bestimmung der neuen Quali-tät jeweils auf die Gewalt der objektiven Tendenzsich verwiesen sieht, die den Bann der Herrschafttradiert, steht sie unter dem fast unausweichlichenZwang, wann immer sie mit der Arbeit des Begriffsdie Negation der Negation erreicht, auch im Ge-danken das schlechte Alte fürs nichtexistente Anderezu unterschieben. Die Tiefe, mit der sie in die Ob-jektivität sich versenkt, wird mit der Teilhabe ander Lüge erkauft, Objektivität sei schon die Wahr-heit. Indem sie streng sich dazu bescheidet, den

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privilegienlosen Zustand aus dem zu extrapolieren,was dem Prozeß das Privileg verdankt, zu sein,beugt sie sich der Restauration. Das wird registriertvon der Privatexistenz. Hegel hat dieser ihre Nich-tigkeit vorgehalten. Bloße Subjektivität, auf derReinheit des eigenen Prinzips bestehend, verfangesich in Antinomien. Sie gehe zugrunde an ihremUnwesen, der Heuchelei und dem Bösen, wofernsie nicht in Gesellschaft und Staat sich objektiviere.Moral, die auf pure Selbstgewißheit gestellte Auto-nomie, noch das Gewissen sind bloßer Schein. Wenn„es kein moralisches Wirkliches gibt" (Phänomeno-logie, ed. Lasson, S. 397), so wird konsequent dannin der Rechtsphilosophie die Ehe dem Gewissenübergeordnet und diesem noch auf seiner Höhe, dieHegel mit der Romantik als Ironie bestimmt, „sub-jektive Eitelkeit" im doppelten Verstande nach-gesagt. Dies Motiv der Dialektik, das durch alleSchichten des Systems hindurchwirkt, ist wahr undunwahr zugleich. Wahr, weil es das Besondere alsnotwendigen Schein enthüllt, das falsche Bewußt-sein des Abgespaltenen, nur es selber und nicht einMoment des Ganzen zu sein; und dies falsche Be-wußtsein läßt es durch die Kraft des Ganzen zer-gehen. Unwahr, weil das Motiv der Objektivierung,„Entäußerung", zum Vorwand gerade der bürger-

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lichen Selbstbehauptung des Subjekts, zur bloßenRationalisierung herabgewürdigt wird, solange dieObjektivität, die der Gedanke dem schlecht Subjek-tiven entgegensetzt, unfrei ist, zurückfällt hinter diekritische Arbeit des Subjekts. Das Wort Entäuße-rung, das vom Gehorsam des privaten Willens dieErlösung von der privaten Willkür erwartet, be-kennt, eben indem es das Äußere als dem Subjektinstitutionell Gegenüberstehendes nachdrücklich fest-hält, trotz aller Beteuerungen von Versöhnung diefortdauernde Unversöhnlichkeit von Subjekt undObjekt, die ihrerseits das Thema der dialektischenKritik ausmacht. Der Akt der Selbstentäußerungläuft auf die Entsagung hinaus, die Goethe als Ret-tendes beschrieb, und damit die Rechtfertigung desStatus quo, heute wie damals. Aus der Einsicht etwain die Verstümmelung der Frauen durch die patriar-chalische Gesellschaft, in die Unmöglichkeit, dieanthropologische Deformation ohne deren Voraus-setzung zu beseitigen, vermöchte gerade der uner-bittlich illusionslose Dialektiker den Herrn-im-Haus-Standpunkt abzuleiten, dem Fortbestand despatriarchalischen Verhältnisses das Wort zu reden.Dabei mangelt es ihm weder an triftigen Gründenwie der Unmöglichkeit von Beziehungen anderenWesens unter den gegenwärtigen Bedingungen,

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noch selbst an Humanität gegen die Unterdrückten,welche die Zeche der falschen Emanzipation zu zah-len haben, aber all das Wahre würde zur Ideologieunter den Händen des männlichen Interesses. DerDialektiker kennt Unglück und Preisgegebenseinder unverheiratet Alternden, das Mörderische derScheidung. Indem er jedoch antiromantisch der ver-gegenständlichten Ehe den Vorrang vor der ephe-meren, nicht in gemeinsamem Leben aufgehobenenLeidenschaft erteilt, macht er sich zum Fürsprechderer, die die Ehe auf Kosten der Neigung betreiben,die lieben womit sie verheiratet sind, also das ab-strakte Besitzverhältnis. Es wäre dieser Weisheitletzter Schluß, daß es auf die Personen gar nicht sosehr ankomme, wenn sie nur der gegebenen Kon-stellation sich anbequemen und das Ihre tun. Umvor derlei Versuchungen sich zu schützen, bedarfdie aufgehellte Dialektik des unablässigen Arg-wohns gegen jenes apologetische, restaurative Ele-ment, das doch selber einen Teil der Unnaivetätausmacht. Der drohende Rückfall der Reflexionins Unreflektierte verrät sich in der Überlegenheit,die mit dem dialektischen Verfahren schaltet undredet, als wäre sie selber jenes unmittelbare Wissenvom Ganzen, das vom Prinzip der Dialektik geradeausgeschlossen wird. Man bezieht den Standpunkt

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der Totalität, um dem Gegner jedes bestimmtenegative Urteil im Zeichen eines belehrenden Sowar es nicht gemeint aus der Hand zu schlagen undzugleich selber gewaltsam die Bewegung des Be-griffs abzubrechen, die Dialektik mit dem Hinweisauf die unüberwindliche Schwerkraft der Faktenzu sistieren. Das Unheil geschieht durchs Themaprobandum: man bedient sich der Dialektik anstattan sie sich zu verlieren. Dann begibt sich der souve-rän dialektische Gedanke zurück ins vordialektischeStadium: die gelassene Darlegung dessen, daß jedesDing seine zwei Seiten hat.

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Z u m E n d e . — Philosophie, wie sie im An-gesicht der Verzweiflung einzig noch zu verant-worten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu be-trachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aussich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als dasvon der Erlösung her auf die Welt scheint: allesandere erschöpft sich in der Nachkonstruktion undbleibt ein Stück Technik. Perspektiven müßten her-gestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich ver-setzt, verfremdet, ihre Risse und Schrunde offen-

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bart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt imMessianischen Lichte daliegen wird. Ohne Willkürund Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegen-ständen heraus solche Perspektiven zu gewinnen,darauf allein kommt es dem Denken an. Es ist dasAllereinfachste, weil der Zustand unabweisbar nachsolcher Erkenntnis ruft, ja weil die vollendete Ne-gativität, einmal ganz ins Auge gefaßt, zur Spiegel-schrift ihres Gegenteils zusammenschießt. Aber esist auch das ganz Unmögliche, weil es einen Stand-ort voraussetzt, der dem Bannkreis des Daseins,wäre es auch nur um ein Winziges, entrückt ist,während doch jede mögliche Erkenntnis nicht bloßdem was ist erst abgetrotzt werden muß, um ver-bindlich zu geraten, sondern eben darum selber auchmit der gleichen Entstelltheit und Bedürftigkeit ge-schlagen ist, der sie zu entrinnen vorhat. Je leiden-schaftlicher der Gedanke gegen sein Bedingtsein sichabdichtet um des Unbedingten willen, um so be-wußtloser, und damit verhängnisvoller, fällt er derWelt zu. Selbst seine eigene Unmöglichkeit muß ernoch begreifen um der Möglichkeit willen. Gegen-über der Forderung, die damit an ihn ergeht, istaber die Frage nach der Wirklichkeit oder Unwirk-lichkeit der Erlösung selber fast gleichgültig.

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INHALT

Zueignung................................................................ 7

E r s t e r T e i l

1944

Für Marcel Proust................................................... 19Rasenbank................................................................ 21Fisch im Wasser...................................................... 23Letzte Klarheit ..................................................... 26Herr Doktor, das ist schön von Euch..................... 28Antithese.................................................................. 30They, the people.................................................... 33Wenn dich die bösen Buben locken........................ 35Vor allem eins, mein Kind..................................... 38Getrennt-vereint....................................................... 39Tisch und Bett......................................................... 40Inter pares............................................................... 42Schutz, Hilfe und Rat........................................... 44Le Bourgeois Revenant............................................ 47Le Nouvel Avare................................................... 48Zur Dialektik des Takts......................................... 50Eigentumsvorbehalt................................................. 54Asyl für Obdachlose............................................... 55Nicht anklopfen....................................................... 59

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Z w e i t e r T e i l

1945

Hinter den Spiegel..................................................147Woher der Storch die Kinder bringt.....................153Schwabenstreiche......................................................154Die Räuber..............................................................156Darf idi's wagen......................................................158Stammbaumforschutig..............................................160Ausgrabung .............................................................161Die Wahrheit über Hedda Gabler.........................164Seit ich ihn gesehen.................................................168Ein Wort für die Moral.........................................170Berufungsinstanz......................................................172Kürzere Ausführungen............................................175Tod der Unsterblichkeit.........................................178Moral und Stil.........................................................180Kohldampf...............................................................182Melange....................................................................183Unmaß für Unmaß.................................................185Menschen sehen dich an...........................................188Kleine Leute............................................................189Meinung des Dilettanten .......................................192Pseudomenos............................................................195Zweite Lese.............................................................198Abweichung..............................................................206Mammut...................................................................210Kalte Herberge........................................................213Galadiner.................................................................216Auktion....................................................................218Ober den Bergen.....................................................223

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Intellectus sacrificium intellectus..........................224Diagnose...................................................................227Groß und klein.......................................................230Drei Schritt vom Leibe...........................................234Vizepräsident...........................................................238Stundenplan.............................................................241Musterung................................................................243Manschen klein........................................................246Ringverein...............................................................248Dummer August.......................................................251Schwarze Post..........................................................254Taubstummenanstalt................................................255Vandalen..................................................................258Bilderbuch ohne Bilder............................................262Intention und Abbild..............................................265Staatsaktion.............................................................268Dämpfer und Trommel...........................................273Januspalast...............................................................276Monade....................................................................279Vermächtnis.............................................................284Goldprobe................................................................287Sur l'Eau..................................................................295

D r i t t e r Teil

1946-1947

Treibhauspflanze......................................................301Immer langsam voran...............................................303Heideknabe..............................................................305Golden Gate............................................................308

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Nur ein Viertelstündchen........................................309Die Bliimlein alle....................................................311Ne cherchez plus mon cceur...................................313Prinzessin Eidechse ................................................317L'inurile beaut£.......................................................320Constanze.................................................................322Philemon und Baucis...............................................325Et dona ferentes......................................................326Spielverderber..........................................................328Heliotrop.................................................................334Reiner Wein............................................................336Und höre nur, wie bös er war................................338II servo padrone......................................................344Hinunter und immer weiter....................................347Tugendspiegel..........................................................349Rosenkavalier..........................................................354Requiem für Odette.................................................358Monogramme...........................................................361Der böse Kamerad..................................................365Vexierbild................................................................368Olet..........................................................................370l .Q ..........................................................................374Whishful Thinking..................................................376Regressionen.............................................................379Dienst am Kunden..................................................382Grau und grau.........................................................385Wolf als Großmutter..............................................388Piperdruxk................................................................395Beitrag zur Geistesgeschichte....................................398Juvenals Irrtum.......................................................402Lämmergeier............................................................406

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Exhibitionist 408Kleine Schmerzen, große Lieder.............................411Who is who.............................................................413Unbestellbar.............................................................416Consecutio temporum..............................................418La Nuance/encor"....................................................421Dem folgt deutscher Gesang...................................425In nuce............................................ ...................428Zauberflöte...............................................................431Kunscfigur................................................................433Kaufmannsladen......................................................438Novissimum Organum.............................................441Abdeckerei................................................................447Halblang..................................................................451Extrablatt.................................................................455Thesen gegen den Okkultismus...............................462Vor Mißbrauch wird gewarnt................................475Zum Ende................................................................480


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