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5 Ein Axiomensystem der euklidischen Geometrie

5.1 Vorbemerkungen

Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie sich aus aus den Axiomen einer affinen EbeneZahlbereiche entwickeln lassen, die im Pappusschen Fall Korper sind. Durch Hinzunah-me von Anordnungsaxiomen hatten wir am Ende sogar den Korper der reellen Zahlenerhalten.In diesem Kapitel andern wir unser Vorgehen. Wir wollen die klassische euklidischeEbene unter expliziter Verwendung der reellen Zahlen axiomatisch beschreiben. 1932hat G. D. Birkhoff ein Axiomensystem angegeben, das die Verwendung von Messlinealund Winkelmesser in der Zeichenebene formalisiert. Diese Ideen waren dann Grundla-ge des 1941 erschienenen Buches Basic Geometry von G. D. Birkhoff und R. Beatly .Wir verwenden im Folgenden ein Axiomensystem, das 1977 vom russischen Mathemati-ker Kolmogorov angegeben wurde. Es ist zum Hilbert’schen Axiomensystem aquivalent,vereinfacht aber manche Beweise.

5.2 Das Axiomensystem

Wahrend ublicherweise eine große Abstraktheit bei der Einarbeitung in ein neues mathe-matisches Gebiet Schwierigkeiten bereitet,ist es hier umgekehrt.Gerade die (vermeintli-che) Konkretheit und Vertrautheit ist bei unserem Thema gefahrlich. Jeder kennt die

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euklidische Ebene. Daher besteht immer die Gefahr, dass wir bei der Argumentation nichtnur die Axiome verwenden, sondern unbewusst anschauliche Argumente einfließen lassen.Auch bekannte Mathematiker sind bei ihren „Beweisen“ des Parallelenaxioms dieser Ge-fahr erlegen (wir werden darauf später zurückkommen).

Daher ist es hilfreich, bei den Überlegungen in diesem Kapitel neben dem uns vertrautenModell der euklidischen Ebene E2 auch das folgende zu betrachten. Dazu sei der E2 eineEbene π des E3. σN bzw. σS sei die stereographische Projektion aus dem Nordpol N bzw.aus dem Südpol S einer Sphäre Σ um einen Punkt M ∈ π in deren Äquatorebene π (sieheAbb. 3.14). Dann besteht σS(σ−1

N (π)) aus allen Punkten von π ohne M , vermehrt umeinen Punkt ∞ (für das fehlende Bild des Punktes S unter σS). σ−1

N bildet die Geradenvon π auf die Kreise von Σ durch N (ohne N) ab. σS bildet einen solchen Kreis k aufeinen Kreis durch M (ohne M) ab, falls S /∈ k gilt. Für S ∈ k ist σS(k) eine Gerade durchM (ohne M), vermehrt um den Punkt ∞. Nimmt man alle Begriffe des E2 (Geraden,Lot, Abstand, Kongruenz,. . . ) bei diesen Abbildungen mit, erhält man ein Modell dereuklidischen Ebene mit der Punktmenge (E2 \ {M}) ∪ {∞}.

Aufgabe: Man zeige, dass die Inversion ι am Äquatorkreis dasselbe Ergebnis liefert (siehe A3.2 Bem. 4).

Def. 1 Eine Inzidenzstruktur (P , G,∈) zusammen mit einer Abbildung

d :

{P × P → R

(A, B) 7→ d(A, B).

heißt absolute Ebene, wenn sie den folgenden Axiomgruppen I bis IV genügt; sie heißteuklidische Ebene, wenn sie den Axiomgruppen I bis V genügt.d(A, B) heißt der Abstand der Punkte A und B.

Hilbert verwendet in seinem Axiomensystem ebenfalls die Grundbegriffe Punkt, Geradeund Inzidenz, daneben die Grundbegriffe „zwischen“ (damit wird eine Ordnung auf denGeraden eingeführt) und „Kongruenz“. Das Axiomensystem von Kolmogorov verwendetstatt dessen den Begriff „Abstand“.

Es ist durchaus sinnvoll, die Menge R als Bildmenge der Abbildung d zu wählen. Einerseitsreichen die rationalen Zahlen sicher nicht aus, da schon die Diagonale des Einheitsquadratsdie Länge

√2 hat. Andererseits sind die komplexen Zahlen unbrauchbar, da ihnen die

Anordnung fehlt.

Um deutlich zu machen, welche Aussagen welche Axiome voraussetzen, werden wir nachjeder Gruppe die Sätze beweisen und Definitionen aussprechen, die ohne die späterenAxiome auskommen. Wichtig ist insbesondere, welche Aussagen nicht von der Gültigkeitdes Parallelenaxioms V abhängen, also Sätze der absoluten Geometrie sind.

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I Inzidenzaxiome

(1) Zu zwei verschiedenen Punkten P, Q gibt es genau eine Gerade g, die beidePunkte enthält (Bezeichnung: g = PQ).

(2) Jede Gerade enthält mindestens zwei Punkte.

(3) Es gibt drei Punkte, die nicht derselben Geraden angehören.

Satz 1 (i) Zwei verschiedene Geraden haben höchstens einen Punkt gemeinsam.

(ii) Es gibt mindestens drei paarweise verschiedene Geraden.

Beweis: (i) folgt aus I(1).

(ii) Nach I(3) gibt es nichtkollineare Punkte A, B, C, die nach I(1) paarweise verschiedensind. Die drei Geraden AB, AC, BC sind dann ebenfalls paarweise verschieden. 2

Wir werden die gewohnten Sprechweisen verwenden. So werden wir für P ∈ g auch „Pliegt auf g“ oder „P inzidiert mit g“ oder „P ist ein Punkt von g“ sagen. Explizit festhaltenwollen wir die Begriffe der folgenden

Def. 2 (i) Zwei Geraden, die sich nicht schneiden, heißen parallel.

(ii) Punkte A, B, C, . . . einer Geraden heißen kollinear.

Wir betrachten einige Beispiele.

Beispiel 1 P = {A, B, C} und G = {{A, B}, {A, C}, {B, C}} erfüllen die Axiome I(Minimalmodell).

Beispiel 2 Sei P = {A, B, C, D}.(i) P und G = {{A, B}, {A, C}, {A, D}, {B, C}, {B, D}, {C, D}} erfüllen die Axiome I.

(ii) P und G = {{A, B, C}, {A, B, D}, {A, C, D}, {B, C, D}} erfüllen die Axiome I nicht.

Beispiel 3 P = { (x, y) | x, y ∈ R } und

G = { { (x, y) | ax + by + c = 0 } | a, b, c ∈ R; a2 + b2 6= 0 }

erfüllen die Axiome I.

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II Abstandsaxiome

(1) Für alle Punkte A, B gilt d(A, B) ≥ 0 und d(A, B) = 0 genau für A = B.

(2) Für alle Punkte A, B gilt d(A, B) = d(B, A).

(3) Für alle Punkte A, B, C gilt

d(A, B) + d(B, C) ≥ d(A, C) .

Die Punkte sind genau dann kollinear, wenn eine der folgenden Gleichungenerfüllt ist.

d(A, B) + d(B, C) = d(A, C) , (22)

d(A, C) + d(C, B) = d(A, B) , (23)

d(B, A) + d(A, C) = d(B, C) . (24)

In den Beispielen 1 und 2 (i) lässt sich ein Abstand einfach durch d(A, B) = 1 für A 6= Bdefinieren. (d(A, A) = 0 ist ja durch II(1) vorgeschrieben.) In Beispiel 3 kann man einenAbstand durch

d(A, B) = d((a1, a2), (b1, b2)) =√

(a1 − b1)2 + (a2 − b2)2

einführen.

Die Abstandsaxiome machen die absolute Ebene zum metrischen Raum. Dies ist zwareine starke Forderung, doch zeigen die oben erwähnten Metriken, dass dieser Begriff an-dererseits recht allgemein ist. Wir werden mit Hilfe der Metrik Bewegungen definieren.Man könnte auch umgekehrt vorgehen und sich eine Menge von Abbildungen vorgeben,die die Metrik festlegen. In Teil III werden wir so vorgehen.

Def. 3 (i) Ein Punkt B liegt zwischen den Punkten A und C (in Zeichen:Zw(A, B, C)), wenn (22) sowie B 6= A und B 6= C gilt.

(ii) Für A, B ∈ P (A 6= B) heißt

(AB) := { P ∈ P | Zw(A, P, B) }

die offene Strecke undAB := (AB) ∪ {A, B }

die (abgeschlossene) Strecke zwischen A und B oder die Verbindungsstrecke dieserPunkte. A, B heißen die Endpunkte der Strecke, d(A, B) heißt ihre Länge.

(iii) Sind A, B verschiedene Punkte, so heißen die Mengen

AB+ := { P ∈ P | Zw(A, P, B) oder Zw(A, B, P ) oder P = B oder P = A } (25)

undAB− := { P ∈ P | Zw(P, A, B) oder P = A } (26)

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(abgeschlossene) Halbgeraden oder Strahlen mit dem Anfangspunkt A. Entfernt manden Anfangspunkt, erhält man offene Halbgeraden.

Bem. 1 (i) Wegen II(2) gilt Zw(A, B, C) genau dann, wenn Zw(C, B, A) gilt.

(ii) Gilt Zw(A, B, C), so sind die Punkte wegen II(3) kollinear. Außerdem sind sie paar-weise verschieden (Nach Def. wäre höchstens A = C möglich. Dann liefert aber (22)A = B = C.)

(iii) Ebenfalls nach II(3) liegt von drei (verschiedenen) kollinearen Punkten A, B, C genaueiner zwischen den beiden anderen. Gilt sowohl (22) als auch (23), folgt nämlich d(B, C) =0, also nach II(1) B = C. Wir notieren nochmals die Zusammenhänge.

A, B, C kollinear ⇐⇒(Zw(A, B, C) oder Zw(A, C, B) oder Zw(B, A, C)

)

m m m⇐⇒

(Zw(C, B, A) oder Zw(B, C, A) oder Zw(C, A, B)

)

m m m⇐⇒

((22) oder (23) oder (24)

)

(iv) Wie Beispiel 1 zeigt, muss es keine Punkte geben, welche die Zwischenbeziehungerfüllen. Offene Halbgeraden können also leer sein.

Satz 2 Es gilt AB+ ∩ AB− = {A} und AB+ ∪ AB− = AB.

Beweis: A ∈ AB+ ∩AB− ist klar. Für P ∈ AB− \ {A} gilt nach Def. 3 (iii) Zw(P, A, B)und daher nach Bem. 1 (iii) P /∈ AB+. AB+ ∪ AB− ⊂ AB ist klar. Gilt umgekehrtQ ∈ AB, so gilt Q ∈ {A, B} oder nach Bem. 1 (iii) eine der Zwischenbeziehungen in (25)oder (26). 2

III Anordnungsaxiome

(1) Zu jedem Punkt P und jeder reellen Zahl a ≥ 0 gibt es auf jeder Halbgeradenmit dem Anfangspunkt P genau einen Punkt R mit d(P, R) = a.

(2) Jede Gerade g teilt die Menge P \ g so in zwei nichtleere Mengen (genanntdie offenen Halbebenen mit der Randgeraden g), dass

(a) die Verbindungsstrecke zweier Punkte, die nicht in derselben Mengeliegen, die Gerade g schneidet,

(b) die Verbindungsstrecke zweier Punkte, die in derselben Menge liegen,die Gerade g nicht schneidet.

Nimmt man die Randgerade hinzu, so erhält man (abgeschlossene) Halbebenen. Wirbezeichnen eine Halbebene H mit der Randgeraden g = AB mit gC+ oder ABC+, wennH den Punkt C /∈ g enthält, und mit gC− oder ABC−, wenn H den Punkt C nichtenthält.

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Bem. 2 Aus III(1) folgt, dass jede Halbgerade, Gerade und Strecke unendlich vielePunkte besitzt. Es gibt daher keine endlichen Modelle für die Axiomgruppen I - III.

Axiom III(2) erlaubt eine wichtige Aussage über Dreieckstransversalen, die in anderenAxiomensystemen auch als Axiom von Pasch bezeichnet wird. Wir formulieren zu-nächst die

Def. 4 Sind A, B, C nicht kollinear, so heißt die Menge AB ∪ BC ∪ CA das Dreieck∆ABC mit den Seiten AB, BC, CA.

Man beachte den Unterschied zu Kapitel 4, wo auch das „Innere“ zum Dreieck gehörte(siehe Kor. 1).

Satz 3 (Satz von Pasch) Liegt auf der Geraden g keine Ecke des Dreiecks ∆ABC, sogilt: Schneidet g die Seite AB, so schneidet g auch genau eine der Seiten BC, CA.

Beweis: Wegen g∩(AB) 6= ∅ liegen A und B nach III(2) in verschiedenen Halbebenen mitder Randgeraden g. Daher liegen entweder A, C oder B, C in verschiedenen Halbebenenmit dieser Randgeraden. 2

Korollar 1 Keine drei der Punkte A, B, C, R seien kollinear. Gilt

R ∈ ABC+ ∩ ACB+ ∩BCA+ \ (AB ∪ BC ∪ CA)

(R im Innern von ∆ABC; siehe Abb. 5.3), so trifft AR+ die offene Strecke (BC).

c c c

c

c

A A B

C

R

Abbildung 5.3: Zu Korollar 1

Beweis: Wir wählen einen Punkt A ∈ AB mit Zw(A, A, B), also mit A ∈ ACB−, undwenden den Satz von Pasch auf ∆ABC an. Danach schneidet AR eine der offenen Strecken(AC) oder (BC). Wegen AC+, BC+ ⊂ ABC+ und AR ∩ ABC+ = AR+ schneidet auchAR+ eine dieser Strecken. Aus AR+ ⊂ ACB+ und (AC) ⊂ ACB− \ AC folgt schließlichdie Behauptung. 2

Bem. 3 (i) Die Forderung R ∈ BCA+ wurde im Beweis nicht verwendet. Die Aussagegilt daher für alle Punkte R ∈ ABC+ ∩ ACB+.

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(ii) ABC− ∩ACB− ∩BCA− = ∅ (Für X ∈ ABC− ∩ACB− gilt nämlich AX ⊂ ABC− ∩ACB−. Wegen BC ∩ABC− = BC− und BC ∩ACB− = CB− gilt ferner BC ∩ABC− ∩ACB− = ∅, woraus AX ∩ BC = ∅, also X ∈ BCA+ folgt.)

Def. 5 Die Vereinigung von Halbgeraden SP + und SQ+ heißt Winkel <) PSQ (oder<) QSP , <) (SP +, SQ+), <) (SQ+, SP+)) mit den Schenkeln SP +, SQ+ und dem Schei-tel S. Für SP + ∪ SQ+ = SP heißt der Winkel gestreckt. Für SP + = SQ+ heißt erNullwinkel. Ist der Winkel <) PSQ nicht gestreckt und kein Nullwinkel, so heißt derDurchschnitt der Halbebenen PSQ+ und QSP+ das Innere In <) PSQ dieses Winkels(siehe Abb. 5.4).

c c

c

QS

P

Abbildung 5.4: In <) PSQ

Def. 6 Eine surjektive Abbildung b : P → P , die alle Abstände unverändert lässt, heißtBewegung.

Da jede Bewegung wegen II(1) eine injektive Abbildung ist, besitzt sie eine Umkehrabbil-dung, die nach Definition wieder eine Bewegung ist. Hieraus folgt der

Satz 4 Die Bewegungen bilden bzgl. der Hintereinanderausführung eine Gruppe.

Wir stellen nun einige geometrische Eigenschaften der Bewegungen zusammen.

Satz 5 Eine Bewegung b besitzt folgende Eigenschaften.

(i) b erhält die Zwischenbeziehung.

(ii) b bildet die Gerade PQ auf die Gerade b(P )b(Q) ab.

(iii) b bildet die Strecke PQ auf die Strecke b(P )b(Q) ab.

(iv) b bildet die Halbgerade PQ± auf die Halbgerade b(P )b(Q)± ab.

(v) b bildet die Halbebene PQR± auf die Halbebene b(P )b(Q)b(R)± ab.

(vi) b bildet den Winkel <) PSQ (sowie sein Inneres) auf den Winkel <) b(P )b(S)b(Q) (unddessen Inneres) ab.

Beweis: (i) ist klar, da Bewegungen die Eigenschaft (22) auf die Bildpunkte übertragen.

(ii) b(PQ) ⊂ b(P )b(Q) folgt aus (i); „⊃“ gilt, da mit b auch b−1 eine Bewegung ist.

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(iii), (iv) analog.

(v) Die Gerade PQ wird nach (ii) auf die Gerade b(P )b(Q) abgebildet. Für X ∈ PQR+

schneidet XR die Gerade PQ nicht. Wegen der Injektivität von b sowie den Eigenschaften(ii) und (iii) schneidet daher b(X)b(R) die Gerade b(P )b(Q) ebenfalls nicht. Also giltb(PQR+) ⊂ b(P )b(Q)b(R)+. „⊃“ folgt wie oben.

(vi) folgt aus (iv) und (v). 2

Die Aussagen (ii) und (iv) zeigen zusammen mit III(1) das folgende

Korollar 2 Eine Gerade mit zwei Fixpunkten ist eine Fixpunktgerade.

Wir kennen jetzt zwar zahlreiche Eigenschaften von Bewegungen, wissen aber nicht, obsolche Abbildungen - abgesehen von der identischen Abbildung - überhaupt existieren.Die Existenz sichert erst das Axiom IV.

IV Bewegungsaxiom

Für d(A, B) = d(P, Q) > 0 gibt es genau zwei Bewegungen b1, b2, die A aufP und B auf Q abbilden. Ist H eine Halbebene mit der Randgeraden AB,so gilt dabei b1(H) 6= b2(H).

Mit Hilfe des Begriffs der „Fahne“ wird in Satz 6 eine Aussage bewiesen, die in vielen Axio-mensystemen als Axiom formuliert wird (so genannte freie Beweglichkeit nach Helmholtz(1866)).

Def. 7 Sind P ein Punkt, h = PQ+ eine Halbgerade und H eine Halbebene mit derRandgeraden PQ, so heißt das Tripel F = (P, h, H) eine Fahne (siehe Abb. 5.5)

s

P h

H

Abbildung 5.5: Fahne F = (P, h, H)

Satz 6 Sind F = (P, h, H) und F ′ = (P ′, h′, H ′) Fahnen, so gibt es genau eine Bewegungb, die F auf F ′ abbildet (für die also b(P ) = P ′, b(h) = h′ und b(H) = H ′ gilt).

Beweis: Nach IV gibt es genau zwei Bewegungen bi (i = 1, 2) mit bi(P ) = P ′ und

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bi(h) = h′. Wegen b1(H) 6= b2(H) gilt ferner entweder b1(H) = H ′ oder b2(H) = H ′. 2

Mit Satz 5 (v) und Kor. 2 folgt hieraus sofort das

Korollar 3 Hat eine Bewegung b drei nicht kollineare Fixpunkte, so ist b die identischeAbbildung.

Bem. 4 Satz 6 erlaubt die Definition verschiedener Typen von Bewegungen, aus denenman durch Verkettung alle Bewegungen der euklidischen Ebene erhält (vgl. Abschnitt1.3).

(i) Wählt man P = P ′, h = h′ und H 6= H ′, so erhält man eine Geradenspiegelung(siehe Kor. 2) b. Wegen b(b(H)) = H gilt b ◦ b = id. Die Geradenspiegelung ist also eineInvolution.

(ii) Wählt man P = P ′, h = PQ+, h′ = PQ− sowie H 6= H ′, so liegt eine Punktspiege-lung vor. Auch diese Abbildung ist eine Involution.

(iii) Seien P, Q, R nicht kollinear. Wählt man P = P ′, h = PQ+, h′ = PR+ sowieH = PQR+, H ′ = PRQ−, so erhält man eine Drehung (siehe Abb. 5.6). (Zwar wurden

c c

c

QP

Rc c

c

Q

P

R

Abbildung 5.6: Drehung

– anschaulich gesprochen – durch die Festlegung des Inneren nur Winkel zwischen 0◦ und180◦ definiert. Da allerdings zwei Drehrichtungen möglich sind, erhält man – wenn mandie Punktspiegelung hinzunimmt – alle Drehungen zwischen 0◦ und 360◦.)

(iv) Wählt man P 6= P ′, h′ ⊂ h ⊂ PP ′ und H = H ′, so erhält man eine Translation (sie-he Abb. 5.7). Man kann also eine Translation ohne Verwendung des Parallelenaxioms de-

s s

P P ′h h′

H = H ′

Abbildung 5.7: Translation

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finieren. Ihre typischen Eigenschaften, die die Bezeichnung Parallelverschiebung recht-fertigen, lassen sich allerdings nur mit dem Parallelenaxiom V zeigen.

V (euklidisches) Parallelenaxiom

Zu jeder Geraden g und jedem nicht auf g liegenden Punkt P gibt es höch-stens eine Gerade, die P enthält und zu g parallel ist.

Bevor wir uns diesem Axiom zuwenden, beweisen wir weitere Sätze der absoluten Ebene.

5.3 Die absolute Ebene

Nach 5.2 Def. 1 werden in der absoluten Ebene nur die Axiomgruppen I bis IV vor-ausgesetzt. Wir werden nun einige Sätze dieser Geometrie beweisen und weitere Begriffeeinführen. Wichtig ist, dass diese nicht vom Parallelenaxiom V abhängen. Wir beginnenmit Kongruenzbetrachtungen.

Def. 1 Zwei Punktmengen M1, M2 heißen kongruent (M1∼= M2), wenn es eine Bewe-

gung b gibt mit b(M1) = M2.

Bem. 1 Die symmetrische Sprechweise ist erlaubt, da mit b auch b−1 eine Bewegungist. ∼= ist eine Äquivalenzrelation in der Potenzmenge von P .

Bem. 2 Wir betrachten ein Dreieck ∆ABC. Gilt für eine Bewegung b

b(A) = A′ , b(B) = B′ , b(C) = C ′ ,

so werden nach 5.2 Satz 5 (iii) die Seiten von ∆ABC auf die Seiten von ∆A′B′C ′ abge-bildet. Die beiden Dreiecke sind daher kongruent. Ferner werden nach 5.2 Satz 5 (vi) dieWinkel der beiden Dreiecke aufeinander abgebildet. Auch sie sind also kongruent.

Wir beweisen im Folgenden einige aus der Schule bekannte Kongruenzsätze und zeigendamit, dass sie zur absoluten Geometrie gehören. Wir beginnen mit einem vorbereitendemLemma.

Lemma Für jeden Winkel <) (p, q) gelten die folgenden Aussagen.

(i) Es gibt eine Bewegung b mit b(p) = q und b(q) = p.

(ii) Zu jeder Halbgeraden p′ und jeder Halbebene H ′, deren Randgerade p′ enthält, gibt esgenau eine Halbgerade q′ ⊂ H ′ mit

<) (p′, q′) ∼= <) (p, q) . (27)

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c c c cc

c

c

c

S

P

R1

U

R2

Q

(a)

···········································································································································································································································································

········· ········· ········ ········ ······· ······· ······ ··········· ····· ···· ······· ··· ······

c cc

c

c

c

S

R

P

Q

(b)

Abbildung 5.8: Kongruente Winkel

Beweis: (i) Es seien p = SP + und q = SQ+ mit d(S, P ) = d(S, Q). Dann gibt es nach5.2 Satz 6 genau eine Bewegung b mit

b(S) = S , b(P ) = Q , b(SPQ+) = SQP + .

Wir nehmen R = b(Q) 6= P an. Dann gilt auch R /∈ PQ und SR+ ⊂ SQP + \ (SQ∪ SP ).

Fall 1: SR+ ⊂ SPQ+ (siehe Abb. 5.8 (a)).

Nach 5.2 Kor. 1 und Bem. 3 (i) schneidet SR+ die offene Strecke (PQ) in einem PunktU(6= R). Im Dreieck ∆RUQ gilt

d(R, U) + d(U, Q) > d(R, Q) = d(P, Q) = d(P, U) + d(U, Q) ,

worausd(R, U) > d(P, U) (28)

folgt. Wir betrachten nun das Dreieck ∆SPU . Für Zw(S, R, U) (man betrachte in Abb.5.8 (a) die Lage R1) gilt

d(S, P ) + d(P, U) > d(S, U) = d(S, R) + d(R, U) = d(S, P ) + d(R, U) ,

alsod(P, U) > d(R, U)

im Widerspruch zu (28). Für Zw(S, U, R) (man betrachte R2) folgt derselbe Widerspruchaus

d(S, U) + d(U, P ) > d(S, P ) = d(S, R) = d(S, U) + d(U, R) .

Fall 2: SR+ ⊂ SPQ− (siehe Abb. 5.8 (b)).

In diesem Fall gilt SR+ ∩ (PQ) = ∅. Da aus R ∈ SQP + auch SR− ∩ (PQ) = ∅ folgt, giltSR ∩ (PQ) = ∅ und damit SP + ⊂ SRQ+. Betrachten wir also <) (SR+, SQ+) an Stellevon <) (SP +, SQ+) und die Bewegung b−1 an Stelle von b, so liegt wieder Fall 1 vor.

(ii) Nach (i) gilt (27) genau dann, wenn es eine Bewegung gibt, die p auf p′ und q auf q′

abbildet. Durch die erste Bedingung und die Festlegung der Halbebene H ′, die q′ enthaltensoll, ist eine solche Bewegung nach 5.2 Satz 6 eindeutig bestimmt. 2

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Nach dem Lemma (und 5.2 Satz 6) gibt es genau zwei Bewegungen b1, b2, die zwei kon-gruente Winkel <) (p, q), <) (p′, q′) aufeinander abbilden. Sie sind festgelegt durch

b1(p) = p′ , b1(q) = q′ ; b2(p) = q′ , b2(q) = p′ .

Satz 1 (Kongruenzsatz sws) Dreiecke ∆ABC und ∆A′B′C ′ mit AB ∼= A′B′, AC ∼= A′C ′

und <) BAC ∼= <) B′A′C ′ sind kongruent.

Beweis: Wir betrachten die nach 5.2 Satz 6 eindeutig existierende Bewegung b mit b(A) =A′, b(AB+) = A′B′+ und b(ABC+) = A′B′C ′+. Für diese Abbildung gilt ferner b(AC+) =A′C ′+ (nach obigem Lemma) sowie b(B) = B ′ und b(C) = C ′ (nach III(1)). Nach Bem. 2sind daher ∆ABC und ∆A′B′C ′ kongruent. 2

Satz 2 (Kongruenzsatz wsw) Dreiecke ∆ABC und ∆A′B′C ′ mit AB ∼= A′B′,<) BAC ∼= <) B′A′C ′ und <) ABC ∼= <) A′B′C ′ sind kongruent.

Beweis: (Filler, S. 91) 2 A

Satz 3 Sind in ∆ABC die Seiten AC und BC kongruent, so sind auch die Basiswinkel<) BAC und <) ABC kongruent.

Beweis: (Filler, S. 92) 2 A

Def. 2 Ein Punkt P der Strecke AB mit AP ∼= PB heißt Mittelpunkt von AB.

Satz 4 Jede Strecke AB besitzt genau einen Mittelpunkt.

Beweis: Für P ∈ AB gilt nach 5.2 Def. 3 d(A, P ) + d(P, B) = d(A, B). Also ist PMittelpunkt genau für d(A, P ) = 1

2d(A, B). Nach III(1) gibt es genau einen Punkt P mit

dieser Eigenschaft. 2

Wir beschäftigen uns nun etwas ausführlicher mit Winkeln. Insbesondere werden wir rech-te Winkel einführen.

Def. 3 Gegeben sei <) PSQ = <) (SP +, SQ+).

(i) Ist <) PSQ kein gestreckter Winkel, so heißt die Halbgerade SR+ ⊂ In <) PSQ Win-kelhalbierende von <) PSQ für <) PSR ∼= <) RSQ.

(ii) <) (SP +, SQ−) und <) (SP−, SQ+) heißen Nebenwinkel zu <) (SP +, SQ+).

(iii) <) (SP−, SQ−) heißt Scheitelwinkel zu <) (SP +, SQ+).

(iv) Für <) (SP +, SQ+) ∼= <) (SP−, SQ+) heißt <) (SP +, SQ+) ein rechter Winkel.

Satz 5 Sei <) PSQ kein gestreckter Winkel.

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(i) Gilt d(S, P ) = d(S, Q) und T ∈ PQ, so ist ST + genau dann Winkelhalbierende, wenn TMittelpunkt von PQ ist.

(ii) <) PSQ besitzt genau eine Winkelhalbierende.

Beweis: (Filler, S. 92) 2 A

Satz 6 (i) Die beiden Nebenwinkel eines Winkels sind kongruent.

(ii) Nebenwinkel kongruenter Winkel sind kongruent.

(iii) Jeder Winkel ist zu seinem Scheitelwinkel kongruent.

Beweis: (Filler, S. 93) 2 A

Satz 7 Zu jeder Halbgeraden SP + gibt es in jeder Halbebene H mit der Randgeraden SPgenau einen rechten Winkel <) (SP +, SQ+).

Beweis: Nach 5.2 Satz 6 gibt es genau eine Bewegung b mit b(S) = S, b(SP +) = SP−

und b(H) = H. Wegen b(SP−) = SP + gilt b ◦ b = id. Wir beweisen zunächst dreiHilfsbehauptungen.

(i) Für Q ∈ H \ SP und b(Q) = Q ist <) PSQ ein rechter Winkel.

Dies folgt aus

<) (SP +, SQ+) ∼= b( <) (SP +, SQ+)) = <) (SP−, SQ+) .

(ii) Es gibt (mindestens) einen rechten Winkel.

Für einen Punkt Q ∈ H \ SP sind zwei Fälle möglich.

• Für b(Q) = Q ist <) PSQ nach (i) ein rechter Winkel.

• Für b(Q) = Q′ 6= Q wird wegen

b(QQ′) = Q′b(b(Q)) = Q′Q

die Strecke QQ′ und damit auch ihr Mittelpunkt T auf sich abgebildet. Nach (i) ist <) PSTein rechter Winkel.

(iii) Sind Q ∈ H \ SP und <) PSQ ein rechter Winkel, so gilt Q′ := b(Q) = Q.

Wegen

<) (SP−, SQ+) ∼= <) (SP +, SQ+) ∼= b( <) (SP +, SQ+)) = <) (SP−, SQ′+)

und Q′ ∈ H folgt aus obigem Lemma SQ+ = SQ′+ und damit Q = Q′.

(iv) Nach (ii) gibt es mindestens einen rechten Winkel. Nach (i) und (iii) liefern genau dieFixpunktgeraden von b durch S rechte Winkel. b 6= id besitzt nach 5.2 Kor. 3 höchstenseine Fixpunktgerade, weshalb es auch nicht mehr als einen rechten Winkel geben kann.2

Def. 4 (i) Ein Winkel <) (p, q) heißt spitz, wenn es einen rechten Winkel <) (p, r) gibtmit q ⊂ In <) (p, r) und q 6= r.

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 82

(ii) Ein Winkel, der kein spitzer, rechter oder gestreckter Winkel ist, heißt stumpf.

Bem. 3 (i) Nach Satz 7 sind rechte Winkel kongruent. Ferner besitzen danach auchgestreckte Winkel eine (eindeutige) Winkelhalbierende.

(ii) Jeder Nebenwinkel eines spitzen Winkels ist ein stumpfer Winkel und umgekehrt.

Def. 5 Zwei Geraden k, l heißen zueinander senkrecht oder orthogonal (k ⊥ l), wennes Halbgeraden p ⊂ k und q ⊂ l gibt, die einen rechten Winkel <) (p, q) bilden (alsoinsbesondere den gleichen Anfangspunkt haben). Für L ∈ l heißt l Lot von L auf k undder Schnittpunkt F der Geraden k und l dessen Fußpunkt. Ist F der Mittelpunkt derStrecke PQ ⊂ k, so heißt l Mittelsenkrechte dieser Strecke.

Satz 8 (i) Zu jedem Punkt P und jeder Geraden g gibt es genau ein Lot von P auf g.

(ii) Jede Strecke besitzt genau eine Mittelsenkrechte.

Beweis: (i1) Für P ∈ g folgt die Aussage aus Satz 7. A(i2) Sei nun P /∈ g. Wir betrachten die (eindeutige) Bewegung b, die g als Fixpunktgeradebesitzt und die beiden von g berandeten Halbebenen vertauscht (siehe 5.2 Satz 6). NachIII(2) schneidet Pb(P ) die Gerade g in einem Punkt F . Für R ∈ g \ {F} gilt dann

<) (FR+, FP+) ∼= b( <) (FR+, FP+)) = <) (FR+, F b(P )+) = <) (FR+, FP−) .

Also gibt es mindestens ein Lot von P auf g. Wir nehmen nun an, dass es zwei verschiedeneLote PA, PB (A, B ∈ g) gibt und wählen Q ∈ BP− mit d(Q, B) = d(P, B) (siehe Abb.5.9). Nach Satz 1 (sws) gilt dann ∆ABP ∼= ∆ABQ, weshalb <) BAQ ein rechter Winkel

c c

c

c

A B

Q

P

g

Abbildung 5.9: Lote auf g

ist. Also sind AQ und AP Lote von g in A im Widerspruch zu Beweisteil (i1).

(ii) folgt mit Satz 4 aus (i). 2

Man beachte, dass im Beweis auch die Existenz und Eindeutigkeit des Lotfußpunktesnachgewiesen wurde.

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 83

Satz 9 (Kongruenzsatz sss) Dreiecke ∆ABC und ∆A′B′C ′ mit AB ∼= A′B′, AC ∼= A′C ′

und BC ∼= B′C ′ sind kongruent.

Beweis: Nach IV gibt es eine Bewegung b mit b(A′) = A, b(B′) = B und b(C ′) = D ∈ABC−. Es genügt, ∆ABC ∼= ∆ABD nachzuweisen (siehe zum Folgenden Abb. 5.10).

c c

c

c

A B

C

D

c c

c

c

c

A B

C

D

M

c c

c

c

c

AB

C

D

Mc c

c

c

c

AB

C

D

M

Abbildung 5.10: Kongruenzsatz sss

Für A ∈ CD (ebenso für B ∈ CD) liefert Satz 3 (in ∆BCD) <) BCD ∼= <) BDC. DieAussage folgt damit aus Satz 1 (sws).

Andernfalls gilt im gleichschenkligen Dreieck ∆ACD nach Satz 3

<) ACD ∼= <) ADC .

Ist M der Mittelpunkt von CD, gilt daher ∆ACM ∼= ∆ADM (siehe Satz 1). Daher ist<) AMC ein rechter Winkel ist. Entsprechend sieht man, dass <) BMC ein rechter Winkelist. Die Eindeutigkeit des Lotes von CD in M (Satz 8 (i)) liefert daher M ∈ AB. FürM ∈ AB+ folgt

<) BAC = <) MAC ∼= <) MAD = <) BAD .

Für M ∈ BA+ gilt entsprechend

<) ABC = <) MBC ∼= <) MBD = <) ABD .

In beiden Fällen folgt die Aussage damit wieder aus Satz 1. 2

Satz 10 Die Mittelsenkrechte m einer Strecke AB ist der Ort aller Punkte P mit

d(A, P ) = d(B, P ) . (29)

Beweis: Sei M der Mittelpunkt von AB.

(i) Für P ∈ m sind die Dreiecke ∆AMP und ∆BMP nach Satz 1 kongruent. Also gilt(29).

(ii) Gilt umgekehrt (29) für einen Punkt P , so sind ∆AMP und ∆BMP nach Satz 9(sss) kongruent. Also gilt

<) (MA+, MP+) ∼= <) (MB+, MP+) = <) (MA−, MP+) ,

weshalb ein rechter Winkel vorliegt. 2

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 84

5.4 Winkel im Dreieck

Im Zentrum dieses Abschnitts steht die Frage, was man über die InnenwinkelsummeIWS (ABC) im Dreieck ∆ABC sagen kann, ohne das Parallelenaxiom V vorauszuset-zen. Dazu müssen wir den Winkeln, die wir bisher nur als geometrische Figur betrachtethaben, eine Größe zuordnen. Wir beginnen mit dem vorbereitenden

c

(a) p

q

r c

(b) p

q

r

Abbildung 5.11: Winkeladdition und -subtraktion

Lemma 1 Es seien p, q, r paarweise verschiedene Halbgeraden mit dem Anfangspunkt Asowie p′, q′, r′ (paarweise verschiedene) Halbgeraden mit dem Anfangspunkt A′.Aus <) (p, r) ∼= <) (p′, r′) und <) (q, r) ∼= <) (q′, r′) folgt dann:

(i) Für r ⊂ In <) (p, q) (siehe Abb. 5.11 (a)) und r′ ⊂ In <) (p′, q′) gilt <) (p, q) ∼= <) (p′, q′).

(ii) Für q ⊂ In <) (p, r) (siehe Abb. 5.11 (b)) und q ′ ⊂ In <) (p′, r′) gilt <) (p, q) ∼= <) (p′, q′).

Beweis: Wir beweisen exemplarisch (i). Nach Definition und 5.3 Lemma gibt es Bewe-gungen b1, b2 mit b1(p) = p′, b1(r) = r′ und b2(q) = q′, b2(r) = r′. Zu zeigen ist b1 = b2. b2

bildet die q enthaltende Halbebene Hq mit der Randgeraden g ⊃ r auf die q′ enthalten-de Halbebene Hq′ mit der Randgeraden g′ ⊃ r′ ab. Da die entsprechenden HalbebenenHp, Hp′, für die b1(Hp) = Hp′ gilt, hiervon verschieden sind (siehe 5.2 Kor. 1 und 5.2 Bem.3 (i)), gilt auch b2(Hp) = Hp′ und damit b1 = b2. 2

Will man Winkel vergleichen, muss man ihnen eine Größe so zuordnen, dass genau kon-gruente Winkel dieselbe Größe erhalten. Dann ist ihnen zwar noch kein Maß zugeordnet,aber Lemma 1 erlaubt eine repräsentantenunabhängige Definition der Addition und Sub-traktion dieser Größen. Dazu seien p, q, r paarweise verschiedene Halbgeraden mit demAnfangspunkt A. Ferner sei <) (p, r) ein Winkel der Größe α und <) (r, q) ein Winkel derGröße β. Für r ⊂ In <) (p, q) (siehe Abb. 5.11 (a)) heißt dann die Größe γ des Winkels<) (p, q) die Summe von α und β (γ = α+β). Entsprechend definiert man die Differenz(α = γ − β, β = γ − α). Ist <) (p, r) kein Nullwinkel, so heißt der Winkel <) (r, q) kleinerals der Winkel <) (p, q) (genauer: die Größe β heißt kleiner als die Größe γ). Die Relati-on „<“ ist in der Menge der Kongruenzklassen eine strenge Ordnungsrelation (irreflexiveTotalordnung). Die kleinste Größe hat ein Nullwinkel, die größte ein gestreckter Winkel.

Gedanklich ist es nun nur noch ein kleiner Schritt, jeder Winkelgröße eine Maßzahl zuzu-ordnen. Nullwinkel erhalten das Maß Null, gestreckte Winkel erhalten das Maß π (mankönnte natürlich auch jede andere von 0 verschiedene reelle Zahl nehmen). Größere Win-kel treten in diesem Konzept nicht auf. Diese Einschränkung ist jedoch für die eingangsgestellte Aufgabe unerheblich. Rechte Winkel haben nach obiger Addition das Maß π

2.

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 85

Das Maß eines beliebigen Winkels ist (aufwendiger) durch Intervallschachtelung zu be-stimmen. Umgangssprachlich wird auch das Maß eines Winkels kurz Winkel genannt.Dieser Sprechweise werden wir uns bisweilen anschließen, wobei uns aber der Unterschiedzwischen einem Winkel als geometrischer Figur und seinem Maß stets bewusst bleibenmuss.

Dass die Maßbestimmung von Strecken einfacher war, lag daran, dass bei Strecken AxiomIII(1) bereits das Maß liefert. In anderen Axiomensystemen ist auch bei der Einführungeines Streckenmaßes wie oben beschrieben vorzugehen.

Wir wenden uns nun den Winkeln im Dreieck zu. Dazu benötigen wir neben den (bisherbetrachteten) Innenwinkeln auch die Außenwinkel eines Dreiecks.

Def. 1 In ∆ABC heißen die Winkel <) (AB+, AC+), <) (BA+, BC+) und <) (CA+, CB+)die Innenwinkel und ihre Nebenwinkel die Außenwinkel des Dreiecks.

Satz 1 Jeder Innenwinkel eines Dreiecks ist kleiner als jeder nicht anliegende Außenwinkel.

Beweis: Wir zeigen <) (AB+, AC+) < <) (BA+, BC−) oder gleichbedeutend damit

∃P ∈ In <) (BA+, BC−) \ (AB ∪BC) : <) (AB+, AC+) ∼= <) (BA+, BP+) . (30)

Sei M der Mittelpunkt von AB und P ∈ MC− mit d(C, M) = d(M, P ) (siehe Abb. 5.12).

c c c

c

c

A B

C

M

P

Abbildung 5.12: Zu Satz 1

(i) Nach 5.3 Satz 1 (sws) gilt ∆AMC ∼= ∆BMP und damit die Kongruenz in (30).

(ii) P /∈ AB ∪ BC ist klar.

(iii) Wegen M ∈ (CP ) und M ∈ (AB) schneidet (CP ) die Gerade AB. Also liegen C undP in verschiedenen von AB berandeten Halbebenen und es gilt P ∈ BAC−.

(iv) Wegen MP ∩ BC = {C} und C /∈MP gilt BC ∩MP = ∅.Wegen AM ∩ BC = {B} und B /∈ AM gilt BC ∩ AM = ∅.A, M, P liegen daher in derselben von BC berandeten Halbebene, d. h. es gilt P ∈BCA+. 2

Korollar 1 (i) In jedem Dreieck sind mindestens zwei Innenwinkel spitz.

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 86

(ii) In jedem Dreieck ist die Summe zweier beliebiger Innenwinkel kleiner als π.

Beweis: (i) Gibt es einen spitzen oder rechten Außenwinkel, so folgt die Aussage aus Satz1. Andernfalls ist sie klar.

(ii) folgt unmittelbar aus Satz 1. 2

Satz 2 In einem Dreieck ∆ABC liegt dem größeren Innenwinkel stets die größere Seitegegenüber und umgekehrt.

Beweis: Wir zeigen

d(A, C) > d(B, C) ⇐⇒ <) (AB+, AC+) < <) (BA+, BC+) .

(⇒) Es gibt ein D ∈ (AC) mit d(C, D) = d(C, B) (siehe Abb. 5.13). Damit gilt

c c

c

c

A B

C

D

Abbildung 5.13: Zu Satz 2

<) (BA+, BC+)Def.> <) (BD+, BC+)

5.3 Satz 3∼= <) (DB+, DC+)

Satz 1 in ∆ABD> <) (AB+, AC+) .

(⇐) Nach Beweisteil (⇒) und 5.3 Satz 3 gilt

d(B, C) ≥ d(A, C)⇒ <) (BA+, BC+) ≤ <) (AB+, AC+) .

Dies ist äquivalent zu

d(B, C) < d(A, C)⇐ <) (BA+, BC+) > <) (AB+, AC+)

bzw.<) (AB+, AC+) < <) (BA+, BC+)⇒ d(A, C) > d(B, C) ,

was zu zeigen war. 2

Zusammen mit Kor. 1 (i) folgt aus Satz 2 unmittelbar das

Korollar 2 Sind g eine Gerade, F der Fußpunkt des Lotes von P /∈ g auf g und Q 6= Fein beliebiger Punkt von g, so gilt d(P, Q) > d(P, F ).

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 87

Def. 2 Der Abstand d(P, g) eines Punktes P von einer Geraden g ist definiert als derAbstand d(P, F ) von P zum Lotfußpunkt F des Lotes von P auf g.

Lemma 2 Für jedes Dreieck ∆ = ∆ABC gibt es ein Dreieck ∆′ mit IWS (∆) = IWS (∆′),das einen Innenwinkel besitzt, der höchstens halb so groß ist wie <) (AB+, AC+).

Beweis: Sei M der Mittelpunkt der Strecke BC und D ∈MA− mit d(A, M) = d(M, D)(D existiert nach III(1)). Dann gilt nach 5.3 Satz 1 (sws) ∆ABM ∼= ∆DCM , also mitden Bezeichnungen von Abb. 5.14 α2 = δ und β = γ2, woraus

c c

c

c

c

A B

C D

M

α2

α1

β

γ1γ2 δ

Abbildung 5.14: Zu Lemma 2

IWS (ABC) = α1 + α2 + β + γ1 = α1 + δ + γ1 + γ2 = IWS (ADC)

folgt. Wegenα1 + δ = α1 + α2 = <) (AC+, AB+) =: α

gilt ferner α1 ≤ α2

oder δ ≤ α2. 2

Satz 3 Die Innenwinkelsumme eines Dreiecks beträgt höchstens π.

Beweis: Wir nehmen IWS (∆) = π + ε, ε > 0 an. Ist α ein Innenwinkel von ∆, sogibt es nach Lemma 2 ein Dreieck ∆1 gleicher Innenwinkelsumme und einem Innenwinkelα1 ≤ α

2. Durch Induktion folgt für jedes n ∈ N die Existenz eines Dreiecks ∆n mit einem

Innenwinkel αn ≤ α2n . Wählt man nun n ∈ N so, dass α

2n < ε gilt, erhält man für dierestlichen Innenwinkel βn, γn von ∆n

βn + γn = IWS (∆n)− αn ≥ π + ε− α

2n> π

im Widerspruch zu Aussage (ii) von Korollar 1. 2

Lemma 3 ∆ABC habe bei C einen rechten Winkel. Ferner sei D ∈ BC− mit d(C, B) =d(B, D) (siehe Abb. 5.15). Dann folgt aus IWS (ABC) = π auch IWS (ADC) = π.

Beweis: Wir betrachten die Abbildung b, die A auf B, B auf A und ABC+ auf ABC−

abbildet. Mit E := b(C) gilt dann

<) (CA+, CB+) ∼= <) (EB+, EA+) ,

<) (BC+, BA+) ∼= <) (AE+, AB+) ,

<) (AC+, AB+) ∼= <) (BA+, BE+) .

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 88

c

c c c

c cA

BC D

E F

Abbildung 5.15: Zu Lemma 3

Somit sind alle Winkel im Viereck AEBC rechte Winkel. Daher gilt nach 5.3 Satz 1 (sws)

∆ABC ∼= ∆EDB

und für F ∈ EA− mit d(A, E) = d(E, F ) auch

∆AEB ∼= ∆EFD .

Also sind die Vierecke AEBC und EFDB kongruent, so dass alle Winkel im ViereckAFDC rechte Winkel sind. Nach Satz 3 haben daher die beiden Teildreiecke ∆ADC und∆AFD die Innenwinkelsumme π. 2

Lemma 4 Gibt es ein rechtwinkliges Dreieck ∆ABC mit IWS (ABC) = π, so hat jedesrechtwinklige Dreieck diese Winkelsumme.

Beweis: Sei ∆DEF ein beliebiges, bei F rechtwinkliges Dreieck. Ist ∆ABC bei Crechtwinklig, so gibt es nach Lemma 3 ein bei C rechtwinkliges Dreieck ∆A′B′C mitIWS (A′B′C) = π, d(A′, C) > d(D, F ) und d(B′, C) > d(E, F ) (siehe Abb. 5.16). Mit

c c c

c

cA′

B′C

D′

E ′

Abbildung 5.16: Zu Lemma 4

D′ ∈ CA′, d(D′, C) = d(D, F ) und E ′ ∈ CB′, d(E ′, C) = d(E, F ) erhält man ein zu∆DEF kongruentes Dreieck ∆D′E ′C und es genügt, IWS (D′E ′C) = π nachzuweisen.Wegen

π = IWS (A′B′C) = IWS (A′E ′C) + IWS (A′B′E ′)− π

giltIWS (A′E ′C) + IWS (A′B′E ′) = 2π ,

also nach Satz 3IWS (A′E ′C) = IWS (A′B′E ′) = π .

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 89

Mit dem gleichen Argument folgt

IWS (A′E ′D′) = IWS (D′E ′C) = π . 2

Satz 4 Gibt es ein Dreieck ∆ABC mit IWS (ABC) = π, so hat jedes Dreieck die Innen-winkelsumme π.

Beweis: (i) Wir zeigen zunächst, dass alle rechtwinkligen Dreiecke die Innenwinkelsummeπ haben. Ist ∆ABC rechtwinklig, folgt dies aus Lemma 4. Andernfalls sei der Winkel beiC der größte Innenwinkel. Dann gilt nach Satz 2

d(A, B) ≥ d(A, C) und d(A, B) ≥ d(B, C) .

Fällt man von C das Lot auf AB (Fußpunkt D), so liegt in ∆ADC und ∆DBC nachSatz 3 der größte Winkel bei D. Also gilt nach Satz 2

d(A, C) ≥ d(A, D) > 0 und d(B, C) ≥ d(B, D) > 0 .

Die Annahme Zw(D, A, B) liefert den Widerspruch

d(D, B) = d(D, A) + d(A, B) ≥ d(D, A) + d(B, C) > d(B, C) .

Aus dem gleichen Grund ist Zw(D, B, A) ausgeschlossen. Also gilt Zw(A, D, B) (sieheAbb. 5.17) und damit

c c c

c

A B

C

D

Abbildung 5.17: Zur Innenwinkelsumme im Dreieck

IWS(ADC) + IWS(DBC) = IWS (ABC) + π = 2π .

Aus Satz 3 folgt hieraus

IWS(ADC) = IWS(DBC) = π .

Auch in diesem Fall folgt also die Behauptung aus Lemma 4.

(ii) Ist ∆EFG ein beliebiges Dreieck, so kann es wie in (i) beschrieben in zwei rechtwinkligeDreiecke zerlegt werden, deren Innenwinkelsumme nach (i) jeweils π beträgt. 2

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 90

c c

r p

s q

Abbildung 5.18: Stufenwinkel

5.5 Das Parallelenaxiom

Keine der bisher bewiesenen Aussagen setzt das Parallelenaxiom V voraus. Sie gehörenalle zur absoluten Geometrie. Bevor wir uns jetzt dem Parallelenaxiom zuwenden undzahlreiche dazu äquivalente Aussagen beweisen, werden wir im Satz 2 untersuchen, wasman über die Existenz von Parallelen weiß, wenn man V nicht voraussetzt, und uns zweiBeweisversuche des Parallelenaxioms ansehen.

Def. 1 Zwei Winkel heißen Stufenwinkel, wenn ein Schenkel p des einen Winkels Teil-menge eines Schenkels r des anderen Winkels ist und die beiden übrigen (so genanntenfreien) Schenkel in derselben von der Geraden g ⊃ p, r berandeten Halbebene liegen(siehe Abb. 5.18).

Satz 1 Sind die Stufenwinkel <) (SQ+, SR+) und <) (S ′Q′+, S ′R′+) kongruent, so sind dieTrägergeraden der freien Schenkel parallel.

Beweis: Es gelte S ′Q′+ ⊂ SQ+.

(i) Wir nehmen zunächst an, dass es einen Punkt X ∈ SR+ ∩ S ′R′+ gibt (siehe Abb.5.19). Dann sind <) (SQ+, SR+) ein Innenwinkel und <) (S ′Q′+, S ′R′+) ein Außenwinkel

c c c c

c

c

c

S

R

X

Q S ′

R′

Q′

Abbildung 5.19: Stufenwinkelsatz

von ∆SS ′X. Nach 5.4 Satz 1 sind diese Winkel im Widerspruch zur Voraussetzung nichtkongruent.

(ii) Die Annahme, dass es einen Punkt X ∈ SR− ∩ S ′R′− gibt, führt man zum Wider-spruch, indem man die Winkel <) (SQ−, SR−) und <) (S ′Q′−, S ′R′−) betrachtet, die alsScheitelwinkel zu den Ausgangswinkeln kongruent sind. 2

Satz 2 Zu jeder Geraden g und jedem nicht auf g liegenden Punkt P gibt es mindestenseine Gerade h, die P enthält und zu g parallel ist.

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 91

Beweis: Sei f eine beliebige Gerade durch P . Für f‖g ist der Satz gezeigt. Andernfallsschneidet f die Gerade g in einem Punkt Q. Man trägt nun an PQ+ einen zu <) (g+, QP−)kongruenten Stufenwinkel an und erhält so nach Satz 1 eine Parallele zu g durch P . 2

Bem. 1 Die zahlreichen Versuche, das Parallelenaxiom aus den Axiomgruppen I - IVherzuleiten, sahen oft so aus, dass man eine Aussage A als zu V äquivalent nachwies unddann A bewies. Wir werden dies an zwei Beispielen vorführen. In Satz 4 werden wir dieÄquivalenz folgender Aussagen zeigen.

(a) Es gilt das Parallelenaxiom V.

(b) Es gibt ein Dreieck mit der Innenwinkelsumme π.

(c) Stufenwinkel an geschnittenen Parallelen sind kongruent.

Auf diesen (korrekten) Äquivalenzen beruhen die beiden folgenden Beweisversuche desParallelenaxioms.

„Satz“ Es gibt ein Dreieck ∆(ABC) mit IWS (ABC) = π.

„Beweis“ (nach Legendre): Sei <) (u, v) ein spitzer Winkel mit dem Scheitel S. Wir be-trachten in einem Punkt A0 ∈ u \ {S} das Lot von u und dessen Schnittpunkt B0 mit v(existiert, da der gewählte Winkel spitz ist; siehe Abb. 5.20).

c c c

c

c

S

A0

B0

A1

B1

u

v

Abbildung 5.20: Zum „Beweis“ von Legendre

Für IWS (SA0B0) = π ist der Satz bewiesen. Andernfalls gilt nach 5.4 Satz 3IWS (SA0B0) = π − ε mit ε > 0. Wir wählen nun A1 ∈ A0S

− mit d(S, A0) = d(A0, A1).Wegen ∆SA0B0

∼= ∆A1A0B0 (sws) gilt IWS (A1A0B0) = π − ε. Trifft das Lot von u inA1 den Strahl v in B1, so folgt

IWS (SA1B1) = IWS (SA0B0) + IWS (A1A0B0) + IWS (B0B1A1)− 2π

= IWS (B0B1A1)− 2ε ≤ π − 2ε .

Nach n Schritten hat manIWS (SAnBn) ≤ π − 2nε .

Damit gibt es ein n0 ∈ N mit IWS (SAn0Bn0

) ≤ 0, was ein Widerspruch ist. 2

Wo steckt der Fehler?

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 92

Die Existenz der Punkte Bi ist nicht gesichert. Die bewiesene Aussage lautet also: Gibt eseinen spitzen Winkel, bei dem jedes Lot auf einen Schenkel den anderen Schenkel schneidet,dann gibt es ein Dreieck mit der Innenwinkelsumme π.

„Satz“ Stufenwinkel an geschnittenen Parallelen f, g sind kongruent.

„Beweis“ (nach John Wallis (1616-1703)): Wir zeigen

Stufenwinkel nicht kongruent⇒ f und g nicht parallel.

h schneide die Geraden f, g und es gelte in Abb. 5.21 o. E. f ⊥ h und α < π2

(dieseAnnahmen sind zulässig!). Es seien P2 ∈ g und Q2 der Fußpunkt des Lotes von P2 auf h.

c c c c c

c

c

c

P2

Q2 G

Q1 F Q

P1

Pf g

Abbildung 5.21: Zum „Beweis“ von J. Wallis

Für Zw(Q2, G, F ) wählen wir Punkte P1 ∈ GP−2 , Q1 ∈ GQ−

2 mit d(P1, G) = d(P2, G) undd(Q1, G) = d(Q2, G). Andernfalls sei Q2 = Q1, P2 = P1.

Für Zw(G, F, Q1) ist man fertig. Nach Satz 1 gilt nämlich P1Q1 ‖ f , so dass nach 5.2 Satz3 f die Seite GP1 schneidet. Andernfalls gibt es ein n ∈ N so, dass

d(G, Q) = n · d(G, Q1), d(G, P ) = n · d(G, P1) und Zw(G, F, Q)

gilt. Man kann nun wie oben argumentieren, wenn man P1, Q1 durch P, Q ersetzt. 2

Wo steckt der Fehler?

Es wird unterstellt, dass die Dreiecke ∆GP1Q1 und ∆GPQ ähnlich sind, weil sie imVerhältnis zweier Seiten und dem Zwischenwinkel übereinstimmen. Die Existenz ähnlicher,aber nicht kongruenter Dreiecke folgt jedoch erst aus dem Parallelenaxiom.

In weiteren Beweisversuchen des Parallelenaxioms spielen die folgenden Vierecke eineRolle, die wir später noch benötigen.

Def. 2 Ein Viereck ABCD, in dem <) DAB und <) ABC rechte Winkel sind und in demd(A, D) = d(B, C) gilt, heißt Saccheri-Viereck.

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 93

c c

c

A B

CDc

Abbildung 5.22: Saccheri-Viereck

Satz 3 In einem Saccheri-Viereck gemäß Def. 2 gilt (siehe Abb. 5.22):

(i) <) ADC ∼= <) BCD.

(ii) Kein Winkel ist größer als π2.

Beweis: (i) Nach 5.3 Satz 1 (sws) gilt ∆ABD ∼= ∆BAC, also d(A, C) = d(B, D) unddamit nach 5.3 Satz 10 (sss) ∆BCD ∼= ∆ADC.

(ii) ist wegen (i) klar nach 5.4 Satz 3. 2

Bem. 2 Im Saccheri-Viereck von Def. 2 sind also die kongruenten Winkel bei C und Dhöchstens π

2groß. Sind sie in einem solchen Viereck gleich π

2, gilt also in einem Saccheri-

Viereck die Hypothese vom rechten Winkel, so haben nach 5.4 Satz 3 und Satz 4 alleDreiecke die Innenwinkelsumme π.

Satz 4 In der absoluten Ebene sind die folgenden Aussagen äquivalent.

(i) Es gilt das Parallelenaxiom V: Zu jeder Geraden g und jedem nicht auf g liegenden PunktP gibt es höchstens eine Gerade, die P enthält und zu g parallel ist.

(ii) Zu jeder Geraden g und jedem nicht auf g liegenden Punkt P gibt es genau eine Gerade,die P enthält und zu g parallel ist.

(iii) Stufenwinkel an geschnittenen Parallelen sind kongruent.

(iv) In jedem Dreieck ∆ gilt IWS (∆) = π.

(v) Es gibt ein Dreieck ∆ mit IWS (∆) = π.

(vi) Abstandslinien sind Geraden.

(vii) Es gibt ein Saccheri-Viereck, das die Hypothese vom rechten Winkel erfüllt.

(viii) Es gibt zwei Dreiecke mit übereinstimmenden Innenwinkeln, die nicht kongruent sind.

Beweis: (a) Wir zeigen zunächst die Äquivalenz der Aussagen (i) - (v).

(iv) ⇐⇒ (v) klar nach 5.4 Satz 4.

(i) ⇒ (ii) klar nach Satz 2.

(ii)⇒ (iii) Gibt es geschnittene Parallelen mit nicht kongruenten Stufenwinkeln, so liefertSatz 1 eine zweite Parallele im Widerspruch zur Voraussetzung.

(iii) ⇒ (iv) klar nach Abb. 5.23.

(iv)⇒ (i) Seien a eine Gerade, P /∈ a und A0 der Fußpunkt des Lotes von P auf a. Fernersei p das Lot von A0P in P (siehe Abb. 5.24). Nach Satz 1 gilt dann p ‖ a. Es ist zu zeigen,

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 94

c c

c

Abbildung 5.23: Innenwinkelsumme und Stufenwinkel

c c c c

c

c

c c

P

A0 A1 A2 An

p

a

Q

α1 α2

Abbildung 5.24: Innenwinkelsumme und Parallelenaxiom

dass eine beliebige Gerade g 6= p durch P die Gerade a schneidet. Dazu wählen wir Q ∈ gso, dass <) (PA+

0 , PQ+) ein spitzer Winkel der Größe

β =π

2− ε, ε > 0

ist, und Punkte Ai ∈ a ∩ PA0Q+ mit

d(Ai−1, Ai) = d(P, Ai−1) (i = 1, 2, 3, . . .) .

Die Dreiecke ∆PAi−1Ai (i = 1, 2, 3, . . .) sind dann gleichschenklig. Für ihre Basiswinkelαi = <) Ai−1PAi gilt nach 5.3 Satz 3 α1 = π

4und αi = αi−1

2, also

αi =π

2i+1=

π

2

1

2i.

Hieraus folgt

<) (PA+0 , PA+

n ) =π

2

n∑

i=1

1

2i=

π

2

2n − 1

2n=

π

2− π

2n+1.

Damit gibt es ein n ∈ N mit<) (PA+

0 , PA+n ) > β ,

also mit Q ∈ PA0A+n ∩ PAnA+

0 . Nach 5.2 Bem. 3 (i) schneidet daher PQ+ die StreckeA0An.

(b) (i)-(v) ⇒ (vi) Seien d(P, g) = c > 0, h die Parallele zu g durch P sowie Q ∈ h \ {P}beliebig (siehe Abb. 5.25). Sind K, L die Fußpunkte der Lote von P bzw. Q auf g, so giltnach Satz 1 PK ‖QL. Daher sind nach (iii) die Dreiecke ∆KLP und ∆QPL kongruent(wsw) und es gilt

c = d(P, K) = d(Q, L) = d(Q, g) .

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 95

c c c

c c c

c

P Q

K L

R

S

g

h

Abbildung 5.25: Abstandslinien

Gilt umgekehrt d(R, g) = c für einen beliebigen Punkt R ∈ gP + und ist S der Schnitt-punkt des Lotes von R auf g mit h, so gilt

d(R, g) = c = d(S, g) ,

also R = S ∈ h.

(vi) ⇒ (vii) Sei P /∈ g. Wir wählen zwei verschiedene Punkte Q, R ∈ gP + \ {P} mit

d(P, g) = d(Q, g) = d(R, g) und Zw(Q, P, R)

und fällen die Lote von P, Q, R auf g (Fußpunkte A, B, C; siehe Abb. 5.26). Dann sind

c c c

c c cQ P R

B A C g

Abbildung 5.26: Saccheri-Vierecke

APQB und ACRP Saccheri-Vierecke, in denen nach Satz 3 kein Winkel größer als π2

ist.Da sich <) QPA und <) APR als Nebenwinkel zu π ergänzen, ist also jeder von ihnen einrechter Winkel. Somit ist nach Satz 3 (i) im Saccheri-Viereck APQB die Hypothese vomrechten Winkel erfüllt.

(vii) ⇒ (iv) klar nach Bem. 2.

(c) (i)-(v) ⇒ (viii) Zu einem gegebenen Dreieck ∆ABC wählen wir einen Punkt D mitBA− = BD+ und betrachten die Parallele g zu BC durch D (siehe Abb. 5.27 (a)). Istp ⊂ g ∩ ABC+ die Halbgerade mit Anfangspunkt D, so gilt nach (iii)

<) (BA+, BC+) ∼= <) (DA+, p) .

g schneidet AC in einem Punkt E (andernfalls wären AC und BC Parallelen zu g durchC). Wiederum liefert (iii)

<) ACB ∼= <) AED .

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 96

c

c

c

c

c

A

BC

D

E p ⊂ g

(a)c

c

c

c

c

A

B C

E ′F ′

(b)

Abbildung 5.27: Ähnliche Dreiecke

(viii) ⇒ (v) Seien ∆ABC und ∆DEF nicht kongruente Dreiecke mit kongruenten Innen-winkeln. Wir wählen

E ′ ∈ AB+ mit d(A, E ′) = d(D, E) ,

F ′ ∈ AC+ mit d(A, F ′) = d(D, F )

(siehe Abb. 5.27 (b)). Die Dreiecke ∆AE ′F ′ und ∆DEF sind dann kongruent (sws). Fernergilt nach Satz 1 E ′F ′ ∩BC = ∅. E ′F ′CB ist also ein Viereck mit der Innenwinkelsumme2π. Wegen 5.4 Satz 3 gilt daher IWS (CE ′F ′) = IWS (BCE ′) = π. 2

Bem. 3 Nach Satz 4 ist klar, dass Ähnlichkeitsbetrachtungen (zentrische Streckungen,Strahlensätze) zur euklidischen, nicht aber zur absoluten Geometrie gehören. WeitereErgebnisse dieser Art sind etwa die Schnittaussagen von 2.1 Satz 4 oder die Satzgruppedes Pythagoras. Der „Lehrsatz des Pythagoras“ wird am kürzesten dadurch bewiesen, Adass man ein rechtwinkliges Dreieck durch die Höhe auf die Hypotenuse in zwei zumAusgangsdreieck ähnliche Teildreiecke zerlegt. Einen Beweis, der die Winkelsumme imDreieck verwendet, gab der amerikanische Präsident Garfield an (siehe Abb. 5.28 undAbb. 5.29):

1

2(a + b)2 = Trapezfläche = Summe der Dreiecksflächen = ab +

1

2c2 .

5 EIN AXIOMENSYSTEM DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE 97

Abbildung 5.28: Präsident Garfield

a

b a

bcc

Abbildung 5.29: Satz des Pythagoras


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