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Page 1: Der Spiegel 2009 36
Page 2: Der Spiegel 2009 36

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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Mehr als 400000 Menschen erkranken in Deutschland jedes Jahr an Krebs. SPIE-GEL-Reporter Jürgen Leinemann, 72, der 36 Jahre für den SPIEGEL gearbeitet

hat, erhielt diese Diagnose im Frühjahr 2007. Von ihm porträtiert zu werden war fürPolitiker oft eine Ehre, aber immer auch ein Wagnis: Leinemann beschrieb die Psycheder Mächtigen, sein Blick war genauer, sein Urteil häufig schärfer, als es den Porträ-tierten lieb war. Als Leinemann in diesem Frühjahr den Henri-Nannen-Preis für seinLebenswerk erhielt, arbeitete er längst an seiner schwierigsten Geschichte: Präzise undschonungslos wie immer blickt er nun in die Seele eines Krebspatienten, er beschreibtseine Angst, seine Hoffnung und das Bemühen um Normalität und Würde (Seite 32).

Kameras sind ein paarMinuten zugelassen, Ton-

aufnahmen nicht, und schrei-benden Journalisten bleibt derZutritt zu Sitzungen des Bun-deskabinetts nahezu immerverwehrt. SPIEGEL-RedakteurMarkus Feldenkirchen, 33, er-hielt für die Recherchen überdie Bilanz der Großen Koali-tion eine Ausnahmegenehmi-gung. Er war eine ZeitlangZeuge, wie höflich und fried-fertig die Minister ihr Tage-werk miteinander verrichteten. Auf den unteren Ebenen des Regierungsapparats jedochdominieren Streit und Missgunst, wie Feldenkirchen sowie die Redakteure KerstinKullmann, 31, Roland Nelles, 37, Ralf Neukirch, 44, und René Pfister, 35, herausfan-den. Das Reservoir an Gemeinsamkeiten ist aufgebraucht. „Eine Fortsetzung dieserKoalition sollten die Wähler SPD und Union ersparen“, sagt Neukirch (Seite 54).

Solche Fragen werden Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier, 53, sonst nichtgestellt: „Üben Sie Ihre Wahlkampfreden zu Hause vor der Familie?“ Oder: „Was

war das Ekligste, was Sie auf Ministerreisen essen mussten?“ Die Hamburger Schüle-rin Regina, 11, sowie Nils, 10, aus Berlin interviewten als Kinderreporter den Kandi-daten der SPD. Das Gespräch ist Teil der Titelgeschichte von „Dein SPIEGEL“, einemNachrichten-Magazin für neugierige Kinder. Das Heft befasst sich mit der Bundes-tagswahl, es erklärt anschaulich, worum es bei der Wahl geht und was die Parteienwollen. In „Dein SPIEGEL“ finden Kinder Unterhaltsames, aber auch Themen ausPolitik, Natur und Technik sowie Reportagen aus aller Welt. Im Kinderheft schreiben

SPIEGEL-Redakteure über die Piraterie vor Afrika, überden Klimawandel oder über die Stars aus dem Disney-Imperium. Unterstützt werden sie von Kinderreporternwie etwa Viva, 8. Die hatte die Sprecher der Parteien ge-beten, ihr zu erklären, was „ich davon habe, wenn eurePartei die Wahl gewinnt“. Konzipiert wurde „Dein SPIE-GEL“ von den Redakteuren Martin Doerry, 54, AnsbertKneip, 47, und Bettina Stiekel, 42. Wolfgang Busching,53, und Kristian Heuer, 33, entwarfen das Layout. „Kin-der haben Fragen zu vielen Themen – auch jenseits vonGameboy und Computer“, sagt Doerry, „sie verdienenernsthafte Antworten.“ „Dein SPIEGEL“ erscheint amDienstag dieser Woche und kostet 3,40 Euro.

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Feldenkirchen im Kabinettssaal

Hausmitteilung31. August 2009 Betr.: Titel, Große Koalition, „Dein SPIEGEL“

Im Internet: www.spiegel.de

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In diesem Heft

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Die missglückte Opel-Rettung Seite 20

Kanzlerin Angela Merkel hatsich beim Ringen um die Zukunft des RüsselsheimerAutobauers Opel in eineSackgasse manövriert. Dergeplante Verkauf an das öster-reichisch-russische Magna-Konsortium stößt auf Vorbe-halte des Mutterkonzerns Ge-neral Motors. Einen Zuschlagan andere Investoren lehntBerlin ab. In den USA wächstder Unmut über die Deut-schen, und die Bundesregie-rung streitet über die richtigeVerhandlungsstrategie.

Charlotte Roches Spiel mit der Lüge Seite 144

Seit ihrem Skandalbuch „Feuchtge-biete“ gilt sie als Zotenkönigin: „Ichwar mal eine verbale Sau, aber ichbin es nicht mehr“, sagt Charlotte Roche kurz vor ihrem Start als Moderatorin der „3 nach 9“-Talkshow.Im SPIEGEL-Gespräch plaudert sieüber ihre Sympathie für die Lüge undihr Faible für Heidi Klum, ihre Ab-neigung gegen Reinhold Beckmannund die „Bild“-Zeitung.

Bedingt einsatzbereit in Afghanistan Seite 28Interne Berichte der Bundeswehr belegenschwere Ausrüstungsmängel am Hindu-kusch. Die Hälfte der geschützten Fahr-zeuge ist zeitweise nicht einsatzbereit. Esfehlen Piloten für Hubschrauber, Ersatz-teile für Transportflugzeuge. Die USA for-dern noch mehr deutsche Truppen.

Das Geschäft mit dem Doktor Seite 112

Die Kölner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen rund hundert Hochschullehrer, die fürdie Betreuung von Doktoranden Geld von einer dubiosen Promotionsvermittlungannahmen. Der mutmaßliche Verstoß gegen die Dienstpflichten zeigt, wie leichtfertigmittlerweile akademische Grade vergeben werden – zum Beispiel an Mediziner.

Opel-Beschäftigte in Rüsselsheim

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Hubschrauber CH-53 in Afghanistan

Titel

Die Geschichte einer Krankheit – wie derlangjährige SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemannseinen Kampf gegen den Krebs erlebt ................... 32

Deutschland

Panorama: Notizen führten zur Festnahme derEx-Terroristin Becker / Eine Mehrheit derDeutschen lehnt Schweinegrippe-Impfung ab /Staatliche Bankengruppe soll Unternehmen ausder Kreditklemme helfen ....................................... 15Staatshilfen: Der Fall Opel – Chronikeiner missglückten Rettungsaktion ........................ 20Bundestagswahl: Wie sich Merkel undSteinmeier als Retter in der Krise präsentieren ..... 25Afghanistan: Die dürftige Ausrüstungder Bundeswehr .................................................... 28Waffen: Trotz schärferer Gesetze ändert sichin der Praxis wenig ............................................... 50Migranten: Eine junge Türkin kämpft gegendie Verwandtenehen ihrer Landsleute ................... 52Koalition: Ein Rückblick aufvier enttäuschende Jahre ...................................... 54Justiz: Ausländerhass war das entscheidendeMotiv bei der Tötung einer jungen Ägypterinin Dresden ............................................................ 64Zeitgeschichte: Wie die Tschechen um die Erinnerung an die Vertreibung der Sudeten streiten .............................................. 66Karrieren: Der inhaltsfreie Wahlkampf derCDU-Bundestagskandidatin Vera Lengsfeld .......... 69

Gesellschaft

Szene: Ausstellung über Essen und Reden /Kreative Computerprogrammierer ........................ 30Eine Meldung und ihre Geschichte – wie einbritischer Rentner zum Breakdancer wurde .......... 31Ortstermin: Im hessischen Dreieich soll diebeste Schule Deutschlands entstehen .................... 46

Wirtschaft

Trends: Bertelsmann will eine Milliarde Eurosparen / Arcandor-Chef Eick hält Karstadtfür sanierungsfähig / Easyjet-Beschäftigte wollenmehr Rechte .......................................................... 70Finanzpolitik: Weshalb Deutschland eineSteueroase für Konzerne und Superreiche ist ....... 72Geldanlagen: Schlechte Geschäfte mit Fondsaus US-Lebensversicherungen .............................. 75Arbeitsmarkt: Interview mitSozialminister Olaf Scholz über Mittel gegendie wachsende Jugendarbeitslosigkeit ................... 76Finanzen: Die Wirtschaftskrise lässt dieVerschuldung der Länder dramatisch steigen ........ 78Getränkeindustrie: Die Bionade-Chefs machengegen Miteigentümer mobil .................................. 79

Ausland

Panorama: EU-Regeln für Umgang mitFlüchtlingen? / Washington will Peru im Kampfgegen Drogen und Guerilla helfen / Irans Vorgehen gegen kritische Journalisten .......... 81Nahost: Ende des Stillstands? .............................. 84Der Bundesnachrichtendienst versucht,einen Gefangenenaustausch zwischen Israelund der Hamas zu vermitteln ................................ 86Geheimdienste: Ein CIA-Report undseine Folgen .......................................................... 88Der ehemalige Generalinspekteur der CIA,John Helgerson, über seine Untersuchung derumstrittenen Verhörmethoden .............................. 90Libyen: Gaddafis Schmähungen ............................ 92China: Beschwerdebriefe an die KP ..................... 94Venezuela: Wie Hugo Chávez sich sein Landuntertan macht ...................................................... 95Global Village: Ein junger Russe malt in SizilienFresken wie Michelangelo ................................... 100

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GeständnisseRegisseur Lars von Trier überSex, Depression und seinenGewalt-Film „Antichrist“.Außerdem im KulturSPIE-GEL: warum Erwachsene fürFantasy-Filme und Jugend-literatur schwärmen.

Nahost: Der erzwungene Aufbruch Seite 84

US-Präsident Barack Obama setzt Freunde wie Gegner unter Druck: Israel soll denAusbau seiner Siedlungen in den besetzten Gebieten stoppen, Europa erklärt sich bereit, Iran mit schärferen Sanktionen zu bestrafen. Eine Chance für Kompromisse?

Ökofischer in der Nordsee Seite 104

Die Überfischung, die Zerstörung durch Schleppnetze und die Vernichtung von Bei-fang bedrohen die Nordsee. Als erstes deutsches Unternehmen stellt ein Cuxhave-ner Fischereibetrieb auf zertifizierten Fang um: Weitmaschige, bodenfreundlicheNetze sollen helfen, Fischbestand und Meeresgrund zu schonen.

Hohe Profite fürSpielervermittler S. 120Die hohen Profite auf dem Transfer-markt locken auch windige Spielerver-mittler an, viele der Deals spielen sichim Graubereich ab. Jüngstes Beispiel:der Wechsel des brasilianischen Mittel-feldstars Zé Roberto von Bayern Mün-chen zum Hamburger SV – das Ge-schäft lief über einen Club in Uruguay.

Eminenz der Filmbranche Seite 132

Der Autor Wolfgang Kohlhaase hatin der DDR wie in der Bundes-republik erfolgreiche Drehbücherzu Großstadtfilmen geschrieben.In seinem Werk „Whisky mit Wodka“ persifliert Kohlhaase, dieEminenz der Filmbranche, jeneKunst, die er am besten kennt. DasErgebnis: ein Film übers Filmen.

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Radikale israelische Siedler in Hebron Obama

„Whisky mit Wodka“-Dreharbeiten

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Wissenschaft · Technik

Prisma: Biotreibstoffe gefährden die Ozonschicht /Tierheim für Harry-Potter-Eulen ......................... 102Fischerei: Wie weitmaschige Netze den Kabeljauin der Nordsee retten können .............................. 104Geschichte: Ein Münchner Wissenschaftlerhat die Hungersnot vor derFranzösischen Revolution erforscht ..................... 106Computer: Was taugen die neuenMini-Rechner? ..................................................... 110Korruption: Die dubiosen Geschäftemit Doktortiteln ................................................... 112Kunsthandwerk: Die phantastischenMikroskulpturen aus den Wunderkammernder Fürsten .......................................................... 114

Sport

Szene: Rechtsanwalt Peter de Lange überdie 13-jährige Laura Dekker, die nicht allein umdie Welt segeln darf / Twitter-Fans radelnmit Lance Armstrong ........................................... 119Fußball: Die windigen Millionengeschäfteder Spielervermittler ............................................ 120

Kultur

Szene: Die Archäologin Gabriele Rasbach überden Fund eines römischen Bronzepferdekopfs inWaldgirmes / „The Sweetest Hangover“ – das neueAlbum von Miss Platnum ...................................... 124Mythen: Der ewige Traum der Kennedys ........... 126Autoren: Elke Heidenreich undBernd Schroeder schildern die „Alte Liebe“eines sentimentalen Paares .................................. 130Film: Die Karriere des DrehbuchautorsWolfgang Kohlhaase – ein halbes Jahrhundertdeutscher Kinogeschichte .................................... 132Bestseller .......................................................... 135Maler: Die Farborgien desindischen Künstlerstars Ragib Shaw .................... 136Migranten: „Mein Abschied vom Himmel“ –die Lebensgeschichte desjungen Muslim Hamed Abdel-Samad .................. 138Literaturkritik: Peter Hennings Familienroman „Die Ängstlichen“ ............................................... 140

Medien

Trends: Das Schattenreich derNDR-Fernsehspiel-Chefin Doris Heinze .............. 143TV-Stars: SPIEGEL-Gespräch mit der Bestseller-Autorin Charlotte Roche über die Kehrseitedes Erfolgs und ihr Faible für Heidi Klum ........... 144

Briefe ..................................................................... 6Impressum, Leserservice ................................ 148Register ............................................................. 150Personalien ........................................................ 152Hohlspiegel /Rückspiegel ................................ 154Titelbild: Foto Monika Zucht für den SPIEGEL

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Ängstliche, trübe StimmungNr. 35/2009, Titel: Der Krieg der Deutschen – 1939:

Als ein Volk die Welt überfiel

Nach einem Blick auf das SPIEGEL-Titel-bild hatte ich einen gänzlich anderen Arti-kel erwartet. Dort findet sich dann auch zuRecht kaum ein Hinweis auf ein deutschesVolk, das sich 1939 fanatisch-begeistert auf-machte, gemeinsam mit seinem „Führer“den Rest der Welt zu überfallen. Reichs-tags-„Wahlen“ nach 1933 dürften dies-bezüglich jedenfalls kaum als Stimmungs-barometer taugen. Das Volk als solcheswollte im Spätsommer 1939 mit Sicherheitkeinen Krieg, das in Deutschland im Übri-gen ebenso wenig wie das in Großbritan-nien, Frankreich oder in der Sowjetunion.Mit Ihrem Titeltext „Als ein Volk die Weltüberfiel“ suggerieren Sie aber leider dasgenaue Gegenteil. Eine massenhafte naiveKriegsbegeisterung wie 1914 zu entfachen,die übrigens in ganz Europa herrschte, war1939 undenkbar.Hamburg Thomas Jacobsen

Ich war 1939 13 Jahre alt. Wenige Tage vorKriegsbeginn sagte mein Vater: Nun hatder Hitler seinen Krieg. In alten Filmenvon 1914 hatten wir gesehen, wie Deutschein jenem Jahr, vom Krieg berauscht, dieTruppen umjubelten. 1939 nun: allgemeinängstliche, trübe Stimmung, keinerlei Ju-bel, weder von den durchreisenden Solda-ten noch von den wartenden Bürgern. De-pressive Stimmung auch bei uns jungenMenschen. Nicht das Volk hat die Weltüberfallen, es war der „Führer“, der Mann,der in seinem Größenwahn glaubte, Kriegmachen zu dürfen.Einbeck (Nieders.) Joachim Stadler

Ein Überfall setzt die Unkenntnis des An-gegriffenen voraus. Polen wusste sehrwohl, was kommt. Mit Großbritannien undFrankreich im Rücken fühlte man sich abersicher, wenn nicht überlegen. Ich darf ander Stelle zitieren: Marcel Reich-Ranicki,89, lebte damals in Warschau: „Wir habenuns regelrecht nach dem Krieg gesehnt“,sagt der Literaturkritiker über die Tage vor

Kriegsausbruch. „Denn wir haben ge-glaubt, dass die Deutschen den Kriegschnell verlieren würden.“Berlin Gunther Egermann

Appeasement hat einen schlechten Ruf,aber allerspätestens seit dem Frühjahr1939, eher seit dem Herbst 1938, nachMünchen, hat es keine Appeasement-Poli-tik der Briten und Franzosen mehr gege-ben. Chamberlain wird oft als Schwäch-

ling und Zauderer gezeichnet, der er nichtwar. Im Gegensatz zu Churchill war er einguter Innenpolitiker, ein sehr guter Schatz-kanzler und ein verantwortungsvollerMann. Nur hatte Churchill in der Beurtei-lung einer Person, derjenigen Hitlers, ebenrecht und Chamberlain lange Zeit nicht.Hameln (Nieders.) Dr. Ralf Magagnoli

SPIEGEL ONLINE Forum

Besten Dank für den ausgezeichneten Bei-trag über den Kriegsbeginn. Der SPIEGEL

trägt mit seinen regelmäßig erscheinendenArtikeln über die Zeit von 1933 bis 1945wesentlich zur Aufarbeitung der deutschenKriegsschuld-Geschichte bei und ist inso-fern ein Vorbild für andere deutsche undausländische (Print-)Medien, deren Be-richterstattung über die Mitschuld ihrerLänder an diesem grauenhaften Welten-brand leider noch in den Kinderschuhensteckt.Gelterkinden (Schweiz) Albert Augustin

Krieg der Deutschen oder doch Krieg derTechnokraten? Wesentliche Keime der bei-spiellosen Aggression und Entmenschli-chung können wir auch unabhängig vonStaatsgrenzen finden, in einer bereits da-mals globalisierten, kindlich wertefreienTechnikelite. Exzellente Beispiele sindHenry Ford und Wernher von Braun. Fordbeteiligte sich mit seinen Lastwagen ingroßem Umfang an der Aufrüstung derWehrmacht, nahm ebenso wie LuftpionierCharles Lindbergh noch 1938 das Groß-kreuz des Adlerordens entgegen. Burscheid (Nrdrh.-Westf.)

Dr. Karl Ulrich Voss

Der SPIEGEL befragt Herrn von Weiz-säcker zum Tod seines Bruders Heinrich:„Hat dieser Verlust in Ihrer Familie oderbei Ihnen etwas im Blick auf das Regimeund seinen Krieg verändert?“ Die Antwortdes Bundespräsidenten a. D. ist auswei-chend: „Kein Mensch, der in den Kriegzieht, kann sich vorstellen, was er mit sichbringt.“ Der Krieg habe jedoch sein „eige-nes Erlebnisbewusstsein tief verändert“.Sollte dieser Mangel an Vorstellungskraftkonstitutiv für das menschliche Wesensein, dann sind Kriege unvermeidbar. Dasist beunruhigend. Ach, wie verändert mandas „Erlebnisbewusstsein“ der Menschenin Bezug auf Krieg, ohne dass Krieg statt-findet?Zürich Robert Sinner

Bei allem Respekt vor Herkunft, Werde-gang und Alter des Bundespräsidenten a. D. Richard von Weizsäcker, aber dasssein Vater Ernst sich als Staatssekretär imDienste Hitlers auch einfach hätte verwei-gern können – durch Rücktritt –, bleibtwohl auf immer die moralische Perspekti-ve der „kleinen“ Leute.Bonn Siegfried Dudziak

Briefe

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SPIEGEL-Titel 35/2009

Diskutieren Sie auf SPIEGEL ONLINE• Titel Werden Krebskranke in Deutschland ausreichend

versorgt? www.spiegel.de/forum/Krebs

• Opel Hat die Regierung sich zu früh auf den ZuliefererMagna als Retter festgelegt? www.spiegel.de/forum/Opel

• Doktorkauf Verfällt der Wert akademischer Titel an deutschen Hochschulen? www.spiegel.de/forum/Titelschwindel

Vormarsch der Wehrmacht bei Krakau 1939

Krieg der Technokraten?

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„Der SPIEGEL hat den Stier wieder einmal bei denHörnern gepackt. Ohne die führerbesoffene Mehrheitder damaligen Deutschen, sage ich als Augen- und Ohrenzeuge, wäre Hitler nichts als ein Semikolon amRande der austro-bajuwarischen Grenzgeschichte geblieben! Natürlich ist die Kollektivschuld begrenztauf beteiligte Generationen, mit fließenden Alters-grenzen und nicht übertragbar auf die Nachfahren.Aber sie ist die allerfurchtbarste und allertraurigsteWahrheit in der Geschichte der Deutschen.“Der Publizist Dr. Ralph Giordano aus Köln zum Titel „Der Krieg der Deutschen – 1939: Als ein Volk die Welt überfiel“

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Briefe

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Die Würde des GerichtsNr. 34/2009, Strafjustiz: Das Landgericht Bielefeld

verhandelt über die grausame Tötung einer jungen Türkin durch ihren Ehemann

Es ist keine leichte Aufgabe, vor der dasLandgericht Bielefeld derzeit steht: Derbrutale Mord an einer jungen Türkin legttradierte Wertvorstellungen zutage, wie siein erzkonservativen Milieus der Türkeiheute noch vorherrschen. Arrangierte Ehe-schließungen sind dort gängige Praxis. Beider Vernehmung der Zeugen müssen sichdie Richter in einem Dickicht vertrackterFamilienbeziehungen zurechtfinden. Dassder Ton bisweilen scharf ist, kann nichtüberraschen. Die primäre Aufgabe einesGerichts besteht darin, Recht zu sprechenund Straftäter zu verurteilen. Völlig welt-fremd die Forderung, ein Gericht müssedie Beteiligten von ihrer Tradition abbrin-gen! Zur Erinnerung: Hier geht es umMord, nicht um pädagogische Wertever-mittlung.Stuttgart Adrian Lobe

Ein furchtbares Verbrechen wurde inDeutschland ausgeführt – die Tote kannsich nicht mehr wehren. Richterin JuttaAlbert hat recht, wenn sie sich jeglicheZwischenrufe und ähnliche Störungendeutlich verbittet, um die Würde des Ge-richts in Deutschland zu bewahren.Bamberg (Bayern) Johanna Bauer

Angesichts einer derart bestialischen Tatsich darüber zu mokieren, dass die Rich-terin nicht immer den rechten Ton findet,ist unergründlich. Auf die Frage, ob dasGericht offen sei für eine Diskussion derSchuldfähigkeit des Angeklagten, gibt esnur eine Antwort: wenn nicht der, werdann? Wer einer Frau mit dem Messer indie Augen sticht, hat keinen Anspruch aufGnade.Rüsselsheim (Hessen) Heinrich Schreiber

Der Gerichtssaal dient der Rechtspre-chung. Insbesondere für ein solch schweresDelikt ist ein geordnetes Verfahren die Vor-aussetzung zur Rechtsfindung. Hätte dieVorsitzende keine klaren Grenzen aufge-zeigt, wäre dieses Ziel gefährdet. Es macht

Nebelkerzen des UnverbindlichenNr. 34/2009, FDP: SPIEGEL-Gespräch

mit Parteichef Guido Westerwelle über seine Pläne füreine schwarz-gelbe Regierung

Nachdem als letzte nun auch die Wester-welle-FDP Positionen der SPD übernimmt,ist endgültig klar: Die Sozialdemokratie istdie erfolgreichste Idee seit Gründung derkatholischen Kirche. Schade wäre nur,wenn bei diesem Gerangel auf kleinstemRaum ausgerechnet die Erfinderin, die„gute alte Tante“ SPD, unter die Räderkäme.Lübeck Bernd Saxe (SPD)

Bürgermeister

Gut, dass der Staat stark genug war, bei derWirtschaftskrise staatliche Lösungen durch-zusetzen. Es ist mir ein Rätsel, wie die Par-tei der Marktradikalen zu so guten Umfra-geergebnissen kommt, während eine SPD,deren Chef Müntefering vor Jahren vorden Heuschrecken gewarnt hat, abgestraftwird. Westerwelle sagt im SPIEGEL-Inter-view, wenn einer Kuh Flügel wüchsen,könne sie fliegen und sei ein Vogel. Esbleibt zu wünschen, dass ihm diese Flügelwachsen. Hamburg Achim Gutzeit

Kompliment für die aufklärerische Frage-technik der SPIEGEL-Interviewer. HerrWesterwelle hält also eine Koalition mitder SPD für „ausgeschlossen“, möchte sieaber nicht ausschließen. Solche im Juris-

tendeutsch formulierten Nebelkerzen desUnverbindlichen sind eine Beleidigung fürjeden Leser und Wähler.Bad Eilsen (Nieders.) Sebastian Blum

FDP-Vorsitzender Westerwelle

Positionen der SPD

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Banane statt AdlerNr. 34/2009, Bundestagswahl: Wie sich im Wahlkampf

Wirklichkeit und Fiktion mischen

Plakative Lächerlichkeit und pseudosoli-darisierende Aktionen haben einen Vor-teil: Es wird nichts versprochen, was nicht

gehalten werden kann. Konzentrieren wiruns auf den Inhalt: Atomausstieg in 20 Jah-ren – oder irgendwann. Bildung schütztvor Armut – sobald Arbeit vorhanden seinsollte. Kinder sind unsere Zukunft – wennsie nicht so viel kosten. Wir sichernDeutschlands Frieden auch am Hindu-kusch – solange keiner schießt. Wer lacht?Hamburg Elke Grünberg

Mein Gott, jetzt werden schon „big tits“zur Basis eines noch steigerungsfähigenPolitikvermögens. Und da weigert sich derBundespräsident immer noch, den Adler inunserem Wappen durch die Banane zu er-setzen. Das wäre – zumindest symbolisch –eine Überwindung der Fiktion durch dieRealität.Berlin Jan Drewes

Wenn der, der sagt, was er denkt, derDummkopf ist, kann man doch bessergleich die richtigen Knallchargen wählen.Ich werde meinen Edding in der Wahlka-bine zücken, Horst Schlämmer auf denZettel schreiben und ein Kreuz davor ma-chen. Da weiße Bescheid!Meppen (Nieders.) Heinrich Schmeing

nämlich Sinn, dass ein Zeuge nicht denVerfahrensverlauf vor seiner Aussage er-fährt, auch wenn er Angehöriger ist. Dieskönnte seine Aussage beeinflussen. Eben-so kann nicht angehen, dass ein Vaterdurch Ausübung seiner patriarchischenGewalt eine Zeugenaussage verhindert.Heidelberg Benjamin Baumann

Die Frau Vorsitzende Albert sollte sich andie von Sokrates (470 bis 399 v. Chr.) be-nannten Eigenschaften eines Richters er-innern: höflich zuhören; weise antworten;vernünftig abwägen; unparteiisch ent-scheiden.Arneburg (Sachs.-Anh.) Dr. Reinhard Luther

Angeklagter Önder B., Anwalt

Erzkonservatives Milieu

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Hape Kerkeling als „Kandidat“ Schlämmer

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Gefühlte GerechtigkeitNr. 34/2009, Afghanistan: Wie die Taliban ihre Macht im

Raum Kunduz ausbauen

Ist die Clan-Wirtschaft in diesen Kultur-kreisen eine überlebensfähige und sinn-volle Gesellschaftsform? Wie will man Mi-litär und Polizei aufbauen, wenn alle kor-rupt sind? Gibt es irgendeinen islamischenStaat, der ohne Korruption erfolgreich ist?Der Westen als Geldgeber ist hier nichtkonsequent. Um bestimmte Ziele zu errei-

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begehen, ohne irgendwelche Zweifel zuhaben. Die Ursache liegt offenbar in denWerken zum Beispiel eines Schopenhaueroder Nietzsche, die über das Genie undden Übermenschen philosophiert haben.Einem Genie ist demnach alles erlaubt, essteht über der Moral. Wenn einem einge-bildeten Genie dann auch noch derart ge-huldigt wird, wie es in Deutschland derFall war, dann fühlt es sich bestätigt.Geesthacht (Schl.-Holst.)

Dr. Christian Schnier

Manchmal fällt es einem wie Schuppenvon den Augen, und man fragt, wieso nichtschon längst jemand darauf gekommen ist:Dass sich Hitler als Genie gefühlt hat, er-klärt beileibe nicht alles, aber doch man-ches. Mit irgendeiner Art von Verharmlo-sung hat das nun wirklich nichts zu tun. Esist immer wieder erschreckend, wie be-

denkenlos viele Intellektuelle bis zum Un-tergang des „Dritten Reichs“ bereit waren,über Leichen zu gehen, wenn es um dieUmsetzung ihrer Ideen ging. Die Men-schenrechte, deren Gültigkeit heute Kon-sens ist, bedeuteten ihnen gar nichts.Laufach (Bayern) Wolfgang Roderus

Frau Schwarz riskiert hier einen Tunnel-blick. Wenn sich Hitler für Kunst interes-sierte, dann im Sinne der römischen. Eshieß „Salve Caesar“. Caesar war „Kaiserund Gott“, Hitler war „Kanzler und Füh-rer“. Er hielt sich sicherlich nicht für einGenie der Bildenden Kunst, wohl aber füreinen berufenen Atheisten, dem es hättegelingen können, an die Stelle des Ein-Gott-Glaubens den Sozialdarwinismus zusetzen. Die Rassenlehre im darwinistischenSinne sollte die Religion vollständig erset-zen. Deshalb ließ sich Hitler grüßen, wiefür römische Caesaren üblich. Er ließ da-gegen alle Kunst verschwinden, die die-sem Bild nicht dienlich war.Uetze (Nieders.) Ralf Bierod

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An-schrift und Telefonnummer – gekürzt und auch elektro-nisch zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected]

Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einenBeikleber von FAM, Hamburg. In einer Teilauflage dieserSPIEGEL-Ausgabe befinden sich Beilagen von Gruner +Jahr/FTD, Hamburg, die tageszeitung, Berlin, SPIEGEL-Verlag/Abo, Hamburg, sowie die Verlegerbeilage SPIE-GEL-Verlag/KulturSPIEGEL, Hamburg.

Briefe

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Kunstausstellungsbesucher Hitler 1940

Ein Genie steht über der Moral

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zu Heft Nr. 35/2009

Bei dem Titelbild handelt es sich umeine nachträglich kolorierte Aufnah-me. Beim Verweis auf den Urheberdes Fotos im Inhaltsverzeichnis ist darauf nicht hingewiesen worden.

Seite 27: Eine Koalition, in der einekleine Partei den Regierungschef stellt,wäre kein bundesdeutsches Novum.So war von 1945 bis 1953 der schwäbi-sche FDP-Politiker Reinhold MaierMinisterpräsident in wechselnden Koalitionen.Seite 61: Die Bezeichnung FranzHalders als „Befehlshaber des Hee-res“ ist unzutreffend. Der General-stabschef des Heeres war zwar 1939der starke Mann in der Führung desgrößten Wehrmachtteils, der Ober-befehl über das Heer lag jedoch bei Walther von Brauchitsch.

Auf Seite 110 ist der französische Phi-losoph André Gorz gemeint, nichtAndré Glück.

„Salve Caesar“Nr. 34/2009, Zeitgeschichte: SPIEGEL-Gespräch

mit der Kunsthistorikerin Birgit Schwarz über Adolf Hitler, die Kunst und das Böse

Ich habe bisher nie verstanden, wie einMensch so selbstbewusst sein kann, solchmonströse Verbrechen und auch offen-sichtliche Fehler während des Krieges zu

chen, beteiligt er sich an diesem Systemund trägt so zu dessen Fortleben bei. DieEntwicklungsgelder sollten direkt einge-setzt werden, vor Ort und am Mann. Eskann doch nicht sein, dass Minister sichvon dem Geld Paläste bauen, ihre Clans zuMillionären machen, und 20 Kilometerweiter weiß eine Witwe nicht, wovon sieihre sieben Kinder ernähren soll.Frankfurt am Main Renate Schuhmacher

Man liest in der letzten Zeit selten Berich-te über Afghanistan, die von solcher Sach-kenntnis und zugleich auch tiefem Ver-ständnis der Gesamtzusammenhänge ge-prägt sind. Ich hätte mir nur gewünscht,dass ergänzend aufgezeigt wird, warummanche Afghanen freiwillig zu den Talibanüberlaufen: Weil diese ihnen das geben,wozu weder die internationale Gemein-schaft noch die afghanische Zentralregie-rung in der Lage sind – die Befriedigungihrer einfachsten Bedürfnisse wie Arbeit,eine Grundversorgung mit dem Notwen-digsten und das Gefühl, Gerechtigkeit zuerfahren, wenn sie denn gesucht wird.Landgraaf (Niederlande) Andreas Joedecke

Korrekturen

Page 8: Der Spiegel 2009 36

K O N J U N K T U R

Milliarden gegenKreditklemme

Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) will zehn

Milliarden Euro aus dem „Wirtschafts-fonds Deutschland“ umwidmen, um ein staatliches Programm für Firmen inKreditnot zu finanzieren. Mit den Mit-teln aus dem Rettungsfonds für ange-schlagene Unternehmen will Guttenbergeiner drohenden Kreditklemme vorbeu-gen, in der gesunde Firmen kein Geldmehr von Banken bekommen. Eine sol-che Entwicklung „könnte zu einer er-neuten Verschärfung der konjunkturel-len Situation führen“, heißt es in einerVorlage des Wirtschaftsministeriums.Nach den Vorstellungen des Ministers

soll die staatliche KfW-Bankengruppedas Programm abwickeln. Dabei ge-währt die Förderbank herkömmlichenKreditinstituten Globaldarlehen, diedann günstig und unbürokratisch anUnternehmen weitergereicht werden.So sei es möglich, solche Kredite „ohneeinzelfallbezogene Bonitätsprüfungenzu vereinbaren“, empfiehlt das Papier.Die KfW soll das Ausfallrisiko zu 90Prozent übernehmen, dieHausbank zu 10 Prozent.Eine besondere Entlas-tung plant Guttenberg fürdie Exportwirtschaft. Sokönnte die KfW Hermes-besicherte Ausfuhr-kredite aufkaufen, „umdie Refinanzierungs-möglichkeit der Bankenzu verbessern“. Die Geschäftsbanken sollen

verpflichtet werden, in Höhe der Kredit-summe neue Exportkredite zu vergeben.Eine direkte staatliche Kreditvergabelehnt das Papier ab. Derlei wäre „einschwerwiegender Eingriff in das Kern-geschäft der Banken und kontraproduk-tiv“. Guttenberg: „Es ist unsere Verant-wortung, rechtzeitig die Instrumente zurSicherstellung der Kreditversorgung be-reitzustellen, damit kleine und mittlere

Unternehmen überle-benswichtige Investitio-nen nicht aufgeben müs-sen.“ FinanzministerPeer Steinbrück (SPD)denkt in die gleicheRichtung. Der Lenkungs-ausschuss des „Wirt-schaftsfonds Deutsch-land“ hat das Thema an diesem Dienstag aufder Tagesordnung.

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Panorama Deutschland

B U B A C K - M O R D

Belastende NotizenDie Verhaftung der früheren RAF-Terroristin Verena Becker,

57, geht auf ein handschriftliches Dokument zurück, dasErmittler bei einer Durchsuchung ihrer Wohnung in einemVillenbezirk im Berliner Südwesten gefunden hatten. In deneher fragmentarischen Notizen führt Becker, die in der Haupt-stadt als Heilpraktikerin firmiert, eine Art Gespräch mit sichselbst: Unter anderem stellt sie die Frage, ob sie für den von ei-nem RAF-Kommando 1977 erschossenen damaligen General-bundesanwalt Siegfried Buback beten und wie sie sich mit demThema Schuld auseinandersetzen solle. Das Papier trägt dasDatum des 7. April dieses Jahres – also des 32. Jahrestags desAnschlags. Die Ermittler fanden es auf Beckers Schreibtisch.Für die Bundesanwaltschaft waren die Notizen zusammen mit

den Untersuchungen der zehn Bekennerschreiben, auf derenUmschlägen Kriminaltechniker Beckers DNA nachwiesen, nunAnlass für den Haftbefehl. Die Bundesanwälte werfen ihr vor,sie habe „wesentliche Beiträge zur Vorbereitung, Durchführungund im Nachtatgeschehen“ des Mords an Buback und zweierBegleiter geleistet. Es ergebe sich aber nicht der Verdacht, dasssie die tödlichen Schüsse abgegeben habe. Die sichergestelltenComputer sind noch nicht ausgewertet. Sie waren ein Grund für die Durchsuchungsaktion gewesen. In einem überwachtenTelefongespräch hatte sich Becker nach Verschlüsselungstech-nik erkundigt. Dieser Verschlüsselung wollten die Behörden zu-vorkommen. Becker war 1977 zusammen mit Günter Sonnen-berg bei Singen verhaftet worden. Im Gepäck fand sich dieTatwaffe. Dennoch wurde das Verfahren gegen sie in SachenBuback eingestellt. Das Oberlandesgericht Stuttgart verurteil-te Becker 1977 zu lebenslanger Freiheitsstrafe, sie hatte vor ih-rer Festnahme auf einen wehrlosen Polizisten geschossen. DerBundespräsident begnadigte sie 1989.

RAF-Anschlag auf Buback in Karlsruhe 1977

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Page 9: Der Spiegel 2009 36

U N I O N

Abfindungsklausel stattKündigungsschutz?

In der Union gibt es Streit darüber,welche Reformen am Arbeitsmarkt

nach der Bundestagswahl notwendigsind. Während der nordrhein-westfäli-sche Ministerpräsident Jürgen Rüttgersjede Änderung beim Kündigungsschutzablehnt, plädiert der Vorsitzende desCDU-Wirtschaftsrats, Kurt Lauk, füreine Optionslösung: Arbeitnehmer soll-ten mit den Arbeitgebern bei der Ein-stellung eine Abfindung für den Fallfestlegen, dass ihnen gekündigt wird.Diese Vereinbarung, so Lauk, solle diegesetzlichen Schutzregeln ersetzen. Un-terstützung erhält Lauk von Rainer Brü-derle, dem wirtschaftspolitischen Spre-cher der FDP: „Wenn die Zahl der Job-suchenden weiter so stark steigt, wirdauch die Union über eine Reduzierungvon Einstellungsbarrieren bei kleinenBetrieben neu nachdenken müssen.“

W A H L K A M P F

Anti-FDP-Kampagne

Trotz zahlreicher Aufrufe zur Ge-schlossenheit des bürgerlichen La-

gers heizt die CSU den Streit mit derFDP weiter an. Mitte September wer-den die Christsozialen unter anderemeine Plakatkampagne starten, mit derFDP-Wähler ins Lager der Union gezo-gen werden sollen. So will die CSU dieBürger aufrufen, ihr auch die Zweit-stimme zu geben. Bei etlichen früherenBundestagswahlen war es die FDP, diemit einer Zweitstimmenkampagne ver-suchte, im Wählerreservoir der Unionzu fischen. CSU-Chef Horst Seehofer,so heißt es in der Parteizentrale, hat alsWahlkampfziel ausgegeben, die FDPbei der Wahl am 27. September mög-lichst klein zu halten – auch weil erverhindern will, dass die Liberalen amEnde mehr Minister in einer schwarz-gelben Koalition stellen als die CSU.

d e r s p i e g e l 3 6 / 2 0 0 916

Panorama

U M W E L T P O L I T I K

Regierungsberater fordernWeltklimabank

Alle Industriestaaten müssen ihre Kohlendioxid-Emissionen viel radikaler re-duzieren als bisher angenommen, wenn die Erderwärmung auf durchschnitt-

lich zwei Grad Celsius begrenzt bleiben soll. Zu diesem Ergebnis kommen die wis-senschaftlichen Berater der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen.Deutschland müsse demnach seine CO2-Emissionen bis 2020 gegenüber heute hal-bieren und schon bis 2030 komplett einstellen, heißt es in einem Sondergutachtendes Umweltrats WBGU zum Klimagipfel von Kopenhagen im Dezember. „Das Er-gebnis ist so überraschend wie bestürzend“, sagt der Ratsvorsitzende Hans JoachimSchellnhuber. Bisher plant die Bundesregierung deutlich geringere Reduktionen.Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass von heute bis 2050 der globale Ge-samtausstoß von 750 Milliarden Tonnen CO2 nicht überschritten werden darf, umdas Zwei-Grad-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von 67 Prozent einzuhalten. DieZwei-Grad-Begrenzung hatten die G-8-Staaten im Juli auf ihrem Gipfel in L’Aqui-la beschlossen. Die im Rahmen dieses Klimaziels verfügbare CO2-Menge haben dieRegierungsberater bei ihren Berechnungen gleichmäßig auf alle Menschen verteilt.Dabei berufen sie sich auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die 2007 mit demindischen Premierminister Manmohan Singh die Forderung aufgestellt hatte, jederMensch habe beim CO2-Ausstoß aus fossilen Energiequellen ein Recht auf densel-ben Ressourcenverbrauch. Je nach Verbrauch von Öl, Kohle und Erdgas ergebensich unterschiedliche Zeit-Budgets: Das arme Bangladesch könnte seinen heutigenCO2-Ausstoß noch für 384 Jahre beibehalten, Indien für 88 Jahre, die Industrie-staaten aber nur für wenige Jahre. Um doch höhere CO2-Mengen freisetzen zu dür-fen, so die Experten, könnten die Industriestaaten künftig bei den ärmsten LändernEmissionsrechte erwerben. Dazu müsse eine „Weltklimabank“ eingerichtet werden.Der globale Emissionshandel werde zu durchschnittlichen Geldflüssen von 30 bis90 Milliarden Euro pro Jahr führen und eröffne den ärmsten Ländern die Chance,eine umweltfreundliche wirtschaftliche Entwicklung zu finanzieren.

Braunkohlekraftwerk in Grevenbroich-Neurath

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Page 10: Der Spiegel 2009 36

SPIEGEL-UMFRAGE

Grippe-Impfung

TNS Forschung vom 26. und 27. August; 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“

„Planen Sie, sich im Herbst bzw. Winter

gegen die Schweinegrippe impfen

zu lassen?“

„ja“ und „wahr-scheinlich“: 38 % 28 30 38 50

„nein“ und

„eher nicht“: 58 % 69 66 55 47

Befragte im Alter von …gesamt

18 – 29 30 – 44 45 – 5960 undmehr

A T O M K R A F T

IAEO-Überprüfungabgelehnt

Nach monatelangem Tauziehen zwi-schen Bund und Ländern wird es

wohl keine umfassende Überprüfungder deutschen Atomaufsicht durch dieInternationale Atomenergieorganisationin Wien (IAEO) geben. Sowohl dasCSU-geführte Bayern als auch dasCDU-geführte Niedersachsen habenBundesumweltminister Sigmar Gabriel

(SPD) mitgeteilt, dass sie ein gemeinsa-mes Vorgehen mit dem Bund in diesenFragen weiterhin ablehnen. Ein Schrei-ben des Gabriel-Ministeriums nennt dasVerhalten der beiden Länder „inakzep-tabel“ und „nicht nachvollziehbar“.Der Überprüfungsprozess sei von derIAEO „dringend“ empfohlen worden.Die Länder versäumten es, ihre Metho-den, Bewertungsmaßstäbe und Organi-sation bei der Atomaufsicht öffentlichzu erläutern. Nach einer Reihe vonZwischenfällen in deutschen Kernkraft-werken hatte Atom-Skeptiker Gabrielimmer wieder darauf gedrungen, diezwischen Bund und Ländern aufgeteilteKraftwerkskontrolle einer internatio-nalen Revision zu unterziehen – und siegegebenenfalls ganz auf den Bund zuübertragen. Im vergangenen Jahr gab esbereits eine IAEO-Mission, an der sichaber nur der Bund und Baden-Würt-temberg beteiligt hatten. Ergebnis warunter anderem: mangelhafte Kommuni-kation, veraltete Regeln, zu wenig Per-sonal. Die Atom-Befürworter in Nieder-sachsen und Bayern werfen Gabriel vor,das Thema für den Wahlkampf zu miss-brauchen. Ihre Atomaufsicht entsprecheinternationalen Standards und werdeauch von ausländischen Fachleuten be-wertet, argumentieren sie.

d e r s p i e g e l 3 6 / 2 0 0 9 17

S C H W E I N E G R I P P E

Wenig Lust auf die Spritze

Die Mehrheit der Deutschen will sichlaut einer repräsentativen SPIE-

GEL-Umfrage nicht gegen die Schwei-negrippe impfen lassen. Nur 13 Prozentgeben an, sich gegen den Influenza-Er-reger H1N1 immunisieren zu lassen, 25Prozent wollen die Spritze „wahrschein-lich“. Besonders impfmüde sind jungeMenschen: Nur 28 Prozent aller 18- bis29-Jährigen stehen der Impfung positivgegenüber. Dabei stammen aus dieserAltersgruppe viele der bislang 15600 of-fiziell registrierten Fälle in Deutschland.„In der Bevölkerung herrscht die Vor-stellung vor, die Grippe verlaufe mild“,sagt der Vizepräsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), Reinhard Burger,warnt jedoch, dies sei nur „eine schein-bare Friedenszeit“. Deshalb sehen dieBehörden Mobilisierungsbedarf: RKIund Bundesgesundheitsministerium pla-nen für die nächsten Wochen eine In-formationskampagne, um vor allem jun-ge Menschen von der Sinnhaftigkeit der

Schweinegrippe-Impfung zu überzeu-gen. Die Gesundheitsbehörden habenImpfdosen für 25 Millionen Menschengeordert, Nachbestellungen für weitere25 Millionen Bürger könnten schon An-fang September beschlossen werden.Ob diese von den Bürgern nachgefragtwerden, scheint unsicher. Die über-schüssigen Impfdosen, so ImmunologeBurger, „könnten in der Wintersaison2010/2011 zum Einsatz kommen“.Schließlich werde das Virus H1N1 dieMenschheit auch künftig noch befallen.

Deutschland

Atomkraftwerk in BrunsbüttelSEBAS

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Page 11: Der Spiegel 2009 36

K U R Z A R B E I T

Missbrauch begünstigt?

Der mögliche Missbrauch beim Bezugvon Kurzarbeitergeld hat massive

Vorwürfe gegen die Bundesregierung zurFolge. Brigitte Pothmer, arbeitsmarkt-politische Sprecherin der Grünen imBundestag, moniert fehlende Kontrollenbei den Unternehmen. Die Regierungdulde auf „Teufel komm raus“ keinenArgwohn gegenüber ihrem „Wunder-elixier Kurzarbeit“, sagt Pothmer. BeimMissbrauch der Sozialhilfe habe der Fall von „Florida-Rolf“ ausgereicht, umeine bundesweite Debatte auszulösen.„Union und SPD stellen aber trotzstaatsanwaltschaftlicher Ermittlungenbeim Kurzarbeitergeld auf Durchzug.“Zusammen mit „statistischen Tricks“, soPothmer, sollten so die Arbeitslosenzah-

len vor den Wahlen möglichst nicht indie Höhe schießen. Die Bundesagenturfür Arbeit verdächtigt derzeit 101 Betrie-be, Kurzarbeitergeld zu kassieren, ob-wohl die Mitarbeiter weiter voll arbei-ten. Manche Unternehmen lassen sichoffenbar auch Urlaubs- und Krankheits-tage ihrer Angestellten als Kurzarbeitverrechnen. Die Agentur hat deshalbvorige Woche 20 Mitarbeiter in Prüf-gruppen eingeteilt – zur Kontrolle vonderzeit 36000 deutschen Betrieben.

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Deutschland Panorama

K E R N E N E R G I E

„Politische Heuchelei“Walter Hohlefelder, 63,

Präsident des Deut-

schen Atomforums,

des Spitzenverbands

der Nuklear-Industrie,

über das Endlager

Gorleben

SPIEGEL: Nach neueren Aktenfundenscheint die Eignung des SalzstocksGorleben für ein atomares Endlagervon Anbeginn unter politischem Druck manipuliert worden zu sein …Hohlefelder: … das ist Unsinn. Es war im-merhin die rot-grüne Bundesregierung,die 2001 festgestellt hat, dass die gewon-nenen geologischen Befunde der Eignungdes Salzstocks Gorleben für die Auf-nahme hochradioaktiver Abfälle nichtentgegenstehen. Das ist entscheidend.SPIEGEL: Bundesumweltminister SigmarGabriel erklärt jetzt, dass Gorleben totsei und die Erkundungsarbeiten abge-brochen werden könnten.Hohlefelder: Politikerklamauk im Wahl-kampf. Ich darf den Herrn Minister ein-mal an die Kernenergie-Verständigungder Bundesregierung von 2001 erinnern.Darin bekennt sich Berlin unbeschadetvom Kernenergieausstiegsbeschlussdazu, Anlagen zur Endlagerung radio-aktiver Stoffe einzurichten. Und zwarrechtzeitig. Dass diejenigen, die Gorle-ben mit allen Mitteln verzögert haben,jetzt mit dem Zeitverzug argumentie-ren, ist politische Heuchelei. Wir for-dern, dass der Bund Gorleben endlichzu Ende erkundet, dann müssen wirnicht mehr rumspekulieren. Sollte sichGorleben wider Erwarten als nicht ge-eignet herausstellen, können Untersu-chungen über geeignete Standorte ausden neunziger Jahren für die weitereEndlagersuche verwendet werden. SPIEGEL: Ton oder Granit statt Salz,auch in Süddeutschland?Hohlefelder: Mit dem Standort hat dasnichts zu tun. Jede dieser Gesteins-formationen ist grundsätzlich geeignet,wie das Bundesamt für Strahlenschutzfestgestellt hat. SPIEGEL: Im noch laufenden Koalitions-vertrag beabsichtigte die rot-schwarzeBundesregierung, die Frage Gorleben indieser Legislaturperiode zu entscheiden.Warum ist daraus nichts geworden?Hohlefelder: Es ist erschütternd, wie indieser national wichtigen Frage der nu-klearen Entsorgung – die technisch lös-bar ist – den zukünftigen Generationeneine Erblast hinterlassen wird. Wir kön-nen hier auch an der Zuverlässigkeitder zuständigen Akteure zweifeln.

PA R L A M E N T

Service im PlenarsaalBundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) will sich im Falle seiner Wiederwahl

dafür einsetzen, dass Abgeordnete und Zuschauer künftig auf großen Anzeige-tafeln über das Geschehen im Plenarsaal informiert werden. Bisher müssen neu hin-zugekommene Besucher rätseln, wer gerade am Rednerpult steht. Abgeordneten gehtes nicht besser, sie klatschen schon mal beim politischen Konkurrenten oder hebendie falsche Hand in einer Abstimmung. Lammert verfolgt das Monitor-Projekt seitdrei Jahren. Erst erschienen die damals veranschlagten Kosten von 1,5 Millionen Euroals zu hoch, dann blieb die Idee in zwei Kommissionen des Ältestenrats hängen. Trotz eines Protests ließ Lammert vorige Woche zwei Anzeigetafeln probeweise für die Sondersitzung des Parlaments installieren, die pro Stück 60000 Euro kostensollen. Der zähe Widerstand gründet sich auf die Befürchtung vieler Abgeordneten,die Anzeigetafeln seien der erste Schritt zu elektronischen Abstimmungen.

Anzeigetafel im Bundestag beim Testlauf vorige Woche

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Page 12: Der Spiegel 2009 36

Angela Merkel regiert gern per Tele-fon. Will sie sich mit ihren Kollegenaus anderen Ländern abstimmen,

nutzt die Kanzlerin meist den abhörsiche-ren Fernsprecher auf ihrem Schreibtisch.Weisungen an ihre Untergebenen erteiltsie mit Vorliebe per SMS. Mitunter de-monstriert sie ihre Macht, indem sie beiheiklen Angelegenheiten nicht selbst zumHörer greift. Dann lässt sie telefonieren.

Am Nachmittag des vorvergangenenFreitags war es Kanzleramtschef Thomasde Maizière (CDU), der auf Merkels Ge-heiß hin Wirtschaftsminister Karl-Theo-dor zu Guttenberg (CSU) kontaktierte. Ermüsse unbedingt US-Finanzminister TimGeithner anrufen, noch bevor der Verwal-tungsrat von General Motors (GM) überdie Zukunft von Opel entscheide, richtetede Maizière aus.

Wichtig seien zwei Punkte: Favorit derRegierung beim geplanten Verkauf vonOpel sei das Konsortium um den öster-reichisch-kanadischen Zulieferer Magnaund die russische Sberbank. Punkt zwei:

GM könne nur dann mit deutscher Fi-nanzhilfe rechnen, wenn Punkt eins erfülltsei.

Guttenberg reagierte kühl. Der Ministerhielt gar nichts davon, Washington durcheine erneute Intervention noch mehr ge-gen die deutschen Pläne aufzubringen. Erhabe um 14 Uhr keine Zeit, sprach er demKanzleramtschef auf dessen Mailbox. Anseiner Stelle könne doch FinanzministerPeer Steinbrück den Anruf übernehmen,der habe mit Geithner ohnehin laufend zutun. Guttenberg legte auf.

Kurz darauf klingelte das Handy Stein-brücks, unterwegs auf Wahlkampftour inNordrhein-Westfalen. Ob er Geithner inSachen Opel anrufen könne, wollte deMaizière wissen. „Wieso ich?“, fragteSteinbrück zurück, Opel sei doch Angele-genheit von Guttenberg. Stimmt, entgeg-nete der Kanzleramtschef, „der hat abernicht so gute Kontakte“.

Steinbrück gehorchte. Dreimal versuch-te der Minister, Geithner zu erreichen.Dreimal rief Geithner zurück. Doch reden

konnten die beiden nicht miteinander. Dereine war ständig in Sitzungen, der andereim Wahlkampfzelt.

Am Abend schließlich erreichte Außen-minister Frank-Walter Steinmeier seineUS-Kollegin Hillary Clinton. Washingtonmüsse auf GM einwirken, drängte derSPD-Kanzlerkandidat, die Zeit sei knapp.Clinton hörte geduldig zu und verwies dar-auf, dass sie nicht zuständig sei. Aber siekönne ja noch mal mit Geithner reden,versprach sie.

Die Szene zeigt: Es läuft einiges schiefbei der Operation Opel-Rettung der Bun-desregierung. Nach ihrer denkwürdigenNachtsitzung Ende Mai, auf der sie sichauf milliardenschwere Staatshilfen für Opelund Magna als Investor geeinigt hatten,klopften sich die Spitzen der GroßenKoalition noch zuversichtlich auf die Schul-tern. Die Regierung habe den Rüssels-heimer Autoriesen „vor dem Strudel ei-ner Insolvenz“ bewahrt, frohlockte CDU-Chefin Merkel. Von einer „guten Zukunftfür den neuen europäischen Autokonzern“

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Deutschland

S T A A T S H I L F E N

In der Opel-FalleKanzlerin Angela Merkel hat sich bei den Verhandlungen um die GM-Tochter Opel verkalkuliert.

Die US-Regierung will keine russischen Investoren bei dem Autobauer akzeptieren. Tausende Jobs in Deutschland stehen auf der Kippe. Das Protokoll einer missglückten Rettungsaktion.

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Opel-Arbeiter in Rüsselsheim, Russlands Ministerpräsident Putin (beim Autohersteller Gaz): Vor der Insolvenz bewahrt?

Page 13: Der Spiegel 2009 36

schwärmte SPD-Kandidat Steinmeier. DreiMonate und eine Milliarde Euro Steuer-gelder später ist diese Zukunft unsichererdenn je. Berlin sitzt in der Opel-Falle.

Ursprünglich suchte die Regierung nacheinem Weg, wie sie bei einer Insolvenz desamerikanischen Mutterkonzerns GM mög-lichst viele deutsche Arbeitsplätze sichernkönnte.

Doch dann verlor sie dieses Ziel aus denAugen. Irgendwann ging es nicht mehr umJobs. Es ging um einen neuen europäi-schen Autokonzern namens New Opel. Esging um Industriepolitik. Es ging um Russ-land gegen Amerika. Merkel und Stein-meier wollten unbedingt Magna als neuenEigentümer durchsetzen, doch sie hattengar keine Druckmittel.

Und je hysterischer nun die Interven-tionen werden, umso bockiger zeigen sichdie Partner in Detroit und Washington.„Die Bundesregierung hat sich viel zu frühauf einen Investor festgelegt“, kritisiertFred Irwin, Chef der deutsch-amerikani-schen Opel-Treuhandgesellschaft.

Der außenpolitische Schaden ist groß.Versteift sich Merkel auf Magna, verärgertsie Washington. Geht sie auf die US-Wün-sche ein, vergrätzt sie die Russen.

Spanische Gewerkschafter fürchten, dassdie deutsche Opel-Offensive zu Lasten dereigenen Mitglieder geht und beschwerensich über den „unverschämten Druck“ ausBerlin. Die Regierung der belgischen Re-gion Flandern droht, deutsche Subventio-nen vor die europäischen Wettbewerbs-behörde zu bringen, London macht offenFront gegen den Magna-Plan. Von einem„Desaster“ ist in der Brüsseler EU-Kom-mission die Rede.

Auch daheim ist die Schadensbilanz be-trächtlich. Gestartet hatte die Kanzlerindie Aktion, um Opel als Wahlkampfthemader SPD zu neutralisieren. Jetzt kratzt dieAffäre an Merkels Ruf als Krisenmanagerinund legt vier Wochen vor der Bundestags-wahl tiefe Differenzen im Unionslager derRegierung offen.

Während die Kanzlerin am Freitag ver-gangener Woche von GM eine zügige Lö-

sung forderte, zeigte WirtschaftsministerGuttenberg „Verständnis“, dass sich dieamerikanischen Verwaltungsräte „vor ei-ner so wichtigen Entscheidung ausführlichinformieren lassen“ wollen.

Das seit fast einem Jahr laufende Opel-Theater ist nicht nur ein Drama um laut-starke Wahlkämpfer, gewiefte Investorenund trickreiche Eigentümer geworden. Esist auch ein Lehrstück über die Gefahren,in die sich Politiker begeben, wenn sie alsFirmenretter auftrumpfen wollen. Der Bei-fall ist groß, wenn sie mit großer Geste unddem Geld der Steuerzahler den Notarztgeben. Aber er schlägt in Verachtung um,wenn am Ende doch die Pleite steht.

Wie das Stück im Fall Opel ausgeht, istnoch nicht entschieden. Ein Verkauf an Mag-na ist genauso möglich wie der Zuschlag fürden konkurrierenden belgischen Finanzinves-tor RHJI. Auch ein Verbleib im GM-Konzernist nicht ausgeschlossen, genauso wenig wie ei-ne Opel-Insolvenz nach der Bundestagswahl.

Unübersehbar aber ist, dass die Regie-rung bei ihrem Rettungseinsatz schwere

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Regierungschefs Obama, Merkel: „Bewährungsprobe für das transatlantische Verhältnis“

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Page 14: Der Spiegel 2009 36

Fehler begangen hat. Sie versteifte sich zufrüh auf einen Investor, dessen Geschäfts-plan fragwürdig und dessen Partner schwervermittelbar sind. Sie hat ihren Hilfsplan sokonstruiert, dass sie auf die Verkaufsent-scheidung selbst kaum Einfluss nehmenkann. Und sie hat die Stimmung ihreswichtigsten Vertragspartners, der USA,falsch eingeschätzt.

Jetzt wächst der Frust, nicht zuletzt beidenjenigen, die seit Monaten um ihre wirt-schaftliche Existenz bangen. Wenn der Bo-chumer Opel-Arbeiter Norbert Hinzmannbei Schichtende Kamerateams vor demHaupttor lauern sieht, weiß er sofort, dasses wieder Neuigkeiten gibt im Poker umOpel. „Jeden Tag wird derzeit ein andererKäufer genannt“, sagt der 44-Jährige.„Man kann es einfach nicht mehr hören.“

Seit 20 Jahren schraubt Hinzmann beiOpel – Lenker, Armaturenbretter, Tachos.Der Mechaniker steht acht Stunden proTag am Band, montags hat er derzeit frei,im Werk herrscht Kurzarbeit. Als der Me-chaniker 1989 bei Opel anfing, empfingenihn die Kollegen noch mit den Worten: BeiOpel kannst du arbeiten bis zur Rente.Doch das ist lange vorbei.

„Ich glaube nicht, dass ich in meinemAlter wieder einen gutbezahlten Job findenwürde“, sagt er. Bei der letzten Krise hat ervorsorglich schon mal bei einer Leihar-beitsfirma angefragt. „Die haben mir 7,50Euro pro Stunde geboten, davon kann ichmeine Frau und meinen Sohn nicht ernäh-ren“, sagt er. „Die Sicherheit ist weg.“

Daran hat auch das Rettungskonzept der Regierung wenig geändert, obwohl es wesentlich von einem Gewerkschaf-ter stammt, Opel-Betriebsratschef KlausFranz. Dem parteilosen Belegschaftsver-treter ist es gelungen, Politiker aller Lagerhinter seiner Lösung zu versammeln, demEinstieg von Magna.

Franz begann seine Lobbyarbeit EndeJanuar nach einem Gespräch mit GM-Ma-nagern in Detroit. Der Konzern steuerteauf eine Pleite zu und war bereit, alles zuverkaufen, was Geld bringt, auch das Ge-schäft in Europa. Franz sah die Chance,Opel endlich aus dem Würgegriff der US-Mutter zu befreien. Zwei Dinge brauchteer dafür: Milliardenhilfen des Staates, umdas Autogeschäft zu sanieren – und einenKaufinteressenten.

Als Ersten überzeugte er SPD-Kanzler-kandidat Steinmeier. Der langjährige Ver-traute von Ex-Kanzler Gerhard Schrödersah die Chance, sich im Stil seines Zieh-vaters als Firmenretter zu profilieren. Ge-nauso wichtig war, dass Franz auch denhessischen CDU-Ministerpräsidenten Ro-land Koch auf seine Seite zog. Damit hat-te er nicht nur die Sozialdemokraten hin-ter sich, sondern auch eine der einfluss-reichsten Führungsfiguren der Union.

Beim Werben um die Kanzlerin wieder-um half ihm Gewerkschaftschef BertholdHuber, der in der Berliner Regierungszen-trale bestens gelitten ist. Bei einem Treffenim Kanzleramt brachte der IG-Metall-BossMerkel das Magna-Konzept nahe. Seither

war Franz bei nahezu jedem Berliner Opel-Gipfel dabei.

Doch die breite Zustimmung unter Poli-tikern und Gewerkschaftern konnte nichtverdecken, dass der Magna-Plan erhebli-che Mängel aufweist. Es fängt schon damitan, dass der Investor durch den Opel-Ein-stieg selbst in Bedrängnis zu geraten droht.

Wichtige Kunden aus der Automobil-industrie könnten ihre Aufträge an den Zu-lieferer Magna stornieren, weil der als Opel-Eigner zum Konkurrenten würde. VW-ChefMartin Winterkorn kündigte schon an, dassEuropas größter Autokonzern seine Auf-tragsvergabe an Magna überprüfen müsste.

Nicht weniger umstritten sind die russi-schen Partner von Magna, vor allem der

Deutschland

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Haupt-sitz

Entwicklungs-zentrum

Fahrzeugproduktionin sonstigen Werken*

gefertigte Opel-Modelle

Fahrzeugproduktionin GM-eigenen Werken

Komponenten*General Motors in Europa

SPANIEN

FRANKREICH

GROSSBRITANNIEN

SCHWEIZUNGARN

UKRAINE

POLEN

ÖSTERREICH

DEUTSCH-LAND

SCHWEDEN

BELGIEN

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* inkl. Joint Ventures

Fahrzeugproduktion

von GM in Europa 2008 1725179

Mitarbeiter 2008

Göteborg

Trollhättan

St. Petersburg

Togliatti

Zaporozhye

Kaliningrad

Warschau

Gliwice

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Graz

Szentgotthárd

EsztergomAspern

BarcelonaSaragossa

Batilly

CerizayStraßburg

Antwerpen Bochum Eisenach

KaiserslauternRüsselsheim

Zürich

Ellesmere PortAstra

Agila

Vivaro

Tigra

Vivaro

Astra

Astra

Movano

Agila, Astra,Zafira

Astra, Zafira

Vectra, Signum, Insignia

Corsa

Corsa, Meriva, Combo

Luton

Deutsch-landSpanien

Groß-britannienSchwedenPolen

Belgien/LuxemburgÖsterreichFrankreichSonstige

25103

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davon Opel/Vauxhall

1474 012

Astra

General-Motors-Boss Henderson, -Konzernsitz in

Page 15: Der Spiegel 2009 36

Fahrzeughersteller Gaz aus Nischni-Now-gorod. Das Unternehmen gilt selbst als Sa-nierungsfall. Ob Opel mit seiner Hilfe dieFertigung in Russland ausbauen kann,bleibt fraglich.

Das größte Problem des Magna-Ange-bots aber ist: Es sichert die Zukunft vonOpel bestenfalls für eine Übergangszeit.Die Marke verkauft in Europa nur 1,5 Mil-lionen Autos. Zu wenig, um auf Dauerhohe Investitionen in neue Technik zu fi-nanzieren.

Magna wollte den Einstieg trotzdem wa-gen. Schließlich war es dem Zulieferer ge-lungen, den größten Teil der Risiken aufden Staat abzuwälzen. Um Opel zu sanie-ren, steuert Magna nur eine halbe Milliar-de Euro bei, an echten Eigenmitteln sogarnur 350 Millionen Euro. Bund und Länderhingegen bürgen mit 4,5 Milliarden Euro.

Das Modell des Finanzinvestors RHJIwäre billiger zu haben gewesen. Er ver-langt staatliche Hilfe nur im Umfang von3,8 Milliarden Euro.

Dass Magna am Ende den Zuschlag er-hielt, hatte jedoch nicht nur mit politi-schem Lobbying zu tun. Es lag auch am un-geschickten Auftritt der RHJI-Vertreterbeim Opel-Gipfel im Kanzleramt. Warumer denn Opel übernehmen wolle, fragteMerkel Magna-Chef Siegfried Wolf. Erglaube an das Unternehmen, beteuerte derManager, an die Zukunft des Automarktsund den Wert der Marke Opel. Das gefielMerkel.

Dann fragte sie RHJI-Chef Leonard Fi-scher, warum er sich für Opel interessiere.Der deutsche Ex-Investmentbanker ant-wortete: Weil der deutsche Staat das Risi-ko trage. Das gefiel Merkel weniger.

Und so kam es, dass die Magna-Ent-scheidung am Ende eine typische Merkel-Entscheidung wurde. Auf den ersten Blickgab es ein klares Ergebnis, tatsächlich aberwurde es verwässert durch Kompromiss-formeln und Halbherzigkeiten.

Zwar stellte die Regierung dem neuenInvestor üppige Staatshilfen in Höhe von4,5 Milliarden Euro in Aussicht. Doch ver-zichtete sie, anders als der amerikanische

Staat, auf eine Kapitalbeteiligung am Un-ternehmen. Merkel fürchtete eine Debatteüber zu viel Staatseinfluss und Wirt-schaftslenkung.

So begnügte sich die Regierung mit zweiSitzen im fünfköpfigen Vorstand einerneuen Treuhand-Gesellschaft. Wollten dieetwas durchsetzen, hätten sie zunächst diedrei US-Vertreter überzeugen müssen.

Doch das war gar nicht nötig. Das Wirt-schaftsministerium hatte Delegierte ent-sandt, die ohnehin nicht auf Regierungs-linie lagen. Der ehemalige Conti-Chef Man-fred Wennemer wollte Opel lieber in dieInsolvenz schicken. Der FDP-Politiker DirkPfeil zeigte Interesse am RHJI-Angebot.Für Magna hegten beide keine Sympathien.

Kein Wunder, dass die Berliner Regie-rungszentrale nicht bemerkte, wie sich inden USA der Wind drehte. Anfang desJahres, als GM der Insolvenz entgegen-ging, diktierte nackte Not die Geschäfts-politik. Schnelle Verkäufe von Unterneh-mensteilen wie Opel sollten Liquiditätbringen. Doch inzwischen ist das Kon-kursverfahren abgeschlossen. GM ist rund40 Milliarden Dollar Schulden los undnennt sich selbstbewusst „neue GM“. Seitdie amerikanische Variante der Abwrack-prämie den Absatz ankurbelt, ist die Zer-schlagung noch immer eine Option, aberkein Muss mehr.

Auch die personellen Veränderungen inDetroit fanden in Berlin kaum Aufmerk-samkeit. Die Obama-Regierung wechseltenicht nur den Konzernchef aus. Im Julifand auch im Kontrollgremium, dem Ver-waltungsrat, eine Art Säuberung statt. 8 von 13 Räten wurden neu berufen. Aufder Sitzung am vorvergangenen Freitagfragte dann einer: „Warum sollen wir dasEuropa-Geschäft überhaupt verkaufen?“

Im GM-Management tobt ein Macht-kampf um diese Frage. Mittlerweile gibtdort aber nicht mehr GM-Chef Fritz Hen-derson den Ton an. Stattdessen habenMänner wie Vorstand Tom Stevens undVeteran Bob Lutz das Sagen, die intern als„Falken“ bezeichnet werden und davonüberzeugt sind, das GM nicht noch mehrTeile seines Riesenreichs abtrennen sollte.

Die deutsche Regierung bekam denKurswechsel nicht mit. Stattdessen gefielsie sich in der Rolle des Dränglers. Von ei-ner „Bewährungsprobe für das transatlan-tische Verhältnis“ sprach Merkel nach ei-nem Telefonat mit Obama.

So etwas kommt schlecht an in einemLand, das sich als Supermacht versteht.Zudem will Obama nicht Amerikas Auto-zar sein. Schon der Eindruck, er betreibeauf dem Rücken der GM-Arbeiter trans-atlantische Freundschaftspolitik, wird imWeißen Haus als störend empfunden –auch wenn die USA sich mit 50 MilliardenDollar bei GM engagiert haben.

„Warum spielt Merkel ein Spiel, dessenAusgang sie nicht selber bestimmen kann“,fragt einer, der Obamas Team zur Über-

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Detroit: Säuberung im Verwaltungsrat

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nahme der Regierungsgeschäfte angehörte.Sie könne dieses Spiel nicht gewinnen, ihrDrängen gilt als naiv.

Vor allem aber unterschätzte die Bun-desregierung den Russen-Faktor. Der 28.April, als der russische Autohersteller Gazgemeinsam mit Magna sein Interesse anOpel bekundete, war für viele in Wa-shington und Detroit der Tag, an dem die-ses Konsortium seinen Rückhalt verlor. Dierussische Beteiligung ist für Amerikanerkeine Kleinigkeit. GM ist einer der größtenausländischen Autoanbieter in Russland –und will das bleiben. Zudem würde einVerkauf an „die Russen“ auch 20 Jahrenach Ende des Kalten Krieges in den USAvon vielen als demütigend empfunden.

Mehrfach forderte die GM-Führung diedeutschen Regierungsvertreter in den ver-gangenen Wochen auf, die russischen In-vestoren aus dem Magna-Konsortium her-auszudrängen und sich auf die Sanierungdes Kerngeschäfts in Westeuropa zu kon-zentrieren. Damit würde die Akzeptanzdes Vorhabens in den USA steigen.

Doch die deutschen Unterhändler lehn-ten ab. Sie verwiesen auf Absprachen mit Russlands Präsident Dmitrij Med-wedew.

Bei ihrem Treffen im bayerischenSchleißheim hatte Merkel ihm verspro-chen, den Magna-Plan in jedem Fall zuunterstützen. Medwedew wiederum sagterussische Großinvestitionen für ostdeut-sche Werften zu, an denen die Kanzlerinein besonderes Interesse hat. Sie liegen inunmittelbarer Nähe ihres Wahlkreises.

Die Amerikaner aber haben für MerkelsNöte wenig Verständnis. Opel gehört nochimmer GM. Bei den Verhandlungen, davon

* Am 28. Mai in Berlin mit Magna-Miteigentümer FrankStronach (r.).

sind die US-Vertreter überzeugt, sitzen sieam längeren Hebel.

Entsprechend spielt GM-Verhandlungs-führer John Smith seit Monaten mit derBundesregierung Katz und Maus. Geschickthält er die Verhandlungen am Laufen, ohnesie voranzutreiben. Wann immer eine Lö-sung in Sicht scheint, schiebt der gewiefteManager vermeintlich neue Probleme nach,die doch schon längst verhandelt wurden.

So schien vor der Sitzung des GM-Ver-waltungsrats in Detroit am vorvergangenenFreitag fast alles perfekt. Doch dann er-hielt Jochen Homann, zuständiger Staats-sekretär im Wirtschaftsministerium, amAbend des 18. August eine E-Mail aus De-troit. Es gebe da „zwei Punkte, die sehrwahrscheinlich Probleme in der bevorste-henden Verwaltungsratssitzung bereitenwerden“, schrieb Smith. Spätestens da hät-te den Deutschen klar sein müssen, dass esin der anstehenden Verwaltungsratssitzungkeine Entscheidung geben würde.

Am Dienstag vergangener Woche setzteder GM-Verhandlungsführer in Berlin den

Poker fort. Im Wirtschaftsministerium trafer mit Spitzenbeamten aus Bund und Län-dern zusammen. Ob der Verwaltungsratvon GM tatsächlich erwäge, Opel zu be-halten, wollte der deutsche Chefunter-händler, Wirtschaftsstaatssekretär JochenHomann, wissen. Smith reagierte auswei-chend. Acht Mitglieder des GM-Verwal-tungsrats seien neu. Es sei klar, dass dieFragen stellten.

Doch auch Smith hatte eine drängendeFrage. Würde die Bundesregierung vomÜbernahmekonzept des AutozulieferersMagna abrücken, wenn die Konkurrentenvom Finanzinvestor RHJI einen industriel-len Partner aufnähmen? Vorstellbar sei vieles, entgegnete Homann, aber die Bun-desregierung könne nur prüfen, was ihr

vorliege. Derzeit gebe es nur die beidenKonzepte. Solange sich das nicht ändere,bleibe es bei dem Votum für Magna.

Noch einmal trug Smith seine Beden-ken gegen die Magna-Lösung vor: die Li-zenzgebühren, der osteuropäische Marktund vor allem der drohende Technologie-transfer nach Russland.

Der Staatssekretär rief Magna-Chef Wolfan und fragte, wie es um diese Punkte ste-he. Wolf faxte ihm umgehend den mit GMvereinbarten Verhandlungsstand zu. Dieangeblich strittigen Punkte waren längstgeklärt. Nach der jüngsten Verhandlungs-runde am Donnerstag mit Magna-Vertre-tern und Kanzlerberater Jens Weidmannin Zürich waren ebenfalls keine Fragenmehr offen – und doch gingen die Beteilig-ten Wetten ein, dass Smith spätestens beiseiner Rückkehr nach Detroit ein paar neueeingefallen sind.

Und so zeichnet sich ab, dass die Hän-gepartie um Opel weitergeht. Der deut-sche Überbrückungskredit für den Kon-zern reicht noch bis Januar. Die Bundes-regierung könnte gut damit leben, wennbis zur Wahl keine Entscheidung fällt.

GM und Magna stehen ebenfalls nichtunter Zeitdruck. Nur das Objekt des trans-atlantischen Gezerres, Opel und seinemehr als 25 000 deutschen Mitarbeiter, lei-den unter dem Schwebezustand.

Die notwendige Sanierung des Unter-nehmens kommt nicht voran, solange dieEigentümerfrage nicht geklärt ist. Und esist für den Verkauf der Autos auch nichtförderlich, wenn Opel kaum noch als Au-tomarke wahrgenommen wird, sondernnur noch als Synonym für ein vom Unter-gang bedrohtes Unternehmen.

Am Ende, so viel ist gewiss, fällt die Ent-scheidung in Washington. Die Frage lautet,was Obama wichtiger ist: die Weltgeltungder US-Autobranche oder die Sanierungeines Großkonzerns? Die Märkte in Über-see oder die Jobs zu Hause? Industrieför-derung oder Haushaltsausgleich?

Einerseits sagt der US-Präsident: „Wirkönnen nicht und wir werden nicht ein-fach zuschauen, wie die Autoindustrie ver-schwindet. Sie ist das Aushängeschild desamerikanischen Gründergeistes, das eins-tige und künftige Symbol des amerikani-schen Erfolges.“

Andererseits sagt er: „Wir können dasÜberleben dieser Firmen nicht abhängigmachen vom ewigen Zufluss von Steuer-zahlergeld. Diese Firmen müssen auf eige-nen Füßen stehen.“

Die Kanzlerin demonstriert derweilKonsequenz: Sie will mit Milliarden Steu-ergeldern einen maroden Industriekonzernam Leben erhalten. Für Opel, so die Au-tokanzlerin, gebe es „damit neue undmehr Chancen“.

Sven Becker, Markus Dettmer,

Dietmar Hawranek,

Christian Reiermann, Michael Sauga,

Gabor Steingart, Janko Tietz

Deutschland

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Politiker Koch, Guttenberg, Steinbrück*: Hysterische Interventionen

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Es ist offenbar so, dass der ungarischeGrenzsoldat, der im Sommer 1989den Eisernen Vorhang geöffnet hat,

auch ein Mittel gegen die Finanzkrisekennt. Das liegt nahe, weil er anerkann-termaßen vor nichts zurückschreckt. Undwarum sonst sollte Angela Merkel so aus-führlich in ihren Wahlkampfreden von ihmsprechen, und das gleich zu Beginn?

Die Bundeskanzlerin kann diese Ge-schichte märchenhaft schön erzählen: wieer da steht an seiner Grenze zwischen Un-garn und Österreich und wie plötzlich die-se DDR-Picknicker auf ihn zulaufen und erseinen Vorgesetzten anruft, der aber nichtzu sprechen ist, weshalb er die Grenze kur-zerhand öffnet.

Dann geht er nach Hause, und seinKind, erzählt Merkel anrührend, fragt:„Papa, was wird nun aus dir?“ Und er weißes nicht, und natürlich macht er sich Sor-gen, weil es keine kleine Sache ist, den Ei-sernen Vorhang mal eben zu öffnen, aberweil es Gorbatschow gibt, passiert dem un-garischen Grenzsoldaten nichts.

Von dieser Erzählung kommt Merkelbald auf die Finanzkrise, und es ist zu-nächst nicht klar, wo der Zusammenhangist, aber wie jede gute Erzählerin hebt sie

sich die Pointe halt bis zum Schluss ihrerRede auf.

Es ist Wahlkampf, die wildeste, inten-sivste Zeit der Demokratie, und angeblichgibt es eine Rückkehr der Politik, weil dieRegierungen dringend als Krisenmanagergebraucht werden. Das ist eine interessan-te Mischung, und man wüsste gern, wel-che Rezepte die Kontrahenten bei ihrenAuftritten anbieten. Es geht darum, gegeneine Schrumpfung der Wirtschaftskraft umsechs Prozent anzukämpfen. Es geht dar-um, neue, robuste Finanzmärkte aufzu-bauen. Welche Rolle spielt das im Wahl-kampf?

In der vergangenen Woche, der Wochevor den Landtagswahlen, ließen sich diebeiden Kandidaten für die Kanzlerschaft,Angela Merkel (CDU) und Frank-WalterSteinmeier (SPD), unter anderem in Unna,Essen, Bonn und Saarbrücken blicken. Wiesind sie aufgetreten? Wie haben sie dasThema Krise behandelt?

Montag, 18.30 Uhr, Steinmeier trifft inUnna ein, Kleingartenverein Kastanienhain.Eine Dixieland-Kapelle spielt, der Männer-gesangsverein „Frohsinn“ singt „O Schätz-chen, Schätzchen“, Gartenzwerge winkenmit SPD-Fähnchen, und die Parzellen zei-

gen stolz und wie mit zusammengeschla-genen Hacken die Ergebnisse unermüd-lichen Kupierens, Mähens und Harkens.Dazu Grillwurst, Bier. Es ist die Welt vordem Internet, vor der Finanzkrise. Dies istFrüher.

Steinmeier steigt aus dem Dienstwagenund umarmt gleich mal einen. Er ist eingroßer Herzer, Körperkontaktsucher, Volks-umarmer geworden, einer, der zu Beginnder Rede seiner Vorfreude auf das Bier da-nach lebhaft Ausdruck verleiht und es dannin zwei Zügen wegzischt, während er schonim Witzchenwettstreit mit den Schreber-gärtnern liegt.

Bei seiner Rede hat er ihnen gesagt, ersehe im Fernsehen ärgerlicherweise schonwieder diese „jungen Börsenberichterstat-ter“. Die seien „fast wieder dabei, dieChampagnerflaschen aufzumachen“. Dasist ein Wort, das er gern benutzt. EineWarnung vor champagnersüffelnden Bör-sianern gab es vorige Woche für die Zuhö-rer in Unna, in Essen und in Saarbrücken.Es ist ein Wort aus Klassenkampftagen, alses Champagner noch nicht bei Aldi gab,wobei in Unna ein Windstoß kurz offen-barte, dass Steinmeier für die Schreber-gärtner und Gartenzwerge eine Krawatte

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Gegen die GierigenMerkel und Steinmeier sind sich einig: Die Banker sind die Bösen. Sie streiten nur darüber,

wer die Finanzkrise besser lösen könnte. Doch in Wahrheit gaukeln beide den Bürgern eine Macht vor, die sie nicht haben. Eine Reise durch den Wahlkampf. Von Dirk Kurbjuweit

Kanzlerin Merkel, Herausforderer Steinmeier in Saarbrücken: Gibt es dauerhaft eine Rückkehr der Politik?

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von Louis Vuitton trägt; die Firma ist Teildes Luxuskonzerns LVMH mit den Cham-pagnermarken Moët & Chandon, DomPérignon, Veuve Clicquot, Krug und soweiter. Da ist für jeden Börsianer etwasdabei.

Dienstag, 17.30 Uhr, Merkel steigt inBonn aus ihrem Dienstwagen. Ein Pulkvon Herren in grauen Anzügen begrüßtsie, und mit denen strebt sie dann durchdie Fußgängerzone zum Marktplatz. Nach50 Metern hatte sie noch keinen Bürger-kontakt, zwar stehen und sitzen viele Men-schen links und rechts des Weges, aberMerkel hält nicht an, auch nicht nach 100 Metern. Sie bleibt abgeschirmt von den grauen Männern, klappt manchmalgrüßend den rechten Unterarm hoch, me-chanisch und schnell wie eine asiatischeGlückskatze, und hält erst an, als ein klei-nes Mädchen sie um ein Autogramm bittet.

Bei ihrer Rede sagt sie, dass die Proble-me „nicht durch Neiddiskussionen“ zu lö-sen seien. Champagner bliebe also erlaubt,wenn sie wiedergewählt würde. Im Übri-gen ist sie sich einig mit Steinmeier: DieGegner dieses Wahlkampfs, das sind inerster Linie die Banker.

„Es kann doch nicht sein, dass wir wie-der zu den alten Regeln zurückkehren, alswäre nichts geschehen“, ruft Steinmeierden Schrebergärtnern in Unna zu. UndMerkel sagt im Gleichklang in Saar-brücken, sie wolle neue „Regeln interna-tional durchsetzen, damit unser Wohlstandnicht durch die Gierigen irgendwo auf derWelt gefährdet wird“.

Eine Frage, die vergangene Woche demWahlkampf unerwartet Würze verlieh,heißt allerdings: Muss nicht Josef Acker-mann, der Chef der Deutschen Bank, auchzu diesen Gierigen gerechnet werden? Ihmzu Ehren hat sie ein Essen mit 30 Leutenveranstaltet, wobei zwischen Ackermannund ihr peinlicherweise umstritten ist, obzu seinem Geburtstag oder „im Umfeld“seines Geburtstags.

Steinmeier griff das vorige Woche in Es-sen dankbar auf und nannte Ulla SchmidtsDienstwagenaffäre und Merkels Acker-mann-Sause in einem Atemzug. SeineSpindoktoren streuten, es sei wirklichungehörig und unüblich, dass die Kanzle-rin so viel Staatsgeld für eine gleichsamprivate Feier verprasse.

Aber das ist nicht der Punkt. Soll siefeiern. Es geht darum, mit wem sie feiert.Es schafft nicht gerade Vertrauen in ihreKrisenkompetenz, dass nun der Eindruckentsteht, Merkel pflege mit Ackermann bes-tes Einvernehmen, während dessen Leuteeifrig mit Schrottpapieren handeln undMilliarden verbrennen. So wird Merkelswichtigster Wahlkampfpunkt unterminiert:Sie will jetzt die regulieren, mit denen sievorher behaglich getafelt hat.

Steinmeier spielt das prima in die Kar-ten. Der böse Drache, den er im Wahl-kampf malt, ist schwarz-gelb. Eine Koali-

tion aus Union und FDP werde nicht nureine ganz und gar fürchterliche Politik ge-gen die Arbeitnehmer machen, zum Bei-spiel Hand an die gesetzliche Krankenver-sicherung legen, sondern sei auch in Kri-senzeiten nicht vertrauenswürdig. Denn,fragt er in Essen: Ist es vorstellbar, dass„uns die Schwarz-Gelben, die uns in dieseKrise geführt haben, wieder rausbringen“?

Die Antwort kennt er natürlich schon:„Nein.“ Dass allerdings Schwarz-Gelb die-se Krise ausgelöst haben soll, ist ziemlichbösartig phantasiert. Wenn eine Regierungdie deutschen Finanzmärkte deregulierthat, dann war es Rot-Grün, mit Steinmei-er als Chef des Kanzleramts.

Allerdings kennt sich auch Merkel gutaus in der Abteilung Gemeine Luftspiege-lungen. Sie führt diesen Wahlkampf miteiner ständigen Warnung vor Rot-Rot auchim Bund, was nun wirklich unwahrschein-lich ist. In der Krise „bloß keine Experi-mente, die nach hinten gerichtet sind“, ruftsie in Saarbrücken. Da hat sie vorher vonErich Honecker gesprochen, weshalb derEindruck entsteht: Rot-Rot würde denehemaligen Staatsratsvorsitzenden derDDR gleichsam als Spiritus Rector für ihreFinanz- und Wirtschaftspolitik buchen.

So hat dieser Wahlkampf auch denFreunden des Abgeschmackten etwas zu

* Mit NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers.

bieten. Wobei Merkel den Konkurrentenpersönlich bislang nicht angegriffen hat.Sie erwähnt ihn gar nicht; als wäre er nichtvorhanden. Steinmeier dagegen hat nunalle Kanonen auf die Frau gerichtet, der eram Mittwoch im Bundestag so freundlichdie Hand gereicht hatte auf der Regie-rungsbank, obwohl er sie doch für einenichtsnutzige Abkupferin hält, wie er tagsdarauf seinem Publikum in Saarbrückenweismacht. Merkel sei in der Krise nichtsanderes gewesen als eine „Ich-auch-Kanz-lerin“. Die Vorschläge, denen sie zuge-stimmt habe, kämen naturgemäß allesamtvon Steinmeier.

Weshalb er auch viel Lob verdient: „Ja,Steinmeier, das habt ihr gut gemacht“,heißt es in Unna. Und in Essen: „Stein-meier, das glauben wir dir, du hast da einehrliches und zuverlässiges Krisenmanage-ment gemacht.“ Wer da jeweils spricht, ist allerdings nicht etwa ein Besucher derVeranstaltung, sondern Steinmeier selbst.Er hat die Selbstpreisung aus unbestimm-tem Mund zum wichtigen Stilmittel seinesWahlkampfs erkoren. Mit einem dermaßeneuphorischen Pappkameraden an der Sei-te ist natürlich viel möglich, bis hin zu demSatz: Steinmeier, das ist ja total klar, dassdu der Erlöser bist.

In diesem Wahlkampf preist er sich alsMacher und Dulder, der gegen immenseWiderstände die deutsche Krisenpolitikerdacht und durchgesetzt hat. Zum The-ma Opel sagt er: „Ich habe den Druck gut ausgehalten, als ich im Februar beiOpel war und gesagt habe, wir müssen uns drum kümmern.“ Zur Abwrackprä-mie: „Ich habe den Kopp dafür hingehal-

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Wahlkämpferin Merkel in Bonn*: Abgeschirmt von den grauen Männern

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Deutschland

In seinen Reden stellt Steinmeier

die Bundeskanzlerin als

nichtsnutzige Abkupferin dar.

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ten und musste mich als Idiot bezeichnenlassen.“

Es ist die Schröder-Nummer vom hartenPolitikburschen, die in diesem Fall nichtso leicht verfängt, da Steinmeier im Ge-sicht und im Wesen eher angenehmeWeichheit auszeichnet.

Merkel spricht weit weniger von eigenenLeistungen, sondern versucht es ein paarEtagen höher, nämlich mit der Selbsthisto-risierung. Bevor sie bei sich ist, erzählt sievon den Großen ihrer Partei, von KonradAdenauer und Helmut Kohl. Da geht esdann um titanische Taten, Wiederaufbauund Wiedervereinigung. Ist so die Höhedefiniert, macht Merkel den kleinen Schrittzu sich selbst: Was ist die Aufgabe ihrerGeneration? Die Krise. Und wer wird damitam besten fertig? Sie sagt es nicht, aber je-der kann es sich denken: Adenauers Uren-kelin und Kohls Mädchen – Angela Merkel.

Das sind zwei grundsätzlich verschie-dene Konzepte eines Selbstbildes zu Wahl-kampfzwecken: Der eine gibt den Wüh-ler im Bergwerk der Politik, die andereposiert schon fürs Geschichtsbuch.

Dazu passt der Sprechgestus der beiden.Steinmeier hält seine Rede in Saarbrückenohne Sakko und Krawatte. Er gibt bald dieFrontalhaltung auf, lehnt sich gemütlichauf das Rednerpult, prüft zwischendurchseine Fingernägel und wirkt, als wäre erdaheim im Wohnzimmer, in das er sich2000 Freunde eingeladen hat. Er ist Teildes Saals.

Merkel dagegen spricht zu einem Saal.Das grasgrüne Sakko kann sie nicht auszie-hen, eine solche Geste der Arbeitswütig-keit geht bei einer Frau nicht. Auch sie re-

det engagiert, ihre rechte Hand pumpt undzeigt, aber sie bleibt auf Distanz zum Saal,schmiegt sich nicht hinein.

Das Problem von beiden ist, dass sie an-maßend wirken in ihren Reden. Die Kan-didaten unterstellen, dass sie an die Schalt-hebel der internationalen Krisenpolitikkommen können. Besonders selbstbewusstklingt das bei Merkel. Sie erhebt die deut-sche soziale Marktwirtschaft zum Modellund will sie „international durchsetzen“,wie sie in Saarbrücken sagt.

In einer Woche, in der die deutsche Poli-tik entsetzt nach Wegen sucht, wie sie Ge-neral Motors doch noch dazu bringenkönnte, Magna als Investor zu akzeptieren,wirkt das fast komisch. Am Freitag vor-vergangener Woche hatten die Manager inDetroit der Berliner Wunschlösung nichtwie erwartet den Segen gegeben.

Deutsche Krisenpolitik erschien plötz-lich als ein Beispiel für mühevolle Vergeb-lichkeit. Wie oft hatten Steinmeier undMerkel ein Zuversichtsgesicht in die Ka-meras gehalten, und dann das: GeneralMotors ist womöglich egal, was deutschePolitiker miteinander aushandeln.

Was heißt das dann für die Weltrettungs-ambitionen, die Merkel und Steinmeier imWahlkampf anmelden? Lacht China viel-leicht über das deutsche Modell der sozia-len Marktwirtschaft? Und macht Amerikanur das, was Amerika nützt, obwohl An-gela Merkel so entschlossen auf LudwigErhard verweist, der Solidarität und Kapi-talismus wunderbar vereinen konnte?

Wahlkampf ist für Politiker immer einegroße Show der Wichtigkeit. Beseelte Pop-tänze für Merkel in Saarbrücken am Mitt-

woch, Massen-Sirtaki für Steinmeier amDonnerstag, überfüllte Hallen, Klatsch-märsche, Jubel wie beim Fußball, Auto-gramme schreiben, bis die Finger glühen.

Die Politiker laben sich daran und ver-stärken den Hype, indem sie ein Nur-Ichvorgaukeln. Würde der jeweils andere ge-wählt, ginge die Welt unter. Das wirkteimmer daneben, aber selten so sehr wie indiesem Jahr.

Womöglich ist es in Wahrheit egal, obbei der nächsten Konferenz der G 20 Stein-meier oder Merkel am Tisch sitzen, weilden anderen Staats- und Regierungschefsdie deutsche Stimme so bedeutsam garnicht ist. Und General Motors würde dieVorschläge einer Regierung Steinmeier ge-nauso behandeln wie die Vorschläge einerRegierung Merkel. Inzwischen ist wiedervorstellbar, dass es dauerhaft gar keineRückkehr der Politik gibt, jedenfalls nichtder deutschen.

Es geht sicher nicht ohne eine besonde-re Anstrengung der Politiker, und was ha-ben Steinmeier und Merkel denn getan ineinem Jahr, um die Finanzmärkte neu zuordnen? Sie lamentieren ja selbst darüber,dass alles so weitergehe wie gehabt. Undim Wahlkampf schauen sie vor allemzurück auf glanzvolle Taten und Zeiten,nicht nach vorn. Konkrete Konzepte wer-den in den Reden nicht präsentiert.

Steinmeier hatte in Saarbrücken außerWut wenig im Angebot. Er erwähnte denVorschlag des französischen PräsidentenNicolas Sarkozy, Bankern bei schlechterLeistung Geld wegzunehmen, und sagte,dass er diese Idee, logisch, längst selbst ge-habt habe. Merkel deutete in Bonn kurzan, dass sie sich eine Art TÜV für Finanz-produkte vorstellen könne, zudem denktsie wohl an die Pflicht zu mehr Eigenkapi-tal bei Finanzgeschäften.

Vom Parlamentarischen Geschäftsführerder Unionsfraktion im Bundestag, NorbertRöttgen, ist bekannt, dass er die Neuord-nung der Märkte gern zum ganz großenWahlkampfthema machen würde, mit ei-nem konkreten Plan für Gebote und Ver-bote. Das wäre mal etwas, worüber mandiskutieren könnte. Aber Merkel will nochnicht darüber reden. In Saarbrücken sprachsie ohnehin gerade einmal 17 Minuten(Steinmeier 38 Minuten), das ist nur nochdas Skelett einer politischen Rede undsicher keine Entscheidungsgrundlage.

Aber da ist ja noch ihre Geheimwaffe,der ungarische Grenzsoldat, von dem sieso ausführlich spricht. Am Ende ihrer Re-den löst sie, wie erhofft, das Rätsel auf undsagt, warum sie ihn zum Helden diesesWahlkampfs macht. Leider, muss manhören, ist er doch nicht als Retter aus derFinanzkrise vorgesehen. Sein Beispiel, sagtMerkel, zeige, dass es in der Weltge-schichte auf jeden Einzelnen ankomme, je-der könne etwas bewegen, sogar Großes.

Hoffentlich gilt das auch für sie selbstund Steinmeier. ™

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Wahlkämpfer Steinmeier in Unna: Ein großer Herzer und Volksumarmer

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Franz Josef Jung (CDU) ist keinFreund der Variation. Wenn er überdie Bundeswehr und ihre Einsätze

redet, sagt er immer die gleichen Sätze.Sie geben ihm Halt.

Die deutschen Soldaten in Afghanistanseien „gut ausgebildet und ausgerüstet“,lautet einer dieser Sätze. Die Zusammen-arbeit mit Abgesandten von Außen-, In-nen- und Entwicklungshilfeministerium inAfghanistan sei so erfolgreich, dass der„vernetzte Ansatz“ der Deutschen sogar„für die Nato als Ganzes übernommenwurde“.

Das Problem an diesen immer gleichenSätzen ist nicht, dass sie auswendig gelerntsind. Viel schlimmer ist, dass sie wenig mitder Realität zu tun haben.

Der Minister müsste nur mal vertrau-liche Berichte seiner Militärs lesen. In-terne Dokumente der Afghanistan-Trup-pe, die der SPIEGEL einsehen konnte, beschreiben die Lage als „kritisch“. Siehandeln von schweren Mängeln bei Fahr-zeugen, Waffen und Fluggerät, beim Nach-schub und der Versorgung mit Ersatz-teilen. Sie monieren „Defizite“ in der Aus-bildung der Soldaten und beklagen, wiemiserabel die vielgepriesene zivil-militäri-sche Aufbaukooperation tatsächlich funk-tioniert.

Während Jung und andere deutschePolitiker gerade eine Debatte führen, wielange der Einsatz wohl noch dauern werde,haben die Soldaten vor Ort viel konkre-tere Probleme. Sie wären schon zufrieden,wenn sie endlich unter ordentlichen Be-dingungen kämpfen könnten.

Denn selbst bei den Lieblingsprojektender Deutschen läuft einiges schief. Geradebeim zivilen Aufbau, bei Entwicklungs-hilfe und Polizeiausbildung, wie die Dos-siers aus Kunduz, Kabul, Faizabad undMasar-i-Scharif belegen.

„Wenig erfolgreich“ verläuft demnachdie Arbeit mit dem Bundesministerium fürwirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ).Sieben Jahre nach Beginn der Mission seidie „Umsetzung“ der Hilfe „immer nochzu unflexibel“. BMZ-Projekte seien „fürdie hiesige Bevölkerung noch nicht sicht-bar“. Das untergrabe „tendenziell dieGlaubwürdigkeit des deutschen Engage-ments“, monieren Offiziere: „HungerndeMenschen sind primär nur durch Nahrung,nicht durch Flugblätter zu überzeugen.“

Dass die Ausbildung der afghanischenPolizei „verbessert werden kann“, gibt so-gar Minister Jung zu. Er sagt das aller-dings ungern öffentlich, denn damit wür-de er den zuständigen Bundesinnenminis-ter rügen, seinen Parteifreund Wolfgang

Schäuble. Die deutschen Militärs dagegenkritisieren offen, dass die zahlreichen Ak-teure wie US-Truppen, fragwürdige Si-cherheitsfirmen, die europäische Polizei-mission Eupol sowie deutsche Polizistenund Feldjäger nur nebeneinander, nichtaber miteinander arbeiteten: „Hier ist einkoordinierendes Element erforderlich.“

Erhebliche Probleme hat die Bundes-wehr zudem mit der eigenen Ausrüstung,vor allem der Nachschub funktioniertnicht. Die Truppen warten den internenMängelberichten zufolge oft „monate-lang“ auf dringend benötigtes Material.Die Folge sei „permanente Verwaltung desMangels“.

Mehr als die Hälfte der gut 700 ge-schützten Fahrzeuge in Afghanistan istzeitweise nicht einsatzbereit. Wegen „feh-lender Ersatzteilversorgung und unzurei-chender Instandsetzungskapazitäten“ stün-den „Dingo“- und „Wolf“-Geländewagen„zum Teil mehrere Wochen“ nutzlos her-um. Die Fahrzeugflotte sei insgesamt „man-gelhaft“. Oft würden zudem Kraftfahrergeschickt, die Geländefahrten nicht be-herrschten.

Beim Fluggerät sieht es nicht besser aus.Die Versorgung für die in Masar-i-Scharifstationierten „Transall“-Transporter „istteilweise desolat“, heißt es. Die 40 Jahre al-ten Flieger würden vor Ort ausgeschlach-tet, „kannibalisiert“, wie die Soldaten dasnennen. Im Amtsdeutsch ihrer Berichteklingt der Vorgang harmloser: „Ersatzteilemussten im Verfahren ‚gesteuerter Ausbau‘beschafft werden.“ Zudem gebe es nichtgenug „qualifizierte“ Mechaniker.

Auf CH-53-Hubschrauber zu hoffen„ähnelt einem Glücksspiel“, hat schon vorJahren ein deutscher General moniert. DerRuf nach zusätzlichen Helikoptern ist so alt

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„Falsche Sicherheit“Die Bundeswehr ist für den Afghanistan-Einsatz schlecht gerüstet.

Die Zusammenarbeit mit zivilen Helfern klappt nicht. Nach der Wahl wollen die USA noch mehr deutsche Soldaten fordern.

Hubschrauber CH-53: Am Hindukusch auf Helikopter zu hoffen ähnelt einem Glücksspiel

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Aufmarsch amHindukuschObergrenze für das deutsche Afghanistan-Kontingent

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wie der Einsatz. Nur geänderthat sich nicht viel. Zu den sechsMaschinen kamen zwar zweihinzu, das aber verbesserte nurdie offizielle Statistik. Fliegenkonnten die Helikopter nicht,denn leider wurden mit denMaschinen keine Piloten an den Hindukusch geschickt. Ineinem Vermerk heißt es dazutrocken: „Der Personalansatzwurde nicht an die Zahl derLuftfahrzeuge angepasst.“

Die Bundeswehr bewegt sichdabei in einem Teufelskreis.Weil die Ausgaben für Aus-landsmissionen, Pensionen undPersonal stetig steigen, blei-ben immer weniger Mittel fürErsatzteile, Reparaturen undÜbungen in der Heimat. Statt180 Stunden, wie die Nato for-dert, dürfen deutsche Crewsmeist nur noch 70 Stunden imJahr fliegen – zu wenig, um siezu voller Kampfkraft („combatready“) auszubilden.

Nun gibt es kaum noch CH-53-Pilotenmit den nötigen Lizenzen für riskante„Staublandungen“ in den Halbwüsten Af-ghanistans, zum Fliegen im Hochgebirge,bei Nacht und widrigem Wetter. Es ist ein Personalnotstand, der bald auch die„Transall“ treffen wird: Viele Transport-piloten haben gekündigt und sind zu zivi-len Airlines abgewandert, weil sie bei derLuftwaffe kaum noch starten durften.

In Afghanistan fehlt der Bundeswehr zu-dem oft der Überblick. Im Vorfeld der Prä-sidentenwahl gab es den Berichten zufolgeein „zentrales Defizit“: Die Kommandeu-re hatten kein „umfassendes Lagebild“ –„insbesondere über die Identität, die Lageund die Absicht der verdeckt operierendengegnerischen Akteure“, also der Taliban.

Um genügend Spähtrupps ausschickenzu können, fehlen gepanzerte „Fennek“-Fahrzeuge. Nach einigen Verlusten durchTaliban-Beschuss bewilligte der Haushalts-ausschuss des Bundestags vergangene Wo-che 39 Millionen Euro für eine Nachbestel-lung: zehn Stück, lieferbar bis 2011.

Dolmetscher, die regionale Dialekte ver-stehen, sind Mangelware, ebenso abhör-sichere Funkgeräte. Oft können die Trup-pen nur mit – garantiert abgehörten – Mo-biltelefonen kommunizieren. Weil auch dieVerschlüsselungstechnik der deutschenComputernetze nichts taugt, dürfen damitkeine „Secret“-Informationen aus demIsaf-Hauptquartier weitergeleitet werden,selbst wenn das Menschenleben rettenkönnte.

„Luna“-Aufklärungsdrohnen, die inEchtzeit Bilder übertragen, geben bei denüblichen Sommertemperaturen von über40 Grad regelmäßig den Geist auf: „Versu-che, den Flugkörper mit Hilfe von Klima-anlagen vor dem Flug herunterzukühlen,

waren nicht erfolgreich“, berichten dieSoldaten.

Wenn Kommandeure bei den „Torna-do“-Aufklärern der Luftwaffe Fotos be-stellen, werden die zwar „in hervorragen-der Qualität“ geliefert – allerdings frühes-tens nach drei Tagen: „Dies ist bei weitemnicht ausreichend für die zeitgerechte Un-terstützung der Operationsführung.“

Auch die Bewaffnung der Deutschen ist nur bedingt einsatztauglich. Wenn derSoldat vorschriftsmäßig seine gepanzer-te Schutzweste trägt, kann er das Stan-dardgewehr G 36 nicht mehr richtig an-legen: „Gezielte Schussabgabe ist so nichtoder nur eingeschränkt mög-lich.“

Mit dem Maschinengewehr,das auf dem Dach des „Din-go“ montiert ist, kann der Be-

Deutschland

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diener „nur in Fahrtrichtung“schießen – sofern er angeschnalltim Sitz hockt, wie es die in Af-ghanistan geltenden Regeln desheimischen „Friedensbetriebs“verlangen. Gegen Feinde, die„Dingos“ von der Seite odervon hinten angreifen, gebe es„keine Wirkungsmöglichkeit“,heißt es in einem Vermerk: „Dieprinzipiell sinnvolle Bewaffnungverkommt zu reiner Show, denSoldaten wird eine falsche Si-cherheit vorgegaukelt.“

Der dienstälteste deutsche Of-fizier in Kabul, zuständig für denSchutz von Besuchern aus derHeimat, zog aus der Verwaltungdes Mangels bereits eine bizarreKonsequenz. „Nicht aufzufal-len“ sei in der afghanischenHauptstadt der beste Schutz.Statt hochrangige Gäste mittarnfarbenen Geländewagen zuchauffieren, solle die Bundes-wehr „zivile Kfz mit analogerSchutzklasse“ anschaffen, riet

der Offizier. Das bringe den Vorteil, dassman in Kabul „weitestgehend unauffällig“bleibe und „somit die Gefährdungslage ver-ringert werden kann“.

Das gilt allerdings nur für VIPs wie denVerteidigungsminister. An den Risiken fürdie Soldaten, die Tag für Tag gegen die Ta-liban kämpfen, ändert sich nichts.

Weit ist es nicht her mit Jungs heilerBundeswehrwelt. „Die längst bekanntenProbleme bei Ausstattung und Ausbildungwerden nicht abgestellt, sondern ausge-sessen“, kritisiert die FDP-WehrexpertinElke Hoff den Minister. „Dringende Nach-besserungen“ beim Schutz der Soldatenfordert der BundestagswehrbeauftragteReinhold Robbe.

Die Dringlichkeit könnte sich bald sogarnoch steigern. Denn die USA üben hinterden Kulissen bereits immensen Druck aufBerlin aus, das deutsche Engagement nochauszuweiten.

Präsident Barack Obama hat 20000 zu-sätzliche Soldaten nach Afghanistan be-ordert. Das Bundestagsmandat für dendeutschen Beitrag zur Isaf-Stabilisierungs-

truppe läuft am 13. Dezember aus. Mi-nister Jung hätte die Truppenstärke imMandat schon im vergangenen Jahr amliebsten von 3500 auf 6000 Soldaten erhöht. Nur wegen der CSU und derLandtagswahl in Bayern beließ er esaber bei 4500 Mann.

Daran erinnern sich auch die Ameri-kaner. US-Diplomaten haben führendenCDU-Politikern bereits angekündigt,Obama warte mit Rücksicht auf AngelaMerkel nur noch die Bundestagswahlam 27. September ab. Dann aber werdeder Präsident fordern, dass auch dieDeutschen mehr Kampftruppen an dieFront schicken. Alexander Szandar

Verteidigungsminister Jung: Immer die gleichen Sätze

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Szene

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Picknick mit Goethe

Zuerst iss, dann sprich. Iss schneller,schneller, schneller. Ermahnungen

waren zu hören, selten Ermutigung,meist aber, so erinnerte sich der Schrift-steller Franz Kafka, herrschte zu Hause„düstere Stille bei Tisch“. Kafka erfuhrfrüh, dass Essen mehr ist als bloße Nah-rungsaufnahme: dass es Erziehung seinkann oder Liebesbeweis oder manchmalhungrige Einsamkeit.Anlässlich der Ausstel-lung „Satt? Kochen –Essen – Reden“ im Mu-seum für Kommunika-tion in Frankfurt amMain haben Historiker,Journalisten und Köchefür ein Buch zusam-mengetragen und ana-lysiert, was passiert,wenn beim Essen ge-sprochen, gelacht, ge-stritten oder geschwie-gen wird. Es geht mitGoethe zum Picknick,in eine karge Einzelzel-le bei Wasser und Brot,

in Firmenkantinen der Wirtschaftswun-derjahre, auf einen Flirt im Speisewagenmit Willy Brandt. So erfährt man bei-spielsweise, dass bei der Firma Merckeine Geldstrafe zahlen musste, wer beiTisch über die Arbeit sprach, dass Goe-the sein Frühstück gern in einem Binsen-korb transportierte – und dass die Erfin-dung des Pizzakartons eine deutsche war.

Corinna Engel, Helmut Gold, Rosemarie Wesp (Hg.):„Satt? Kochen – Essen – Reden“. Edition Braus,Heidelberg; 144 Seiten; 16,80 Euro.

Was war da los, Herr Xie?

Der chinesische Friseur Xie Jianghong,

58, über schwimmende Haustiere

„Die Enten habe ich in die Küche geholt,aus Angst, dass sie sonst verschwindenkönnten. Um das Haus herum war janichts als Wasser. An die Überschwem-mungen habe ich mich im Laufe der Jah-re gewöhnt: Seit 25 Jahren wohne ich inder Kleinstadt Pingyao im Osten Chinas,und seitdem gab es nur fünf Sommer, indenen mein Haus nicht unter Wasserstand. Wenn die Taifune kommen, trittder Bach neben meinem Haus über dieUfer. Die Überschwemmungen sind hef-tiger geworden, aber wegziehen gehtnicht, das kann ich mir nicht leisten, dazubringt mir mein Friseurladen nicht genugGeld. Und so nehme ich es locker: DasWasser war ja nach fünf Tagen wiederweg, die Farbe blättert zwar von denWänden, aber niemand aus meiner Fami-lie wurde verletzt. Und auch die Entenhaben alles gut überstanden. Zum Glück:Zum nächsten Geburtstagsfest soll es ei-nen schönen Braten geben.“

I N T E R N E T

!Satisfaction

Computerprogrammierer haben ofteinen ziemlich schrägen Humor.

Zurzeit vergnügen sich weltweit Tau-sende damit, einander lustige, abersinnfreie Beispiele ihrer Programmier-kunst zu schicken – oftmals währendder Arbeitszeit. Dabei geht es darum,den Titel eines Popsongs in Programm-codes zu übersetzten. Beispiel: „if(!wo-man) {cry=false;}“ bedeutet „No wo-man, no cry“. Es ist eine Blödelei unterNerds; wer normalerweise langweiligeRoutinen programmiert, lässt jetzt sei-nen PC einfach so lange „I can’t get no“schreiben, wie ihm „satisfaction“ fehlt.Der Rolling-Stones-Hit sieht dann soaus: „do {echo („I can’t get no“);} while(!satisfaction);“. Die Codezeile„man.location=null;“ wiederum bedeu-tet, dass dem Objekt „Mann“ kein Ortzugewiesen wird – er ist der „NowhereMan“ von den Beatles. Über den Kurz-nachrichtendienst Twitter tauschen sichdie Programmierer aus – und staunenüber ihre Künste: „Mein Gott“, schriebeiner, „hoffentlich findet mein Boss nieraus, wie kreativ ich sein kann.“Brandt im Speisewagen 1973

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Gesellschaft

Das Leben gegen FredWie ein betagter Brite zum Breakdance-Star wurde

Lebens – und es schien, als sollte dasLeben es jetzt gut mit ihm meinen. Siegingen aus, erzählt er, machten Spazier-gänge, manchmal nahm sie ihn mit zumTanztee, nur ein bisschen Standard undLatein. Sein Bein zwickte, er musstesich oft setzen, aber er war mit ihr zusam-men, er war glücklich. Dann starb sie.

Bowers verkroch sich zwei Jahre langhinter den Blumengardinen seines Bun-galows am Stadtrand. Bis eines Abendsein Nachbar klingelte, der das Elendnicht mehr mitansehen wollte: „Zieh dirwas an, Fred, wir gehen in die Disco.“

Fred ging mit, Fred tanzte. Er tanzte,bis er die Traurigkeit kaum noch spür-te. Am nächsten Abend kam er wiederund am folgenden auch. Kaum jemandbeachtete ihn, meistens tanzte er al-lein, umgeben von hundert zuckenden,stampfenden Körpern. Bis zu jenemAbend, an dem er ausrutschte und wieein Käfer auf dem Rücken lag – und dasUnbegreifliche geschah.

Der nächste Song war HipHop, undBowers, der immer noch am Boden lag,spürte, wie plötzlich ein merkwürdigesZucken in seinen Körper fuhr. Er wand

sich, er fuchtelte mit den Armen, dreh-te sich, immer noch auf dem Rückenliegend, um sich selbst. Zunächst nur,um sich wieder aufzurichten, dann aberwurden die Bewegungen im Rhythmusweicher, selbstverständlicher, plötzlichwurde aus dem Versuch, sich aufzu-richten, eine Art Tanz, Breakdance.

Die Leute auf der Tanzfläche bildeteneinen Kreis, sie klatschten: Fred Bowerswar jetzt kein Unsichtbarer mehr.

Von nun an übte er, tanzte jetztNacht für Nacht, mal ging er ins „Wild“,mal ins „Echoes“, meistens aber insVice Versa. Die Leute erkannten ihn,sie feuerten ihn an, er war eine kleineSensation, der Breakdance-Opa.

Im Oktober vergangenen Jahres mel-dete ihn der DJ vom Vice Versa bei„Britain’s Got Talent“ an, jener Show,die den „Nessun dorma“-Tenor PaulPotts hervorgebracht hatte.

Bowers trat auf mit wei-ßen Turnschuhen, er drehtesich auf dem Rücken, wir-belte mit den Armen, mach-te eine Kerze, stand Kopf,man konnte ihn fast für ei-nen jungen Mann halten. DieJury liebte ihn.

Er kam ins Halbfinale.Eine Art Karriere begann.Die Videos seines Fernseh-auftritts wurden millionen-fach auf YouTube aufgeru-fen. Auf seiner Facebook-Seite schrieben ihm Fans ausder ganzen Welt, das Lebenwar schön.

Doch dann kam ein ande-rer Brief. Absender war dasAmt für Arbeit und Pension.Bowers sagt, er habe nie da-

mit gerechnet, dass das passieren kön-ne, dass man ihm die Invalidenrentestreicht. Und dass die Zeitungen schrei-ben würden, dass er ein Betrüger sei:weil er Behindertenstütze beziehe unddabei tanzen könne wie ein junger Gott.

Im Halbfinale kam Bowers nicht wei-ter. Jetzt, drei Monate später, sitzt erim Vice Versa in Loughborough und er-zählt, dass er nun 73 Pfund die Wocheweniger hat, für ihn sei das viel Geld,außerdem fehlen die Zuschüsse fürsAuto. Er habe nichts Unrechtes getan,sagt er, sein Bein habe die ganze Zeitüber weh getan, aber die meisten moves

mache er ja auf dem Rücken, das Auf-dem-Kopf-Stehen und so weiter.

Das Leben gegen Fred, es steht jetzt3:2, aber er gibt nicht auf. Er hat jetzt angefangen, für Auftritte in Dis-cos Geld zu verlangen, mindestens 150Pfund. Dialika Krahe

EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE

Das Wunder, das Fred Bowers erstzum Fernsehstar und dann zumBetrüger machen sollte, es be-

gann mit einem bösen Sturz: Er warausgerutscht, hingekracht, gegen Mit-ternacht, auf der Tanzfläche des „ViceVersa“, nun lag er auf dem Rücken, wie ein Käfer, den Kopf auf Staub undBier und Scherben, neben ihm stampf-ten Füße im Takt der Musik, Laser-blitze durchzuckten den Disco-Himmel,und Bowers dachte, dass das Lebengemein zu ihm war, keine neue Er-kenntnis. Konnte er denn nicht malGlück haben, ein einzigesMal?

Fred Bowers ist ein freund-licher, schüchterner Herr,Landschaftsgärtner im Ruhe-stand, 74 Jahre alt, der Kör-per etwas steif, man verstehtihn nicht so gut, wenn erspricht, die Zähne und dieFreunde, mit den Jahrenwurden es immer weniger.

Er sitzt auf einer dunk-len Holzbank, es riecht hiernach verschüttetem Bier unddem Schweiß der vergange-nen Nacht. Das Vice Versaöffnet zwar am frühen Nach-mittag, aber bis auf Bowerssind noch nicht viele Gästeda, richtig voll wird es erstum Mitternacht. Das ViceVersa liegt in der Innenstadt von Lough-borough, einer Kleinstadt in der Graf-schaft Leicestershire, drei Stunden vonLondon mit dem Bummelzug. Bowerszog vor acht Jahren hierher – er wardamals an einem dunklen, toten Punktangekommen. Er hatte keine Aufgabemehr, keine Frau, kein Leben.

Ich bin im Waisenhaus aufgewach-sen, kein guter Start, der Krieg und soweiter, sagt er.

Fred Bowers bekam, als er nachLoughborough zog, ungefähr 400 PfundRente, dazu kamen die Zuschüsse we-gen seiner Behinderung: Als jungerMann war Bowers zur Armee gegan-gen, bei einer Schießübung verletzte ersich am linken Bein, seitdem hinkte er.

Schon deshalb war ich nie ein großerTänzer, sagt er. Und trotzdem fing ermit dem Tanzen an, wurde das Tanzenseine Rettung, er traf die Frau seines

Aus der „Frankfurter Allgemeinen“

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Es ist Dienstag, der 14. August 2007,gegen 14.30 Uhr, als die AssistentinSedi ruft: „So, Herr Leinemann, es

geht los.“ Zum letzten Mal höre ich dasScheppern, Rasseln, Kreischen der Strah-lenkanone, sehe sie links und rechts übermich wegschwenken, verharren, einrastenund warte dann auf diesen singenden Sä-geton. Und schließlich das herbeigefieber-te: „So, das war’s. Ich nehme Ihnen jetztIhre Maske ab.“ Alle sind sie da – die Ira-nerin, die Polin und die junge Deutsche.Gratulieren mir dazu, dass ich Bestrahlungund Chemo hinter mir habe, und Sedi sagt:„Nehmen Sie es nicht persönlich. Aber ichwill Sie hier nie wiedersehen.“

Immer habe ich gesagt, ich glaube erst,dass es vorbei ist, wenn ich die Charité imRückspiegel meines Taxis nicht mehr sehe.Kurz nach fünf Uhr ist es so weit. Nach 44 Tagen Klinik bin ich wieder ein halb-wegs freier Mensch. Aber als Fall Nummer302670317 bin ich noch längst nicht erledigt.

Drei Monate vorher, am 8. Mai, war beimir Krebs entdeckt worden, ein Zungen-grund-Karzinom. Gespürt, dass etwas nichtstimmte, hatte ich schon Monate zuvor.Immer wieder Schwierigkeiten mit derStimme. Lag es am Reflux, an dem ich litt?Hatte die zurückfließende Magensäure dieStimmbänder angefressen? Ich ließ denMagen untersuchen, die Speiseröhre, danndas Lymphsystem, die Schilddrüse, end-lich Zähne und Kiefer. In dem von unse-rem Supergesundheitssystem sorgfältignach Facharztzuständigkeiten aufgeteiltenKörper arbeitete ich mich erst nach oben,dann wieder nach unten. Keiner fand was.Nur die Schmerzen nahmen zu, das Schlu-cken wurde schwieriger.

Nun der Befund, die Bestätigung dunk-ler Ahnungen. Und bald war klar: Durcheine Operation würde meine Zunge unbe-weglich, ich könnte dann nicht mehr spre-chen und schlucken.

Fast sechs Wochen lang hatten die Ärz-te deshalb mit Strahlen- und Chemothera-

pie den tückischen Tumor in meinem Halsauszumerzen versucht. Ob sie erfolgreichwaren, würde ich erst im November er-fahren, frühestens.

Meine Heimkehr aus der Klinik erlebteich als positiven Kulturschock. Die Ver-trautheit umhüllte mich wie ein warmesBad. Immer wieder wanderte ich langsamdurch die Wohnung, von hinten nach vorn,von vorn nach hinten. Ich fläzte mich inmeinen Lieblingssessel, legte mich auf alleSofas und Liegen, stand minutenlang vorden Bücherwänden, zog vertraute Bändeheraus und las ein paar Zeilen, schalteteden Fernseher an, nur um das schöne Bildzu sehen, und posierte gedankenleer, aberzufrieden an meinem Schreibtisch.

An einem Ständer neben meinemSchreibtisch hingen jeweils ein Beutel mitgelblicher Astronautenpampe und ein Sackmit Wasser. Das alles war, was Kalorienund Vitamine betraf, aufs Genaueste be-rechnet, kleckerte mir aber tropfenweise solangsam über ein Schlauchsystem in denMagen, dass ich täglich bis zu sechs Stun-den an meinen Schreibtischstuhl gefesseltwar. Wegen meines Diabetes musste ichdie Nahrung regelmäßig zu mir nehmen,konnte die Sondenkost deshalb nichtnachts im Schlaf in mich reinlaufen lassen.So mussten meine Frau Rosemarie und ichtäglich zur selben Zeit aufstehen, um allesfür die vier freundlichen, einander ablö-senden Pflegerinnen vorzubereiten.

Ich raffte derweil alle meine verbliebe-nen schwachen Kräfte zusammen, um mirselbst und meiner Umwelt so viele Signa-le der Normalität zu liefern wie möglich.Dabei war mir die Unnormalität ins Ge-sicht geschrieben. „Du hast grau ausgese-hen damals“, erzählte mir später eineFreundin, „unlebendig. Als ob unter derOberfläche etwas fehlte.“ Über 20 Kilo-gramm hatte ich abgenommen. Obwohlmeine Stimmkraft nicht ausreichte, um län-ger zu sprechen, empfing ich täglich Besu-cher. Und Weihnachten, nahmen wir uns

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„Der Tod, meinLebensbegleiter“

Was passiert, wenn der Krebs einen Menschen aus dem gewohntenLeben reißt? Fast eine halbe Million Deutsche erleben es

jedes Jahr. Jürgen Leinemann, jahrzehntelang SPIEGEL-Reporter,blickte mit Schärfe auf die Politiker des Landes –

nun blickt er mit derselben Unbarmherzigkeit auf seine Krankheit.

vor, würden wir wie immer nach Sylt rei-sen. Das wäre doch gelacht, wenn wir dasnicht schafften.

Ich ging sogar ins Theater, in die nurwenige hundert Meter entfernte Schaubüh-ne, wo sich die Berliner Bühnengemeindemit einer ergreifenden Trauerfeier vondem an Krebs gestorbenen SchauspielerUlrich Mühe verabschiedete. Noch einmalsah ich, nun als Filmdokumentation, seinenunvergesslichen „Hamlet“, den er in derInszenierung von Heiner Müller in denMonaten der Wende 1989/90 am Deut-

Autor Leinemann: „Kulturschock der Heimkehr“

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schen Theater geprobt und gespielt hatte.Nie vorher und auch nicht danach habeich politische Machtkämpfe so eindrucks-voll und lebensnah auf der Bühne erlebtwie damals. Und nun bekam ich – sozusa-gen als Abschiedsgeschenk – die Entste-hungsgeschichte dieser legendären Auf-führung samt tagespolitischem Kontextnachgeliefert.

Ich habe den Schauspieler Ulrich Mühe,dem ich nach dem Mauerfall persönlicheinmal begegnet bin, schon zu seinenLebzeiten bewundert. Jetzt berührte mich

die Tatsache, dass ich mit dem Verstorbe-nen das bedrohliche Krebsschicksal teilte,stark und brachte mich dem großartigenDarsteller und seinen tragischen Lebens-umständen auch menschlich nahe. Nachdieser Feier, die gut drei Stunden dauerte,war ich zwar vollkommen erschöpft, aberwährend der Reden und der Vorführungsaß ich wie gebannt da und spürte nichtsvon meiner Krankheit. Allerdings war das eben die Ausnahme, nicht die Nor-malität. Obwohl mir alle Freunde und auch die Ärzte bestätigten, dass ich so-

zusagen täglich besser aussähe, wusste ich selbst genau, wie sehr dieser Anblicktäuschte.

Denn in Wahrheit fühlte ich mich oftsterbensmüde und verzweifelt. Manchmalerwischte ich mich dabei, wie ich langeZeit grübelnd vor mich hin stierte. So hat-te auch mein Vater in seinen letzten Le-bensjahren oft dagesessen, in sich versun-ken, unzugänglich und todtraurig. Resi-gniert winkte er ab, wenn ich ihn fragte, ober Schmerzen oder Sorgen habe. „Worandenkst du, Vater?“ – „An gar nichts.“ Nie

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erklärte er sich. War ich jetzt auch schonam Ende?

Eine Freundin fragte mich kurz nachmeiner Rückkehr aus der Klinik, ob mirbeim Nachdenken über mein Leben be-wusst geworden sei, dass ich irgendetwasEntscheidendes versäumt hätte. „Nein“, sagte ich entschieden, „ganz und garnicht.“ Als Mensch bin ich glücklich übermeine kleine Familie, als Journalist habeich ein spannendes Stück Geschichte persönlich miterlebt. Dass ich womöglichvon der Welt genug gesehen haben könn-te, schwante mir spätestens, als ich einesTages vor einer neuen Reise neben mei-nem halbgepackten Koffer eingeschlafenwar.

Nein, 70 Jahre lang gab esan meinem Leben nichts zumeckern, wie der Berliner zusagen pflegt. Ich hatte auchkeine bestimmten Wünsche andas, was noch hätte kommensollen. Nur was dann wirklichkam im 71., dem Jahr desKrebses, darauf hätte ich gernverzichtet.

Ich wusste, dass weit über400000 Männer, Frauen undKinder in Deutschland jähr-lich an Krebs erkranken unddass inzwischen die Hälfte vonihnen mit dem Leben davon-kommt. Warum also nicht ich?Und ich kannte natürlich dieWarnung der AmerikanerinSusan Sontag, sich nicht durchdie Dämonisierung dieserKrankheit verrückt machen zulassen. „Weitverbreitete psy-chologische Krankheitstheo-rien sprechen dem glücklosenKranken letztendlich die Ver-antwortung sowohl für die Er-krankung als auch für die Ge-sundung zu“, hat sie in ihremberühmten Essay „Krankheitals Metapher“ geschrieben.

Nein, das wollte ich für michnicht einfach so akzeptieren.Es sollte mich andererseits aberauch nicht davon abhalten, in meinem ei-genen Leben nach möglichen Ursachen fürmeinen maroden Zustand zu suchen. Nicht,weil ich den Krebs als Schande oder gar alsStrafe betrachtete, sondern, weil ich nebenden oft genannten Gründen für die tücki-sche Krankheit – wie Umweltschäden undgenetische Anlagen – ein persönliches Mit-verschulden durch meine Lebensführungnicht ausschließen wollte.

Es war Zeit, einen prüfenden Blick aufmein ganzes Leben zu werfen, vor allemauf meine Krankengeschichte. In meinerflüchtigen Erinnerung hatte ich alles in al-lem ein ziemlich gesundes Leben geführt.Doch dieser Eindruck entpuppte sich beinäherer Betrachtung als falsch. Tatsächlichwar ich erschrocken über die Liste schwe-

rer Krankheiten und über die Leichtfertig-keit, mit der ich, vor allem in den letzten 15 Jahren, alle Warnsignale missachtet hat-te, die mich zu Veränderungen meines Le-bensstils, insbesondere meiner Arbeits-besessenheit, hätten veranlassen sollen.

*Es sollte sein wie früher. Ich schob mei-

nen Presseausweis durch den Schlitzunter dem Panzerglas und sagte betont läs-sig: „Ich habe einen Termin beim Minis-ter.“ Der Beamte an der Pforte des Bundes-arbeitsministeriums rief im Vorzimmer an,nickte und winkte mich durch zum Fahr-stuhl: „Sie werden oben erwartet.“

Das war Ende November 2007. Gut dreiMonate war es nun her, seit mich die Ärz-

te aus der Berliner Charité entlassen hat-ten. Jetzt wollte der SPIEGEL, mein frühe-rer Arbeitgeber, für das Jahresheft von mireine Geschichte über Franz Müntefering,der plötzlich zurückgetreten war. Ohne zuzögern, sagte ich zu.

Doch während ich auf den ehemaligenMinister wartete, wurde mir einmal mehrdeutlich, wie unsinnig es war zu glauben,irgendetwas könnte so sein wie früher. Ichkannte Müntefering nun schon über 30Jahre. Sogar Fußball gespielt hatten wirmal zusammen. Und interviewt hatte ichihn natürlich auch schon. Und trotzdemwar diesmal alles anders: er und ich undunsere Lebensumstände.

Das Bürozimmer, in dem ich wartete,sah leer geräumt aus, so als hätte „Münte“

schon all seine Sachen gepackt. Erst vorgut einer Woche, am 13. November, hatteder Vizekanzler völlig überraschend derKanzlerin mitgeteilt, dass er – bis auf seinBundestagsmandat – alle seine Ämter auf-geben werde. „Ich möchte jetzt bei meinerFrau sein“, sagte er. Münteferings hattenerfahren müssen, dass ein schon besiegtgeglaubter Krebs bei seiner Frau Anke-petra wieder aufgetaucht war. Sie hattesich in die private Wohnung nach Bonnzurückgezogen, ihr Mann wollte sie dortbetreuen.

Als er zu mir ins Zimmer trat, wirkteFranz Müntefering fast wie befreit. Geradehatte er sich von den Genossen in derFraktion verabschiedet, alle respektierten

seinen Schritt. Münteferingsprach offen über die Schwie-rigkeiten seiner SPD und dieKrankheit seiner Frau. Jederwusste, dass es Krebs war,aber keiner nannte die Krank-heit öffentlich beim Namen.Auch in unserem Dialog fieldas Wort nicht, obwohl Mün-tefering von meinem Tumorwusste. Trotzdem hatte dieBegegnung eine menschlicheOffenheit und Wärme, dienormalerweise solchen Ge-sprächen fehlt. Nein, so ver-trauensvoll hätten der Minis-ter und der SPIEGEL-Repor-ter früher – vor meinem unddem Krebs seiner Frau – nichtmiteinander geredet. Ich fühl-te mich fast beschenkt vonseiner Herzlichkeit.

In dieser Zeit strapazierteich meine Kräfte. Am 3. Ok-tober folgten wir einer Ein-ladung zur Verleihung desQuadriga-Preises in der Ko-mischen Oper. Es war mirwichtig, dass Ex-Kanzler Ger-hard Schröder, Joschka Fi-scher und mein ehemaligerChefredakteur Stefan Austmir die Hand schüttelten. Undes war mir noch wichtiger, von

vielen zu hören, dass ich fast schon wiederder Alte sei. „Du hast nach Bestätigunggehechelt wie ein Verdurstender nach Was-ser“, sagte meine Tochter Susanne später.

In den langen Phasen nächtlicher Ein-samkeit überwältigten mich oft Erin-nerungen. Episoden der Vergangenheittauchten empor, manche bewusst herauf-beschworen, andere blitzten auf wie ausdem Nichts.

Es waren nicht so sehr konkrete Ereig-nisse als vielmehr Bilder und Gefühle, diedurch gegenwärtige Umstände oder Ge-spräche ausgelöst worden waren.

Aus solchen Impressionen, solchen emo-tionalen Ausschnitten aus dem Leben, dieSpuren in unserem Gehirn hinterlassen ha-ben, basteln wir uns unsere Biografien.

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Reporter Leinemann, Politiker Fischer in Siena, 2001

„Ich schob meinen Ausweis durch, sagte betont

lässig: ‚Ich habe einen Termin beim Minister.‘“

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Habe ich mir so eine Identität erfunden?„Jeder Mensch, nicht nur der Schriftstel-ler“, behauptet der Schriftsteller MaxFrisch, „erfindet seine Geschichten – nurdass er sie, im Gegensatz zum Schriftstel-ler, für sein Leben hält.“ Habe ich also –auch das eine Frisch-Formulierung – Geschichten anprobiert wie Kleider? Und wenn ja – wäre es dann nach derSchreckenserfahrung meiner Krebserkran-kung nicht Zeit für eine neue Anprobe?Was stimmte denn noch an meinem altenSelbstverständnis?

Während ich über mich und meine ge-schrumpfte Rolle im Leben grübelte, wur-de mir klar, dass mein Selbstbild nahezuvollständig durch meinen Beruf geprägtwar. Wenn ich meinen Le-bensweg beschrieb, dannschien von Kindheit an alleszwangsläufig auf den Journa-lismus zuzulaufen. Richtig ist,dass Zeit und Lebensumstän-de nach 1945 mein Interessean Politik und Geschichte ge-weckt haben, aber viele Zu-fälle hatten mitgespielt, bis ich„der Leinemann vom SPIE-GEL“ geworden war. Undmindestens viermal musste ichmich schmerzhaft von gesell-schaftlichen Träumen trennenund mein Selbstverständnisgründlich korrigieren.

Ich ahnte, dass die von vie-len Leidensgenossen beschrie-bene Fatigue auf mich lauerte,wenn sie nicht schon in mirsaß. Es war keine richtige Depression, kein schwarzesLoch, das allen Lebensmutverschlang, aber eine deut-liche Eintrübung meines Ge-müts. Ich wurde langsam, mit Beinen und Armen, aberauch im Kopf. Oft vergaß ichDinge, wusste nicht mehr, werangerufen hatte, verpassteTermine. Entscheidungen zutreffen fiel mir ungeheuerschwer.

Je länger ich wieder zu Hause war, des-to labiler wurde mein Selbstwertgefühl.Obwohl ich es noch nicht zugeben moch-te, klaffte die Schere zwischen meinem An-spruch auf die alte Normalität und derWirklichkeit immer weiter auseinander. Ichhatte Angst vor den Computerbildern vonmeinem Tumor und vor dem Urteil desStrahlenprofessors. Und obwohl eine Über-prüfung meines Gewichts und meinerKräfte in der Charité ergab, dass beidesnoch auf dem gleichen Stand war wie imJuli, als die Krankenhausbehandlung be-gann, fühlte ich mich sehr viel schwächerals damals.

Die Angst färbte alles ein. Was wäre,wenn der Professor sagte, wir müssten al-les noch einmal machen? Und was, wenn

ich nicht wollte? Rosemarie versuchte sol-che Gespräche schon im Ansatz zu been-den: „Jetzt wird nicht aufgegeben, daskommt nicht in Frage.“ Das war auch nichternsthaft meine Absicht, doch die Hoff-nung drohte zu erlöschen. Ich fühlte michimmer einsamer, glaubte auch zu merken,wie enttäuscht meine Freunde waren,wenn ich ihnen keine rosigen Aussichtenanbot. Und dann kam ich mir wie ein Ver-sager vor.

Wie so oft, wenn man ein Ereignis imVoraus dramatisiert und mit Bedeutungauflädt, war die Realität vergleichsweisebanal. Der Grund: Schleimfetzen verhin-derten noch immer einen klaren Blick aufden Ort im Rachen, wo einmal der Tumor

sich ausgebreitet hatte. Die Radiologenwollten dennoch eine leichte Schwellungentdeckt haben, aber der Professor wisch-te diese Diagnose beiseite. „Da wollen wirmal nichts draus machen“, beruhigte ermich. Wenn da überhaupt was sei, dann al-lenfalls eine kleine Delle als Folge der Be-strahlung. Ich solle im Februar wieder-kommen, dann würde man klarer sehen.

So weit der positive Teil des Gesprächs.Weniger erfreulich fand ich, dass nun auchdieser Experte anfing, von Jahren statt vonMonaten zu reden, von Monaten statt vonWochen, wenn es um zu erwartende Fort-schritte ging. Glaubte er, dass ich je wiedernormal etwas würde essen können? Dassei schwer zu sagen, weil individuell sehrverschieden, aber möglich sei es durch-

aus – allerdings bestimmt nicht vor Weih-nachten im nächsten Jahr. Wann würdendie Schmerzen im Mund verschwinden?Schwer zu sagen, bei manchen dauere esein paar Wochen, bei anderen länger alsein Jahr.

Natürlich hätte ich mich freuen sollenüber den verschwundenen Tumor. Aberich traute dem Frieden nicht. Außerdemwar ich tief deprimiert über den Stillstand,so sehr, dass ich fast einen Monat lang kei-ne Aufzeichnungen in meinem Tagebuchmachte. Als ich dann Ende November wie-der anfing, Eindrücke zu notieren, war dieLage nicht nur psychisch schlecht, sondernauch physisch. Mein Kreislauf, ohnehin im-mer ziemlich lahm, wurde immer labiler.

Beim Aufstehen packte michhäufig Schwindel, mir wurdekurzzeitig schwarz vor Augen.

Als wir am letzten Novem-ber-Sonntag die Winterklei-dung aus dem oberen Klei-derschrank holten und gegendie Sommersachen austausch-ten, spürte ich meine Schwä-che mit brutaler Deutlichkeit.Wegen meines Schwindelskonnte ich nicht mehr auf dieLeiter steigen, wegen nachlas-sender Kräfte saß ich nachkürzester Zeit auf dem Bettund rang nach Atem. „MeinGott“, stöhnte ich, ohnmäch-tig vor Wut und Enttäuschung,„was bin ich für ein Wrack ge-worden.“ Von wegen Norma-lität – dreieinhalb Monatenach meiner Entlassung ausder Charité war ich real amBoden.

Umso mehr Zeit hatte ich,weiter über mein „Lebens-werk“ nachzudenken. Ich ver-suchte immer, so sorgfältig wie möglich zu recherchieren,präzise zu formulieren undKritik an Verhaltensweisen so zu fassen, dass sie den Be-troffenen nicht persönlichverletzte.

Sonderbarerweise gelang mir das beirechten Politikern, deren Denken mirfremd war, besser als bei linken, deren Auf-fassungen ich teilte. So verblüffte mich derCSU-Innenminister Friedrich Zimmer-mann nach einer nicht sonderlich freund-lichen Geschichte über ihn mit einem An-ruf, um sich zu bedanken. „Die Geschich-te war lang“, sagte er, „das heißt, ich warIhnen wichtig. Sie war gut geschrieben,also haben Sie mich ernst genommen. Undsie war fair. Dass Sie meine politischen An-sichten teilen, kann ich ja nun wirklichnicht erwarten.“

Zu meiner Verwunderung reagiertenaber selbst mediengehärtete Politiker wieFranz Josef Strauß besonders empfindlichauf die öffentliche Beschreibung von per-

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Leinemann, Schriftsteller Martin Walser, 1998

„Nicht mehr reden können? Ich sah mich als einer

von denen, die durch Wörter wurden, was sie sind.“

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sönlichen Eigenheiten, die jeder sehenkonnte, wenn er wollte. Dass er im Fern-sehen schwitzte, blieb keinem unter denMillionen Zuschauern verborgen. Dochwenn man es beschrieb, war es ein Ein-griff in die Intimsphäre. Umgekehrt ver-stellten unverbindliche Standardfloskelnnach jahrzehntelangen öffentlichen Auf-tritten oft den genauen Blick auf dieHeroen der politischen Bühne.

Wurde der CSU-Chef nicht immer alsKraftkerl beschrieben, ein monolithischerBlock bayerischer Urwüchsigkeit, der wieein Panzer durchs politische Unterholzbricht und zermalmt, was ihm auf seinemMarsch im Wege ist? Was für ein Irrtum.„Man muss ihn nur gehen sehen“, schriebich über den WahlkämpferStrauß im März 1980: „Er mar-schiert ja auch nicht, wie dasKlischee weismachen will,walzt oder schiebt sich schongar nicht vorwärts. Vielmehrhastet er in weicher Eile, ver-fällt fast ständig in einen un-prägnanten Trippeltrab. SeinGang hat kein Gewicht.“ Be-stimmt hätte er sich – nachLektüre des Textes, was eherunwahrscheinlich war – alsMachtmensch in solchen Pas-sagen schonungsloser bloß-gestellt gesehen, als wenn ichihm monarchische Attitüdenunterstellt hätte.

Auch Helmut Kohl, überden ich so viele Geschichtenschrieb, dass am Ende ein klei-nes Buch daraus wurde, rühm-te sich, davon keine Zeile ge-lesen zu haben. „Sie habendoch schon ganz kurze Fin-ger“, verhöhnte er mich beieiner der wenigen direktenBegegnungen, „weil Sie sichIhre sogenannten Fakten dar-aus saugen.“ Wenn es ihmaber nützlich erschien, dräng-te er sich skrupellos in meineAngelegenheiten. So nutzte erdie Vorstellung meiner Bio-grafie über den legendären FußballtrainerSepp Herberger 1997 im MannheimerSchloss, um sich selbst zum Laudator zuernennen. Der Deutsche Fußball-Bund alsMitveranstalter gab bereitwillig nach. Auchdem Verlag war Kohls Auftritt als PR-Gagnatürlich recht.

Der Kanzler saß direkt vor dem Podium,auf dem ich stand, und ich sah staunend,wie sehr er sich mit dem Bundes-Sepp, wiedie Fans den alten Fuchs Herberger nann-ten, identifizierte. Hinterher flüsterte ermir zu: „Ich hab’s schon gelesen, ist ein ex-zellentes Buch.“ Ich konnte dieses Lobkaum glauben. Hatte Kohl nicht in der Politik nur abschätzig über mich und denSPIEGEL geredet? Eigenhändig strich ermich vor Auslandsreisen beinahe jedes Mal

von der Liste der mitfliegenden Journalis-ten. Jetzt aber fragte mich Gerhard Schrö-der – damals noch Ministerpräsident inNiedersachsen – nach einem Treffen mitKohl auf der Hannover-Messe: „Was hastdu denn mit dem Dicken gemacht? Derpreist überall dein Buch an.“

Solche Sinneswandel, die – wie im Fal-le Kohl – oft auch schnell wieder umschla-gen konnten, waren keine Ausnahme.Außenminister Hans-Dietrich Genscherhatte sieben Jahre lang meinen Gruß nichterwidert, nachdem ich ihn vor seinemWechsel von Helmut Schmidt zu HelmutKohl als ängstlichen Zauderer porträtierthatte. „So muss man sich Hans-DietrichGenscher wohl vorstellen bei der Überle-

gung, ob er springen soll zur CDU odernicht“, hatte ich geschrieben, „als einenMann, der den Finger in die Luft streckt,um zu sehen, woher der Wind weht, den erselber macht.“

Nach sieben Jahren Funkstille versicher-te er mir dann aber plötzlich, dass er mitInteresse und Vergnügen meine Geschich-ten über seine Kollegen lese. Warum erdenn an der über sich selbst so wenig Ver-gnügen gehabt habe, fragte ich ihn. Weil ichihn so dargestellt hätte, als wäre ihm seineverzwickte Situation damals nicht bewusstgewesen, antwortete er. Ich glaube aber,ihn ärgerte vor allem, dass ich mit meinerkritischen Geschichte den Startschuss füreine Serie negativer Berichte über ihn invielen Zeitungen gegeben hatte.

In meinem Klinikbett fielen mir Dut-zende solcher Anekdoten ein, aus einerZeit, die ich genossen hatte, nicht nur, weilich immer neugierig auf Menschen gewe-sen war, sondern auch, weil mir ohne Fra-ge die Nähe zu den Mächtigen – das Wis-sen um ihr Gerangel um Vorteile, dieKenntnis ihrer Ängste und Triumphe – einVergnügen war. Ich genoss die klamm-heimliche Lust des Mitwissers. Zwar gehör-te ich nicht dazu, was ganz gut war, aberich war nahe dran. Und manchmal be-wirkte ich sogar etwas Positives.

Ich wusste schon längst nicht mehr, woich stand und wohin mein Weg mich nochführen würde. „Kämpfen, Herr Leine-mann, kämpfen“, hatte mir der Italiener

Giorgio nach einem Restau-rantbesuch ins Ohr geflüstert,„das Leben ist Kampf, jedenTag.“ Kämpfen, also gut, abergegen wen oder was? In derCharité, während meiner gru-seligen Bestrahlungszeit, hatteder Tumor für ein klaresFeindbild gesorgt. Aber jetzt?

Allein im Februar war ich beisieben Ärzten gewesen, die allean mir herumgedoktert hatten.Da waren zunächst einmal diebeiden Hausärztinnen, dannmeine Diabetologin, die Hals-Nasen-Ohren-Ärztin, der Kar-diologe, der Schmerzexperte,der Strahlenpapst der Charité,der Hals-Nasen-Ohren-Exper-te und – demnächst – der Herz-spezialist. Dazu kamen die Lo-gopädin, die Physiotherapeutinsowie, als medizinische Privat-berater, mein Neffe und mei-ne Frau. Manchmal kam ichmir vor wie ein sterbenderMonarch, um den Kapazitätenaller Fachrichtungen kreisen,zu dessen Staatsbegräbnis abertrotzdem bald die Einladungenverschickt werden.

Längst hatte ich begonnen,von einem Augenblick zumanderen zu leben. Also bat

ich auf dem Rückweg den Taxifahrer,durchs Regierungsviertel und über denPotsdamer Platz zu fahren, weil ich an die-sen Stätten meines früheren Arbeitsalltagslange nicht gewesen war. Ich empfand die-se Umwege als Abschiedsfahrten. „Dassehe ich jetzt zum letzten Mal“, dachte ich.Der Gedanke an den Tod war mir schonrecht nahe gerückt.

Normalerweise ist der Tod kein Themain unserer Spaßgesellschaft. Um ihn küm-mern sich Fachleute – Mediziner, Geistli-che, Bestattungsunternehmer. Haben dieNormalmenschen nicht genug mit dem Le-ben zu tun? Dass dieser Spruch ein Irrtumist, haben unsere Altvordern immer ge-wusst. Heute wissen es vor allem die Men-schen, die durch eine Krankheit gezwun-

Titel

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Politiker Müntefering, Ehefrau Ankepetra, 2004

„Jeder wusste, dass es Krebs war, aber keiner

nannte ihre Krankheit öffentlich beim Namen.“

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gen sind, dem Tod ins Auge zu sehen. „Wirleben das Leben besser, wenn wir es so le-ben, wie es ist, nämlich befristet“, hat derSchweizer Jurist und Schriftsteller PeterNoll wenige Monate vor seinem Tod ge-schrieben.

In seinem postum erschienenen Buch„Diktate über Sterben & Tod“ heißt esweiter: „Nicht nur die Christen, sondernbesonders die Nichtchristen, von Senecaund Montaigne bis, wenn Sie wollen, Hei-degger, waren der Meinung, dass das Le-ben mehr Sinn habe, wenn man an denTod denkt, als wenn man den Gedankenan ihn beiseiteschiebt, verdrängt. Sie sag-ten auch, es sei leichter zu sterben, wennman sich sein ganzes Leben lang mit demTod beschäftigt habe, als wennman von ihm überrascht wer-de. Ich habe erfahren, dass dasalles stimmt. Ich hatte Zeit,den Tod kennenzulernen. Dasist das Gute am Krebstod, denalle so fürchten.“

Spätestens seit dem 8. Mai2007, dem Tag, an dem ich vonmeinem Tumor im Hals er-fuhr, gehörte der Tod auch zumeinen ständigen Begleitern.Aber ich musste die gedank-liche Nähe zu „Freund Hein“nur erneuern, nicht neu knüp-fen. Denn von meiner Kind-heit an, über die Pubertät undStudentenzeit bis zu meinerAlkoholkrise in der Lebens-mitte, war mir in depressivenPhasen oder in Druck- undKrisensituationen der Gedan-ke an eine Flucht aus dem Le-ben durch Selbstmord immergeläufig, allzu geläufig, wie ichheute finde.

Der Grund ist wohl, dassder Tod für mich nichts Be-drohliches hatte. Schon alsKind empfand ich eher Ehr-furcht als Angst vor dem Ende.

Der Schrecken beschränktesich auf das Sterben, vorSiechtum habe ich mich ge-fürchtet. Ich hatte immer Angst davor, amEnde meines Lebens an Schläuche undMaschinen gehängt, künstlich ernährt undentwürdigt zu werden. Inzwischen habeich ja reichlich Vorgeschmack auf so eineSituation bekommen.

Dass ich früh eine Art zeremonielleHochachtung vor der Majestät des Todesempfunden habe, betrachte ich heute alsein Erbe des Nationalsozialismus. Die pathetischen Heldengedenktage, die he-roischen Staatsbegräbnisse und der weihe-volle Totenkult der Nazis beeindrucktenmich schon im Vorschulalter. Tagelangkommandierte ich auf unserem Hinterhofeine Schar vier- bis fünfjähriger Mädchenaus der Nachbarschaft, ließ sie vor einem„Ehrengrab“ antreten, das ich in der Ecke

unter einer jungen Kastanie gebaut hatte.Aus Zaunlatten hatte ich ein Kreuz zu-sammengenagelt und darauf einen Stahl-helm gehängt, den ich irgendwo im Stra-ßengraben gefunden hatte. Die Mädchenhatten das „Grab“ für meinen unbekann-ten Helden, der in meinen Träumen na-türlich ich selbst war, mit Blumen be-pflanzt, die wir aus Gärten geklaut hatten.Erst auf Protest von Nachbarn hin machtemein Vater diesem makabren Spiel einEnde.

Noch viele Jahrzehnte sollten vergehen,bis ich selbst erstmals einen Toten zu sehenbekam. 1985 starb mein Vater und 1997meine Mutter. Mein 86-jähriger Vater ver-schied friedlich schlafend im häuslichen

Bett, meine 91-jährige Mutter nicht ganz sofriedvoll in einem Pflegeheim. Mit meinemVater habe ich eine Woche vor seinem Todnoch ein langes, sehr versöhnliches undherzliches Gespräch geführt, das ein rich-tiger Abschied war. Aufgebahrt sah er sofreundlich aus wie im Leben.

Der Todeskampf meiner Mutter begann,während ich in Rom meinen 60. Geburts-tag feierte. Am Tag nach der Feier er-reichte mich ein dringlicher Anruf einesVetters aus Burgdorf, der mir sagte, es gehemit meiner Mutter zu Ende, ich solle sofortkommen. Da es schon Abend war, buchteich für den frühen nächsten Morgen einenFlug nach Hannover. Das dauerte lange,ich musste in Mailand und in Frankfurtumsteigen. Von Mailand aus rief ich meine

Verwandten an. Der Vetter sagte: „DeineMutter ist in der Nacht verstorben.“

Wie betäubt legte ich den restlichen Wegzurück, am frühen Nachmittag kam ich indem Altenheim an, in dem Mutter die letz-ten Jahre verbracht hatte. Noch war ihrLeichnam im Hause, wenn auch versteckt,um unter den anderen alten Heimbewoh-nern keine Aufregung auszulösen. Etwasverlegen und Entschuldigungen murmelnd,führte eine Pflegerin mich in einen kleinenRaum, der nichts anderes war als eine Ab-stellkammer mit allerlei Gerümpel.

Dort lag die Tote aufgebahrt.Ich war gebannt von ihrem Anblick. Mut-

ters Gesicht wirkte streng, ja herrisch. Vonihren fahlen Zügen ging eine alttestamen-

tarische Hoheit, eine Würdeaus, die mich auf Abstandhielt. Erst nach einer Weilewagte ich, die Hände zuberühren, die man ihr überdem Leib gefaltet hatte. MeineMutter war immer eine macht-bewusste Frau gewesen, dochhatte sie ihren Einfluss bei Leb-zeiten eher manipulativ entfal-tet. Erst im Tode offenbarte siesich als strenge Gebieterin. Ichhabe diesen Eindruck nie ver-gessen, er hat sich mir untilg-bar eingeprägt, mehr als alleBilder von ihr zu Lebzeiten.

Mir wurde es nach dem Todmeiner Mutter wichtig, eineeigene letzte Ruhestätte zufinden. Und so haben wir,meine Frau und ich, seit vielenJahren nach einem Friedhofgesucht, der uns gefiel. Kei-tum auf Sylt wäre so ein Platzgewesen oder Positano amGolf von Salerno in Italien.Aber letztlich entschieden wiruns dafür, die Suche auf Ber-lin zu beschränken. Dort woll-ten wir den Rest unseres Le-bens verbringen, dann könn-ten wir da auch begraben sein.

Meine Todesahnungen ver-dichteten sich. In meinem

Zimmer wollte ich keine Blumen mehr ha-ben, denn die erinnerten mich plötzlich anGrabgestecke. Ich quälte mich durch wüs-te, bedrohliche Träume, in denen es immerum mein Leben ging. Wieder fürchtete ich,verrückt zu werden. Nachts bäumte ichmich auf, in Atemnot und mit irren Ge-danken. Schmerzen schossen mir bis in dieHaarwurzeln und durch jede Faser meinesKörpers. Mir war, als wäre ich gefangen ineiner Hauthülle, die zu knapp geraten warfür meinen Körper.

Tagsüber war ich dann müde und zer-mürbt von all den Kämpfen, die mir jetztaussichtslos erschienen. Freunde erlebtenerschrocken, wie ich mitten im Gesprächeinschlief oder dass meine Sätze wirr ver-läpperten. Vor meiner Frau und meiner

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Schauspieler Mühe als Hamlet, 1990

„Die berührende Tatsache, dass ich mit diesem

Unvergesslichen das Schicksal teilte.“

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Tochter heuchelte ich nicht einmal mehrLebenswillen. Susanne erinnerte sich spä-ter mit Schrecken daran, und doch emp-fand sie diese Zeit auch als einen Gewinn.Dass der Abschied so lang sei, habe auchsein Gutes, sagte sie. Man lerne sich nocheinmal neu und anders kennen. „Solangees auch dauert, ich weiß das zu schätzen.“

Meine eigenen Überlegungen, über dieich mich damals freilich ausschwieg, be-kamen wahnhafte Züge. Ich wusste, derRest meines Lebens hatte begonnen. DasEnde war nicht weit, und es war mir will-kommen. Für die Bemühungen der Ärztehatte ich nur noch ein Achselzucken. Sie punktierten einen Erguss in der lin-ken Rippenfellgegend, diagnostiziertenbronchitische Rasselgeräuscheund „eine schwere restrikti-ve Ventilationsstörung“. Sieüberprüften meinen Herz-schrittmacher und fanden„beste Werte“. Aber das Vor-hofflattern blieb.

Vor allem aber, das warmeine feste Überzeugung,blieb auch der Tumor, wenner sich auch nicht zeigte. Ichglaubte einfach zu spüren,dass das Andere, das Fremde,das Böse, das in mir wucher-te, nicht verschwunden war.Nein, diese Krankheit war kei-ne „Episode“, wie mir in denersten Wochen in der Charitéeine junge Ärztin tröstendversichert hatte. Im Gegenteil– ich war sicher, dass all dieanderen Baustellen, an denendie Mediziner sich abarbei-teten, in Wahrheit nur Ne-benkriegsschauplätze waren,wenn nicht gar Fallen, die derDämon, der in mir fraß, denoberklugen Doktores stellte,um sie lächerlich zu machen.

Lange schon hatte dieKrankheit eine Distanz zwi-schen mir und meiner Umweltgeschaffen. Jetzt fühlte ich siewachsen. Ich spürte die Liebemeiner engsten Angehörigen, die Zunei-gung meiner Freunde, aber ich erlebte alleZuwendungen so, als würden sie mir übereinen Graben hinweg gereicht. Ich fühltemich als Sterbender, und damit war ich al-lein. Die Gemeinsamkeiten waren mehrVergangenheit als Gegenwart. Ich las nichtsmehr. Und ich schaute auch nicht mehr inden Spiegel. Mein Spiegel waren die Ge-sichter der Freunde, die ihr Erschrecken zuverbergen suchten, wenn sie mich sahen.Und sah ich denn nicht auch anders aus alsfrüher? Und hörte mich anders an? Mitmeinen von der Lymphe aufgequollenenGesichtszügen, meinen schwankenden Be-wegungen und den röchelnden Lauten?

„Lehre uns bedenken, dass wir sterbenmüssen, auf dass wir klug werden“, mahnt

die Bibel, Psalm 90, Vers 12. Aber klug imSinne der Bibel fühlte ich mich ganz undgar nicht. Der Schweizer Peter Noll hat inseinen Notaten geschrieben, dass er sichfrei fühle als Sterbender. Denn niemand, soargumentierte er, könne uns mehr nehmenals das Leben, und das werde uns ohnehingenommen: „Dieser Gedanke gibt Freiheit,gibt geradezu frische Luft.“

Warum konnte ich Nolls Freiheit nichtempfinden? Ich glaube, mir fehlte das un-erschütterliche Gottvertrauen, das Noll zubesitzen schien. Noll: „Man muss nur end-lich sich einmal lösen von der blödsinnigenVorstellung eines bärtigen Opas … Es isteinfach lächerlich anzunehmen, das, waswir mit unseren Sinnen wahrnehmen, sei

alles. Natürlich ist es nicht logisch, abernaheliegend, dass es einen Geist gibt, derdas alles gemacht hat, der noch unendlichviele weitere Welten geschaffen hat undder uns – und das ist das Entscheidende –mit dem Gehirn den Zwang eingepflanzthat, ihn sich zu denken. Was heißt daschon Glauben?“

Dass es einen solchen Gott gibt, „eineMacht, größer als wir selbst“, das hatte ichin meiner Alkoholiker-Selbsthilfegruppegelernt, wenn auch zögernd und immerwieder zweifelnd. Nachdem ich jahrelangmit meinen Versuchen gescheitert war, alsder kleine Gott meines eigenen Lebens dieDinge in den Griff zu kriegen, akzeptierteich den Rat meiner Freundinnen undFreunde, mich bei Dingen, die ich nicht

ändern kann, einer höheren Macht zu un-terwerfen, die ich natürlich auch Gott nen-nen konnte. Eine Vater- oder gar Opa-Fi-gur mit Rauschebart war dieser Gott frei-lich nicht, eher ein allumfassendes Prinzipder Solidarität oder der Liebe.

War ich nun gläubig? Die Frage würdeich verneinen, weil sie mir zu christlichklingt, und an eine Auferstehung und einewiges Leben glaube ich eben nicht. MitFranz Beckenbauer habe ich einmal ein sehrernsthaftes Gespräch über das Leben nachdem Tode geführt, von dem er fest über-zeugt ist. Er kann sich einfach nicht vorstel-len, dass nach dem Sterben alles vorbei seinsoll, und er war deshalb richtig erschrocken,als ich auf seine Frage, was ich mir denn er-

hoffte, lapidar antwortete:„Nichts. Nur Ruhe.“ Ich denkemir Totsein wie Schlafen, aller-dings ohne Träume.

*Ostern 2008, als ich mich

mit Gedanken über mei-nen Tod herumschlug, hatteich fast 32 Jahre lang keinenAlkohol mehr getrunken. Mankönnte glauben, dass mir nachso langer Zeit meine Trocken-heit nicht mehr so wichtig seinmüsste. Doch das Gegenteilwar der Fall. Noch immer warich tief dankbar für dieses Ge-schenk, und das kann wohlnur verstehen, wer selbst ein-mal mit einer Sucht zu kämp-fen hatte, die ja auch eine töd-liche Krankheit ist. Dass esmir missglückt war, mir 1976das Leben zu nehmen, emp-fand ich als eine bindendeVerpflichtung, es jetzt nichtnoch einmal zu versuchen.

Die Würde des Menschen istunantastbar? Wie sollte ich dasdenn einklagen, wenn ich un-fähig war, einen klaren Satz zuartikulieren? Sie standen vormir, die Ärzte in ihren weißenKitteln, und redeten auf michein, junge Schnösel zum Teil,

aber auch fremde Frauen, immer von ganzoben nach ganz unten. Vielleicht waren diemeisten auch nur hilflos, konnten über-haupt nicht einschätzen, was sich da vorihnen abspielte, obwohl es ja in der Kran-kenakte stand. Auf jeden Fall traten sie ar-rogant auf, es war ihnen völlig egal, dass ichoffensichtlich nur die Hälfte verstand vondem, was sie mir erzählten. Und jeder vonihnen machte mir Angst, Angst, Angst.

Noch nie hatte ich mich so ohnmächtiggefühlt. Dass ich dem Alkohol gegenübermachtlos bin, hatte ich gelernt und akzep-tiert. Aber machtlos gegenüber Menschen?Das war mir neu, in dieser Form war es mirneu. Ich kannte ihre Statussymbole undihre Herrschaftsgesten, und dennoch warich ihnen ausgeliefert, ihrer Jovialität so

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Leinemann, 1990

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„Ich denke mir Totsein wie Schlafen,

allerdings ohne Träume.“

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gut wie ihrer teilnahmslosen Kälte. Plötz-lich wusste ich, was die berühmte „Dia-lektik der Macht“ ist – meine Wehrlosig-keit als Kranker machte sie stark.

Bei jeder Visite konnte ich beobachten,wie sich die rangniederen Ärzte und dasPflegepersonal um die Aufmerksamkeit ih-rer Chefs bemühten. Wie sie seine Nähesuchten, ihm gefällig waren, ihm nach demMunde redeten. Und wenn sie mit der ge-liehenen Macht des Stellvertreters alleinvor meinem Bett standen, spielten sie sichbisweilen auf wie der Chef persönlich.

So trat eines Tages ein junger, smarterDoktor in mein Zimmer, um mir mit lässi-ger Beiläufigkeit zu erklären, dass es mitmeiner Lebenserwartung ja ohnehin nichtmehr weit her sei und sich be-sonderer medizinischer Auf-wand deshalb nicht mehr loh-ne. Natürlich drückte er sichanders aus. Er sagte, dass beieiner am 28. März durchge-führten Computertomografiedes Hals-Lungen-Bereichs me-tastasenverdächtige Herde inbeiden Lungenflügeln festge-stellt worden seien. Der Ex-perte für Hals-Nasen-Ohren-Erkrankungen habe deshalb„vor allem bei Progress dermalignen Grunderkrankung“– bei Ausbreitung meines bisdahin als verschwunden gel-tenden Tumors also – einenoperativen Eingriff „im Be-reich der Nekrosehöhle“ –also der Hauttasche im Hals-bereich, die als Herd für dieLungenentzündung angesehenwurde – nicht für angesagterklärt.

Dass ich bei der Behaup-tung, da seien Metastasen inmeinem Hals, nicht zu Todeerschrocken auffuhr, lag alleinan meinem desaströsen Zu-stand. Ich war so schwach undmüde, geistig so weggetreten,dass ich die Botschaft gar nichtwahrnahm. Zum Glück waraber meine Frau bei mir, die zornbebendins Stationszimmer stürmte, wo eine Reihevon Schwestern, Pflegern und Medizinernbeisammensaßen, und den jungen Arztanpfiff: „Sie können doch nicht einfachvor einen ahnungslosen Patienten tretenund ihm unvorbereitet und quasi nebenbeiMetastasen anhängen.“ Zumal diese Dia-gnose mit großer Wahrscheinlichkeit auchnoch falsch sei. Es handele sich bei demverdächtigen Befund nämlich in Wahrheitum Bestrahlungsnarben, wie schon bei frü-heren CT-Aufnahmen von dem Strahlen-experten der Charité und dem HNO-Chefdes Sankt-Gertrauden-Krankenhauses,festgestellt worden sei.

Die Beispiele meiner Verwirrung, diemir Freunde und meine Tochter Susanne

nachträglich und erst auf Nachfrage er-zählten, schockierten mich. Schon seit Wo-chen hatte ich immer mal gefürchtet, dassmeine bizarren und monströsen TräumeAnzeichen einer beginnenden Geistes-krankheit sein könnten. Aber meine An-gehörigen hatten mich jedes Mal beruhigt,wenn ich ihnen von diesen Ängsten er-zählte. Sie fänden angesichts der Krankheitund der damit verbundenen Aufregungendie wilden Traumreaktionen nicht ver-wunderlich. Auch gelang es mir meist,sprachliche Ausuferungen ins Wahnhaftezu unterdrücken, bevor sie meine Ge-sprächspartner verwundern konnten.

Auf einem Zettel, den ich später wie-derfand, hatte ich am 31. März mit mir fast

fremder Schrift hingekritzelt, was ichnachts geträumt hatte: „Unruhen in derungarischen Botschaft sollen zu mehrerenToten geführt haben. In einem Geheim-bericht aus der Botschaft Libyens heißt es, es habe brutale Vernehmungen, Folterund Erpressungen gegeben. Der Betriebwird als Notladen fortgeführt. Viel Hektikund Angst. Mein ungarischer Gewährs-mann beschließt, nicht über Fußball aus-zusagen.“

Es kam vor, dass ich Personen sah, diegar nicht anwesend waren. Einmal teilteich mit, dass ich in den Jemen eingeladenworden sei, für einen Spionageauftrag.Den hätte ich aber abgelehnt, weil derdeutsche Nachrichtendienst da unten kei-ne guten Agenten habe.

Solche Berichte aus diesen schrecklichenTagen empfand ich als gruselig. Mit Ent-setzen erkannte ich, wie schmal der Gratwar, der mich vom Abdriften in den Irrsinntrennte. Eines Nachts hatte ich – darankann ich mich sehr wohl erinnern – in mei-ner schrecklichen Angst die Schläuche füreine Infusion zerschnitten. „Da haben wirden Salat“, schimpfte der Pfleger, von demich mich sowieso verfolgt wähnte, „ich habes kommen sehen.“ Ich fürchtete eine gnadenlose Bestrafung, wobei ich nichtwusste, worin die bestehen könnte.

Erst nachträglich wurde mir klar, wiewichtig in diesen Tagen der Schutz durchmeine Angehörigen war, die inzwischenden Pflegekräften gegenüber längst nicht

mehr so handzahm waren wiezu Beginn meiner Kranken-hauskarriere, sondern raubei-nig und direkt. Ich brauchtenicht viel Phantasie, um mirauszumalen, dass ich ohne sieauch schnell in irgendeinerPsychiatrie hätte landen kön-nen.

Mich trafen diese Erkennt-nisse auch deshalb so hart,weil sie Erinnerungen an mei-ne Saufzeit wachriefen. Warich nicht wieder dieselbe hilf-lose Person geworden wie da-mals? Hatte ich nicht wiedervöllig die Kontrolle über meinLeben verloren? Der brutalesoziale Absturz von einem,der im Hubschrauber mit demKanzler auf Reisen gegangenwar, im gepanzerten Dienst-wagen des Innenministers voneiner Polizeieskorte in wildemTempo über eine völlig ver-stopfte Autobahn ins Fußball-stadion geleitet wurde, zu einem geistigen und körper-lichen Wrack, das niemandmehr ernst nimmt?

Das war das eine. Das an-dere war meine Hilflosigkeit.„Besonders schlimm war es“,sagte meine Tochter, „wenn

dein früherer Charme durchschien, wenndu versuchtest, eine lustige Bemerkung zumachen, und nichts kam an – du brachtestdeine Pointe sprachlich nicht rüber, das Timing stimmte nicht, und du hattest auchnicht die körperliche Präsenz, um deinenWorten Gewicht zu geben.“

Das war traurig, und es ängstigte mich.Aber tiefer traf mich der Verdacht, dasssich meine Hoffnung, jederzeit ein be-wusstes, selbstverantwortliches Lebenführen zu können, als Illusion zu erweisenschien.

Gewiss, ich hatte meine Bereitschaft er-klärt, mich einer „Macht, größer als ichselbst“, zu unterwerfen. Aber mein Kör-per, der jetzt auch meine geistigen Ge-brechen verursachte, konnte doch nicht

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Kanzler Kohl, Minister Genscher (2.v. l.), Politikberichterstatter, 1983

„Eigenhändig strich er mich von der Liste

mitfliegender Journalisten.“

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jene höhere Macht sein, die andere Gottnannten.

So sah es für mich auf den ersten Blickaber aus. Denn es war mein Körper, derdurch einen noch nicht entdeckten Defektmein Gehirn so verwirrte, dass ich fürch-tete, verrückt geworden zu sein. Wo warendenn meine Seele und mein Ich, währendich irres Zeug redete und Wahnvorstellun-gen hatte, die mich zu Tode ängstigten?Hatte ich nicht immer geglaubt, dass meinIch über eine immaterielle Seele verfügte,die mein materielles Gehirn und den Kör-per steuerte? Aber nun hatte ich am eige-nen Leibe erlebt, was die moderne Hirn-forschung schon seit 30 Jahren behauptet,dass nämlich das Gehirn in Wahrheit meinSchöpfer ist, der meine Ge-danken und Gefühle und das,was ich für meine Seele halte,hervorbringt, letztlich alsomein gesamtes Ich. War die-ses Ich damit entzaubert?

Denn wo blieb dann meinfreier Wille? Woher stammtedie Moral, wenn ich alsMensch nichts wäre als einEvolutionsprodukt im SinneCharles Darwins? Wer hat mirdie Fähigkeit eingepflanzt,zwischen Gut und Böse zuunterscheiden? War mein Ge-wissen nur ein Produkt derAnpassung an eine sozial kom-plexe Umwelt? Lauter Fragen,die sich mir mit zunehmendemAlter womöglich sowieso neugestellt hätten. Doch nun be-wirkte dieses immer unüber-schaubarer werdende Geflechtvon Krankheiten, das mir dasLeben abschnürte, dass sie mir dringlicher erschienen,existentiell zwingender, als ichmir das früher in meinen ge-legentlichen Phantasien überein behagliches Rentnerdaseinausgemalt hatte.

*Als ich erwachte, war ich

sprachlos. Und das imwahrsten Sinne des Wortes. Vergebens ver-suchte ich Sätze hervorzubringen – mit ei-nem Keuchen entwich die Atemluft, ohnedass ich mich sinnvoll artikulieren konnte.Meine Lippen formten lautlose Hilfe-schreie. Erschrocken griff ich mir an denHals, spürte einen Verband und erkanntedie furchtbare Wahrheit: Sie hatten mir dieLuftröhre aufgeschnitten.

Wenn ich sagen würde, dass ich ge-schockt war, wäre das eine grobe Unter-treibung. Ich war entsetzt, überwältigt.Hätte ich noch reden können, wären mirdie Worte versiegt. Ich fühlte mich, alshätte man versucht, mich umzubringen.Eine hallende, weite Leere breitete sich in mir aus. Nicht mehr reden können, das erschien mir im ersten Augenblick

so schlimm, als könnte ich nicht mehrsehen.

„Wörter machen Leute“ heißt ein vonWolf Schneider verfasstes Standardwerk zuMagie und Macht der Sprache. Ich sah michals einen dieser Leute, die durch Wörter zudem wurden, was sie sind. Nicht nur Schrei-ben, auch Reden war mein Beruf. „Du bistja ein homme de lettres“, hatte Rudolf Aug-stein einmal zu mir gesagt, das empfand ich,als hätte er mir einen Orden an die Brust geheftet. Und jetzt war ich stumm.

Wie konnte das geschehen? Ein knappesJahr zuvor hatte ich mit dem Professor inNürnberg vereinbart, dass er den Tumor inmeinem Zungengrund nicht operieren sol-le, wenn dabei meine Fähigkeit zu schlu-

cken oder zu sprechen zerstört würde. Erhatte sich daran gehalten. Mit massiver Be-strahlung und Chemotherapie war mananschließend in der Berliner Charité derKrebsgeschwulst zu Leibe gerückt. Das Er-gebnis: Der Tumor war weg, doch Nah-rung schlucken konnte ich nicht mehr. Mei-ne Stimme aber blieb intakt.

Und jetzt dieser Eingriff ohne Vor-ankündigung, der in einem eklatanten Wi-derspruch stand zu dem Anspruch, den dieKlinik selbst propagierte. Träger des Hau-ses war eine Gemeinnützige Gesellschaftder Katharinenschwestern mbH aus Müns-ter, ein 1571 gegründeter Frauenorden, derdie Leitlinien der Pflege in die Wartezim-mer hängte: „Christliche Nächstenliebeund die Achtung vor dem Leben bilden im

Sankt-Gertrauden-Krankenhaus die Basispflegerischen Handelns.“ Die Patientensollen sich „geborgen und in ihren indivi-duellen Belangen verstanden fühlen“,heißt es weiter im Text, „sie haben einRecht auf Freundlichkeit, Selbstbestim-mung, Information, Taktgefühl und per-sönliche Zuwendung. Ihre Angehörigenbeziehen wir in die Pflege ein.“

Umso unverständlicher erschien mir die-ser massive unangekündigte Eingriff. Wardamit nicht auch die zweite, noch ent-scheidendere Voraussetzung zunichte-gemacht worden, unter der ich bereit ge-wesen war, die ganze Quälerei der Tu-morbekämpfung auf mich zu nehmen? Ichkam mir betrogen vor, hilflos medizini-

schen Falschspielern ausgelie-fert. Wütend und verzweifeltballte ich die Fäuste undschüttelte wild den Kopf. Trä-nen liefen mir über die Wan-gen. Nein, nein, nein, flüs-terten meine Lippen lautlos,immer wieder: nein, nein,nein. Meine Ohnmacht mach-te mich aggressiv, meine Ver-zweiflung lebensüberdrüssig.

Dann saß der Professor anmeinem Bett, der die Opera-tion durchgeführt hatte. Wi-derwillig hörte ich ihm zu, alser mit ruhigen, klaren Wortenerläuterte, wie geschwollenund vernarbt die Umgebungdes früheren Tumors im Halsdurch die Bestrahlung sei.Luft- und Speiseröhre seien soverengt, dass er den Entlas-tungsschnitt für unumgänglichgehalten habe. Denn die Engesei auch der Grund für mei-ne körperliche Schwäche und meine geistige Desorien-tierung gewesen, weil meinHirn nur unzureichend mitSauerstoff versorgt wordensei.

Im Übrigen sei die Sprach-losigkeit nur eine Angelegen-heit von Tagen, dann werde

mir eine Sprachkanüle eingesetzt, und ichwürde neu sprechen lernen.

Die Nächte waren noch immer furcht-bar. „Angst. Angst, Panik“, schrieb ich auf.Oder: „Erst um sechs Uhr morgens einge-schlafen. Davor Angst.“ In einer Nachtstritt ich mich heftig mit einer Schwester,die mir kein zusätzliches Schlafmittel ge-ben wollte. Ich glaube, ich habe noch nieeiner Frau eine solche Szene geliefert wiedieser armen Nachtschwester. Ich gestiku-lierte wild, warf mich im Bett hin und her,raufte mir die Haare und grunzte aggressiv.Dass ich mich aufführte wie ein Stumm-filmmime, war mir im Hinterkopf bewusst.Aber die Not war echt. „Entweder Sie sindein grandioser Schauspieler“, sagte sie amEnde erschöpft, „oder in Ihnen gehen

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Kanzler Schröder, 1999

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„Da war die klammheimliche Lust des Mitwissers,

das Vergnügen an der Nähe zu den Mächtigen.“

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furchtbare Dinge vor.“ So war es: Mir kames vor, als löste sich mein Körper in lauterwunde Einzelteile auf. Und Schreckensbil-der jagten durch meinen Schädel.

Einzig die Angst vor einem Leben ohneSprache trieb mich um. Meine ganze Exis-tenz reduzierte sich in meinen halbwachenAlpträumen auf diesen Zustand. Wer wäreich denn, wenn ich nicht mehr reden könn-te? Die tröstenden Versprechungen desProfessors am Tage halfen mir nachts über-haupt nicht. Hatte ich nicht – bei allerFurcht vor dem Tumor – insgeheim immernoch gehofft, dass ich mein altes Leben inTeilen würde fortsetzen können?

In diesen sprachlosen Nächten im Sankt-Gertrauden-Krankenhaus wurde mir be-wusst, dass der Rest meinesLebens, wie knapp odergroßzügig er auch bemessensein mochte, grundlegend an-ders ablaufen würde als dieersten 70 Jahre. Plötzlichwusste ich, dass die wirklichenKonsequenzen meiner Krank-heit noch gar nicht eingetre-ten waren, sondern dass mirVeränderungen bevorstanden,die ich bis jetzt nicht einmalahnte. Das machte mir Angst,wahnsinnige Angst.

Am Tage freute ich michüber jeden, der mich besuchte.Aber nachts bezweifelte ich,dass er wiederkommen wür-de. Wer würde auf Abstandgehen oder einfach den Kon-takt einschlafen lassen? Aufmeine nächsten Angehörigenkonnte ich mich verlassen, dawar ich ganz sicher. Aber wiesollte ich die Beziehung zumeinen Freunden aufrechter-halten, wenn ich nicht mehrsprechen konnte?

Meine Angst minderte sicham Dienstag, dem 8. April, alseine Sprachkanüle – ein horn-förmiges Plastikteil mit aufge-setzter Luftschleuse, das sin-nigerweise „Seele“ heißt undin den aufgeschnittenen Luftröhrenkanaleingeführt wird – meiner stummen Zeitein Ende machte. Zu meiner Erleichterungwar das Einsetzen überhaupt nichtschmerzhaft, es verlief auch ohne Zwi-schenfälle.

„Das war ein großer Augenblick, einglücklicher Moment. Du hast gleich drauf-losgeredet“, erinnert sich meine Tochter.Für Susanne und Rosemarie musste es eineziemliche Überraschung gewesen sein,denn Ärzte und Schwestern hatten sie dar-auf vorbereitet, dass ich erst langsam ler-nen und lange würde üben müssen, mitder Kanüle umzugehen. „Es war auch dei-ne Stimme. Vielleicht ein bisschen belegtund tiefer, aber unzweifelhaft deine Stim-me. Das und die Schnelligkeit haben uns

überrumpelt. Wir hatten auch mit so einerquäkenden Stimme gerechnet, wie von ei-nem Automaten.“ Ich vernahm das alles,als wäre ich nicht dabei gewesen. „Undwas habe ich gesagt?“, fragte ich. „Na ja,was du so sagst – ,hallo, Schätzchen‘, oderso was.“

Dass ich auch an diesen erfreulichen Au-genblick keine Erinnerung habe, zeigt mir,wie angstbesetzt das Thema Sprache da-mals für mich war. Auch von dieser Kanülewar ich keineswegs entzückt, dafür wardas Reden doch zu eingeschränkt. Oft warich schwer zu verstehen, weil meineStimmbänder mit Schleim bedeckt waren.Die Zunge hatte keine Kraft, und die Kie-fer waren ziemlich unbeweglich. Das Spre-

chen kostete mich viel Anstrengung undKonzentration. Auch klang meine Stimmein der eigenen Wahrnehmung reichlichknarrend und tief. Aber wenigstens dieFreunde erkannten sie deutlich als meine.

Ich habe diese persönliche Krise durch-aus auch als eine politische und journalis-tische Krise erlebt. Und während ich ge-zwungen war, mich intensiv mit mir selbstzu befassen, habe ich viel über andere undüber das Leben gelernt. Das hat nicht nurmein Schreiben verändert, sondern auchmeinen Blick auf die Politik und meineProfession. Ich habe mir so etwas wie eininneres Geländer gezimmert.

Für mich war der Journalismus auch eineLebensschule. In welchem Beruf kommtman schon mit so viel unterschiedlichen

Menschen in Kontakt und gerät in so ver-schiedenartige Situationen? Das stellt hoheAnforderungen an die Fähigkeit, Nähe zu-zulassen und doch Distanz zu wahren. Ichhabe ja nicht nur über Politik geschrieben,sondern auch über Fußball und Theater,über Gerichtsverfahren, Mondlandungenund Krankheiten. Wer sich als Journalistden aufrechten Gang erhalten will, habeich dabei gelernt, der braucht ein reflek-tiertes Verhältnis zu sich selbst und seinemBeruf, einen bewussten Umgang mit dereigenen Subjektivität. Das ist die wichtigsteErfahrung meines beruflichen Lebens: Fürjeden Journalisten sollte es selbstauferlegtePflicht sein, sich durch reflektierte Erinne-rung eine Haltung zu erwerben, eine für

ihn ganz persönlich charakte-ristische, bewegliche Beharr-lichkeit im Umgang mit demLeben.

In seiner Haltung hat dieFreiheit des Journalisten ihrenRückhalt. Wie er auf Ereignis-se und auf Menschen reagiert,wie er sich zur Macht und ge-genüber Mächtigen verhält,das ist nicht nur individuell re-levant, sondern das hat auchpolitische Folgen. Für michsind zwei Sätze als Leitlinienbestimmend geworden. Dererste heißt: Wirklichkeit ist al-les, wo man durchmuss. Derzweite ist eine Gedichtzeilevon Peter Rühmkorf: „Bleiberschütterbar und widersteh.“

*Schwach hatte ich mich

schon seit Tagen gefühlt.Aber an diesem Freitagmor-gen, am 26. September 2008,waren mir schon beim Wa-schen einfach die Beine weg-geknickt. Ich rang nach Luft,fürchtete mich vor dem Er-sticken. Wir beschlossen, soschnell wie möglich ein EKGund eine Blutuntersuchungmachen zu lassen, allerdingshatte ich um zehn Uhr einen

Termin für eine Computertomografie zurKontrolle des Tumors. Die Angst vor des-sen Wiederauftauchen überlagerte nochimmer alle anderen Nöte. Also fuhren wirerst zum Röntgenologen. Halb ohnmächtigvor Schwäche, lag ich auf der Untersu-chungsbank vor der Röhre und ließ allesüber mich ergehen. Dann ging es im Taxidirekt zu den Hausärztinnen.

Die waren von meinem Zustand höchstalarmiert. Doch das EKG zeigte keine be-sonderen Abweichungen. Also musste einBlutbild gemacht werden, dessen Ergebnisuns am Nachmittag nach Hause gefaxtwurde. Schon vorher aber war klar, dassich wieder in einer Klinik landen würde.„Nein, ich will nicht ins Krankenhaus“,versuchte ich mich zu sträuben, „nicht

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Bundestrainer Herberger, 1954

„Ob es um Fußball geht oder um Politik – beides

ist wichtig, Nähe und Distanz.“

Page 34: Der Spiegel 2009 36

schon wieder.“ Aber ich wusste, dass ichkeine Chance hatte.

Wie immer, wenn es ernst wurde, funk-tionierte meine Frau mit cooler Entschie-denheit. Sie rief mehrere bekannte Ärztean, um sich Rat zu holen, erreichte schließ-lich die Chefin des Evangelischen Geria-triezentrums bei einem Kongress in derSchweiz. Deren Überlegungen stimmtenmit unseren überein – entweder Krebsme-tastasen oder ein Magen- oder Darmge-schwür. Sie organisierte mir für den Abendein Bett in ihrem Haus.

Gegen fünf Uhr nachmittags kam dasErgebnis der Blutuntersuchung, der Hä-moglobinwert, der anzeigt, ob man genü-gend sauerstofftransportierendes Eiweißim Blut hat, war von 10,6 g/dlauf 7,1 g/dl gefallen – normalwären 14 bis 18 g/dl. Zwei an-dere Werte signalisiertenebenfalls, dass ich viel Blutverloren haben musste.

Am nächsten Morgen saßich allein vor dem Spiegel amWaschbecken und blickte mirresigniert in die Augen. Ges-tern hatte ich wieder einmalnur noch sterben wollen, dasElend sollte endlich vorbeisein. Ich versuchte zu beten,aber es blieb bei einem leerenRitual.

Mein Hämoglobinwert warnach einer Transfusion von 7,1auf 9,3 g/dl gestiegen, aberHoffnung verschaffte mir die-se Nachricht nicht. Statt Glau-be wuchs Zweifel in mir.Wenn die Diagnose „Magen-geschwür“ lautete, dann wür-de ich – nahm ich mir vor – soschnell wie möglich meinBuch zu Ende schreiben. Undwenn sie nun „Metastasen“hieße? Ich wusste nicht, wasdann sein würde.

Der Strahlenpapst war ersteinmal erschrocken über denUmfang, den meine Kran-kenakte inzwischen angenommen hatte.„Mein Gott“, sagte er, „die wird ja immerdicker.“ Lange betrachtete er dann die CT-Bilder, die sich sein Kollege aus demSankt-Gertrauden-Krankenhaus gar nichtangesehen hatte. Im Vergleich mit den Auf-nahmen vom März entdeckte er ein„Wachstum“ im Zungengrund von unge-fähr vier Zentimeter Tiefe. Das gefiel ihmüberhaupt nicht. „Da wollen wir nichtdrum herumreden – das kann Vernarbungsein oder ein Rezidiv“, also die Wieder-kehr des bisher verschwundenen Tumors.Der Professor sprach in einem deutlichalarmierten Tonfall von einem „dringen-den Verdacht, den wir schnell ausräumensollten“. Entweder mit einer PET-CT, einerverfeinerten Computeruntersuchung, odereiner normalen CT, was auch der Kollege

vorgeschlagen hatte. Aber im Gegensatzzu ihm hielt der Strahlenpapst das Ganzeoffenbar für sehr viel dringlicher.

Natürlich beunruhigte mich die offen-kundige Sorge des Spezialisten, der bisherimmer so ruhig und optimistisch geklungenhatte. „Und was ist, wenn es tatsächlichein Rezidiv wäre?“, fragte ich. Der Profes-sor sah mich an. „Das wäre eine Katastro-phe“, sagte er dann. „Das würde heißen,dass wir es mit unserem Programm nichtgeschafft hätten.“ „Und dann?“, bohrte ichnach. Er zögerte einen Augenblick, bevorer resigniert sagte: „Wir sind dann zwarnoch nicht am Ende unserer Palette, aberviel bliebe nicht.“ Wie um sich selbst Mutzu machen, tastete er nach meinem Hals

und fühlte, dass der sehr verhärtet war.„Das ist eine harte Narbenbank“, mur-melte er, „das könnte bedeuten, dass esdoch nur eine Vernarbung ist.“

Sonderbarerweise schien mir, dass derProfessor mehr Ermutigung brauchte alsich. Sein leidenschaftliches Engagement,das die hoheitliche Distanz zu seiner Chef-position wohltuend brach, berührte mich.Ich fühlte mich als Mensch behandelt, nichtnur als Fall im Untersuchungsprogrammdes Wissenschaftlers. Der Professor warerschrocken über mein Schicksal, er fühl-te sich verantwortlich.

Mich hatte die niederschmetternde Bot-schaft zwar auch erschreckt, aber sie warfmich nicht um. Das vermittelte ich auchmeiner Frau, die ziemlich deprimiert war:„Das neue Blut hat mich gekräftigt, kör-

perlich und seelisch.“ – „Und wenn esdoch ein Rezidiv ist?“, fragte sie mich.„Dann wäre das Leben eben früher vor-bei.“ Auf jeden Fall wollte ich das Buch zuEnde schreiben.

Der Arzt brachte das Ergebnis. Er mach-te ein bedenkliches Gesicht und tuscheltemit meiner Frau, die er als Medizinerinwohl für den angemesseneren Ansprech-partner hielt. Ich schnappte das Wort „enhancement“ auf, was, wie ich wusste,„Anreicherung“ hieß. Das langte mir alsInformation. Mir war klar: Der Tumor istwieder da. Über ein Jahr hatte er sich arglistig verkrochen, um mich in falscherSicherheit zu wiegen, was ihm aber nichtgelungen war. Ich hatte immer mit seiner

Wiederkehr gerechnet, undnun war es so weit.

In mir war absolute Leere.Die Menschen und ihre Stim-men waren in weite Fernegerückt. Vor dem Fensterschien die Sonne auf buntesHerbstlaub, eine Straßenbahnfuhr vorbei. Ging mich das al-les noch etwas an? Rosemarieumarmte mich. Auch sie warstumm.

Erst draußen, als wir imTaxi saßen, fand ich wiederWorte, die mir aber, als ich sie aussprach, vorkamen, alsstammten sie aus einemschlechten Film. „Jetzt habeich also mein Todesurteil“,sagte ich. Aber damit kam ichbei Rosemarie, die sich wie-der gefasst hatte, schlecht an.„Ach was“, fuhr sie mich an,„unser Todesurteil haben wiralle. Es kommt aber darauf an,wann es vollstreckt wird. Undso weit sind wir noch langenicht.“

Sie plante schon die nächs-ten Schritte: Wer ist anzuru-fen? Wann kriegen wir Termi-ne bei den Professoren in derCharité und im Sankt-Ger-

trauden-Krankenhaus, um deren Einschät-zung zu hören? Sollten wir eine Antikör-pertherapie versuchen? Und was uns zweibetraf: „Wir müssen jetzt noch mehr mit-einander reden.“ Das Tumor-Spiel gingalso weiter.

Am Montag stürmte Rosemarie plötz-lich glückstrahlend in mein Zimmer. „Viel-leicht bleiben uns ja doch noch ein paarglückliche Jahre“, jubelte sie. Der Profes-sor aus der Charité hatte ihr Fax erhaltenund gleich angerufen: „Wir können Ent-warnung geben.“ Er hielt die „Anreiche-rung“ für Narbengewebe oder eine Ent-zündung, nicht für den wiedergekehrtenTumor. „Ein Tumor würde das Kontrast-mittel viel intensiver anreichern“, sagte ermeiner Frau am Telefon. Ich freute michauch, blieb aber skeptisch. Einerseits ging

Titel

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„Tagesthemen“-Moderator Friedrichs, 1991

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„Und ich bringe News mit“, sagte er lakonisch,

„ich habe Krebs.“

Page 35: Der Spiegel 2009 36

mir das ständige Hin und Her auf die Ner-ven, andererseits hatte der Professor dasBild gar nicht gesehen, sondern nur denschriftlichen Bericht gelesen. Allerdingssollte ein so erfahrener Mann seine Grün-de haben für die positive Einschätzung,sagte ich mir. Immerhin war er es ja gewe-sen, der auf Klärung durch die PET-CT be-standen hatte. Jetzt schlug er vor, dieseUntersuchung im Januar noch einmal zuwiederholen. Um ganz sicherzugehen,könnte man allerdings auch eine Gewebe-entnahme veranlassen.

Und je länger ich mich mit meinem Tu-mor herumschlug, je rätselhafter mir seineExistenz nach dem Verschwinden wurde,desto verständlicher erschienen mir dievielen mystifizierenden Er-klärungsversuche. Wer wie ichdie Behandlung des Tumorsund die Folgen dieser Be-handlung als monatelanges,qualvolles Dahinsiechen erlebthatte, für den bekam derKrebs geradezu zwangsläufigetwas Unheimliches, Hinterlis-tiges und Böses. Gedanken anSchuld, Strafe und Sühne stell-ten sich dann von selbst ein.Zeitlebens hatte ich michunter einen mächtigen Er-wartungsdruck gesetzt. KeinWunder, dass ich jetzt –schwach und ohnmächtig, wieich zuletzt war – den Krebsauch als Versagen erfuhr. Erdegradierte mich zu jeman-dem, der nichts mehr wert warund den anderen zur Lastwurde.

Die mit der Krankheit ver-bundenen Zellwachstumspro-zesse werden beim Krebs qua-si personifiziert. „Sie gelten,wie Krebstiere, als meist un-sichtbare Lebewesen derNacht, die sich in unbere-chenbarem Krebsgang schein-bar widersinnig fortbewegen“,heißt es in einer Einführungin die Psycho-Onkologie von Fritz Meer-wein. „Wie durch Schalen geschützteKrebse sind auch die Krankheiten Krebs,dieser Metapher folgend, zupackend, mitstarrem Blick verfolgend, unersättlich Qua-len bereitend und den Tod des Opfers zumZiel habend.“

Hartnäckig hält sich in der Öffentlichkeitdie These, dass bestimmte Personen be-sonders anfällig für diese Erkrankung sind,sogenannte Krebspersönlichkeiten. Typischfür diesen Persönlichkeitstypus ist angeb-lich, dass er durch Unsicherheit, Unter-drückung negativer Emotionen – Ärger vorallem – und eine angepasste, sich unter-ordnende Attitüde auffällt.

Sollte ich mich also als „Krebspersön-lichkeit“ betrachten? Das erschien mir vielzu simpel. Niemals hatte ich, wann immer

ich über einen möglichen eigenen Beitragzur Produktion des Tumors in meinemHals grübelte, eine spezifische, monokau-sale Erklärung im Sinn, sondern immerdachte ich an unterschiedliche psychischeund soziale Faktoren und fehlerhafte Ver-haltensweisen, die langfristig bei der Aus-lösung der Krankheit zusammenwirkten.Der Alkohol, das Rauchen, sicher auchmein besessener Arbeitsstil auf der einen,Stress, unzureichende Bewegung undfalsche Ernährung auf der anderen Seitefielen mir als mögliche Risikofaktoren ein.Dass dahinter neben unheilvollen Um-welteinflüssen natürlich auch psychischeFaktoren gestanden haben mochten, muss-te ich für wahrscheinlich halten.

Viel Stoff zum Nachdenken also, und im Übrigen ging das Leiden an der Heilungja weiter. So ließ es der Professor, wie iches nun schon gewohnt war seit Beginn mei-ner Krankheit, nicht bei der guten Nach-richt bewenden. Die Untersuchung habeergeben, dass meine Luft- und Speise-röhren durch die massive Bestrahlungderart verhärtet und verengt seien, dassmit einem Verzicht auf das Tracheostomanicht zu rechnen sei. Falls ich also gehoffthaben sollte, am Ende doch noch einmalwieder normal essen, trinken und atmenzu können, sollte ich diese Hoffnung auf-geben.

Das war zwar eine Enttäuschung, aberanders als meine Frau hatte ich im Ernstnie mit etwas anderem gerechnet. Die Ma-gensonde und der Galgen für die Astro-

nautenkost würden also für den Rest mei-nes Lebens meine ständigen Gefährtensein. Weihnachten sollten sie mich auchnach Sylt begleiten. Das immerhin hattenwir geschafft. Und das war meine größteFreude. Ein Jahr zuvor hätte ich auch dasnicht für möglich gehalten.

*Drei, fünf, zwölf … mein Atem ging

schneller, als ich das letzte Stück desHolzsteges emporhastete. Es waren nur 18 Stufen bis zum Kamm der Dünen, dannlag es vor mir – das Meer vor Sylt. Fast un-beweglich und silbern gleißend im kalten,weißen Licht der Sonne, erstreckte es sichbis zum Horizont, sanfte Wellen lecktenam hellen Strand.

„Siehst du, Mann“, flüster-te Rosemarie, „das hätten wirnoch vor einem Monat nichtfür möglich gehalten, dass dudas noch einmal erlebst. Duhast eben eine unverwüstlicheGrundnatur.“ Und trotzig füg-te sie hinzu: „Nein, wir lassenuns nicht alles kaputtmachen,was schön war in unserem Le-ben.“ Ich nickte stumm.

Für mich gehört die Inselseit 1956 zum festen Bestandmeines Lebens. In diesemSommer, ein Jahr vor demAbitur, hatte ich zusammenmit drei Klassenkameradenund dem Bruder des einen einHäuschen in Westerland ge-mietet und zwei zauberhafteSommerwochen am Strandverbracht. Wir pubertiertenheftig, ich verliebte mich auchunglücklich in eine wunder-schöne, sehr viel ältere Chile-nin namens Helga, doch imGrunde waren diese Tage dieletzten unbeschwerten Kin-derferien. Für immer aber hat-te sich damals das Meer inmeine Seelenlandschaft einge-graben, als Kraftquelle und alsElement der Sehnsucht.

Unvergesslich der dramatische Winter1994/95: Einen Tag nach Weihnachten klin-gelte in unserer Ferienwohnung das Tele-fon: Hanns Joachim Friedrichs ließ unswissen, dass er erst einen Tag später alssonst nach Sylt kommen werde. „Und ichbringe News mit“, sagte er lakonisch, „ichhabe Krebs.“ Das war ein Schlag. Der im-mer frohgemute Fernsehstar war von derNachricht genauso überrascht worden wieseine Freunde, aber er trug sie mit be-wundernswerter Gelassenheit: „Wer wirdschon 68 …?“, tröstete er sich und uns. Erwusste, dass er nicht mehr viel Zeit habenwürde, zielstrebig traf er seine letzten Le-bensentscheidungen. Uns überraschte ermit der Bitte, seine Trauzeugen zu sein,denn er wollte seine Lebensgefährtin Ilseso schnell und so heimlich wie möglich hei-

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Ehepaar Leinemann im Urlaub

„Wieder nach Sylt fahren. Wäre doch gelacht,

wenn wir das nicht schafften.“

Page 36: Der Spiegel 2009 36

raten. Wir mochten Ilse sehr und fühltenuns natürlich geehrt. Zwar kannte ichHajo, wie ihn seine Freunde nannten, alsKollegen schon seit vielen Jahren, aber be-sonders eng war unser Verhältnis nie.

Seine Krankheit änderte alles. Er öffne-te sich mir und Rosemarie in langen Ge-sprächen, in wenigen Wochen wuchs eineintensive Freundschaft. Mit spitzbübischerFreude genossen wir zusammen die höchstprivate standesamtliche Trauung in Wes-terland, an der neben dem Brautpaar nurIlses Bruder mit seiner Frau und wir teil-nahmen. Der Boulevardpresse war das Er-eignis verborgen geblieben. Nach derschlichten Trauungszeremonie hatte Hannsgerade noch genügend Kraft, mit uns an-zustoßen, dann sank er er-schöpft ins Bett in seiner Woh-nung in Munkmarsch.

Ihm blieben nur noch dreiMonate, bis er am 28. März1995 starb, aber er hadertenicht. Geborgen im Kreise derFamilie, in die er hineingehei-ratet hatte, reflektierte er seinerfülltes und erfolgreiches Le-ben. Er wollte reden, bis zu-letzt. Zusammen mit CordtSchnibben interviewte ich ihnauf seinen Wunsch hin eineWoche vor seinem Tod fürden SPIEGEL. Er war schonso schwach, dass er das Mi-krofon nicht mehr haltenkonnte, flüsternd gab er Ant-wort. Und doch fügten sichseine Sätze zu einem makel-losen, druckreifen Text, gelas-sen, ja heiter und ausgefeilt biszur feinsten Pointe. Hajo bliebein Profi bis zu seinem Ende.

Für mich war es ein Ge-schenk, ihn in dieser letztenLebensphase begleiten zu dür-fen. Sein Sterben hat mir man-che Ängste vor dem Tod ge-nommen. Ich nahm teil an derErfahrung, um die wir unssonst gern herumdrücken:dass das Sterben zum Lebengehört. Gewusst hatte ich es ja, aber jetztdurfte ich miterleben, dass das Leben eineGrenze hat. Und Hanns Joachim Friedrichsbewies mir, dass man sein Leben stil- undwürdevoll zu Ende bringen kann. Dass ermich bat, an seinem Sarg die Totenrede zuhalten, war eine Bürde, die ich gern aufmich genommen habe.

Der traditionelle Bilanzspaziergang zumJahreswechsel wurde in diesem Krank-heitsjahr den veränderten Verhältnissenangepasst und zerfiel in zwei Teile – erstder Spaziergang, dann, in der warmen Stu-be sitzend, die Bilanz. Meine beschäftigtesich nach den vielen Zusammenbrüchenmit der Frage, ob ich denn wohl noch derJürgen Leinemann bin, der ich vorher war.Natürlich hieß die Antwort: ja und nein.

Jahrzehntelang habe ich mich um mei-nen Platz in der Welt gekümmert, habemeine Erfolge dort gesucht, auf Anstößevon außen geantwortet. Lob war mir wich-tig, auf Kritik reagierte ich empfindlich.Ich war stolz darauf, mir in meinem Berufeinen Namen gemacht zu haben. Auchheute ist mir mein Ansehen keineswegsgleichgültig, doch habe ich aufgehört, mirdie Erwartungen anderer zu eigen zu ma-chen und danach zu leben.

Schließlich musste ich mich daran ge-wöhnen, dass es auf mich ohnehin nichtmehr ankommt. Die Krankheit hat michmit Situationen des Scheiterns konfron-tiert und mich verzichten gelehrt. Erstnotgedrungen, allmählich mit Einsicht,

lernte ich mich zu bescheiden, ohne zu re-signieren.

Kann ich denn letztlich nicht auf ein er-fülltes Dasein zurückblicken? Die Ab-gründe des Lebens und des eigenen We-sens kenne ich nicht mehr nur aus denSchicksalen anderer oder aus Romanen,ich habe sie selbst erfahren. Das sollte michvor Illusionen schützen. Noch immer seh-ne ich mich zwar nach Harmonie und Klar-heit, aber das können nur Ergebnisse einerBalance von Gegensätzen sein, von Trau-er und Freude. Erst die Akzeptanz von ge-mischten Gefühlen ermöglicht mir einhalbwegs stabiles Bild der Realität.

Habe ich den Sinn meines Lebens ge-funden? Gesucht und gezweifelt habe ichgenug in den Monaten meiner Not. Jetzt

weiß ich, dass ich Sinn nicht in irgend-welchen Theorien oder esoterischen Glau-benssätzen finden kann, auch nicht inreligiösen. Sinn muss ich meinem Le-ben selbst geben – durch eigenes Nach-denken darüber, wofür ich leben will,durch eine bestimmte, mir allein eigeneLebensweise. „Der Sinn des Lebens“,schreibt der Professor für englische Lite-ratur Terry Eagleton in seinem klugenEssay, der ein Bestseller wurde, sei „nichtsvom Leben Losgelöstes“, sondern das,was das Leben lebenswert mache – dasheißt eine bestimmte Qualität, Tiefe, Fül-le, Intensität des Lebens: „In diesem Sin-ne ist der Sinn des Lebens das Lebenselbst.“

So einfach und so klar hät-te ich es nicht ausdrückenkönnen, aber das Ergebnisentspricht meinem Erleben.Wobei die Begriffe Qualität,Tiefe, Fülle und Intensität fürmich Inhalte erhalten durchgeliebte Menschen um michherum – es waren meine Fa-milie, meine Freundinnen undFreunde und anteilnehmendeMitmenschen, die mir in mei-ner Krisenzeit die Kraft zumÜberleben schenkten und dieÜberzeugung, dass es Sinnmacht, mit ihnen und für sie weiterzuleben. Denkend,fühlend und deutend ver-knüpfte ich ihre Gegenwart ineinem viele, viele Stundenwährenden inneren Monologmit den wichtigsten Erfahrun-gen und Erinnerungen meinerVergangenheit zu einem Ge-samtgemälde meines Lebens.

Das Wunderbarste warendie täglichen kurzen Spazier-gänge am Meer. Am letztenTag hing ein dünner Wolken-schleier über dem trägen Was-ser, am Horizont im Südwes-ten leuchtete ein schmaler hel-ler Streifen. Ich spürte, wie ichsentimental wurde, die Ab-

schiedsstimmung und der flirrende Glanzdes Meeres bewegten mich. Doch die Müh-sal des Gehens im feuchten Sand ließ kit-schige Weihegefühle nicht wirklich aufkom-men. Schwer atmend blieb ich stehen undsah in die Ferne. Und ganz unvermittelt durch-flutete mich eine warme Welle der Dank-barkeit – ich freute mich, dass ich lebte.

Der abgedruckte Text ist

ein Auszug aus:

Jürgen Leinemann: „Das

Leben ist der Ernstfall“.

Hoffman und Campe Ver-

lag, Hamburg; 240 Seiten;

20 Euro. Erscheinungstag:

17. September.

Titel

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Henri-Nannen-Preisträger Leinemann im Mai

A-W

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„Die Frage, ob ich noch derselbe bin – natürlich

hieß die Antwort: ja und nein.“

Page 37: Der Spiegel 2009 36

Hans Strothoff hat eine Schule ge-baut. Die beste Schule in ganzDeutschland, so hat er das be-

schlossen. 15 Millionen Euro seines Pri-vatvermögens stecken drin, Exzellenz undLaptops auf allen Etagen. Kein Vergleichzu staatlichen Bildungsruinen. Es istSchloss Salem auf Hessisch, nur ohneÜbernachten. Kurz gesagt: Es ist die Schu-le, auf die Hans Strothoff als Kind nie hät-te gehen können.

Montag, Ferienende in Hessen. Vor demneuen Schulgebäude in Dreieich bei Frank-furt am Main ist eine Bühne aufgebaut.Davor steht Hans Strothoff, 58, Vorstands-vorsitzender der MHK Group, Erfinderder Musterhaus-Küchen und heute Schul-gründer im Land derIdeen. Neben ihm der stell-vertretende Ministerpräsi-dent von Hessen und derLandrat des Kreises Offen-bach. Die Männer lächelnund schwitzen.

Hans Strothoff will seineSchule wie ein Unterneh-men führen. Privat, alsoohne Geld vom Land Hes-sen. Er will kein Staats-geld, er findet es unerfreu-lich, wie der Staat in diesenTagen überall mitspricht.Er glaubt an den Markt.Die Bildung ist seine Ware,die anwesenden Elternzahlen dafür bis zu 17000Euro im Jahr, Unterrichts-materialien, Mittagessenoder der Tür-zu-Tür-Bus-Shuttle nicht mitgerechnet. Das ist dieIdee.

„Die Eltern von Herrn Strothoff warenBremer Fischhändler“, sagt Daniel Schmid.Schmid, 44, kurze, dunkle Haare, seriöseBrille, ist verantwortlich für das ProjektStrothoff International School und auchdafür, dass sein Chef nicht zu sehr als eli-tärer Privatschulunternehmer wahrgenom-men wird. Er steht ein paar Meter weiterhinten, in einem der zwei großen Festzel-te, wo es Apfelschorle und Schnittkuchengibt.

Schmid erzählt, was die neue Schule alles können wird. Es ist im Grunde allesdas, was Herr Strothoff nicht so gut kann,Kunst, Musik, Englisch. Sie beginnen jetzterst mal mit den Jahrgangsstufen eins bisneun. Schmid spult ab, was man auf der

Privatschule für sein Geld bekommt: klei-nere Klassen, modernste Ausstattung,ganztägige Betreuung, engagierte Lehrerund ein pädagogisches Leitbild, basierendauf den Erfahrungen Schweizer Bildungs-profis. Unterrichtssprache ist Englisch. Zielist ein internationales Abitur, Ziel sind diegroßen Universitäten dieser Welt. Ziel sinddie Plätze ganz oben.

Die Strothoff International School solldas Beste bieten, was mit Geld aus einerSchule herauszuholen ist. Die Eltern der107 Schülerinnen und Schüler sind Banker,Professoren und Immobilienmakler, denenlaut Schmid „ganze Straßenzüge in Frank-furt gehören“. Es soll auch Stipendien ge-ben, später, aber es gibt sie noch nicht.

Die meisten der Eltern stehen im Schat-ten, Business-Männer in schwarzen Anzü-gen, die Frauen tragen Kostüm. Es sindmehr Louis-Vuitton-Handtaschen zu sehenals Schultüten. Da stehen Menschen, diedavon überzeugt sind, dass in diesem Landdie Lebenschancen bereits in der Grund-schule verteilt werden. Das Misstrauen ge-gen das staatliche Bildungsangebot istgroß. Es geht darum, die Kinder so früh wie möglich zu positionieren, sie nach vornzu bringen. Die Kinder tragen weiße Polo-hemden mit rotgrauem Schulemblem undsind ordentlich gekämmt.

„Herr Strothoff“, sagt Schmid, „hat sichweniger um die pädagogische Ausrichtungauf der Schule gekümmert als vielmehrauf das korrekte Erscheinungsbild geach-tet.“ Also keine Jacken mit Fransen, keine

Ohrringe. Die Lehrer sollen angezogensein wie Mitarbeiter der MHK Group, mitSakko und Krawatte. Bezahlt wird nachLeistung. „Die müssen auch erst mal un-sere Firmenmentalität kennenlernen“,Schmid ist sicher, dass es so kommt. AmMorgen musste beispielsweise jeder Lehrerseinen Klassenraum putzen.

Man könne eine Schule nicht wie einUnternehmen führen, war zuerst vonPädagogenseite zu hören. „Können wirnatürlich schon“, sagt Schmid. Vor ein paarMonaten wurde der schon in allen Bro-schüren angekündigte Schulleiter ausge-wechselt. Schmid erzählt von diesem Er-eignis zweimal an diesem Tag, es ist ihmwichtig. Wichtig auch: „Wir haben relativ

kurze Kündigungsfristen.Nächstes Jahr wird dasKollegium sicher andersaussehen.“ Es ist eine Mus-terhaus-Schule.

Hans Strothoff steht inder Hitze und sagt: „Wirstreben nach Exzellenz inallem, was wir tun.“ Des-halb eröffnet er diese Schu-le, deshalb spendierte erder Goethe-UniversitätFrankfurt einen Lehrstuhlfür BWL. Er strebt nachElite. Man merkt es beson-ders, wenn er betont, nichtnach Elite zu streben. Dasist vermutlich die Idee hin-ter der Idee. Hans Strot-hoff, der Sohn eines Bre-mer Fischhändlers, hättekeine Chance gehabt, auf

solch eine Schule zu kommen. Jetzt baut ersich eine, über die er selbst bestimmt.

Nachdem die Musikschule Dreieich„What a Wonderful World“ gespielt hat,geht Strothoff auf die Bühne. „Alles istneu“, sagt er und schaut zufrieden in dieRunde. Er trägt Anzug und akkuraten Sei-tenscheitel. Dann sagt er ein paar Dingezur Bildung im Allgemeinen, zu seinemSchulbild im Speziellen. Alles sei anders alsan gewöhnlichen Schulen. In der Infor-mationsbroschüre steht: „Investing in theyoung is investing in our future.“ Strothoffsagt es auf Deutsch. Wer in die Jugend in-vestiert, gewinnt die Zukunft. Und Zu-kunft ist irgendwie auch gut für uns alle.Unter dem Strich bleibt der Satz: „Es isteine super Sache.“ Dann grüßt Strothoffseine Mutter. Jonas Leppin

Gesellschaft

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Die FirmaOrtstermin: In Dreieich eröffnet ein Küchenunternehmer eine Schule, die die beste Deutschlands werden soll.

Einweihung der Strothoff-Privatschule: Mehr Handtaschen als Schultüten

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Page 38: Der Spiegel 2009 36

Das Kreishaus im schleswig-hol-steinischen Rendsburg ist ein un-scheinbares Verwaltungsgebäude mit

Flachdach, langen Gängen und Tischen vol-ler Broschüren für Neubürger und Senioren.Die Treppe hoch links, am Ende des Flurs,sitzt Andreas Brück mit drei Kolleginnen.Zimmer 125 bis 128, die Abteilung für Waf-

fen- und Sprengstoffangelegenheiten. Zweider Damen kommen nur ein paar Stundenpro Woche, um den Schriftverkehr abzu-wickeln. Man sollte sie besser nicht fragen,was der Unterschied zwischen einem Luft-und einem Jagdgewehr ist. Sie könntendiese Frage nicht zweifelsfrei beantworten.Ihnen fehlt die erforderliche Ausbildung.

Wie Brück mit diesem Team das neueWaffengesetz umsetzen soll, weiß er selbstnoch „nicht so richtig“. Rausgehen, Kon-trollen ohne konkreten Verdacht durch-führen, aufpassen, dass die Schützen ihreSchießeisen im speziellen Waffenschrankaufbewahren und nicht – wie der Vater desAmokläufers von Winnenden – auch malhinter den Pullovern im Kleiderschrank.Wie soll er häufiger und regelmäßiger kon-trollieren, wenn ihm die Leute fehlen? Sowie fast allen seinen Kollegen?

Für Bayerns Innenminister JoachimHerrmann ist die Sache einfach. „Es obliegtden Behörden vor Ort, genügend Personalzur Verfügung zu stellen“, verkündete der

Robert Pollack. Zudem müsse man ja zwin-gend den Waffenbesitzer persönlich an-treffen. Familienangehörige seien nicht be-fugt, die Amtsleute zum Panzerschrank zuführen. Nun versuche man, Mitarbeiter zuKontrollbesuchen nach Feierabend oderam Wochenende zu bewegen.

Johannes Fuchs, Landrat des Rems-Murr-Kreises, in dem Winnenden liegt, verzichtetwegen der vielen Unwägbarkeiten vorerst aufweitreichende Kontrollen. Er will erst einmalper Post Druck ausüben. Anfang April hat er wie etliche andere Behörden Briefe ver-schickt, in denen die 2600 Waffenbesitzer desLandkreises aufgefordert werden, mit einerKaufquittung oder einem Foto den Besitz ei-nes sicheren Waffenschranks nachzuweisen.

Fast 500 Waffenbesitzer haben nicht rea-giert. Die Kollegen aus der Waffenbehördewerden die Verdächtigen nun zum zweitenMal anschreiben und den Tonfall ver-schärfen. Sollten diese wieder nicht ant-worten, werden Mitarbeiter anrufen oder

in einem letzten Schritt ausrücken. Wielange es dauern werde, alle Waffenbesitzerabzuarbeiten, sei „noch völlig unklar“.

Dabei hat der Landrat noch Glück mitseinen Waffenbesitzern. Nach dem Amok-lauf von Winnenden, bei dem 15 Menschenund der Täter starben, wurden immerhin600 Waffen freiwillig abgegeben. Zudemsind die Schwaben offenbar auskunfts-freudiger als anderswo.

In Nordrhein-Westfalen ist die Polizeifür die Kontrolle der Waffenbesitzer zu-ständig. Das Präsidium in Köln hat schon2003 damit begonnen, nach und nach alle12000 registrierten Waffeneigentümer an-zuschreiben, doch die Hälfte reagiertenicht auf das erste Schreiben. Bis heute istbei jedem Dritten, der einen Brief bekam,noch völlig ungeklärt, ob er überhaupt imBesitz eines Waffenschrankes ist. Der Poli-zei fehlt das Personal, und so hat sich dasPräsidium damit abgefunden, dass es wohlnoch einige Jahre dauern wird, bis das Rät-sel aufgeklärt ist. Guido Kleinhubbert

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W A F F E N

Quittung oder Foto

Mit strengen Kontrollen sollenAmokläufe wie in Winnenden

erschwert werden. In der Praxisaber ändert das neue Waffenrecht

wenig – weil das Personal fehlt.

CSU-Mann in der vergangenen Woche, alsdas neue Waffengesetz die Amtsstuben er-reichte. Und sein Kollege Heribert Rech ausStuttgart appellierte an die Behörden, „imInteresse der öffentlichen Sicherheit“ not-falls auch ohne zusätzliches Personal den„erheblichen Mehraufwand“ durch regel-mäßige Kontrollen in Kauf zu nehmen.

Das hörte sich kernig an, doch wer mitBeamten wie Brück redet, ahnt, dass allesbeim Alten bleiben wird in der BRD, der„Bewaffneten Republik Deutschland“, inder jeder der geschätzten 2,5 Millionen le-galen Waffenbesitzer im Schnitt vier Ge-wehre und Pistolen sein Eigen nennt.

Weil ihnen das Personal fehlt, werdendie Behörden wohl weiter vor allemSchreibkram erledigen und allenfalls dannausrücken, wenn es eindeutige Hinweiseauf ein Fehlverhalten gibt. In Bremen pas-sierte das im vergangenen Jahr fünf, inBerlin kein einziges Mal. Konrad Freiberg,der Chef der Gewerkschaft der Polizei, ist

nicht der Einzige, der unkt, das neue Ge-setz werde „wirkungslos verpuffen“.

Waffenaufseher Brück hat längst ausge-rechnet, wie lange es dauern würde, wennsein Team neben dem üblichen Schreib-kram und Telefondienst allen 10000 Waf-fenbesitzern im weitläufigen LandkreisRendsburg-Eckernförde auch nur eineneinzigen Besuch abstatten würde. Etwa 20 Jahre. Vorausgesetzt, die Schützen sindgleich beim ersten Mal zu Hause und ha-ben nichts dagegen, wenn das Team vomAmt spontan nach dem Rechten schaut.

Doch meistens ist tagsüber niemand zuHause, wie die Nürnberger Waffenbehör-de kürzlich feststellen musste, die mit dreiMitarbeitern für 8000 Waffenbesitzer undknapp 25000 Pistolen, Revolver und Ge-wehre zuständig ist. „Die Kontrollen konn-ten nicht stattfinden, weil nie jemand da-heim war“, sagt Ordnungsamtsmitarbeiter

* Bei der Besichtigung von zurückgegebenen Waffen imLKA in München am 14. August.

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Schützen auf dem Münchner Oktoberfest, Bayerns Innenminister Herrmann (r.)*: Schießeisen im Schrank?

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Page 39: Der Spiegel 2009 36

Kürzlich war Yasemin Yadigaroglu in Duisburg unterwegs, um einemtürkischen Ehepaar die Hochzeits-

pläne für seine Tochter auszureden. DasMädchen hatte seinem Lehrer anvertraut,dass es eine arrangierte Ehe mit einemCousin in der Türkei eingehen solle. Yadi-garoglu war kurz zuvor an der Schule ge-wesen, um über die Probleme einer sol-chen Ehe mit einem nahen Verwandtenaufzuklären, die 28-jährige Sozialwissen-schaftlerin ist eine gefragte Expertin zumThema.

Das Gespräch mit dem Vater lief so, wiediese Begegnungen leider oft verlaufen. Ersagte, man habe „die beiden von klein aufeinander versprochen“. Sie redeten über

Stellen im Koran, die gegen Ehen unterBlutsverwandten sprechen, worauf derMann das Beispiel der Tochter Moham-meds nannte, die einen Vetter geheiratethabe. Ob er denn auch über die gesund-heitlichen Risiken nachgedacht habe, frag-te die junge Wissenschaftlerin. Da starrteder Vater nur noch vor sich hin und mur-melte: „Ich komme da aber nicht raus.“

Seit drei Jahren versucht Yadigaroglu,gegen die Eheschließung unter Verwandtenmit Aufklärung anzugehen – es ist ein auf-reibender und schwieriger Kampf. Denndie junge Frau rührt an ein Tabu: Viele ar-rangierte Ehen, die in traditionellen türki-

schen Haushalten noch immer hoch imKurs stehen, finden innerhalb der eigenenFamilie statt. Oft sind es Verwandte wieCousin und Cousine, die miteinander ver-mählt werden. Das Risiko, ein krankesKind zur Welt zu bringen, ist bei solchenVerbindungen signifikant erhöht, belegeneinzelne Studien.

In der öffentlichen Debatte spielen diemöglichen medizinischen Folgen der ar-rangierten Ehen bislang kaum eine Rolle.Wenn die sogenannten Zwangsehen zumThema werden, geht es fast ausschließlichum die Freiheitsrechte der jungen Frauen,was unbestritten wichtig ist; dass den Kin-dern aus solchen Verbindungen ernste Ge-sundheitsrisiken drohen können, wird hin-

gegen bestenfalls am Rande erwähnt. Auchdeutsche Politiker und Behörden schwei-gen sich über den Inzest unter Migrantenlieber aus, zu groß scheint die Angst vordem Vorwurf, ausländerfeindliche Ressen-timents zu schüren, dabei sind die Risikendurchaus dokumentiert.

Gesetzlich verboten sind zwar inDeutschland, wie in vielen Ländern derWelt, nur geschlechtliche Beziehungenzwischen leiblichen Verwandten erstenund zweiten Grades, also zwischen Elternund Kindern oder Geschwistern. Aberselbst bei wissenschaftlich als „konsangu-in“ bezeichneten Beziehungen dritten Gra-

des, die gesetzlich in Deutschland und derTürkei erlaubt sind, kann es zu gesund-heitlichen Problemen kommen. MancheKinder leiden an seltenen Erbkrankheiten,an Schwerhörigkeit, Epilepsie oder Mus-kelschwund, oder die Lebenserwartungsinkt. Das Risiko, dass die Ehepartner ein genetisch geschädigtes Kind zur Weltbringen, kann bei einem engen familiärenBand bis zu dreimal so hoch sein wie beiEltern, die nicht miteinander verwandtsind.

Es gibt keine genauen Zahlen, wie vieleMigranten einen Cousin oder eine Cousi-ne heiraten. Aber es gibt erstaunlich hoheZahlen aus den Herkunftsländern. Derlangjährige Leiter der genetischen Bera-tungsstelle der Berliner Charité, JürgenKunze, hat im Nahen Osten Regionen mitbis zu 80 Prozent Verwandtenehen gefun-den. In der Türkei werden, je nach Land-strich, 20 bis 30 Prozent der Ehen inner-halb der Familie arrangiert.

In Deutschland deuten Einzeluntersu-chungen von genetischen Beratungsstellenoder türkischen Kinderärzten auf eine be-sorgniserregend hohe Zahl arrangierterEhen unter Verwandten hin. Die BerlinerProfessoren Rolf Becker und Rolf-DieterWegner, ausgewiesene Experten der Prä-nataldiagnostik mit einer führenden Praxisin Berlin, diagnostizierten bei 500 Ver-wandtenehen 35 schwere Krankheitsfälle.Bei Verwandtenehen über mehrere Gene-rationen steige das Risiko, ein behindertesKind zu bekommen, im Einzelfall mitunterauf 25 Prozent.

Deutschland

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M I G R A N T E N

„Schlechtes Blut“Für viele ihrer Landsleute ist Inzest ein Tabuthema – im Ruhrgebiet

kämpft eine junge Türkin allen Anfeindungen zum Trotz gegen die Eheschließung unter Verwandten.

Massenhochzeit in der Türkei: „Gute Mädchen

Aufklärerin Yadigaroglu: „Heiraten ja, aber nicht meinen Cousin!“

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Page 40: Der Spiegel 2009 36

Vermeidbares RisikoLaut einer Erhebung aus der Praxis für Pränataldiagnostik von Rolf Becker und Rolf-Dieter Wegner in Berlin waren von

500 geboren Kindern aus Verwandten-Ehen

35 Kinder schwerstgeschädigt.

Als junge Frau hat Yadigaroglu es beson-ders schwer. „In manche Moscheevereinekomme ich nicht einmal zur Tür rein“, sagtsie. „So etwas“ sei unerwünscht, hieß es inder Gemeinde der Großmoschee in Duis-burg-Marxloh, als sie mit ihrem Anlie-gen vorstellig wurde. Sie solle aufhören,Migranten zu „stigmatisieren“ und daseigene Nest zu „beschmutzen“. Auch vondeutscher Seite ist wenig Hilfe zu erwarten.Mehrere Projektanträge in Sachen Inzest-aufklärung wurden abgelehnt. Aus demHause des NRW-Integrationsministers Ar-min Laschet (CDU) wurde die Abfuhr da-mit begründet, es lägen keine Erkenntnis-se zum Thema vor.

Kommt ein behindertes Kind zur Welt,wird meist der Frau die Schuld darangegeben: Sie habe „schlechtes Blut“, heißtes dann schnell. „Die Aufklärung mussfrüher, bei der jungen Generation, anset-zen“, fordert Yadigaroglu. „GenetischeInformationen darüber gehören in denUnterricht.“ Sie selbst hält gern Vorträgean Gesamtschulen. Einige Schulleiter woll-ten das nicht, denn sie befürchten „Schwie-rigkeiten mit den Eltern“, aber wo sie auf-tritt, ist die Reaktion nicht schlecht.

Zu Beginn der Veranstaltungen stößt sieoft auf empörte Abwehr. Die Jugendlichenrufen: „Damit haben wir nichts zu tun.“Kommt es dann zur Diskussion, heißt esschnell: „Bei mir zu Hause ist es ganz ge-nauso!“ In Duisburg-Rheinhausen gabenkürzlich gleich fünf Schüler in den von ihrausgeteilten Fragebögen zu: „Ja, ich selbstsoll meine Cousine heiraten.“

Auf den Elternabenden, so berichten dieLehrer, ist Inzest aber kein Thema. Wagt eseine der Lehrkräfte einmal im persönlichenGespräch mit türkischen Eltern, auf dieHeiratspläne zu sprechen zu kommen,heißt es schnell: „Das versteht ihr nicht.Wir haben da eine andere Mentalität.“ Ein-mal, so hat es Yadigaroglu gehört, sagteeine Mutter: „So bleibt das Geld in derFamilie, und alle kennen sich.“ Kaum einLehrer traut sich weiterzubohren.

Um das Risiko zu senken, ein behinder-tes Kind zu bekommen, sinnen mancheMigranten auf Abhilfe. Wer es sich leistenkann, fährt nach Großbritannien, in dieNiederlande oder nach Belgien und lässtseine Eizellen dort künstlich befruchten.Dann werden die achtzelligen Embryonenso lange selektiert, bis ein gesundes Kindtrotz Inzest dabei ist. In Deutschland istdas verboten.

Gynäkologen berichten auch von kon-sanguinen Ehepaaren, die trotz mehrererbehinderter Kinder immer neue Schwan-gerschaften zulassen, so lange, bis ein gesunder männlicher Stammhalter da ist.Yasemin Yadigaroglu ist manchmal fas-sungslos, wie zementiert die Verhältnisseerscheinen. „Es wäre einfach schon viel ge-wonnen, wenn sich endlich auch die deut-sche Gesellschaft trauen würde, ohne Scheudarüber zu reden.“ Peter Wensierski

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heiraten Verwandte, schlechte Mädchen gibt man Fremden“

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„Wir sehen hier viele seltene Fälle,schwere Extremitätenanomalien, Hautde-fekte, komplexe Herzfehler“, sagt Beckerund verweist auf seine jahrelange Statistik.„Man muss darüber sprechen, nicht ausfalsch verstandener Political Correctnessschweigen.“ Eine britische Studie der Uni-versität Birmingham mit 5000 Müttern kamin den neunziger Jahren zu dem Schluss,dass rund 60 Prozent der Todesfälle undschweren Erkrankungen bei ihren Kindernhätten verhindert werden können, wennes keinen Inzest unter den Migranten ge-geben hätte.

Der Duisburger SozialwissenschaftlerinYadigaroglu, die jetzt auf eigene Faust Auf-klärung betreibt, war bei einem Praktikumin einem Duisburger Kindergarten diehohe Zahl von Kindern mit Hör- undSprachproblemen aufgefallen. Nachfragenergaben, dass in einer Förderschule fürHörgeschädigte im benachbarten Essen un-ter den 400 betreuten Kindern auffällig vie-le Schwerstbehinderte aus Migrantenfami-lien waren. Lehrer berichteten von jungen

Familien, nicht nur Türken, sondern auchTamilen, Libanesen und Russlanddeut-schen, die zwei oder gleich mehrere be-hinderte Kinder hatten: „Sie können nichtlaufen, ihren Kopf nicht halten, sie kom-men nur im Rollstuhl zur Schule.“

Yadigaroglu ist selbst in Duisburg gebo-ren und im Stadtteil Meiderich aufge-wachsen. „Schon als Kind, bei unserenReisen zu Verwandten in die ländliche Tür-kei, habe ich nicht verstanden, warum manam liebsten in der eigenen Familie heira-tet“, sagt sie. „Mein Onkel hat zwei be-hinderte Kinder.“ Ihre Eltern waren 1972eingewandert. Der Vater – ein Schlosser –wollte, dass seine drei Kinder studieren.In der Familie wurde entweder Deutschoder Türkisch gesprochen, man sah deut-sches Fernsehen und pflegte Kontakt mitden deutschen Nachbarn.

Die Aufklärerin ist einfallsreich. Im Stileiner Werbekampagne hat sie eine Post-kartenserie entworfen, die sie in türkischenEltern-, Sport- oder Heimatvereinen ver-teilt. Die Karten zeigen Fotos von Türkin-nen und Türken, die eine Ehe unter Ver-wandten vehement ablehnen. „Heiratenja. Aber nicht meinen Cousin!“, heißt dazuein Slogan. Immer wieder gelingt es ihr so,Diskussionen auszulösen, doch sie spürtauch, welche zähe Überzeugungskraftnach wie vor die anatolischen Überzeu-gungen aus der alten Heimat haben: „GuteMädchen heiraten Verwandte, schlechteMädchen gibt man Fremden“, heißt es da.Oder: „Mein Sohn ist verloren, wenn ereine Fremde heiratet.“

Page 41: Der Spiegel 2009 36

Auf der Tischplatte aus Buchenholz,gleich vor der Kanzlerin, stehenzwei Gegenstände, die helfen sol-

len, Deutschland zu regieren. Der eine isteine goldene Glocke. Sie ist das sichtbarsteInstrument der Macht in diesem Raum, einMittel zur Disziplinierung. Mit der Glockekönnen Kanzler für Ruhe sorgen, falls Un-ruhe herrscht oder gestritten wird.

Der andere Gegenstand ist ein Klin-gelknopf, wie er an Haustüren klemmt.Wenn die Kanzlerin klingelt,kommt ein Kabinettssekretär,um Wünsche und Bestellun-gen entgegenzunehmen. Einfrisches Kännchen Tee zumBeispiel.

In den vier Jahren derGroßen Koalition hat AngelaMerkel die Glocke kaum indie Hand genommen, aber siehat viel Tee und Kaffee her-beigeklingelt. Vielleicht sagtdas eine Menge über diesesGremium, das Deutschlandnoch immer regiert.

Wenn das Kabinett unterder Moderation von AngelaMerkel mittwochs um halbzehn zusammentritt, ist allesso rein und so behaglich wiein einem frisch gemachtenHotelzimmer. Der Blick wei-tet sich über das grüne Meerdes Tiergartens; der Reichs-tag, das Brandenburger Tor,alles da, alles zu Füßen.

An der Wand hängt einGemälde von Ernst LudwigKirchner, eine heitere Land-szene in Öl. Weißgeschürzte Damen habenschon die Lieblingsgetränke der Regie-rungsmitglieder aufgetragen, kein Wunschbleibt unerfüllt.

Damit nichts durcheinanderkommt, stehtan jedem Platz eine eigene silberne Kanne,mit einem beschrifteten weißen Band ver-sehen. Auf Merkels Kanne steht „Pfeffer-minztee“, auf Ilse Aigners „Früchtetee“.Finanzminister Peer Steinbrück hat mor-gens den größten Durst, an seinem Platzwarten gleich zwei Kannen schwarzer Tee.Es wird überhaupt viel Tee getrunken.

Bevor es mit der Tagesordnung losgeht,begrüßt die Kanzlerin ihre Minister mit

Handschlag. Wer Geburtstag hatte, be-kommt einen großen Blumenstrauß über-reicht, verbunden mit ganz, ganz liebenGlückwünschen. „Ach guck mal hier, dieAnnette“, rief SPD-Ministerin Brigitte Zy-pries kürzlich über den Tisch, als die Kol-legin Schavan ihren Blumenstrauß bekam.„Das freut mich aber. Alles Gute.“

In keinem Bundeskabinett der deut-schen Nachkriegsgeschichte ist manfreundlicher miteinander umgegangen als

im Kabinett Merkel. Nie waren die mäch-tigsten Menschen der Republik anständigerzueinander. Es ist wahrscheinlich das ersteKabinett, in dem kein einziges Mal gebrülltwurde.

Für jene SPD-Frauen, die GerhardSchröders Spott über sich ergehen lassenmussten, wirkte die Große Koalition wieein Erholungsheim. Merkel selbst brachteviel Verständnis auf, sie war von HelmutKohl in den neunziger Jahren bisweilen so gedemütigt worden, dass sie heulen

* Nach der Unterzeichnung des Koalitionsvertrags am 18. November 2005 in Berlin.

musste. Nun schenkt sie allen, was sie nichtkannten: Aufmerksamkeit. Ein Lächeln.Die Lizenz zum Ausreden.

Wenn man mit Merkels Ministern überdas Kabinett spricht, fällt irgendwann im-mer der Vergleich mit Mutter Beimer, mitder freundlichen, stets besorgten Mutti ausder „Lindenstraße“.

Der Friede, der Respekt, die Höflich-keit, die in diesem Raum vier Jahre langherrschen, wollen so gar nicht zur zer-

setzenden Wirklichkeit die-ser Großen Koalition passen.Der Kabinettssaal im sechs-ten Stock des Kanzleramtswirkt wie ein keimfreierRaum, ein unwirklicher Ort.Es scheint, als würden dieacht Zentimeter dicken Pan-zerscheiben nicht nur vorGewehrkugeln schützen, son-dern auch vor der Realität.Vor dem Lärm der Parteien,den Egomanen, Lobbyvertre-tern, vor allen, die den An-spruch erheben, Politik zuprägen.

Merkels Kabinett der Tee-trinker, das in diesen Tagenzu seinen letzten Sitzungenzusammenkommt, war vor al-lem eine Regierung des Ab-wartens. Es war eine Regie-rung, die managen und ver-walten, aber nicht gestaltenkonnte. Eine Regierung, diesich vor den großen, stritti-gen Reformfragen des Landesfürchtete. Es fehlte ein ge-meinsames Projekt.

„Nach 39 Jahren politischer Gegner-schaft im Bund wollen CDU, CSU und SPDin gemeinsamer Verantwortung das Landvoranbringen“, verkündete Angela Merkelim November 2005, am Ende langer Koali-tionsverhandlungen, stolz. „Ich glaube,dass dies eine Koalition der neuen Mög-lichkeiten werden kann.“ Für Merkels Ver-hältnisse klang das fast überschwänglich.

Die Hoffnung, eine Große Koalitionkönne große Dinge bewirken, war damals,vor vier Jahren, weit verbreitet im Lande.Sie hat sich als trügerisch erwiesen.

162-mal haben sich Merkels Ministerzum Teetrinken im Kabinettssaal versam-

Deutschland

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K O A L I T I O N

„Das wäre die Höchststrafe“Die zweite Große Koalition in der Geschichte der Bundesrepublik ist weit hinter

den Erwartungen zurückgeblieben. Sie war kein Reformbündnis, sondern ein Hort des permanentenKleinkriegs. Erst in der Krise konnten Union und SPD sich zusammenraufen.

Parteichefs Platzeck, Merkel, Stoiber*: Euphorie des Anfangs

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Page 42: Der Spiegel 2009 36

melt. Die Tagesordnung, die sie Mittwochfür Mittwoch wegarbeiteten, war eine Listeohne Schärfen, verwässert wie Weißwein-schorle. Über 2000 Gesetze und Verord-nungen haben sie gemacht, von der „Be-richtigung der Dreizehnten Verordnungzur Änderung der Rückstands-Höchst-mengenverordnung“ im November 2005bis hin zur „Verordnung über die Prü-fung zum anerkannten Fortbildungsab-schluss Geprüfter Aus- und Weiterbil-dungspädagoge“ im August 2009. Das allesfüllte über 10000 Seiten Papier im Bun-desgesetzblatt.

Bevor das Kabinett den Gesetzen sei-nen Segen gab, waren sie in unzähligenVorrunden und Vorverhandlungen so klein-verhandelt, dass sie meist ihren Namennicht mehr verdienten.

Merkel und ihre beiden VizekanzlerFranz Müntefering und Frank-Walter Stein-meier haben eine Menge getan, um sichbeim Volk beliebt zu machen – von höhe-ren Hartz-IV-Sätzen bis zur Abwrackprä-mie. Sie haben die Bürger, so gut es ging,mit Zumutungen verschont. Diese Regie-rung war weit spendabler als ihre Vor-gängerin. Doch nun ist der Reformbedarfnoch höher als bei ihrem Antritt vor vierJahren.

Die Frage ist, warum die Große Koali-tion so weit hinter ihren Möglichkeitenzurückgeblieben ist. Welche Mechanismendes politischen Betriebs sind dafür verant-wortlich, dass zwei potente Partner nichtunbedingt eine potente Regierung bilden?Vor allem stellt sich gerade dieser Tage, daeine Fortsetzung möglich erscheint, dieFrage, ob dem Land damit gedient wäre.

Die größte Sünde der Großen Koalitionbahnt sich an einem Sonntagabend an,

es ist der 16. September 2007, in Berlin be-ginnt die Talkshow „Sabine Christiansen“,die an diesem Sonntag zum ersten Mal„Anne Will“ heißt. Zu Gast sind SPD-ChefKurt Beck und der nordrhein-westfälischeMinisterpräsident Jürgen Rüttgers.

Es läuft mal wieder nicht gut für Beck.Er ist von Beginn an schlecht gelaunt, wirdohne Grund laut, fällt Rüttgers dauerndins Wort. Der CDU-Mann, der selbst-ernannte Arbeiterführer, weiß, wie manSozialdemokraten zur Weißglut bringt:„Hartz IV war Murks“, sagt Rüttgers.Später fällt auch das andere Reizwort:„ALG I.“ War auch Murks.

ALG I ist ein Schlüsselwort der rot-grü-nen Reformzeit, es klingt so sperrig undunsympathisch wie Hartz IV oder Agenda2010. Politisch geht es um die Frage, ob je-mand, der länger Arbeitslosenbeiträgegezahlt hat, auch länger Arbeitslosengeldbekommen soll. Bei den Hartz-Reformenwurde diese Frage mit nein beantwortet, es

* Oben: auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Frauen-Union in Duisburg; unten: auf einer Wahlkampfveranstal-tung in Berlin.

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Unionsanhänger, Kandidat Steinmeier*: Gegeneinander nach vier Jahren Mutlosigkeit

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war eine Entscheidung von hohem Sym-bolwert, sie sollte einen Mentalitätswan-del begründen, den Abschied vom altenVersorgungsdenken.

Rüttgers will zurück zu diesem Denken,das ALG I ist ein willkommenes Thema,um sich bei den kleinen Leuten beliebt zumachen, es könnte seinen Ruf als Arbei-terführer stärken.

„Welche Verbündeten haben Sie denn?“,brüllt Beck. Er findet Rüttgers skrupellos.

„Die Kanzlerin“, antwortet Rüttgersruhig. Dann schiebt er hinterher: „Der-jenige, der es bisher verhindert hat, ist ihr Vizekanzler.“ Der Vizekanzler heißtdamals noch Franz Müntefering. „Ach,ach“, seufzt Beck, er weiß nicht mehrweiter.

Anderthalb Jahre später sitzt Rüttgersbeim Frühstück in der nordrhein-westfäli-schen Landesvertretung in Berlin. Er erin-nert sich noch genau an die Sendung, ersagt, er sei sich sicher, dass es an diesemAbend klick gemacht habe in Kurt Beck.An jenem Talkshow-Abend hat die GroßeKoalition ihre Prägung erhalten: als Koali-tion der Mutlosigkeit.

Rüttgers hatte auf einem CDU-Parteitagim November 2006 in Dresden einen Be-schluss durchgesetzt, das Arbeitslosengeldfür Ältere auszuweiten. Die Mehrheit derCDU-Führung war damals gegen diesenSchritt gewesen, aber nur wenige hattenden Mut besessen, dies auch zu sagen. Amlautesten schwieg die Kanzlerin.

Merkel verärgert nicht so gern, sie machtes anderen gern recht. Sie ließ Rüttgersgewähren und versteckte sich hinter demKoalitionspartner. Die SPD würde gewissSchröders Erbe bewahren und den Vor-stoß ihrer eigenen Partei verhindern.

Solange Franz Müntefering noch derstarke Mann der SPD war, ging dieses Kal-kül auf. Müntefering wollte die Arbeits-marktreformen, die die SPD unter hohenVerlusten durchgesetzt hatte, nicht verwäs-sern. Er hatte sich als SPD-Vorsitzendernicht für die Agenda und Hartz IV verprü-geln lassen, vorzeitige Neuwahlen und dieGründung der Partei Die Linke in Kaufgenommen, um eine Legislatur später einenwichtigen Teil davon zurückzunehmen.Aber im September 2007, als Rüttgers undBeck bei Will sitzen, ist Müntefering schonnicht mehr der starke Mann der SPD.

Beck ist es leid. Er hat es satt, sich vonLeuten wie Rüttgers in Talkshows vor-führen zu lassen. Er hat es satt, auf Par-teiveranstaltungen immer nach diesem ver-dammten ALG I gefragt zu werden. Vor al-

lem aber hat er es satt, sich von Müntefe-ring so behandeln zu lassen, als wäre ernicht Chef der SPD, sondern MüntesWasserträger. Er sehnt sich nach einemTriumph über den Rivalen. Inhaltlich hältBeck Rüttgers Position für falsch. UmInhalte aber geht es nicht mehr.

Zwei Wochen nach der Sendung kün-digt Beck im SPD-Präsidium die Kehrt-wende beim Arbeitslosengeld an. DieMehrheit der Partei, die sich nach einemsymbolischen Schlussstrich der Reform-Ära sehnt, reagiert beglückt.

Merkel ist mit Becks Kehrtwende dieDeckung abhandengekommen. Das ALG Ifür Ältere wird verlängert.

Mit einer einzigen Entscheidung ver-spielt die Koalition den gesamten Krediteiner Reformregierung. Dass die mächtigs-ten Politiker des Landes zu schwach seinwürden, um eine Position zu verteidigen,die sie für sinnvoll hielten, überraschte.

In einem System, das auf Mehrheitenangewiesen ist, lockt die Versuchung, dieVernunft dem Populären zu opfern. Es istimmer die Frage, wer als Erster der Versu-chung nachgibt. Sobald ihr jemand erle-gen ist, gibt es meist kein Halten mehr.

Von der Versuchung Arbeitslosengeldhat sich die Koalition nicht mehr erholt.Die ALG-I-Entscheidung wurde zur Blau-pause für alles, was noch kommen sollte,von Mindestlöhnen bis zur Rettung vonOpel. Es ging nicht mehr darum, was rich-tig ist. Wichtig war vor allem, dass die Posi-tion der anderen Seite nicht populärer warals die eigene. In diesem Kreislauf war dieGroße Koalition gefangen, einem Kreis-lauf der Angst.

In Schwung gebracht hat diesen Kreis-lauf ein Mann, der gerade übel drauf ist.

Vereinbart ist ein Gespräch über die GroßeKoalition, doch Oskar Lafontaine machteinen gelangweilten Eindruck. Er sagt: „Ichbin müde.“

Es steht die Frage im Raum, ob er dereigentliche Motor der Großen Koalitionwar. Ob er ihre Inhalte am Ende stärker ge-prägt hat als Angela Merkel, Horst See-hofer, Kurt Beck oder Frank-Walter Stein-meier. Ob die Angst der Regierung vor sei-nen Parolen zu einer Art vorauseilendemGehorsam geführt hat.

„Ich würde dem gern zustimmen“, sagtLafontaine. „Aber dem war nur in Teilenso.“ Es soll nicht der Eindruck entstehen,die Große Koalition habe alle Forderun-gen seiner Linkspartei erfüllt.

Noch vor nicht allzu langer Zeit warLafontaine um einiges stolzer auf sich, dastellte er sich in Interviews ausgezeichneteZeugnisse aus: „Wir regieren zurzeit ausder Opposition heraus. Ohne uns gäbe eskein längeres Arbeitslosengeld I, keine Be-schränkung der Zwangsverrentung, keineAussetzung des Riester-Faktors, keine Aus-weitung des Kinderzuschlags.“ Und dieListe war nicht mal vollständig.

In der Talkshow „Hart aber fair“ stellteihn der Moderator einmal als „heimlichenKanzler“ vor, Lafontaine seufzte beglückt.Die politische Bilanz der Regierung Merkelist ohne ihn nicht erklärbar: dass mit SPD,CDU und CSU plötzlich drei Sozialstaats-parteien regierten, dass die soziale Ge-rechtigkeit zum gemeinsamen Nenneravancierte. „Parteien reagieren, wenn sieWahlen verlieren“, sagt Lafontaine.

Parteien sind ängstliche Gebilde. Wennihnen ein anderer den Platz streitig ma-chen will, reagieren sie panisch. Von La-fontaines Linken fühlten sich vor allem die Sozialdemokraten bedroht. Sie ant-worteten, indem sie sich inhaltlich auf

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Nordrhein-westfälischer Ministerpräsident Rüttgers: Auslöser des Sündenfalls

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„Die mächtigsten Politiker waren

zu schwach, zu verteidigen,

was sie für sinnvoll hielten.“

Page 44: Der Spiegel 2009 36

ihn zubewegten. Darauf reagierte wieder-um die Kanzlerin, die sich weder vonJürgen Rüttgers noch von der SPD einzweites Mal den Vorwurf der Kaltherzig-keit anhören wollte. Die CSU ist sowiesoimmer dabei, wenn es Populäres zu for-dern gilt.

Es klopft, im Türrahmen des Fraktions-büros steht Gregor Gysi. Gysi reicht La-fontaine den Stapel mit der Presseschauvom Tage. „Nicht viel drin“, murmelt er.In den letzten Monaten der Großen Koali-tion ist es ruhig geworden um die Linke.Die Finanzkrise hat Lafontaine einenStreich gespielt, sie hat seine Partei ausdem Blickfeld gedrängt.

Aber die Krise wird auch wieder ver-schwinden. Dann wird er seine SPD wei-tertreiben, bei der Rentenpolitik, bei derOpel-Rettung, beim Mindestlohn.

Es hat lange gedauert, bis die SPD sichdurchringen konnte, einen Mindestlohn zufordern. Im aktuellen Wahlprogramm wirder mit 7,50 Euro angegeben. Eine Wochespäter hat Lafontaine zehn Euro in sein

Wahlprogramm schreiben lassen. Hätte dieSPD zehn gesagt, hätte er vermutlich zwölfverlangt. Es ist ein Rennen, das nicht zugewinnen ist.

Das eigentliche Zentrum der GroßenKoalition liegt im Jakob-Kaiser-Haus,

gleich neben der Spree. Dort haben dieFraktionsvorsitzenden Peter Struck undVolker Kauder ihre Büros, Struck im vier-ten Stock, Kauder eine Etage drüber.

Struck sitzt vor einer Sammlung ausMini-Motorrädern und nennt VolkerKauder „meinen Freund“. „Auf den kannman sich verlassen. Im Gegensatz zumanch anderen in der Union.“ Aller-dings könne Kauder auch ein ziemlicherSponti sein. „Der regt sich schnell auf. Ich sage dann: Volker, nun reg dich malwieder ab.“

„Ich, ein Sponti?“, fragt ein Stockwerkhöher Kauder, eine Deutschlandfahne vorder Tür. „So so. Das hat der Struck ge-sagt?“ Kauder sitzt an einem Konferenz-tisch in seinem Büro und erzählt, wie er

die Zusammenarbeit mit Struck erlebt hat.Kauder liebt es, den Kollegen nachzuah-men, er senkt dann die Stimme und ver-sucht, so zu brummen wie er: „Du Voll-kääär“, habe Struck einmal zu ihm gesagt.„Wir kritisieren uns nicht öffentlich, gell?“Da habe er gewusst: Mit dem kann man ar-beiten.

Direkt hinter ihren Büros gibt es einekleine Feuertreppe. Immer wenn es in derKoalition krachte, was häufig geschah,flitzten die beiden hoch oder runter, wieFeuerwehrleute, die einen Brand löschenmüssen.

Es war kein leichter Job. Sie musstendie Gesetzesvorhaben der Koalition denAbgeordneten schmackhaft machen. Siemussten die Mehrheiten im Parlament or-ganisieren, damit die Gesundheitsreform,die Unternehmen- und Erbschaftsteuer-reform, die Konjunkturpakete und andereProjekte Wirklichkeit werden konnten.

Eine der größten Legenden über dieGroße Koalition lautet, dass es sich dabeium eine schwierige Dreierbeziehung ausSPD, CDU und CSU handle. Es sind aberwesentlich mehr Flügel, Gruppen und Un-tergruppen, die in der Großen Koalitionaufeinandertrafen: der rechte „SeeheimerKreis“, die pragmatischen „Netzwerker“und die „Parlamentarische Linke“ aus derSPD, die 15 Landesgruppen in der CDU,der Sozialflügel, der Wirtschaftsflügel, dieChristen, die Jungen und die Bayern ausder CSU. Kräfte, die nur schwer zusam-menzuhalten sind.

Struck und Kauder mussten sie alle un-ter einen Hut bringen. Typische Verhand-lungen zwischen den beiden verliefen inetwa so wie jene Begegnung Anfang Mai,als Kauder seinem Kumpel ein speziellesAnliegen der Bayern näherbringen muss-te: „Peter, die CSU will unbedingt eineSteuerentlastung für den Agrardiesel durch-setzen“, sagte Kauder. „Kein Problem“,antwortete Struck. „Aber da brauche ichnoch etwas im Gegenzug.“

„200 Millionen“, sagte Kauder. „Für 200Millionen dürft ihr noch eine sozialistischeSpielerei machen.“ Die beiden gaben sichdie Hand, die Sache war besiegelt.

Bisweilen aber konnten sie getroffeneVereinbarungen nicht einhalten, weil siedie Stimmung in ihren Fraktionen falscheingeschätzt hatten. „Teert und federtmich, aber ich krieg’s nicht durch“, flehteStruck dann um Verständnis.

Es ist eines der Grundprobleme derGroßen Koalition: Statt dem anderen etwaszu gönnen, um selbst etwas gegönnt zu be-kommen, dominiert der Drang, sich ge-genseitig zu schwächen. Das inoffizielleLeitmotiv dieser Koalition lautet: Wennwir schon verlieren, dann verliert ihr mit.

Dieser Grundsatz macht Große Koali-tionen nicht stärker als kleinere, sondernschwächer, weil die Volksparteien dieKraft, die ihnen der Wähler verliehen hat,nicht bündeln, um das Land voranzubrin-

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SPD-Chef Kurt Beck 2006: Starke Sehnsucht nach Triumph

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gen. Sie setzen ihre Kräfte gegeneinanderein in der Hoffnung, bei den nächstenWahlen aus der Kraftlosigkeit der andereneigene Stärke ziehen zu können. IhreMacht addiert sich nicht, sie hebt sich auf.

Struck und Kauder allerdings versuchtenstets, Verständnis für den anderen auf-zubringen. Das war menschlich wunder-bar, politisch eher nicht. Vieles, woraufman sich schließlich einigte, gehorchtenicht der Vernunft, sondern der eigenenKlientel. Damit die Sozialdemokraten ihrgeliebtes, viel zu bürokratisches Gleich-behandlungsgesetz einführen durften, ge-währten sie der Union völlig unzeitgemäßeSubventionen für die Landwirtschaft. DasWort Kuhhandel wurde von den Koali-tionspartnern bisweilen wörtlich genom-men. Kauder und Struck setzten dann al-les brav um.

Ihr größtes Problem war, dass sie zweiFraktionen zusammenbringen mussten, dieeigentlich nicht zusammen sein wollten.Viele Abgeordnete hatten sich jahrzehnte-lang im Parlament bekämpft, nun solltensie plötzlich an einem Strang ziehen. Oftmussten Kauder und Struck ihre Abgeord-neten explizit auffordern, im Bundestagauch mal für einen Redner des Koalitions-partners zu applaudieren.

Je stärker der Frust in ihren Fraktionenwurde, desto dringender musste Entlastungher. Deshalb glaubte Struck, bisweilenlospöbeln zu müssen. Er gab dann Inter-views, in denen er über die CDU sagte:„Die kann mich mal.“ Struck meinte dasnie so richtig ernst, aber er dachte, es wür-de seine Abgeordneten erfreuen.

Hubertus Heil ist der Unglücksrabe derGroßen Koalition. Er hatte keine

leichte Aufgabe, man wollteungern mit ihm tauschen. AlsGeneralsekretär der SPD soll-te er ausgleichen, was seinerPartei in der Koalition ab-handenkam: Freude, Selbst-bewusstsein, Identität. DasProfil der Partei, das Struckin seinen Kompromissen mitKauder oft ignorieren musste,sollte Heil wieder schärfen.

Er durfte auf den Gegnereinprügeln, aber es durftenicht so verletzend klingen,dass man sich nicht mehr indie Augen schauen konnte.Die Frage ist, wie das funk-tionieren sollte. Wie überlebtunter den Bedingungen derGroßen Koalition ein Partei-profil?

Heil hatte wie viele Genos-sen den Eindruck, dass siezwar viel mehr Arbeit in derGroßen Koalition erledigten,dass die Regierung Merkel zu-dem stark von den Reformender Regierung Schröder pro-

fitiere, aber dass allein die Kanzlerin undihre Union einen Nutzen daraus zögen.

In Heils Büro im Willy-Brandt-Haushängt eine Karikatur, die diesem Eindruckein Bild gibt. Zu sehen ist ein Dampfer miteinem schönen Sonnendeck und einemdüsteren Maschinenraum. Oben wird ge-faulenzt, unten geschuftet. Daneben steht:„Es kann nicht sein, dass sich die einenauf dem Sonnendeck ausruhen und die an-deren im Maschinenraum die Arbeit ma-chen.“ Es ist ein Heil-Zitat.

Wahlergebnisse frieren die Stimmung ei-nes Moments für vier Jahre ein. Im Falleder Großen Koalition führte dies zu einermerkwürdigen Situation. Im Herbst 2005lagen Union und SPD für einen kurzen,historischen Moment fast gleichauf. Manverhandelte auf Augenhöhe, es entstand

ein Gleichgewicht der Kräfte. Schwierigwurde es, als dieses Gleichgewicht baldschon virtuell wurde. In der gefühltenStimmung, in den Umfragen lag die Sozial-demokratie vom ersten Tag an nicht aufAugenhöhe. Meist lag sie bei den Demo-skopen weit zurück, sie war ein Scheinrie-se, dessen Einfluss nicht mehr seiner wah-ren Stärke entsprach. Heil hat daran nichtsändern können. Die SPD ist der wahreVerlierer der Großen Koalition, niemandhat ärger unter ihr gelitten als sie. Es ist derGrund, warum sich viele Genossen dieserTage lieber wünschen, ab Herbst in dieOpposition zu gehen, als noch einmal denJuniorpartner von Merkel zu geben.

Manchmal hat er seinen Kollegen vonder CDU beneidet. Ronald Pofalla hatte esleichter, die Union lag in den Umfragen so komfortabel, dass Pofalla nicht großattackieren musste. Die Kanzlerin verbates ihm sogar, bei jeder Kontroverse hätte essonst geheißen, Merkel habe den Ladennicht im Griff.

In diesen Tagen erlebt man wieder einenzufriedeneren Heil. Er freut sich über denWahlkampf, er ist für ihn eine Form vonErlösung. Im Wahlkampf ist alles erlaubt,da muss er keine Rücksicht mehr nehmen.

Danach mag passieren, was will. Natür-lich würde Heil mit seiner SPD gern denKanzler stellen, auch wenn gerade wenigdafür spricht. Zur Not müsste man eben indie Opposition, das wäre nicht schlecht fürseinen Aufgabenbereich: das Profil. Nureines, findet Heil, das solle ihm bitte schönerspart bleiben: dass der Wähler Unionund SPD noch einmal für vier Jahre zu-sammenbindet. „Das“, sagt Heil, „das wä-re die Höchststrafe.“

Michael Glos sitzt im Büro eines einfa-chen Bundestagsabgeordneten und

sieht aus, als wäre er gerade einem Straf-lager entkommen. Die Wangen wirken ein-gefallen, er trägt ein Sakko, das an denSchultern schlackert. Etliche Wochen istes jetzt her, dass er das Amt des Wirt-schaftsministers hingeworfen hat, es wardie schlimmste Zeit seines Lebens. Als erden Posten los war, musste er erst einmalin Kur. „Die Rekonvaleszenz läuft“, sagtGlos. Er nippt am Wasser.

„Ich hoffe, dass es meinem Land nie so dreckig geht, dass sie einen wie mich als Minister brauchen“, hatte Glos vor fünf Jahren gesagt, damals war er noch

Chef der CSU-Landesgruppe.Dann kam jene Nacht imHerbst 2005, als EdmundStoiber anrief, dem plötzlichdie Lust auf ein BerlinerMinisteramt vergangen war.Glos musste ran, er wurde derers-te Bundeswirtschaftsmini-ster der CSU.

Bald war für jeden ersicht-lich, wie sehr ihn das Amtüberforderte. Es wäre dasBeste gewesen, wenn man ihnnach der Probezeit aus demVerkehr gezogen hätte. Aberwas bei jedem Banklehrlinggeht, funktioniert bei einemMinister nicht, schon gar nichtunter den Bedingungen derGroßen Koalition. Unter Hel-mut Kohl mussten acht Mi-nister gehen, unter GerhardSchröder vier. In Angela Mer-kels Kabinett der Teetrinkerherrschte uneingeschränkterKündigungsschutz.

Dabei hat es an Aussetzernnicht gemangelt. Wolfgang

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Generalsekretäre Pofalla, Heil: Prügeln, ohne sich weh zu tun

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„Die SPD ist der wahre Verlierer

der Großen Koalition. Niemand hat

ärger unter ihr gelitten.“

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Tiefensee war in den neunziger Jahren die Hoffnung der Ost-SPD, jetzt schauenseine Parteifreunde peinlich berührt, wenn„Pfütze“, wie sie ihn nennen, durch denBundestag stakst. Franz Josef Jung organi-sierte zu seiner besten Zeit so erfolgreichwie skrupellos die Wahlkämpfe seinesFreundes Roland Koch. Heute ist die Kanz-lerin froh, wenn der Verteidigungsministereinen Truppenbesuch ohne größere Pein-lichkeiten absolviert.

Dabei hätte Jung eine wichtige Auf-gabe gehabt. Über sieben Jahre wacht dieBundeswehr schon in Afghanistan, rund4200 Soldaten sind es inzwischen. Sie be-streiten den gefährlichsten Kampfeinsatzin der Geschichte der Bundesrepublik,über 30 Männer sind dabei schon gefallen.Leider fehlt ein Verteidigungsminister, derden Bürgern erklärt, wofür sie gestorbensind.

Wenn Jung redet, dann hat man denEindruck, als sei gerade eine Nebelgrana-te explodiert: Alles wird wolkig und ver-schwommen. Er schwurbelt von einer

„asymmetrischen Bedrohungslage“, derdie Bundeswehr mit einem „Stabilisie-rungseinsatz“ begegne. Dabei könnte Jungeinfach sagen, dass die Deutschen in Af-ghanistan einen Krieg führen. Es wäre dieWahrheit. Doch dafür fehlt ihm der Mut.

Natürlich finden sich gute Besetzungenin Merkels Kabinett: Peer Steinbrück als Fi-nanzminister, Frank-Walter Steinmeier alsAußenminister, Wolfgang Schäuble als In-nenminister, Ursula von der Leyen alsUrsula von der Leyen. Aber die GroßeKoalition verzeiht auch viel. Weil eineschlagkräftige Opposition fehlt, fallen dieNieten nicht weiter auf.

Ginge es nach Merkel, wäre Glos nochheute Wirtschaftsminister und nicht Karl-Theodor zu Guttenberg. Die Kanzlerin hät-te nie den Ärger auf sich genommen, ei-nen Minister zu feuern, der das Parteibuchder CSU besitzt. Am Ende hat Glos sichselbst gekündigt. Man hat ihn als „Schlaf-tablette auf zwei Beinen“ verspottet oderals „Trauerglos“. Irgendwann hielt er dieDemütigungen nicht mehr aus.

Bei Jung sieht die Sache anders aus. Erist Mitglied der CDU, deswegen hätte Par-teichefin Merkel ihn ohne größere Proble-me aus dem Kabinett sortieren können.Doch der Kanzlerin kommt ein schwacherVerteidigungsminister ganz gelegen. Sieweiß ja, wie unbeliebt der Afghanistan-Einsatz bei den Wählern ist.

Da braucht man keinen selbstbewusstenRessortchef, der überall erzählt, wie not-wendig es ist, die Taliban im Zaum zu hal-ten – zur Not mit Sturmgewehr im An-schlag. So was sorgt nur für Unruhe. Vielbequemer ist da der freundliche Herr Jung,der die Deutschen konsequent einnebelt.

Weil Merkel die Minister der Union ver-schonte, sah die SPD auch keinen Anlass,ihre Ausfälle auszutauschen. So kam es,dass Hartmut Mehdorn nach dem Daten-skandal bei der Bahn zurücktreten musste,nicht aber Verkehrsminister Tiefensee. Kei-ne Partei wollte sich die Blöße geben, alserste einen Minister an die Luft zu setzen.

Es herrschte eine Art Gleichgewicht desSchreckens. Zur Logik der Großen Koali-tion gehört, dass ihre Ausfälle mitge-schleppt werden. Sie erzwingt keine Ex-zellenz, sie toleriert das Mittelmaß. Undmanchmal sogar weniger.

Die Große Koalition endet am Don-nerstag, dem 5. März 2009, irgend-

wann zwischen 1.28 Uhr und 1.30 Uhr. Eskommt ganz darauf an, welcher Partei manvertraut. Finanzminister Peer Steinbrückhat sich 1.28 Uhr notiert, im Block von Pe-ter Ramsauer, dem Landesgruppenchef derCSU, steht 1.30 Uhr. Gegen halb zwei inder Nacht jedenfalls trennen sich die Spit-zen von CDU, CSU und SPD nach einersechsstündigen Sitzung im Kanzleramt. Esist das Ende ihres traurigsten Koalitions-ausschusses. Es gibt nun drei Parteien, aberkeine echte Koalition mehr.

Der Ausschuss war das Schlüsselgremiumder Großen Koalition. Hier mussten alleStreitfälle entschärft werden, die wederFachleute in den Ministerien noch die Frak-tionschefs Kauder und Struck klären konn-ten. In diesem Gremium wurde furchtbarerUnsinn geboren, die Gesundheitsreformzum Beispiel, aber es hat auch Ansehnlicheshervorgebracht, die Reform der Unterneh-mensteuer, den Rettungsschirm für die Ban-ken oder die Schuldenbremse.

In der Nacht auf den 5. März aber ist esanders. Die Stimmung ist schon gereizt,als sich Merkel, Steinmeier, Steinbrück,Kauder, Müntefering und die anderen um19.37 Uhr (Quelle: Steinbrück) in MerkelsWohnung im achten Stock des Kanzler-amts einfinden. Da sitzen sie sich dann am Tisch gegenüber, die Roten und dieSchwarzen, und stochern lustlos in ihrenBratkartoffeln herum. Sie spüren, dass et-was vorbei ist. Das Mindestmaß an Ver-trauen ist aufgebraucht, verschwunden.

Die Jobcenter, das Kernstück der Hartz-IV-Verwaltung, müssen eigentlich noch

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Fraktionschefs Struck, Kauder: Einander nicht öffentlich kritisieren

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reformiert werden, so hat es das Bundes-verfassungsgericht verlangt. Es liegt einVorschlag vor, den Arbeitsminister OlafScholz mit Jürgen Rüttgers ausgehandelthat.

Es ist kein Zufall, dass es gerade überdiese Frage zum Showdown kommt. DieJobcenter eignen sich ausgezeichnet für einZerwürfnis, weil bei diesem Thema nie-mand richtig durchblickt. Deshalb kannauch hinterher niemand einwenden, manhabe nur aus taktischen Gründen blockiert.Kauder erklärt, dass seine Fraktion denKompromiss von Scholz und Rüttgers nichtmittragen werde. Zur Begründung muss dieFDP herhalten. „Wir brauchen mehr Op-tionskommunen. Sonst macht die FDP imBundesrat nicht mit“, sagt er.

„Der Kompromiss ist vernünftig“, sagtOlaf Scholz. „Das sehen die Ministerprä-sidenten der Union auch so.“ Damit hat er recht, das weiß auch Kauder. Kauderweiß allerdings auch, dass seine Leute ei-ne harte Linie von ihm erwarten. „Ich ma-che keinen Affentanz in meiner Fraktion,wenn hinterher der Bundesrat nicht zu-stimmt.“

Nun gerät er sogar mit seinem FreundStruck aneinander. „Man kann doch ver-nünftig darüber reden“, sagt Struck.

„Ich wusste nicht, dass ihr darüber re-den wolltet“, erwidert Kauder.

„Du hast mir nicht gesagt, dass du dannzustimmen würdest“, giftet Struck.

Es geht noch lange hin und her. Mal zie-hen sich die drei Parteivorsitzendenzurück, mal die Unterhändler der SPD. Esgeht um deutsche Optionskommunen, aberes erinnert an Friedensverhandlungen imNahen Osten.

Irgendwann schlagen die Genossen eineFormulierung vor, die alles bedeuten kann oder auch nichts. „Das ist mir einbisschen diffus“, beschwert sich Kauder,ihm reicht es jetzt: „Ich lasse mich nichtverseckeln“, brüllt er. Es verstehen zwarnicht alle, was verseckeln heißt, aber es istklar, dass an diesem Abend nichts mehrgehen wird.

Es ist 1.28 Uhr oder 1.30 Uhr, auch dar-über wird sich die Große Koalition nichtmehr einigen, als Peter Ramsauer seineSachen packt und den Kanzleramtsaufzugbetritt. Im Aufzug notiert er sich ein paarSätze, die er gleich vor den Journalistensagen will. Er schreitet hinaus an die frischeLuft, wo Reporter warten, die wissen wol-len, ob Deutschland noch richtig regiertwird. Ramsauer baut sich vor den Kamerasauf und sagt jenen Satz, der schon sechs-einhalb Monate vor dem offiziellen Endeeinen inneren Abschied besiegelt: „DasEnde der Großen Koalition wirft seineSchatten voraus.“

Es ist der 5. Oktober 2008, als AngelaMerkel im Foyer ihres Amtes einen

milliardenschweren Satz spricht: „Wir sa-gen den Sparerinnen und Sparern, dass

ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür stehtdie Bundesregierung ein.“

Neben ihr steht Finanzminister Stein-brück und nickt. Sie geben den Deutschenein gigantisches Versprechen, das größteVersprechen in der Geschichte der Bun-desrepublik. Eine 1000-Milliarden-Garan-tie, die verhindern soll, dass die Bürger inPanik die Banken stürmen und ihr Geldvon den Konten abheben. Es ist eine Wet-te, die die Koalition nur gewinnen kann,wenn die Bürger ihr glauben, wenn sie Ver-trauen haben in eine Regierung, die bishernur wenig Anlass dafür gegeben hat.

Es geht zunächst um den Zusammen-bruch einer Bank, der Hypo Real Estate.Dann um den Kollaps des Finanzsystems.Am Ende steht die größte Krise der Welt-wirtschaft seit den dreißiger Jahren. Einegrößere Aufgabe musste noch keine Bun-desregierung schultern.

Die Führungen von Union und SPDspüren, dass ihnen der Wähler das üblicheParteiengezänk diesmal nicht verzeihenwird. Im Angesicht des Abgrunds ringensie tatsächlich darum, wie die Problemegelöst werden können, und nicht, wer bes-ser dabei aussieht. Die Große Koalition hateine Bestimmung gefunden.

Es läuft auch in der Krise nicht alles ge-schmeidig, aber das Entscheidende gelingt:Die Banken werden gerettet, es gibt zweiKonjunkturpakete, die sich auch interna-tional sehen lassen können. Es wird sicherst später zeigen, wie wirksam diese

* Bei einer Pressekonferenz am 5. Oktober 2008 zur Ga-rantie der Spareinlagen der Bundesbürger in Berlin.

Maßnahmen sind, aber eines lässt sich jetzt schon sagen: In dem Moment, da sieunbedingt funktionieren muss, funktio-niert die Koalition. Beide Seiten springenüber ihren Schatten: Die SPD stimmt Mil-liardenhilfen für die ungeliebten Bankenzu, die Union macht den Weg frei, dass sie im Notfall auch verstaatlicht werdenkönnen.

Es ist nur eine Phase. Der Schock derKrise lässt nach, die Bundestagswahl rücktnäher. Opel droht die Pleite, und die Par-teien liefern sich einen Wettkampf darum,wer der größere Firmenretter ist. Nach ei-ner Episode der Harmonie kehrt die Koa-lition in ihren Urzustand zurück.

In jener kurzen Phase, da die Umständeder Politik Einigkeit diktierte, fiel auch we-niger stark ins Gewicht, dass der GroßenKoalition das Kraftzentrum fehlt, der Füh-rerstand. „Der Bundeskanzler bestimmtdie Richtlinien der Politik“, heißt es imGrundgesetz. Zu Zeiten Gerhard Schrö-ders war das eine akkurate Beschreibungder Situation. Seit Merkel Kanzlerin ist,klingt es wie Ironie.

Merkels Politik kennt vor allem ein Ziel:Ruhe. Sie glaubt, dass der Bürger nichtsschlimmer findet als politischen Streit. Siewill Friedenskanzlerin sein, irgendwo überden Parteien schwebend. Wer aber nichtsals Frieden sucht, der kann für nichts wirk-lich kämpfen. Kampf erzeugt Widerstand,es kann sein, dass man verliert. Das Risikowar Merkel zu hoch.

Darum haben in ihrer Koalition meistdie Schreihälse gewonnen. Sie hat mit derSPD Mindestlöhne für viele Branchen ver-

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Krisenpolitiker Merkel, Steinbrück*: Gemeinsame Versprechen

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einbart, weil sie keinen Konflikt wollte. Siehat auf Druck der CSU eine Steuersenkungim Konjunkturpaket II durchgesetzt. DieAutolobby, die Gewerkschaften und Frank-Walter Steinmeier bekamen die Abwrack-prämie. Es waren Beschlüsse, die Merkelfür falsch hielt, aber das war für sie keinHindernis. Richtig und falsch sind keineKriterien in Merkels Harmoniebetrieb.

Die Kanzlerin führe nicht, klagten dieSozialdemokraten. Was sie verschwiegen,war, dass sie selbst nicht bereit waren, sichführen zu lassen.

Es ist wahrscheinlich, dass die Historikerdie zweite Große Koalition der Bundesre-publik Deutschland einst in einem mildenLicht porträtieren werden, ähnlich wie siees mit der ersten getan haben. Die Regie-rung Merkel hat das Land nicht ruiniert, siehat wenige gravierende Fehler begangen,hat fast alle Probleme, die Deutschlandbeschäftigen, in irgendeiner Form behan-delt, ohne sie jedoch nachhaltig lösen zukönnen.

Langfristige Strukturreformen gelangennicht. Die sogenannte Gesundheitsreformersetzt den bisherigen Wettbewerb derKrankenkassen nun durch einen gesetzlichfestgelegten Einheitsbeitrag und treibt dieAusgaben in die Höhe. Das große Vorha-ben, eine Strategie für den Niedriglohn-sektor zu entwickeln, endete im kleinli-chen Streit um Mindestlöhne für Gebäu-dereiniger und Bergbau-Spezialkräfte.Selbst der Auftrag des Verfassungsgerichts,die Hartz-IV-Verwaltung neu zu ordnen,blieb unerledigt. Monatelang wurde ver-handelt, dann einigten sich die Koalitionä-re darauf, sich nicht zu einigen.

Kaum eine Regierung hat so viele Groß-projekte angepackt, um sie anschließendunerledigt beiseitezulegen.Der geplante Börsengang derBahn wurde abgeblasen, alsdie Finanzkrise ausbrach.Beim Kündigungsschutz hat-ten sich Union und SPD be-reits auf „die größte Reformin den letzten Jahrzehnten“geeinigt, wie CDU-General-sekretär Pofalla meinte. Dievermeintliche Neuordnungaber wurde nicht einmal vonjenen als Fortschritt empfun-den, für die sie gemacht wor-den war. Man ließ das Vorha-ben wieder fallen.

Statt auf die Arbeit anschwierigen Reformen kon-zentrierten sich Union undSPD lieber aufs Geldausgeben.Hier zeigte man sich kreativ:Elterngeld und Mutter-Kind-Kuren, Hartz-IV-Erhöhungund Opel-Rettung, Kinderzu-schlag und Rentengarantie.

* Am 24. August 2007 auf Schloss Mese-berg in Brandenburg.

Die Spendierlaune konterkarierte auchjenes Vorhaben, das die Koalition eigent-lich zu ihrem Markenzeichen erkoren hat-te: die Sanierung der Staatsfinanzen. Dochobwohl Union und SPD gleich zum Amts-antritt mit der Erhöhung der Mehrwert-steuer von 16 auf 19 Prozent die größteSteuererhöhung der Geschichte durch-gesetzt hatten und die Wirtschaft stärkerwuchs als in früheren Jahren, musste Fi-nanzminister Steinbrück weiter Schuldenmachen. Die Einnahmen wuchsen, aberdie Ausgaben legten ebenfalls rasch zu.

Das rächt sich doppelt, seit die Regie-rung auch noch dreistellige Milliardenbe-träge für den Kampf gegen die Finanzkri-se bereitstellen muss. Die Ausgaben fürBankengarantien und Firmenkredite, fürAbwrackprämien und den Ankauf giftiger

Wertpapiere reißen gigantische Löcher indie öffentlichen Kassen. Auch sie sind dasErbe dieser Koalition.

Zudem fragt sich, ob die neue Koali-tion etwas Neues gestiftet hat, einen Men-talitätswandel oder eine neue politischeKultur. Ob sie das Klima wandeln konnte,das gesellschaftliche oder das meteorolo-gische.

Zwischenzeitlich sah es aus, als könneder Klimaschutz das große Thema derKoalition werden. Der Kanzlerin undihrem Umweltminister Gabriel gelang es,die Aufmerksamkeit des Landes für einenSommer lang auf das Ozonloch zu lenken.Als aber die deutschen Autobauer mit dem

Abbau deutscher Arbeitsplätze drohtenund die Finanzkrise die Prioritäten ver-schob, zeigte sich, dass die Liebe zur Um-welt eher praktisch als nachhaltig war.

So hat die Große Koalition zu wenig er-reicht, um sich für eine Wiederholung qua-lifiziert zu haben. In Österreich lässt sichbeobachten, wozu es führt, wenn eineGroße Koalition auf die andere folgt: zumFrust über das demokratische System, zurLethargie der Demokraten. Eine starkeOpposition fängt einen großen Teil derEnttäuschungen von Bürgern über die Re-gierung auf, die Enttäuschung bleibt gleich-sam im System und verlagert sich nicht sosehr auf radikale Parteien wie die FPÖ inÖsterreich. Deshalb geht es in diesemWahlkampf auch darum, dass es bald wie-der eine starke Opposition gibt.

Gut drei Monate nachdem Peter Ram-sauer nachts vor dem Kanzleramt das

Ende der Großen Koalition ausgerufen hat,sitzt er in seinem Landesgruppenchefbüround macht einen wehmütigen Eindruck.Es ist jetzt Sommer, draußen brummtschon der Wahlkampf. „Meine Herren“,sagt Ramsauer, „waren das heiße Jahre.“Er spricht über die Große Koalition, undplötzlich hat es etwas Versöhnliches.

Am besten, sagt Ramsauer, habe ihm ge-fallen, als er und seine Kollegen in einerZeitung als „Maschinisten der Macht“ be-schrieben wurden. „Das trifft’s“, ruft er.„Eine ausgezeichnete Bezeichnung!“

Bevor er in die Politik ging, hat Ram-sauer eine Ausbildung zum Müllermeis-ter gemacht. Er kann sich für technischeAbläufe so begeistern wie andere fürklassische Musik. Sie haben eine erregen-de Wirkung auf ihn. Über die Große Koa-

lition sagt Ramsauer: „Nachspätestens zwei Jahren habenwir kapiert, welche Lagerheißlaufen können, wo manwann Kühlwasser nachschüt-ten muss, wo man die Hebelansetzt, wo man ölen, schmie-ren oder abfedern muss, wieman die Hydraulik justiert.“

Bevor das jetzt allzu eupho-risch wird, muss er mal kurzdazwischenschieben, dass ersich natürlich keine Fort-setzung der Großen Koali-tion wünsche, sondern einschwarz-gelbes Bündnis.

Wenn am Ende aber dochkeine andere Koalition in Fra-ge kommt als die Große?

„Nun ja“, antwortet Ram-sauer, „wir wissen jedenfalls,wie’s geht.“ Er überlegt nochmal kurz, dann nickt er sichzu. „Doch, wir können’s.“

Markus Feldenkirchen,

Kerstin Kullmann,

Roland Nelles, Ralf Neukirch,

René Pfister

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Kabinettsklausur*: Projekte angepackt – und beiseitegelegt

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„Hat die Große Koalition eine

neue politische Kultur gestiftet?

Für eine Weile sah es so aus.“

Page 49: Der Spiegel 2009 36

Der Ort, an dem die Tragödie ihrenLauf nahm, ist eine schlichte, mitHolzbalken eingefasste Sandkiste

in Dresden-Johannstadt. In der Mitte einGestell mit zwei Schaukeln, die träge anvier Metallketten pendeln. Ein riesigerEschenahorn wirft seinen Schatten. Ne-benan stehen Plattenbauten aus DDR-Zeiten, die Mieter hängen ihre Wäschegleich neben dem kleinen Spielplatz auf. Hier ist alles geregelt, auch die Spiel-zeit. Von 8 bis 20 Uhr – in den Sommer-monaten.

Auf diesem Spielplatz trafen sich Alex-ander W. und Marwa al-Schirbini am 21.August 2008 das erste Mal. Er ein 27-jähri-ger Russlanddeutscher aus Perm, sie eine30-jährige Ägypterin aus Alexandria. Bei-de eher zufällig gestrandet in Ostdeutsch-land. Sie sind sich zuvor nicht begegnetund wären es vielleicht auch danach niewieder. Doch es wurde ein unheilvollesAufeinandertreffen, das mit einem Streitum eine Schaukel begann und zehn Mo-nate später mit einem Verbrechen endete,das die islamische Welt in Aufruhr ver-

setzt, das Ansehen Deutschlands rampo-niert und den iranischen Präsidenten Mah-mud Ahmadinedschad wieder einmal aus-fällig werden ließ.

Die Tat, schrieb er an Uno-General-sekretär Ban Ki Moon, sei ein „Anzeichenvon radikalem Rassismus innerhalb Teilender Bundesregierung und der deutschenJustiz“. In Teheran, Kairo, Alexandria undKaratschi reckten Demonstranten Plakate(„Nieder mit Deutschland“) in die Luft.Und das Bündnis der Islamischen Ge-meinden in Norddeutschland beklagte ein„Islam-Bashing“, das hier immer mehr anBeliebtheit gewinne.

Die Schaukel von Johannstadt beschäf-tigt seither die Welt. Auf diesem Spielplatzprallten zwei Leben aufeinander, die wenigmiteinander gemein hatten. Hier die jungeÄgypterin aus gutem Hause, die Pharma-zie studiert hatte und früher im Handball-kader der Nationalmannschaft spielte. Dieeinen hoffnungsvollen Wissenschaftler ge-heiratet hatte und sich neben dem Kind

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„Bloßer Hass“Rekonstruktion einer Katastrophe: Nach der brutalen Tötung

einer Ägypterin in einem Dresdner Gerichtssaal steht für die Ermittler der ausländerfeindliche Hintergrund der Tat fest.

Rachekundgebung im pakistanischen Karatschi am 10. Juli: Der Druck von außen ist extrem

Page 50: Der Spiegel 2009 36

mit Erfolg um eine Arbeit bemühte. Dortder Russlanddeutsche, der sich als Bau-helfer und Hausmeisterhelfer durchschlugund zuletzt 640 Euro Hartz IV bezog. Dereine hatte ein dauerhaftes Gefühl der Un-terlegenheit, die andere stand mit beidenBeinen fest im Leben. Er wohnte im Plat-tenbau, sie in der hippen Louisenstraße.

Was auf jenem Spielplatz vor einem Jahrpassierte, ist inzwischen von den Ermitt-lern weitgehend rekonstruiert.

Alexander W. saß auf einer der beidenSchaukeln, während seine Nichte die an-dere benutzte. Marwa al-Schirbini kamhinzu. Sie trug wie immer ihr Kopftuchund bat den Russlanddeutschen, die zwei-te Schaukel ihrem Sohn Mustafa zu über-lassen. Er wolle nicht, dass seine NichteIslamisten sehe, soll Alexander W. gesagthaben. Ein Wort gab das andere. Sie seieine Terroristin, und ihr Sohn werde auchmal einer, schimpfte W. Es wurde laut inder beschaulichen Sandkiste, Zeugen rie-fen die Polizei. Es gab eine Strafanzeigewegen Beleidigung.

Eine Routinesache für Polizisten undStaatsanwälte. Unschön, aber nicht selten.Im Oktober kam ein Strafbefehl über 330 Euro. Alexander W. legte Einspruchein. Er hatte keinen Anwalt und sagte, erverstehe nicht, was daran strafbar sein sol-le. Der Russlanddeutsche verlangte ein„Geschworenengericht“. Er schimpfte aufdas Kopftuch. Islamisten seien seine Fein-de, er fühle sich schikaniert. In seinen Brie-fen ist von Schirbini nur als „diese Frau“die Rede. In Anführungszeichen.

Das Amtsgericht setzte eine Hauptver-handlung an. Im November verdoppelte derRichter in der Sitzung die Geldstrafe. Alex-ander W. verstand die Welt nicht mehr, leg-te Berufung ein, die Staatsanwaltschaftauch. Der Spätaussiedler fühlte sich in dieEnge getrieben. Er forderte einen Verteidi-ger, der ihm nach langem Hin und Her zu-gebilligt wurde. Es gab nun einen Terminam Landgericht. Am 1. Juli. Dem Tag, andem Marwa al-Schirbini sterben sollte.

Die Lage hatte sich für den Russland-deutschen weiter verschärft. Die Staatsan-waltschaft wollte jetzt in ihrer Berufung„die Verhängung einer Freiheitsstrafe, ge-gebenenfalls sogar ohne Bewährung“ er-reichen, wenn Alexander W. sich „weiter-hin so uneinsichtig“ zeige. Dem Manndrohte nun Gefängnis wegen des Streitsauf dem Spielplatz. Der Pflichtverteidigerwollte noch kurz vor der Verhandlung die Berufung zurückziehen. Es gab kaumChancen auf einen glimpflichen Ausgangfür seinen Mandanten. Doch der blieb stur.

So trafen sich die Beteiligten wieder anjenem Mittwoch im Juli, in Saal 10 des al-ten Dresdner Landgerichts. Die Ermittlerglaubten, dass Alexander W. schon zuvorden Entschluss fasste, die Ägypterin zutöten. Als Beleg gilt ein Anruf des Mannesbei seiner Mutter kurz vor der Verhand-lung. Er soll ihr gesagt haben, dass er sie

liebe. Dann habe er aufgelegt. Die Muttersei besorgt gewesen.

Das Gericht erinnert sich im Nachhineinan einen zurückhaltenden Angeklagten,der allerdings durch rechte Parolen auffiel.Moslems seien für ihn Monster, habe ergesagt. Warum habe man die nach den An-schlägen vom 11. September 2001 nicht ausDeutschland entfernt? Er schwafelte vonder Rassenfrage und erklärte, er wollenicht, dass Deutsche sich mit Ausländernvermischten. Und wählen würde er ohne-hin die NPD.

Der Richter forderte nun ein Wortpro-tokoll, der Verteidiger versuchte zu schlich-ten. Doch Alexander W. drehte weiter auf.Bedauerte, dass die NPD in Sachsen nichtan der Regierung sei. Der Richter fragte,ob er schon mal in einem KZ gewesen sei.Dafür sei die NSDAP verantwortlich ge-wesen, nicht die NPD, konterte W.

Dann begann Schirbini mit ihrer Aussa-ge. Gefasst und sachlich. Sie bestritt, dass

Alexander W. sie wie im Polizeiprotokollverzeichnet als „Islamistenschlampe“ be-zeichnet habe. Aber schon als Terroristinund Islamistin. Weitere Fragen an die Zeu-gin hatte nur der Angeklagte, der keinezwei Meter von ihr entfernt saß. Warum siedenn überhaupt in Deutschland sei, wollteer wissen. Die Frage wurde abgewiesen.Dann wollte der Mann wissen, warum siezu Hause keine Schaukel habe. Der Ver-teidiger bat um eine Pause.

Schließlich stand Schirbini mit ihremdreijährigen Sohn Mustafa und ihremMann Elwi Okaz an der Tür des Gerichts-saals. Die Formalitäten waren erledigt, siewollte sich später telefonisch nach demAusgang des Prozesses erkundigen. Plötz-lich sprang Alexander W. auf sie zu. In derHand ein Küchenmesser mit 18 Zentimeterlanger Klinge. Er hatte es offenbar in sei-nem schwarzen Rucksack in den Gerichts-saal geschmuggelt. W. griff die Ägypterin,die im dritten Monat schwanger war, sofortan. Der Ehemann stellte sich dazwischen,der Verteidiger warf mit Stühlen, versuch-te einen Tisch zwischen seinen Mandantenund die Zeugin zu schieben.

Um 10.23 Uhr drückte der Richter denAlarmknopf. Justizbedienstete eilten her-bei und ein Bundespolizist, der zufällig inder Nähe war. In dem Tumult verwechsel-te er Täter und Opfer. Er schoss Okaz inden Oberschenkel, der sofort zusammen-brach. Dann wurde Alexander W. festge-nommen.

Marwa al-Schirbini starb um 11.07 Uhr.Die Gerichtsmediziner zählten 16 Messer-stiche in Rücken, Brust und rechtem Arm.Luftröhre, Speiseröhre, Brutkorb, Lungen,Leber, Milz und Herz waren verletzt. DasSchulterblatt von der Wucht der Attackegebrochen. Die wehrlose Frau war chan-cenlos.

Ihr Mann hatte Stiche in Unterkiefer,Hals, Brustkorb, Schulter und Bauch. DerSchuss aus der Waffe des Polizisten durch-schlug den linken Oberschenkel und brachden Knochen. Der Mann, der am DresdnerMax-Planck-Institut forscht, musste reani-miert werden und wurde in ein künstlichesKoma versetzt. Auch der dreijährige Sohnder Familie wurde bei dem Versuch ver-letzt, ihn in Sicherheit zu bringen.

Seit jenem Tag befindet sich AlexanderW. in Untersuchungshaft. Und seit jenemTag versuchen Ermittler zu ergründen, wasden zuvor unauffälligen Mann zu der Tatgetrieben haben könnte. In einer vorläufi-gen Einschätzung kommt der DresdnerSachverständige Stephan Sutarski zu demSchluss, der Russlanddeutsche sei vollschuldfähig. Auch wenn das Gutachtennoch aussteht, gibt es doch bisher keineAnzeichen für psychische Probleme. Straf-rechtlich war Alexander W. unauffällig,erst im Nachhinein haben die Ermittler ei-nen Vorfall aus dem Jahr 2006 rekonstru-iert. Damals soll W. einen Mitschüler miteinem Messer bedroht haben. Ein Messer,

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Opfer Schirbini, Okaz

Gefasst und sachlich

DPA

Täter W. auf dem Weg zum Haftrichter

Dauerhaftes Gefühl der Unterlegenheit

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Irans Staatschef Ahmadinedschad

Wieder einmal ausfällig geworden

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so heißt es in seinem Umfeld, habe derRusslanddeutsche nahezu ständig bei sichgehabt. War es dann wirklich eine geplan-te Tat? Oder eine Handlung im Affekt?

Erst jetzt, in der Haftanstalt, fiel Alex-ander W. wieder auf. Er hat zwei Mit-häftlinge bedroht. Er soll gesagt haben, ersteche sie ab.

Den Lebenslauf des Täters haben dieErmittler weitgehend aufgeklärt. Geborenwurde Alexander W. 1980 in Perm am Ural,der östlichsten Millionenstadt Europas. Erhat einen Hauptschulabschluss, lernte ander Berufsschule Nummer 52 in Perm undgilt als intelligent. W. wurde Stuckateurund Elektromonteur und kam im Septem-ber 2003 mit Mutter und Schwester nachDeutschland.

Er besuchte Integrationskurse, machteein Praktikum in einem Baumarkt, wo erals faul und widerspenstig auffiel, abernicht als Rechtsextremist. In seiner Woh-nung fanden sich keine einschlägigen rech-ten Devotionalien. Selbst die Legende, erhabe im Tschetschenien-Krieg gekämpft,scheint widerlegt. Ermittler fanden in Russ-land Hinweise, dass Alexander W. aus ge-sundheitlichen Gründen vom Wehrdienstbefreit war.

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus,dass W. die Tat heimtückisch und aus nie-deren Beweggründen begangen hat. Ihmdroht eine lebenslange Freiheitsstrafe.„Bloßer Hass auf Nichteuropäer“ undMoslems hätten den Spätaussiedler getrie-ben. Die Verteidigung könnte entgegnen,dass der Vorfall eher eine Affekttat war.Der Mann soll bei seiner Verhaftung vonSelbstmord gesprochen haben.

Für alle Beteiligten wird es ein kompli-ziertes Verfahren. Die Zeugen im Ge-richtssaal – der Richter, Schöffen, Anwalt,Justizbedienstete – gelten als traumatisiert.Das Verfahren wird am selben Gerichtstattfinden, in dem auch Marwa al-Schir-bini starb. Der Druck von außen ist ex-trem. Der Vater der toten Ägypterin for-derte in der „Bild“-Zeitung bereits die To-desstrafe für Alexander W. Auch für denPolizisten, der irrtümlich auf Elwi Okazschoss und gegen den wegen gefährlicherKörperverletzung ermittelt wird, verlangter die höchstmögliche Strafe. Der Beamtehatte, möglicherweise unbewusst, geradeauf jenen Mann geschossen, der am ehes-ten wie ein Ausländer aussah. Bei Face-book gibt es inzwischen unzählige Solida-ritätsgruppen für Marwa.

Das Landeskriminalamt hat mit allenBeteiligten „Sicherheitsgespräche“ geführt.Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei dem Prozess zu tumultartigenSzenen kommen wird. Das Gericht inDresden – nur wenige Straßen von demSpielplatz entfernt – wird einem Hoch-sicherheitstrakt gleichen. Das Verfahrenum die Beleidigung an der Schaukel hat dieStaatsanwaltschaft inzwischen eingestellt.Vorläufig. Steffen Winter

Niemand konnte später genau er-klären, warum sich die fünf Jungenan jenem 6. Juni 1945 dem Arbeits-

kommando der Männer angeschlossen hat-ten. Die einen meinten, der Hunger habesie getrieben, andere sagten, die Jungshätten aus Angst vor den tschechoslowa-kischen Soldaten einen Fluchtversuch un-ternommen.

Hunderte Deutsche waren an diesemFrühsommertag – einen Monat nach

Kriegsende – auf dem Kasernenhof destschechischen Städtchens Postelberg (heu-te Postoloprty) zusammengepfercht, undsie konnten sehen, wie das Arbeitskom-mando abrückte. Doch die fünf Jungen,die sich unter die Männer gemischt hat-ten, wurden entdeckt und zurückgeführt.

„Der Herr Marek wollte die Buben peit-schen lassen“, erinnert sich AugenzeugePeter Klepsch, 81, „und dann kam derKommandant der tschechischen Truppen,Hauptmann Cern⁄, und hat gesagt, die Bu-ben werden erschossen.“

Sie hießen Horst, Eduard, Hans, Walterund Heinz, und sie waren zwischen 12 und15 Jahre alt.

Zuerst wurden die Kinder ausgepeitschtund dann erschossen. Vor den Augen derMenge, die mit Waffen in Schach gehaltenwurde. Die Tschechen benutzten keine Ma-schinenpistolen, sondern Gewehre, und sodauerte es eine Weile, bis der Letzte tot war.„Einer war angeschossen, der ist auf die

Schützen zugelaufen und hat gebettelt: ,Ichwill zu meiner Mutter‘“, erinnert sich Hein-rich Giebitz, 80, der ebenfalls Zeuge war,„und dann haben sie wieder geschossen.“

Für die furchtbare Tat verantwortlichwaren der Polizist Bohuslav Marek undHauptmann Vojt¥ch Cern⁄. Das stelltejetzt die tschechische Staatsanwaltschaftfest – nach 64 Jahren.

Die beiden Männer sind längst gestor-ben, und so bleiben die Morde ungesühnt,

die Teil eines grausigen Massakers imFrühsommer des Jahres 1945 in Postelbergund dem benachbarten Saaz (heute Zatec)waren. Etwa 2000 Sudetendeutsche wurdendort, etwa 60 Kilometer nordwestlich vonPrag, innerhalb weniger Tage hingemetzelt.

„Das, was sich hier abspielte, gehörteoffenkundig zum Allerschlimmsten aus einer ganzen Reihe von Tragödien desZeitabschnitts im Mai und Juni 1945 in Böh-men“, stellte der tschechische HistorikerTomáΔ Stan¥k bereits Mitte der neunzigerJahre fest. Doch nur allmählich bahnte sichdie ganze Wahrheit den Weg ans Licht.

Zögerliche Versuche, das Verbrechenauch juristisch aufzuarbeiten, waren er-folglos geblieben. Erst als die Staatsan-waltschaft im bayerischen Hof 2007 wegender getöteten fünf Jungen ihre tschechi-schen Kollegen um Amtshilfe bat, liefenernsthafte Ermittlungen an.

Nun wollen Überlebende, Angehörigeund versöhnungswillige Tschechen allen Op-

Deutschland

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Z E I T G E S C H I C H T E

Mord im FasanengartenMehr als sechs Jahrzehnte nach Kriegsende wühlt ein lange

verdrängtes Massaker an etwa 2000 Sudetendeutschen im Juni 1945 das tschechische Städtchen Postoloprty auf.

Einmarsch deutscher Truppen in Saaz 1938, tschechische Milizionäre 1945, getötete Deutsche:

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fern des Nachkriegsmassakers ein Denkmalsetzen, doch der Widerstand in dem 5000-Einwohner-Städtchen Postelberg ist zäh.

„Die Mehrheit der Bevölkerung ist striktdagegen“, sagt Historiker Michal Pehr, derin einer von der Stadtverwaltung einge-setzten tschechisch-deutschen Kommissionsitzt. Sie soll in dieser Woche Vorschlägefür einen Kompromiss präsentieren. „Fürviele war die ganze Geschichte über Jahr-zehnte ein Tabu“, sagt Pehr.

Die ganze Geschichte führt zurück in die Wochen und Monate nach Kriegsende,in die Zeit der „wilden Vertreibungen“, als vielerorts in der Tschechoslowakei die Jagd auf Deutsche begann. Die Faschis-ten waren besiegt, und nun sollten dieverhassten Mitbürger so schnell wie mög-lich das Land verlassen. Ungebremst entlu-den sich Zorn und Rachlust; die Nazi-Täterallerdings waren meist längst geflohen.

1938 hatte Hitler die seit Jahrhundertenvor allem von Deutschen besiedelte Grenz-

region unter deren großem Beifall dem Reichangeschlossen. Über die Reste von Böhmenund Mähren errichtete der NS-Staat ein bru-tales Protektorat. Mehr als 300000 Tsche-chen fielen in den folgenden Jahren dendeutschen Machthabern zum Opfer.

Das Konzentrationslager Theresienstadtund das von der SS niedergebrannte DorfLidice stehen auf immer für die Barbareider Nazis.

Die Siegermächte hatten die Vertreibungvon über drei Millionen Deutschen im Au-gust 1945 auf ihrer Potsdamer Konferenzgebilligt, allerdings unter der Maßgabe,„dass jeder derartige Transfer in ordnungs-gemäßer und humaner Weise erfolgensoll“.

Vielerorts war es dafür zu spät. Der tschechoslowakische Nachkriegs-

präsident Edvard BeneΔ hatte bereits imOktober 1943 aus seinem Londoner Exilgedroht: „Den Deutschen wird mitleidlosund vervielfacht all das heimgezahlt wer-

den, was sie in unseren Ländern seit 1938begangen haben.“ Und Militärbefehlsha-ber Sergej Ingr rief das Volk im November1944 im britischen Rundfunk auf: „Schlagtsie, tötet sie, lasst niemanden am Leben.“

In Postelberg und Saaz fielen solche Auf-forderungen auf fruchtbaren Boden. Nach-dem die sowjetische Armee den befreitenLandstrich verlassen hatte, waren Soldatendes tschechoslowakischen 1. Armeekorpsnachgerückt, und die machten sich sogleichan die „Konzentration“ der Deutschen.

Am Sonntag, dem 3. Juni 1945, befahlendie Militärs in Saaz rund 5000 deutsch-stämmigen Männern, sich auf dem Markt-platz zu versammeln, und dann ging derMarsch unter Drohungen, Schlägen undSchüssen ins 15 Kilometer entfernte Pos-telberg.

„Am Montagabend mussten wir alle umden Platz laufen und nationalsozialistischeLieder singen, oder das, was man dafürhielt“, erinnert sich Peter Klepsch, „wer

nicht richtig lief oder nicht richtig sang,bekam die Peitsche zu spüren.“

Dienstagnacht habe er dann eine Ko-lonne beobachten können, die zum Er-schießen geführt wurde. Es blieb nicht dieeinzige. „Aber auch am Tag hörte man im-mer wieder Salven.“

Nazi-Gegner Klepsch, der bei Kriegsen-de im Gefängnis saß, weil er drei Franzo-sen zur Flucht verhelfen wollte, durfte amfünften Tag den Schreckensort verlassen.

Eine unbekannte Zahl von Männernblieb zurück. Planmäßig und zielstrebigwurden die meisten von ihnen erschossen.Viele nahe der Kaserne, andere bei derörtlichen Schule. Das größte Massengrabmit knapp 500 Leichen fand sich später indem abseits der Stadt gelegenen Fasanen-garten, einer früheren Fasanerie.

„Das wurde so gemacht, dass man heu-te 250 Leute nahm und am nächsten Tagwieder 250 Leute und es jeweils mit einerSchicht zudeckte“, sagte ein Polizist 1947

vor einer parlamentarischen Untersu-chungskommission aus, „die Hinrichtungfand nicht in einer Nacht statt, sondernschrittweise.“ Und oft mussten die Tod-geweihten ihr Grab mit Hacke und Schau-fel selbst ausgraben.

Skrupel überfiel die Täter nicht – siefühlten sich von hoher militärischer Stellegedeckt: Der Kommandeur der 1. tsche-choslowakischen Division, General Spa-niel, habe ihnen in Prag befohlen, die Re-gion von Deutschen zu „säubern“, erklär-te der Leiter des Abwehr-Nachrichten-dienstes Jan Cupka. „Der General sagteuns: Je weniger von ihnen übrig bleiben,umso weniger Feinde werden wir haben.“

Es blieben genug, um das Massaker zubezeugen. Nach Deutschland vertrie-bene Überlebende berichteten davon, und auch in Postelberg und Saaz selbstwollten Erzählungen und Gerüchte überdas grausame Geschehen nicht verstum-men.

Im Juli 1947 sah sich das Parlament inPrag veranlasst, eine Untersuchungskom-mission zu schicken. Etliche Soldaten undAnwohner wurden vernommen, darunterauch Hauptmann Vojt¥ch Cern⁄, der ohnezu zögern die Verantwortung für die Tö-tung der fünf Jungen auf dem Kasernenhofübernahm: „Zu dieser Erschießung gab ichden Befehl.“

Die Zeugenaussagen sind ebenso doku-mentiert wie die Erkenntnisse eines Vor-auskommandos des Innenministeriums,das bereits vor Ort recherchiert und fest-gestellt hatte, „dass für diese Bestialitätenund Hinrichtungen vor allem die Angehö-rigen der Armee verantwortlich zu machensind“. Allerdings: Das Vorgehen der Sol-daten sei bei der Bevölkerung auf großeZustimmung gestoßen, sei es doch „als ver-diente Vergeltung für die Rohheiten derDeutschen“ verstanden worden.

Die Beamten empfahlen ihrem Minister,die Leichen zu exhumieren und verbren-

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„Verdiente Vergeltung für die Rohheiten“

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Sudetenland

Grenzen von 1945

SaazZatec

PostelbergPostoloprty

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Fläche des Sudetenlands ......... 27000 km2

Sudetendeutsche

bei Kriegsende 1945 ....................etwa 3 Mio.

MÄHREN

Lidice

nen zu lassen, „weil keine Gedenkstättenfür die Deutschen erhalten bleiben sollten,auf die sie als Orte des Leidens ihrerLandsleute verweisen könnten“.

Unter größter Geheimhaltung wurdenim August 1947 einige Massengräber geöff-net, 763 Leichen herausgehoben und diemeisten in Krematorien verbrannt. Dasslängst nicht alle Opfer gefunden wurden,steht außer Frage.

Die offiziellen Dokumente über „dasProblem der Postelberger Vorkommnisse“verschwanden indes „geheim“-gestempeltin den Archiven des Innenministeriums.

Den Nachkriegsbewohnern von Postel-berg und Saaz kam das gerade recht – dennin den Häusern der getöteten und vertrie-benen ehemaligen Bewohner lebten nunsie selbst. Und es gab ja auch etliche, diezunächst bereitwillig mit den deutschenBesatzern kollaboriert und sich danachganz besonders als Rächer der geschunde-nen Tschechen hervorgetan hatten.

Verschweigen wurde so erste Bürger-pflicht.

Eher zufällig kam der tschechischeJournalist David Hertl Mitte der neunzigerJahre dem Verbrechen auf die Spur, als ermit einer Kollegin Ortschaften für seineRegionalzeitung porträtierte. Gegenwartund Vergangenheit der Gemeinden wolltensie beschreiben, doch als Postelberg an derReihe war, ging es nicht weiter.

„Die Menschen kannten ihre Geschich-te nicht oder wollten nicht darüber spre-chen“, sagt Hertl. „Und als wir nach denDeutschen fragten, hieß es nur, die seiendoch im Fasanengarten geendet.“

Neugierig geworden, forschten die Jour-nalisten nach und stießen vor allem aufAblehnung.

„Wenn überhaupt, wollten die Leute nuranonym mit uns reden“, so Hertl, „sie hat-ten Angst und baten uns, die Sache ruhenzu lassen.“ Nachdem die Regionalzeitungeinige Berichte gedruckt hatte („Wo sinddie Tausenden Deutschen aus Saaz und Pos-telberg?“ – „Die Namen der Mörder kennenwir“), kamen die Drohungen – anonymeBriefe mit Hakenkreuzen und jeden Morgenein voller Anrufbeantworter im Büro: „Ihrwerdet hängen, ihr Schweine.“

Immerhin, etwas habe sich verändert inden vergangenen Jahren, sagt Hertl heute:„Mehr Menschen wissen jetzt, dass dasVerbrechen tatsächlich passiert ist. Aberdie meisten denken nach wie vor, dieDeutschen hätten das auch verdient.“

Ihnen wäre es lieber, das düstere Kapi-tel versickerte endgültig in der Vergangen-heit, denn, wer weiß, vielleicht kommendie früheren Bürger zurück und wollenihre Häuser wiederhaben? „Eine Art Para-noia“ nennt Hertl diese Furcht, doch esgibt sie immer noch.

Das macht auch die Sache mit demDenkmal so schwierig.

„Wir haben vor vier Jahren schon ein-mal entschieden, kein Mahnmal zu bau-

en“, sagt Ludvík Ml‡uch, der für die Kom-munisten im Rat von Postelberg sitzt, „ichsehe keinen Grund, warum man daran et-was ändern sollte. Und Punkt.“

Petr Ríha, der in Postelberg ein kleinesElektrogeschäft betreibt, hätte nichts da-gegen, „entscheidend ist doch, was auf derInschrift steht“. Er wünsche sich ein Ge-

denken an alle – nicht nur die deutschen –Opfer der Nazi-Zeit und ihrer Folgen.

„Das würde mir nicht reichen“, sagtWalter Urban, der 1942 in Postelberg ge-boren wurde und als einer der wenigenDeutschen dort noch lebt. Er wohnt an derNebenstraße am Ortsausgang, die Rich-tung Fasanengarten führt. Ob sein Vaterdort erschossen wurde, bei der Kaserneoder bei der Schule, weiß Urban nicht. Nurso viel: „Ich würde gern an einem Gedenk-stein Blumen hinlegen können.“

Dafür wirbt er beharrlich in der kleinenKommission, die der Stadt Postelberg jetzteinen Denkmal-Kompromiss präsentierensoll. Einig ist man sich immerhin darin,dass ein Mahnmal errichtet werden soll.Doch was die Inschrift angeht, ist das Gre-mium gespalten.

Gegner einer Erinnerung an die ermor-deten Deutschen weisen stets auf den Zu-sammenhang hin – ohne das Wüten derNazis hätte es die Exzesse der Nachkriegs-zeit nicht gegeben.

„Es stimmt schon, aber jedes Verbrechenhat seine Genese und Kausalität“, sagtOtokar Löbl vom „Förderverein der StadtSaaz/Zatec“ in Frankfurt am Main, der sich seit langem um die Aufklärung desVerbrechens bemüht. „Und ebenfalls rich-tig ist, dass die meisten der damaligenSaazer Deutschen Nazi-Anhänger waren.“Dennoch sei der Massenmord an ihnen einVerbrechen gewesen, dem man sich nichtnur stellen, sondern wofür man auch dieVerantwortung übernehmen müsse.

Löbl stammt aus einer deutsch-tsche-chisch-jüdischen Familie, seine Angehörigenväterlicherseits wurden im KZ ermordet. 1950in Saaz geboren, hatte er nach dem nieder-gewalzten Prager Frühling das Land 1970 ver-lassen. Seit langem schon setzt sich Löbl fürden Ausgleich von Deutschen und Tschechenein und ist Initiator des „Saazer Weges“, ei-ner von Versöhnungswilligen beider Seitengemeinsam unterzeichneten Erklärung.

„Ohne Herkunft keine Zukunft“ ist dasMotto des Saazer Weges, und dem kannZeitzeuge Peter Klepsch nur zustimmen.Er lebt in Spalt bei Nürnberg und leitetdort den „Heimatkreis Saaz“. Auf dessenHomepage sind die ehemals geheimen Be-richte und Zeugenaussagen der parlamen-tarischen Untersuchungskommission von1947 dokumentiert.

Ein- bis zweimal im Jahr reist der Ver-triebene in seine alte Heimat, ein „psychi-scher Balanceakt“ sei das. „Oft werden wirvon den Leuten gefragt, ob wir ihnen dieHäuser nun wieder wegnehmen wollen“,sagt Klepsch, „ich würde aber nie vonanderen Menschen verlangen, ihr Heim zuverlassen.“

Im früheren Haus seiner Familie sitztjene Abteilung der Kriminalpolizei, dienun zumindest die Morde an Horst,Eduard, Hans, Walter und Heinz auf demKasernenhof von Postelberg am 6. Juni1945 aufgeklärt hat. Hans-Ulrich Stoldt

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Rechercheur Hertl

„Nicht darüber sprechen“

Zeitzeuge Klepsch

„Auch am Tag immer wieder Salven“

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Als in Thüringen, wo die Politikerinaufgestellt war, 2005 die Wahlkreise neugeschnitten wurden, war sie draußen. Siewar nun die ehemalige Bürgerrechtlerinund ehemalige Bundestagsabgeordnete,eine Frau der Vergangenheit, deren Be-kanntheit immer mehr darauf zusammen-schnurrte, dass ihr geschiedener Ehemannsie jahrelang für die Stasi bespitzelt hatte.Vera Lengsfeld war die traurige Wende-heldin, eine Frau für Gedenktage.

Sie hat sich gegen dieses Bild gestemmt,sie wollte nicht das ewige Spitzelopfer sein;„immer dieses Wort Opfer“, sagt sie, dassei ihr furchtbar auf die Nerven gegangen.Aber sie kam davon nicht los, auch weil diealte Geschichte zu gut war. Das ändertesich nicht einmal, als sie Ende vergangenenJahres das Angebot annahm, wieder fürden Bundestag zu kandidieren, diesmal fürdie Berliner CDU.

Die Idee mit dem Plakat entstand beieinem Gespräch mit Freunden. Sie habeVorschläge für ihre Kampagne eingeholt,sagt sie, allen sei klar gewesen, dass sie„einen Knaller“ brauchte. Weil Merkel mitauf das Plakat sollte, kaufte sie die Rechtean dem Bild, das die Kanzlerin im weitausgeschnittenen Kleid bei der Eröffnungder neuen Oper von Oslo zeigt, 300 Eurofür 750 Plakate, das war der Preis. Es dau-erte genau zwei Tage, nachdem die erstenPoster hingen, bis es knallte.

Die Podiumsdiskussion am Mittwoch-abend findet in einer Kirche in Friedrichs-hain statt, es geht um „20 Jahre Mauer-fall und den Umgang mit der DDR-Geschichte“, ihr Thema. Als Lengsfeld ander Kirche ankommt, zwinkert ihr BjörnBöhning von der SPD zu, aber es wirktnicht freundlich. Vor dem Busenplakat warer der Ströbele-Gegner, der am meistenbeachtet wurde. Halina Wawzyniak, dieKandidatin der Linken, hat jetzt Plakatemit ihrem Po aufhängen lassen.

Den Wettbewerb um den meistbeachte-ten Wahlkampfauftritt hat Lengsfeld mitweitem Abstand gewonnen. Die Frage ist,wo sie das hinführt. Sie gilt nun als einBeispiel für einen Wahlkampf, der ohneInhalte auskommt. „Seit wann geht es beiWahlplakaten vor allem um Inhalte?“, kon-tert Lengsfeld. Außerdem stehe ja überalldie Adresse ihrer Internetseite, da könneman nachlesen, was sie wolle.

Sie darf nicht übertreiben. Sie hat auchPlatz sechs auf der CDU-Landesliste be-kommen. Das ist keine sichere Position,aber auch keine aussichtslose. Jede Stim-me, die sie für die CDU holt, verbessertihre Chancen, wieder in den Bundestag zukommen. In dieser Woche soll ihr zweitesPlakat gedruckt werden. Sie werde daraufganz normal angezogen sein, sagt Lengs-feld, das sei schon einmal sicher.

Wiebke Hollersen

K A R R I E R E N

Tiefer AusschnittBevor sie auf einem Wahl-

plakat ihren Busen zeigte, war Vera Lengsfeld eine Kandidatin der

Vergangenheit. Davon hat sie sichbefreit, und von einem alten Image.

CDU-Kandidatin Lengsfeld, Plakat

Man kennt sie in Sibirien, Marokko, Peru

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Lengsfeld-Konkurrent Ströbele

Zuletzt gewann er mit 43 Prozent

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kandidatin im Berliner Wahlkreis 084aufgestellt, der die InnenstadtbereicheFriedrichshain, Kreuzberg und PrenzlauerBerg Ost umfasst. Dies ist das Revier vonHans-Christian Ströbele, der den Wahl-kreis zweimal hintereinander für die Grü-nen gewann, zuletzt mit 43 Prozent derErststimmen.

Niemand glaubt, dass Lengsfeld eineChance hat, sie selbst auch nicht wirklich.Der Kreisverband hat der Kandidatin 5000Euro für ihre Kampagne gegeben, dasreicht gerade mal für zwei kleine Plakateund einen Flyer. Sie hat versucht, Spenderzu werben, ohne großen Erfolg. Sie waraufs Abstellgleis geraten, so sah es aus.

Seit 1996 ist Lengsfeld in der CDU. DieParteiführung war stolz, als die ehemaligeBürgerrechtlerin mitsamt ihrem Bundes-tagsmandat von den Grünen zur Unionwechselte. Später stellte sich allerdings her-aus, dass sie eine Abgeordnete war, diesich ihren Widerspruchsgeist über die Wen-de hinaus bewahrt hatte.

Sie ist jetzt die Frau von dem Busen-plakat, das ist ihr neues Image, siewird es so schnell nicht loswerden,

aber das scheint für Vera Lengsfeld keinProblem zu sein. „Och, ich finde, das hatauch was Befreiendes“, sagt sie.

Lengsfeld kichert, ihre Laune ist bestens,gerade waren Freunde ihres jüngsten Soh-nes zu Gast, alle Mitte zwanzig, und allewollten unbedingt dieses Plakat haben, dassie über dem Slogan „Wir haben mehr zubieten“ zusammen mit Angela Merkel mittiefem Dekolleté zeigt. Man kennt sie jetztin Sibirien, Marokko und Peru, sämtlichegroßen Tageszeitungen der Schweiz habenüber sie berichtet. Sie war sogar bei CNN,das Deutsche Historische Museum will ihrPlakat in seine Sammlung aufnehmen.

Vera Lengsfeld ist 57, sie war eine derbekanntesten Bürgerrechtlerinnen derDDR, nach der Wende saß sie 15 Jahre imBundestag. Sie hat als Politikerin einigesvorzuweisen, vor allem hat sie sich um dieAufarbeitung der DDR-Vergangenheit ver-dient gemacht, aber erst jetzt, muss mansagen, hat sie ihren großen Durchbruch.

Sie läuft in der Abendsonne durch Ber-lin-Friedrichshain, in einem Oberteil ohnebedeutenden Ausschnitt, was fast eine klei-ne Enttäuschung ist, eine ganz normale Frauihres Alters, mit einem Hund an der Leine.Sie ist auf dem Weg zu einer Podiumsdis-kussion, um mangelndes Interesse muss siesich keine Sorgen mehr machen.

Bis vor zwei Wochen lief es für Lengs-feld nicht gut. Die CDU hat sie als Direkt-

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E A S Y J E T

Mitarbeiter mucken auf

Mit Hilfe der Gewerkschaft Ver.diwollen die Angestellten der briti-

schen Billigfluglinie Easyjet in Deutsch-land deutlich verbesserte Arbeitsbedin-gungen durchsetzen. In den kommen-den Wochen soll am Stammsitz inBerlin erstmals ein Betriebsrat gewähltwerden. Parallel dazu wollen die rund350 Piloten und KabinenbeschäftigtenVertreter in eine gemeinsame Tarifkom-mission mit ihren britischen Kollegenentsenden, um Dienst- und Tarifver-träge nach deutschem Recht durchzu-setzen. Auslöser für den Wunsch nachmehr Mitbestimmung ist eine weit-verbreitete Unzufriedenheit unter dendeutschen Easyjet-Mitarbeitern. Wäh-rend ihre Kollegen etwa in Frankreichoder Italien längst lokale Arbeitsverträ-ge haben, unterliegen die Berliner nochimmer britischem Recht – mit teilweisebizarren Folgen. Die Sozialabgabenmüssen in Großbritannien abgeführtwerden. Weil der Kurs des britischenPfunds in den vergangenen Monaten

deutlich fiel, schrumpfte das in Euroausbezahlte Gehalt drastisch. Wie einEasyjet-Sprecher erklärt, sollen nunbald auch die deutschen Beschäftigteneinheimische Arbeitsverträge erhalten.

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Trends

B E R T E L S M A N N

Sparplan steht

Beim Medienkonzern Bertelsmann nehmen die Pläne fürdas bisher umfassendste Sparprogramm in der Unter-

nehmensgeschichte Gestalt an. Bis Ende des Jahres sollen dieKosten um annähernd eine Milliarde Euro sinken, der Beitragder einzelnen Geschäftssparten steht mittlerweile ebenfallsfest. So wird die Servicetochter Arvato mit ihren rund 60000Mitarbeitern dem Vernehmen nach etwa 250 Millionen Euroschultern und mehr als andere Bertelsmann-Divisionen auchbeim Personal kürzen müssen. Der Hamburger Zeitschriften-verlag Gruner+Jahr, der auch am SPIEGEL mit 25,5 Prozentbeteiligt ist, soll bis Ende des Jahres etwa 200 Millionen Euro

einsparen, im Buchclubgeschäft sinken die Kosten um 50 Mil-lionen Euro. Die Personalkürzungen fallen dabei aber offenbarmoderater aus, als noch im Frühjahr befürchtet: Gut 200 Mil-lionen Euro der Gesamtsumme dürften auf den Stellenabbauin allen Konzernsparten zurückgehen. Der weit größere Teilwird durch andere Maßnahmen erzielt: Bei der TV-TochterRTL Group etwa wird im Programm gestrichen, der BuchrieseRandom House muss bei seinen Autorenvorschüssen kürzertreten. Zur Jahresmitte lag die Zahl der Bertelsmann-Mit-arbeiter dem Vernehmen nach bereits um über 3500 unterdem Vorjahr. Die Kosten für die Restrukturierung, also etwateure Abfindungen, dürften deshalb mit knapp 200 MillionenEuro relativ bescheiden ausfallen und schonen damit die Kon-zernkasse. Bertelsmann muss im kommenden Jahr Anleihenim Wert von über 800 Millionen Euro zurückzahlen.

Easyjet-Passagierflugzeug

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Der scheidende Arcandor-Chef Karl-Gerhard Eick glaubt, dass die ange-

schlagene Warenhauskette Karstadt auchnach Eröffnung des Insolvenzverfahrens amDienstag dieser Woche als eigenständigesUnternehmen erhalten werden kann. „Mankann Karstadt rentabel betreiben, davonbin ich zutiefst überzeugt“, sagt Eick, dervoraussichtlich ebenso wie vier seinerVorstandskollegen mit Eröffnung des Ver-fahrens sein Amt niederlegen wird. Dazusei es aber notwendig, sich von unrenta-blen Häusern zu trennen und weitere Ein-sparpotentiale zu heben. Eine Fusion mitKaufhof hält Eick dagegen für „nicht zwin-gend notwendig“. Auch der Versender Pri-mondo habe gute Chancen zu überleben;durch die Insolvenz könnten Sanierungs-maßnahmen nun wesentlich zügiger undgünstiger umgesetzt werden. Eick bedau-ert, dass er sein Versprechen, Arcandor alsGanzes zu erhalten, nicht eingelöst habe:

„Uns fehlten auf die nächsten fünf Jahregesehen rund hundert Millionen Euro vonden Eigentümern, um den Konzern aufgesunde Beine zu stellen.“ Dazu seien aber weder die Familie Schickedanz nochdas Bankhaus Sal. Oppenheim willens oderin der Lage gewesen. Trotz der anstehen-den Insolvenz hat Eick seinen Wechsel von der Telekom zu Arcandor nicht bereut.„Ich würde es noch einmal versuchen, denn ich sehe nach wie vor die Stärken desUnternehmens: sehr starke Marken undsehr motivierte Mitarbeiter.“ Kritik an sei-ner Abfindung in Höhe von 15 MillionenEuro weist Eick zurück: „Das finde ichnicht gerecht.“ Die Summe zahle schließ-lich nicht Arcandor, sondern der Groß-aktionär Sal. Oppenheim. Das Bankhaushatte Eick garantiert, dass er, auch im Falleeiner Insolvenz, in den nächsten fünfJahren jeweils drei Millionen Euro erhal-ten werde.

A R C A N D O R

Eick hält Karstadt für sanierungsfähig

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S I E M E N S

US-Chef trittüberraschend ab

Beim Münchner Siemens-Konzernsorgt ein Personalwechsel für inter-

ne Diskussionen. Ende voriger Wochetrat der Top-Manager George Nolenüberraschend ab. Er arbeitete 26 Jahrelang bei Siemens, zuletzt als Chef desUSA-Geschäfts. Der gebürtige Ameri-kaner hatte die Betreuung der rund70000 US-Angestellten im Januar 2004von seinem Vorgänger Klaus Kleinfeld

übernommen, der wenig später an dieKonzernspitze aufrückte. ObwohlNolen seinem Arbeitgeber seither zwei-stellige Wachstumsraten bescherte undZukäufe im Wert von 17 MilliardenDollar tätigen durfte, wechselt der 53-Jährige nun Knall auf Fall in den Ruhe-stand – zwölf Jahre vor Erreichen dersonst üblichen Altersgrenze. Bei einemhochrangigen Manager wie Nolen ist esüblich, dessen Verdienste öffentlichausgiebig zu würdigen und zügig einenNachfolger zu präsentieren. Da beideszunächst unterblieb, kursieren nun wil-de Spekulationen über die wahren Hin-tergründe der Hauruckaktion. So wirdvermutet, Nolen könnte in Ermittlungender US-Behörden zur angeblich über-teuerten Lieferung von Röntgengerätenan das Pentagon verwickelt sein. EinSiemens-Sprecher bestreitet das vehe-ment. Als wahrscheinlicher gilt deshalb,dass Nolen sich beruflich verändern willoder mit dem für das US-Geschäftzuständigen Vorstand Peter Solmssenaneinandergeriet. Der US-Bürger, imHauptberuf oberster Anti-Korruptions-beauftragter des Konzerns, soll denSiemens-US-Ableger nun zusätzlich zuseinem Vorstandsjob kommissarischführen, bis ein Nachfolger gefunden ist.

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D A T E N S C H U T Z

Scholz legtGesetzentwurf vor

Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD)wird in den kommenden Tagen

einen Entwurf für ein eigenständigesGesetz zum Arbeitnehmerdatenschutzvorlegen. Nach den Spähskandalen inUnternehmen wie Lidl oder Telekomhatte die Bundesregierung im März eine

Arbeitsgruppe aus Vertretern des Ar-beits-, Wirtschafts-, Justiz- und Innen-ministeriums eingesetzt, um noch vorder Wahl einen gemeinsamen Entwurfzu erarbeiten. In den vergangenen Wo-chen erklärte das Wirtschaftsministeri-um intern, es sehe keinen Handlungs-bedarf. Der Vorstoß von Scholz willnun den Umgang mit Arbeitnehmer-daten in einem gesonderten Arbeit-nehmerdatenschutzgesetz zusammen-fassen. Das beginnt mit dem Fragerechtdes Arbeitgebers im Bewerbungsverfah-

ren und endet mit Regelnzum Umgang mit den Da-ten ausgeschiedener Mit-arbeiter. Scholz will vorallem die pauschale Durch-leuchtung ganzer Arbeit-nehmergruppen unmöglichmachen. Ebenso sollenSchadensersatzansprüchebei Datenmissbrauch durchden Arbeitgeber geregeltwerden. „Die Skandale derVergangenheit zeigen, dasswir eindeutige Regelnbrauchen, welche Datenüber Arbeitnehmer erho-ben werden dürfen und wiesie gesichert und vor Miss-brauch geschützt werden“,sagt Scholz.Lidl-Filiale

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Page 57: Der Spiegel 2009 36

95 Mio. € gehen so an den deutschen Mutterkonzern.

In Deutschland werden nur noch 5% davon mit 30%

nachversteuert. Verbleibender Gewinn 93,58 Mio. €,

Beispiel einer üblichen, legalen Steueroptimierung durch Unternehmen in Deutschland

Ein Konzern gründet eine Tochterfirma mit Sitz im EU-Mit-gliedsland Malta.

100%

100%

Deren Handels-gesellschaft erzielt einen Jahresüber-schuss von 100

Mio. €. Nettogewinn nach Abführung der maltesischen Steuer (35%): 65 Mio. €.

Rückerstattung von sechs Siebteln der ab- geführten Sum- me an die Aktio- näre: 30 Mio. €

Mutterkonzern

Malta Ltd.Aktiengesellschaft

Malta Trading

Überschuss: 100 Mio. €

65 Mio. €

95 Mio. €

35 Mio. €

30 Mio. €

Steuerersparnis 23,58 Mio. €

Im Grunde sind die Schweizer ein be-dächtiges Völkchen. Doch seit einigenMonaten genügen zwei Worte, um sie

in geradezu südländische Erregung zu ver-setzen: Peer Steinbrück.

„Peitschen-Peer“ nennen sie den deut-schen Bundesfinanzminister, seit der mitder Kavallerie gedroht hat, falls die Steuer-oase Schweiz nicht endlich mit anderenStaaten kooperiere. Auch Luxemburgs Pre-mier Jean-Claude Juncker, dessen LandSteinbrück ebenfalls in seine Verbalattackeeinbezog, ist nachhaltig beleidigt.

Nur einer ist mit den Reaktionen zu-frieden: Steinbrück.

„Ich habe mir im Kampf gegen die Steu-eroasen nicht nur Freunde gemacht“, sagter. Es sei aber wichtig gewesen, „auch hier-bei gegen den Wind zu segeln und Kurs zuhalten“. Nun braucht Steinbrück aber nichtnur Zuspruch, sondern Geld: VergangeneWoche meldete das Statistische Bundes-amt für das erste Halbjahr 2009 ein Staats-defizit von 17,3 Milliarden Euro.

Doch das Getöse des Ministers gegenSchwarzgeld-Eldorados übertönt ein weit-aus größeres Problem: Mitten in Deutsch-land floriert eine ganz legale Steuerver-meidungsindustrie. Eine Branche, die von

den Fehlern lebt, die Ministerien und Par-lament in der Steuergesetzgebung unter-laufen. Kaum ein Gewerbe blüht derartunabhängig von der Konjunktur. Undkaum eines arbeitet derart effizient.

Während deutsche Angestellte dem Fis-kus wehrlos ausgeliefert sind, rechnen sichMillionäre und Unternehmen mit Hilfe ag-gressiver Steuermodelle künstlich arm –und das alles ganz legal. Seminare zur „In-ternationalen Steuergestaltung“ lassen sichsogar steuerlich als Fortbildung absetzen.

Es sind keine Peanuts, die dem Land ver-lorengehen. Das Deutsche Institut für Wirt-schaftsforschung (DIW) errechnete, dasszwischen den nachgewiesenen Profiten derKapital- und Personengesellschaften undden steuerlich erfassten Gewinnen eineLücke von 100 Milliarden Euro klafft. „Diesdeutet auf Steuervergünstigungen und Ge-staltungsmöglichkeiten hin, mit denen dieUnternehmen ihre steuerpflichtigen Ge-winne herunterrechnen oder ins Auslandverlagern“, schreibt das DIW.

Tatsächlich stellen hiesige Konzerne ihreinternationalen Tochterfirmen genau soauf, dass die größten Gewinnbringer in denLändern mit den tiefsten Steuersätzen re-sidieren. Nur 2,8 Prozent tragen Kapital-

gesellschaften mit der Körperschaftsteuerzum gesamten Steueraufkommen von 561Milliarden bei, den größten Teil liefert dasHeer der Lohnempfänger.

„Deutschland ist eine Steueroase fürGroßunternehmen“, urteilt der Wiesbade-ner Ökonom Lorenz Jarass. „Normalver-diener werden ausgeplündert.“

Über diese Ungerechtigkeit redet Stein-brück nicht so gern. Lieber verweist er aufseine jüngsten Erfolge im Kampf gegenSteueroasen: Belgien und Luxemburg sindmittlerweile bereit, Auskünfte über poten-tielle Steuerhinterzieher zu geben. Am 8. September kommen Vertreter aus derSchweiz nach Berlin, um über ein neuesDoppelbesteuerungsabkommen zu ver-handeln, das erweiterte Schweizer Amts-hilfe vorsieht.

Das sind tatsächlich Fortschritte. Dochein anderes von Steinbrücks Prestigeob-jekten ist bereits gescheitert: Die Zins-schranke, die bei den Unternehmen dasAbsetzen der Zinskosten von der Steuerbegrenzt, wurde gelockert.

Und auch bei dem im Juli verabschie-deten Steuerhinterziehungsgesetz muss-te er Zugeständnisse machen. Statt al-lein bestimmen zu können, welches Land

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F I N A N Z P O L I T I K

Steueroase DeutschlandFinanzminister Steinbrück kämpft wegen der Krise mit wachsenden Staatsdefiziten. Und Konzerne wieSuperreiche zahlen weiterhin zu wenig Steuern, oft völlig legal, denn die Schlupflöcher sind riesig.

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Kassenwart Steinbrück: Millionäre und Unternehmen rechnen sich künstlich arm

Page 58: Der Spiegel 2009 36

als Schwarzgeldparadies zu ächten sei, dürfen nun auch Auswärtiges Amt undWirtschaftsministerium mitreden. Die Ein-ordnung als Steueroase jedoch ist Voraus-setzung für die strengeren Nachweispflich-ten von dort tätigen Anlegern und Unter-nehmen.

Vor einem derart zahnlosen Tiger ha-ben sich Konzerne kaum zu fürchten. Siebetreiben ganze Abteilungen, um ihreSteuersituation zu optimieren. Im interna-tionalen Geflecht ihrer Tochtergesellschaf-ten lenken sie die internen Geldströme mitHilfe von drei Stellschrauben in RichtungSteueroasen: Zinszahlungen, Lizenzge-bühren und Verrechnungspreise.

Das funktioniert so: Schweizer Firmen-ableger verlangen vom deutschen Mutter-konzern hohe Gebühren für die Nutzungvon Patenten oder berechnen für eine Pro-duktlieferung mehr als den Einkaufspreis.Ergebnis: Die Gewinne fallen im Steuer-sparland an.

„Viele dieser Schlupflöcher wurden mitder Unternehmensteuerreform 2008 ge-stopft“, behauptet Dieter Ondracek, Chefder Deutschen Steuergewerkschaft. Dochda lacht Hanno Berger herzlich. 14 Jahrelang prüfte der beleibte Endfünfziger mit

dem Händedruck eines Bauarbeiters alsFinanzbeamter Frankfurter Banken – bis erder Verlockung der Privatwirtschaft erlag.Nun sitzt er im 31. Stock des FrankfurterSkyper-Hauses und entwirft Sparmodellefür Superreiche und Großkonzerne.

Bergers Markenzeichen: null Steuern fürMultimillionäre. Er gilt als König der Bran-che. Mit der Skyline des Finanzplatzes imRücken erklärt er am Flipchart seine er-folgreichsten Konstruktionen – jene mitsteuerfreien Renditen von bis zu zehn Pro-zent. Für ihn ist das Austricksen des Fiskuseine „sportlich-intellektuelle Herausforde-rung“. Was kann er dafür, wenn Berlinlaienhafte Gesetze macht? Kein Wunder,dass er im Finanzministerium als liebsterGegner gilt.

Natürlich kennt Berger auch das neuesteMekka für hiesige Steueroptimierer: Malta.Im globalen Finanzmonopoly gehört dermediterrane Kleinstaat seit seinem EU-Bei-tritt 2004 zu den Lieblingsstandorten derdeutschen Wirtschaft.

Im Vergnügungsviertel St. Julians resi-dieren Firmen wie Lufthansa, Puma,BASF, K+S oder Fraport, nahe dem „Sti-letto Gentleman’s Club“ und den Pubsvoller komasaufender Sprachschüler. Die

BMW Malta Group sitzt beim Spielcasinoim feinen Portomaso.

„Die Anzahl der Firmen auf Maltawächst rasant“, freut sich Andrew Mandu-ca, Partner der Wirtschaftsprüfungsgesell-schaft Deloitte Malta. Das Wort Steueroasevermeidet er: „Die Unternehmen zahlenhier 35 Prozent Steuern, das ist mehr als inDeutschland.“ Das stimmt zwar. Doch ineinem zweiten Schritt können die Ak-tionäre den größten Teil zurückfordern (sie-he Grafik). Unterm Strich wird die Ge-winnausschüttung in Form von Dividendenmit nur fünf Prozent versteuert. An-schließend fließen die Dividenden zurückin die Kasse der deutschen Mutterkonzer-ne – dank Beschlüssen der rot-grünen Re-gierung zu 95 Prozent steuerbefreit.

Dass dem hiesigen Fiskus durch dieseMasche gewaltige Einnahmen entgehen,scheint keinen zu stören. Im Gegenteil.

Vergangenen Sommer lud der deutscheBotschafter auf Malta den angereistenDeutsche-Bank-Manager Frank Krings –heute Vorstand des Milliardengrabes HypoReal Estate – in seine Privatresidenz, zumTreff mit Vertretern von deutschen Kon-zernablegern. Offenbar gefiel Krings, waser da hörte. Lokalmedien berichten, dass

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Finanzplatz Malta: Der neueste Hype für deutsche SteueroptimiererTHE TRAVEL LIBRARY / INTERFOTO

Page 59: Der Spiegel 2009 36

gesamt

561,2

Mrd. €

2007 2008 2009

Körperschaftsteuer

Lohnsteuer

25,3%

Quelle: Bundesministerium für Finanzen*Steuern von Kapitalgesellschaften, AGs, GmbHs, u. a.

Prognose

2,8%

22,9Mrd. €

15,9Mrd. € 10,9

Mrd. €

Wenig Geld vom KapitalSteuereinnahmen 2008

die Deutsche Bank noch in diesem Jahrihr Malta-Geschäft ausbauen will.

Methoden wie die Malta-Masche funk-tionieren unter anderem dank Doppelbe-steuerungsabkommen (DBA). Darin legenzwei Staaten fest, in welchem Land Steu-ern erhoben werden, um Doppelbesteue-rung zu vermeiden. Anbieter geschlossenerFonds haben die DBA für sich entdeckt.Sie bieten Investments in britische Le-bensversicherungen, rumänische Forstbe-triebe, spanische Solaranlagen. Dank derDBA fällt für deutsche Anleger nur derSteuersatz im Ausland an.

Zwar wird der Finanzausschuss des Bun-destags über alle DBA informiert. AmGrundproblem ändert das wenig: „Bei denmeisten Steuersparmodellen hinkt derStaat hoffnungslos hinterher“, sagt AxelTroost, Finanzexperte der Linken.

Wie teuer es werden kann, wenn die Po-litik die Machenschaften der Hochfinanzverschläft, zeigt einer der größten Steuer-

skandale der Nachkriegsgeschichte. „EX/CUM-Trade“ lautet das Codewort im Ban-kerjargon. Der Trick ist so gewagt, dass esselbst dem Bundesverband der Bankenmulmig wurde.

Bereits am 20. Dezember 2002 alar-mierten die Banker das Finanzministerium.Sie schilderten den Systemfehler beim Ver-kauf geliehener Aktien nahe dem Dividen-denstichtag deutscher Konzerne. Aufgrundeines toten Winkels im Abwicklungssystemder Börse erhalten der ursprüngliche Ak-tienbesitzer und der Käufer von den je-weiligen Depotbanken eine Bescheinigungüber die abgelieferte Kapitalertragsteuer.So können beide Steuern zurückfordern –bezahlt aber wurde nur einmal (SPIEGEL29/2009).

Dennoch reagierte Berlin lange nicht.Vier weitere Jahre erschlichen sich vor al-lem die Eigenhandelsabteilungen mehre-rer deutscher Banken und reiche Privat-kunden ungestört zusätzliche Steuer-bescheinigungen, die sie beim Fiskus zurAnrechnung einreichten. Erst im Herbst2006 schloss das Bundesministerium der

Finanzen (BMF) die Lücke. „Die derzeiti-ge Bundesregierung hat sogleich nach ih-rer Einsetzung Anfang 2006 entsprechen-de Gesetzesformulierungen entwickelt, die Ende 2006 in Kraft traten“, so dasBMF.

Doch damit war das Problem nur aufnationaler Ebene gebannt. Die Warnungdes Bankenverbands, dass Verkäufe überausländische Institute „nicht erfassbar“ sei-en, blieb unberücksichtigt. So ging dasSpiel über Auslandsbanken fröhlich wei-ter – bis im Frühjahr dieses Jahres ein ge-schasster Manager der US-InvestmentbankJ.P. Morgan in Berlin das ganze Ausmaßdes Tricks offengelegt haben soll.

Im Finanzausschuss war später von ei-nem Schaden in Milliardenhöhe die Rede,der über die Jahre aufgelaufen sei. Docherst im Mai verfügte das BMF, dass ab so-fort Wirtschaftsprüfer die Sauberkeit dereingereichten Steuerbescheinigungen be-stätigen müssen.

Aber kann der Staat das ewige Hase-und-Igel-Rennen überhaupt gewinnen?Wie lässt sich der Rückstand der Beamtenauf die hochspezialisierten Steuermodell-Ingenieure verringern?

Zum Beispiel dadurch, dass man, wie inden USA und Großbritannien üblich, eineAnzeigepflicht für Steuersparmodelle ein-führt. Dadurch würde der Fiskus vorab überSchleichwege informiert und könnte sofortreagieren. 2007 wurde das Thema im Finanz-ausschuss wohlwollend diskutiert. „Dochplötzlich war der Vorschlag verschwun-den“, erinnert sich Christine Scheel vonden Grünen, Verfechterin des Frühwarn-systems. Die Begründung des Steinbrück-Ressorts: Die Anzeigepflicht stünde „denZielen des Bürokratieabbaus entgegen“.

Steuerexperte Hanno Berger ist mit demResultat hochzufrieden. Eine Anzeige-pflicht wäre „unverhältnismäßig“, findeter. Überhaupt findet er vieles unverhält-nismäßig. Etwa die Brachialmethode Stein-brücks, Gesetze rückwirkend zu ändern.

Der Fachmann nennt das Beispiel aus-ländischer Familienstiftungen. Ein Paragraf

im Außensteuergesetz soll geändert wer-den, damit negative Einkommen nichtmehr steuermindernd angerechnet werdenkönnen – und das Jahrzehnte rückwirkend.„Das ist eine Katastrophe, das ist skan-dalös“, meint sogar der ehemalige Richteram Bundesfinanzhof, Franz Wassermeyer.

Das BMF sieht das anders: „Nur wenndie rückwirkende Anwendung ausnahms-weise erforderlich ist und mit der Recht-sprechung des Bundesverfassungsgerichtsim Einklang steht, wird sie in einer Geset-zesinitiative aufgenommen.“

Tatsächlich wird durch eine Rückwirkungvon Gesetzen jegliche Rechtssicherheit ge-nommen. Zudem spielt das Finanzministe-rium mit seinen immer neuen Anordnungenfaktisch Gesetzgeber und unterläuft damitdie Gewaltenteilung. „Das ist verfassungs-widrig“, klagt Berger: „Wir leben steuer-rechtlich in einer Bananenrepublik“, wetterter angesichts dilettantisch zusammengebas-telter Gesetze. Die gibt es in der Tat.

So verbietet etwa der neue Paragraf 15bdes Einkommensteuergesetzes „Steuer-stundungsmodelle“ nach einem vorge-fertigten Konzept. Davon sind wohl nurstandardisierte Finanzprodukte für Klein-anleger betroffen. Superreiche lassen sichModelle maßschneidern – und fallen damitnicht unter das Gesetz, entschied dasFinanzgericht Baden-Württemberg. DassBMF argumentiert dagegen: „Dass Para-graf 15b EStG aufgrund der großen Inves-titionssummen keine Anwendung findensoll, ist aus den zitierten Entscheidungennicht ersichtlich.“

Unzulänglichkeiten wie diese gibt es in-des zuhauf im komplizierten deutschenSteuerwesen. Nur ein drastisch verein-fachtes System ohne große Abzugsmög-lichkeiten, wie es der Heidelberger Steu-erprofessor Paul Kirchhof propagiert, wür-de Bergers Branche wirklich schmerzen.

Steuerprofessor Lorenz Jarass vertritteine noch radikalere Lösung: Steuern sen-ken und gleichzeitig die Bemessungs-grundlage erweitern. „Alle Wertschöpfung,die im Inland erwirtschaftet wird, sollteauch im Inland versteuert werden.“

Damit hätte das Umleiten von Gewin-nen ins Ausland ein Ende, die an Steuer-oasen bezahlten Schuldzinsen und Lizenz-gebühren wären nicht mehr absetzbar.

Doch die Chancen für einen Umbau ste-hen schlecht. Ansätze auf EU-Ebene wer-den von Malta, Zypern, Irland und Groß-britannien heftig bekämpft. Und auch inDeutschland fehlt der Wille zur Verände-rung. „Die Steuervereinfachungsdebatteverläuft seit Jahren fruchtlos“, sagt die Ex-pertin der Grünen Scheel.

Politiker missbrauchen das Steuerrechtnur zu gern für ihre Zwecke. „Steuerrechtist Wahlgeschenkrecht“, sagt Scheel: einriesiges Spielfeld für Lobbyisten und Par-teien. „Diesen Gestaltungsspielraum willniemand hergeben.“

Beat Balzli, Michaela Schießl

Wirtschaft

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Steuerrechtler Kirchhof: Was würde die Reichen wirklich schmerzen?

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Page 60: Der Spiegel 2009 36

Gisbert Soballa hat ein eher nüch-ternes Verhältnis zum Tod. Der 72-jährige Rentner war früher Kar-

diologe. Sterben sei für ihn seither „etwasvöllig Normales“, sagt er.

So stutzte der Arzt auch nicht, als ihmsein Berater bei der Deutschen Bank einbesonderes Geschäft mit dem Tod vor-schlug. Der db Kompass Life Fonds kauftUS-Bürgern deren Lebensversicherungenab und übernimmt die Zahlung der weite-ren Beiträge. Wenn die Versicherten späterirgendwann sterben, fällt die gesamte Ver-sicherungssumme an den Fonds. Einscheinbar krisensicheres Geschäft, denngestorben wird immer.

Soballa und seine Frau steckten zusam-men 16000 Euro in den Fonds. 2007 kameine minimale Zinszahlung. Seitdem er-hält der Rentner aus dem mittelfränkischenBubenreuth vierteljährliche Schreiben, diebedauernd mitteilen, „dass in diesemQuartal leider erneut keine Ausschüttungerfolgen kann“. Die Spekulation der Ban-ker auf das Ableben anonymer Amerika-ner ging nicht auf.

Vielen tausend Anlegern geht es ähn-lich wie Soballa. Die Deutsche Bank hatbereits 2005 für die beiden Fonds db Kom-pass Life I und II bei ihren Kunden übereine halbe Milliarde Euro eingesammelt.Nun drohen hohe Verluste.

„Mir wurde in der Deutsche-Bank-Filialegesagt, das sei ein Bombengeschäft“, sagteine 50-jährige Chefsekretärin, die eine Ab-findung sicher für die Altersvorsorge an-legen wollte. Heute bangt sie um ihre Er-sparnisse. Bei einem Anruf bei der Treu-händergesellschaft des Fonds habe ihr einMitarbeiter „sofort und unmissverständlich“

klargemacht, dass in ihrem Vertrag auch dieMöglichkeit eines Totalverlustes geregelt sei.Eine Warnung, die in dem dicken Ver-kaufsprospekt ziemlich versteckt ist.

Wie kann das sein? Eigentlich hängendie Erträge doch angeblich nur von derLebenserwartung der ursprünglichen Ver-sicherungsnehmer ab – einer statistischschlichten Größe also. Dazu muss man wis-sen: Die Fonds übernehmen die gesamtenPolicen, das heißt, sie müssen auch die mo-natlichen Beiträge bis zum Ende der Ver-tragslaufzeit aufbringen. Die Versicherungzahlt erst beim Tod des Versicherungsneh-mers. Davor entstehen nur Kosten.

Doch die Versicherten sterben nicht sowie kalkuliert. Offenbar hat sich die Deut-sche Bank, wie viele andere Anbieter auch,in den USA zu sehr auf medizinische Gut-achter und Statistiken verlassen.

Als die Deutsche Bank ihre Fonds auf-legte, war die Euphorie auf dem Marktnoch groß. Allein deutsche Anleger inves-tierten 2004 und 2005 rund zwei MilliardenEuro in das Geschäft.

Doch die Ernüchterung kam bald. VieleAnbieter konnten die in Aussicht gestelltenRenditen nicht erwirtschaften. Zum einenlebten viele Versicherte schlicht länger alsgedacht. Zum anderen wurde der Aufkaufder Policen wegen der hohen Nachfrageimmer teurer. Hinzu kam eine gesetzlicheÄnderung, nach der amerikanische Le-bensversicherungsfonds in Deutschlanderstmals steuerpflichtig wurden.

Bereits 2005 nahm der Sachsenfonds,eine Tochter der ehemaligen Sachsen LB,sein Produkt vom Markt. Andere Institutemachen weiter in Optimismus. Die Hypo-Vereinsbank-Tochter WealthCap etwa leg-te noch in diesem Jahr den vierten Fondsfür US-Lebensversicherungen auf, nach-dem die anderen Produkte bislang diePrognosen übertrafen.

Bei den Fonds der Deutschen Bank hatindes bisher nur das Institut profitiert.Beim db Kompass Life I kassierten dieBanker mehr als 32 Millionen Euro. Bei-

spielsweise berechneten sie für die „Fonds-konzeption“ Gebühren von 3,485 Prozent.Für Eigenkapitalvermittlung gingen 9,5Prozent vorab an die Bank.

Das Produkt ist so kompliziert aufge-baut, dass es selbst Fachleute nicht verste-hen. Die Kompass-Fonds wurden von Lon-doner Bankern der Deutschen Bank auf-gelegt, die offenbar vor allem den eigenenProfit im Blick hatten. Die Anleger warenschlicht überfordert und verließen sich aufdas Urteil ihrer Berater. Unterm Strichwurden die Hauptrisiken den Anlegern un-tergejubelt, während die Finanzmanagervon Gewinnen profitierten.

Mit dem Geld der Anleger des db Kom-pass Life I wurden Lebensversicherungengekauft, die eine Ablaufleistung von ins-gesamt 770 Millionen Dollar haben. BisEnde Januar 2009 wurden indes erst dreiPolicen ausgezahlt. Rund 20 MillionenEuro kamen in die Fondskassen. Das Geldwurde „für die verauslagten Prämienauf-wendungen sowie sonstige Kosten ver-wendet“, erfuhren die Anleger lapidar.

Die Zeit drängt: Bereits 2015 endet dieLaufzeit des Fonds. Die Deutsche BankLondon muss dann den Anlegern die nochlaufenden Policen zu 80 Prozent der An-schaffungskosten abkaufen. „Durch dieAuszahlung dieses Betrages, der erheblichgeringer ist als die Ablaufleistungen dieserPolicen, würden den Anlegern finanzielleNachteile entstehen“, heißt es dazu imProspekt.

Die Investoren werden langsam aufmüp-fig. Einer von ihnen will eine außeror-dentliche Gesellschafterversammlung durch-setzen. Das Ziel: ein unabhängiges Gut-achten. Es soll klären, ob sich die DeutscheBank bei der Fondskonzeption fahrlässigverkalkuliert hat.

„In welche dunklen Kanäle verschwindetmein Erspartes?“, heißt es in der E-Maileiner Anlegerin. Ein anderer schreibt: „Ichhabe inzwischen ein sehr ungutes Gefühl,dass ich meine eingesetzten 10000 Euro niewiedersehe.“ Christoph Pauly, Anne Seith

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G E L D A N L A G E N

RiskanterKompass

Die Deutsche Bank und andereInstitute verwalten Fonds, die mit

der Lebenserwartung von US-Amerikanern spekulieren – ein tod-sicheres Geschäft nur für die Banken.

Bankchef Josef Ackermann

Kompliziertes Produkt

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Senioren in Miami: Versicherte leben länger als gedacht

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Page 61: Der Spiegel 2009 36

Generation KriseVeränderung der Arbeitslosenzahlen 2009 gegenüber dem jeweiligen Vorjahresmonat, in Prozent

Arbeitslose gesamt

junge Arbeitslosevon 15 bis unter 25 Jahren

– 3,2

+ 2,2

+9,3

+14,2

+ 16,1

+ 19,0

+ 5,0 + 5,3

+ 7,9

+ 2,2

– 1,8

– 4,7

Januar Febr.

März April Mai Juni

+ 18,3

+ 7,9

Juli

SPIEGEL: Herr Scholz, Experten gehen da-von aus, dass die Wirtschaftskrise imHerbst voll auf den Arbeitsmarkt durch-schlagen wird. Was erwarten Sie?Scholz: Die Experten haben mit ihren Vor-hersagen bisher ziemlich danebengelegen.Sie haben nicht erkannt, wie wirksamunser Kurzarbeitsprogramm ist. Damit ha-ben wir ein paar hunderttausend Arbeits-plätze gerettet. Natürlich wird der kon-junkturelle Einbruch dazu führen, dass dieArbeitslosigkeit in den nächsten Monatensteigt. Aber wir werden wohl in diesemJahr unter der Marke von vier Millionenbleiben.

SPIEGEL: Die Arbeitgeber nehmen ebenRücksicht auf den Wahltermin. Wenn dieneue Regierung im Amt ist, kommt wo-möglich die Entlassungswelle.Scholz: Das ist Unsinn. Ich spreche regel-mäßig mit den Personalchefs und Betriebs-räten der wichtigsten Unternehmen. Dabeihabe ich nicht den Eindruck gewonnen,dass die Kurzarbeiter von heute samt undsonders die Entlassenen von morgen seinwerden. Im Gegenteil: Viele Firmen be-greifen mittlerweile, dass der Fachkräfte-mangel sie schon in den nächsten Jahrenmit unerbittlicher Härte treffen wird. Inden kommenden zwei Jahrzehnten wer-den überall qualifizierte Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer fehlen. Das ist daseigentliche Thema der nächsten Legisla-turperiode.SPIEGEL: Das sagen alle Parteien, aber es tutsich wenig. Wie lautet Ihr Programm?Scholz: Der Staat hat zwei Aufgaben: Ermuss zum einen mehr Jugendliche zu Abi-

tur und akademischen Abschlüssen, vorallem in den Bereichen Mathematik, Inge-nieurs- und Naturwissenschaften, führen.Zum anderen hat er dafür zu sorgen, dasskünftig kein Jugendlicher mit weniger alseiner Berufsausbildung im Tornister in dasArbeitsleben strebt. Dazu brauchen wirvor allem mehr Klarheit. SPIEGEL: Was schwebt Ihnen vor?Scholz: Jedes Jahr verschwinden Tausendevon Jugendlichen nach der Schule vonunserem Radarschirm. Manche brechenihre Ausbildung ab und leben von ir-gendwelchen Gelegenheitsjobs. Andereabsolvieren eine Bildungsmaßnahme, tau-

chen aber in keiner Sta-tistik auf, und wir wis-sen nichts über sie. Wir sollten aber wissen,welchen Weg die Schulabgänger einschla-gen.SPIEGEL: Das klingt nach Überwachungs-staat. Wollen Sie eine Zentraldatei für alle16- bis 20-Jährigen schaffen?Scholz: Nein. Wir wollen nicht überwachen,sondern rechtzeitig helfen. Es nutzt dochnichts, wenn Jugendliche mit 16 Jahren dieSchule verlassen, und wir sehen sie dann mit22 Jahren ohne Ausbildung in einem Job-center wieder. Der Start ins Berufsleben istdie zentrale Station auf dem Lebensweg.Da dürfen wir niemanden allein lassen. Dasüberall in Deutschland zu erreichen, ist meinZiel in der nächsten Legislaturperiode.SPIEGEL: Bildung ist bei uns Ländersache.Die Regierungen in Düsseldorf oder Mün-chen werden sich bedanken, wenn Sie ih-nen neue Kontrollaufgaben zuweisen.

Scholz: Selbstverständlich müssen wir dagemeinsam mit den Ländern agieren. Dasgeht auch. Schließlich gibt es überall Praxisbeispiele, die sich in diesem Sinne weiterentwickeln lassen. In Nordrhein-Westfalen werden beispielsweise mit ei-nem sogenannten Berufswahlpass gute Erfahrungen gemacht. Etwas Vergleichba-res brauchen wir bundesweit.SPIEGEL: In Wahrheit schränken Sie einGrundrecht ein. Gehört es nicht zu einerfreiheitlichen Gesellschaft, dass die Be-rufswahl Sache des Einzelnen ist?Scholz: Das bleibt auch so, aber wir dürfennicht wegschauen. Eineinhalb MillionenMenschen zwischen 20 und 29 sind ohneBerufsausbildung. 15 Prozent dieser Alters-gruppe bleiben ohne Berufsabschluss. Wirkönnen uns selbst ja weiterhin schöne Ge-schichten von der guten Bundesrepublikerzählen. Aber das ist ein Drama. Denndie Zahl der Jobs für Arbeitnehmer ohneberufliche Qualifikation nimmt permanentab. Wir müssen handeln. Schnell.SPIEGEL: Bildung ist ein Problem des Bil-dungssystems und nicht Aufgabe der Ar-beitsverwaltung.

Scholz: Ich halte mehr als 60000 junge Leu-te, die Jahr für Jahr ohne Schulabschlussdie Schule verlassen, nicht für naturgege-ben, sondern für ein Staatsversagen. Na-türlich brauchen wir bessere Schulen, mehrKindergärten und Ganztagsschulen. Aberich kann mich nicht als verantwortlicherPolitiker hinstellen und sagen, für die Fol-gen des Bildungsversagens bin ich nichtzuständig. Rund 500000 Arbeitslose habenkeinen Schulabschluss. Wer mit 16 Jahrendie Schule verlässt, hat fünf Jahrzehnte aufdem Arbeitsmarkt vor sich. Ohne Schul-und Berufsabschluss wird er immer wiederKunde des Arbeitsministers sein.SPIEGEL: Was wollen Sie mit Jugendlichenmachen, die von Ausbildung einfach nichtswissen wollen?Scholz: Wir müssen immer wieder neu mitAngeboten kommen. Auch nach Ende derSchulzeit: anrufen, Termine machen undim Zweifel an der Haustür klingeln. Zudiesem Geschäft gehört Ausdauer.

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A R B E I T S M A R K T

„Mehr Klarheit“Sozialminister Olaf Scholz, 51, über die Auswirkungen der Krise

auf den Arbeitsmarkt, das Staatsversagen in der Bildung und seine Pläne, den Berufsweg von Jugendlichen zu überwachen

Scholz

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SPIEGEL: Sie wollen junge Menschen instaatliche Bildungsmaßnahmen zwingen,die ausweislich vieler Studien nur mäßi-gen Erfolg haben. Ist das wirklich ein Fort-schritt?Scholz: Wer eine Ausbildung hat, ist fürden Arbeitsmarkt besser gerüstet. Am bes-ten natürlich mit einer Lehre, einer dualenAusbildung. Wer keinen Schulabschlussund keine Berufsausbildung hat, wird seinganzes Arbeitsleben lang riesige Problemehaben. Wir können doch nicht einerseitsbeklagen, dass heute ganze Hauptschul-klassen ohne Berufsausbildung bleiben,und andererseits achselzuckend nichts tun. SPIEGEL: Für Ihren Plan benötigen Sie nichtnur eine Zentraldatei, sondern auch mehrAusbildungsvermittler in den Arbeitsagen-turen und Jobcentern. Wo sollen die her-kommen?Scholz: Ich habe dafür gesorgt, dass es seitdem vergangenen Jahr noch einmal etwa10000 neue Stellen für die Arbeitsagenturund die Jobcenter gab. Jetzt haben wir daserste Mal überhaupt die Chance, das seit2005 versprochene Verhältnis von Ver-mittlern und Arbeitsuchenden in den Job-centern von 1:75 zu realisieren. Jetzt in derKrise darf der Personalbestand in den Job-centern nicht wieder heruntergefahrenwerden. Umgekehrt: Wir müssen den Aus-bau der Vermittlung weiter vorantreiben.SPIEGEL: Ihr Parteifreund Heinz Buschkow-sky, Bezirksbürgermeister im Berliner Pro-blembezirk Neukölln, sieht das Problemauch an anderer Stelle. Jugendliche könneman schwer für eine Ausbildung motivie-ren, wenn sie in ihrem Umfeld erleben,dass man mit Stütze und ein bisschenSchwarzarbeit auskömmlich leben kann.

Scholz: Das gilt aber nur für unqualifi-zierte Beschäftigung. Es gibt schlimmeLöhne in Deutschland, das weiß ich nur zugenau. Wer besser ausgebildet ist, wirdaber in der Regel auch besser bezahlt.Gerade deshalb müssen wir jedem Ju-gendlichen eine berufliche Perspektivebieten. SPIEGEL: Und wenn er die nicht wahr-nimmt: Wollen Sie ihm dann die Stützestreichen?Scholz: Damit es kein Missverständnis gibt:Nur ein Teil der Jugendlichen, über diewir die ganze Zeit reden, erhält Grund-sicherungsleistungen. Das ist nicht nur einHartz-IV-Problem, das reicht weit darüberhinaus. Ich habe auch keine Sanktionenim Blick. Ich will erreichen, dass wir überhaupt Angebote machen. Im Übrigen:Wenn eine Familie Leistungen aus derGrundsicherung erhält, können wir heuteschon vor dem Schulabschluss über die Be-rufsorientierung der Kinder sprechen. Wirbenötigen nur genügend Personal in denJobcentern.SPIEGEL: Die Realität in der Krise sieht an-ders aus: Da erleben die Jugendlichen, dasssie die Ersten sind, denen gekündigt wird,oder dass sie erst gar keinen Ausbildungs-platz mehr finden.Scholz: Deshalb ist jetzt Handeln gefordert.Es bedrückt mich, dass mir nun mancheArbeitgeber erzählen, man könne wegendes Rückgangs der Schülerzahlen auch dieZahl der Ausbildungsverträge runterfah-ren. Wir haben aber Hunderttausende vonJugendlichen, die bereits in den vergange-nen Jahren keinen Ausbildungsplatz ge-funden haben. Um die müssen wir unskümmern.

SPIEGEL: Die Arbeitgeber be-haupten, dass viele von de-nen einfach nicht die nöti-gen Fähigkeiten mitbringen. Scholz: Ich verstehe die Kla-ge, aber gerade deshalb müs-sen wir unsere Bemühungensteigern. Getanzt werdenmuss mit denen, die im Saalsind. Wenn die Wirtschaftdie alle nimmt und dafürForderungen stellt, werdeich die weiße Fahne hissenund fast alles tun, damit dasklappt. Das ist die beste undeffizienteste Arbeitsmarkt-politik, die wir machen kön-nen. Aber ich werde nichtmitmachen, wenn sich diedeutsche Wirtschaft irgend-wann beim Arbeitsministermeldet und sagt, dass sie fürdie Ausbildung zum Zim-mermann engagierte jungeLeute aus Vietnam brauche.SPIEGEL: Fleischer sagen, siefinden kaum noch einendeutschen Bewerber für ei-nen Ausbildungsplatz.

Scholz: Das Problem gibt es. Aber da mussdie deutsche Wirtschaft eben auch lernen,dass sie für bestimmte Berufe vielleichtnicht immer die angemessene Lohnvor-stellung hat. Junge Männer und Frauen er-kundigen sich bei Bekannten, bevor sie ei-nen bestimmten Beruf ergreifen. Wenn siedann hören, dass man von seinem Lohnnicht leben kann, lassen sie es eben. Unddie Unternehmen müssen auch diejenigenals Auszubildende akzeptieren, die nichtdie besten Zeugnisse haben. Wir geben zuviele junge Menschen auf. Wir lassen zuviele fallen, die es wert sind, dass man sichMühe mit ihnen gibt.SPIEGEL: Es gibt eine wachsende Zahl vonSozialpolitikern in Deutschland, die gebeneine ganz andere Antwort: Wenn die Qua-lifikationsanforderungen des modernenArbeitsmarkts nicht mehr von allen Be-werbern erfüllt werden können, müssenwir uns eben vom Ziel der Vollbeschäfti-gung verabschieden. Zahlen wir allen einGrundeinkommen, dann haben wir dieProbleme gelöst. Was halten Sie davon?Scholz: Ich bin strikt dagegen. Zum einenlöst das kein Problem, denn Armut ist einerelative Größenordnung. Wenn jeder 600Euro bekommt, wird er sich trotzdem mitseinem Nachbarn vergleichen, der dar-über hinaus noch ein Arbeitseinkommenhat. Er wird also nicht zufrieden sein. Zumanderen habe ich als Sozialdemokratgrundsätzlich eine andere Haltung. Ich binder Auffassung, dass der Mensch arbeitensoll, und – darin unterscheide ich mich vonden Konservativen und Liberalen – diesaber auch für jeden menschenwürdig mög-lich sein muss.

Interview: Markus Dettmer, Michael Sauga

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Auszubildende bei Heidelberg Druck: „Niemanden allein lassen“

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Page 63: Der Spiegel 2009 36

Die Spielverderber sitzen überall. InStuttgart, in Hamburg, in Wiesba-den und auch in Berlin. Es sind die

Finanzminister der Länder, deren Front-berichte jenen Optimismus trüben, denAktienhändler und Konjunkturforscher indiesen Tagen verbreiten.

Schlimmer kann es aus Sicht der Ministerkaum kommen. „Jeder Stein“ müsse jetzt

auf der Suche nach Einsparungen umge-dreht werden, fordert etwa der Baden-Würt-temberger Willi Stächele. Sein HamburgerKollege Michael Freytag sieht die Hanse-stadt „mit voller Wucht von der Finanz-krise getroffen“. Und Hessens KassenwartKarlheinz Weimar prognostiziert düster ein„gewaltiges Blutvergießen“, wenn es nichtbald besser werde mit den Landesfinanzen.

Die Ausläufer des weltweiten Finanz-Tsunamis haben, so scheint es, nun auchdie Bundesländer voll erfasst. Erst hat esLandesbanken getroffen, jetzt sind es dieSteuereinnahmen, die auf breiter Frontwegbrechen. Die Zahlen, die die Haus-hälter in den Ländern zusammengestellthaben, lassen für die nächsten Jahre qual-volle Sparhaushalte, Rekordschulden undLeistungskürzungen erwarten.

* Günther Oettinger (Baden-Württemberg), Kurt Beck(Rheinland-Pfalz), Horst Seehofer (Bayern), StanislawTillich (Sachsen) und Klaus Wowereit (Berlin) bei einerKonferenz im Juni.

Die Lage, hieß es vergangene Woche in mehreren Länderfinanzministerien, seinoch viel schlimmer, als nach der ohnehinschon alarmierenden Steuerschätzung imMai zu erwarten gewesen sei. Im Juni seiendie Steuereinnahmen „unterirdisch“ gewe-sen, klagt der Hesse Weimar. In Nordrhein-Westfalen herrscht blankes Entsetzen überdie Juli-Abrechnung, die ein Steuerminusvon 18,8 Prozent im Vergleich zum Juli 2008ausweist, und in Baden-Württemberg be-trug der Rückgang 16,8 Prozent. Nichtsscheint noch krisensicher zu sein. Selbst dieEinnahmen aus der Biersteuer schrumpf-ten im Juli um mehr als 10 Prozent.

Hamburgs Senator Freytag schwor dieBürger der Hansestadt auf „ganz schwereJahre“ ein und kündigte eine Rekord-Neu-verschuldung von sechs Milliarden Eurobis 2013 an. In Berlin, das Kürzungsrundengewohnt ist, drängte Finanzsenator UlrichNußbaum den rot-roten Senat auf erneuteEinsparungen von bis zu einer Viertelmil-liarde Euro pro Jahr. In Hessen klettert die

geplante Neuverschuldung mit 2,9 Milliar-den in diesem und 3,4 Milliarden Euro imnächsten Jahr auf „Größenordnungen, dieselbst einen Finanzminister atemlos ma-chen“, wie Weimar zugeben musste.

Ein Teil des Debakels ist hausgemacht.Etliche Landesregierungen haben zugelas-sen, dass unter ihren Augen Landesbankenwie die HSH Nordbank oder die LBBWMilliarden in Ramschpapiere investiertenund jetzt mit Steuermilliarden gestütztwerden müssen.

Auch die vielbeschworene „antizykli-sche Finanzpolitik“ wurde oft nur als Ar-gument dafür missbraucht, in schlechtenZeiten noch schamloser Schulden machenzu können als in guten. So hat etwa Hessenauf die 718 Millionen Euro vom Bund fürdas Konjunkturpaket II noch einmal groß-zügig 1,7 Milliarden Euro überwiegend fürBauprojekte draufgelegt.

Weil keinerlei Eigenmittel vorhandenwaren, ging das nur auf Pump. Denn auch

als die Steuereinnahmen in den Vorjahrennoch höher waren, ließ die Landesregie-rung den Schuldenberg immer weiter stei-gen und betrieb allenfalls Haushaltskos-metik. So hatte Hessen einen großen Teilseiner Immobilien für Ministerien, Polizeioder Finanzämter an Investoren verkauft –und muss die Gebäude jetzt in der Krisefür viel Geld wieder zurückmieten.

Selbst einstige Musterländer geraten inden Strudel. Der Freistaat Sachsen, derimmer stolz auf seine solide Haushalts-führung war, rechnet in diesem Jahr mitMindereinnahmen von 554 Millionen Euro,im nächsten Jahr von einer Milliarde.Mindestens 120 Millionen Euro sollen dieMinisterien jetzt bis Jahresende einsparen,25 Millionen allein im Bauhaushalt.

Die meisten Landesregierungen lassendie Bürger noch im Unklaren darüber, wodie Einschnitte erfolgen sollen. Ein Nach-tragshaushalt werde im Herbst vorgelegt,heißt es etwa im Mainzer Finanzministe-rium, also erst nach der Bundestagswahl.

Viel Spielraum für Kürzungen gibt esohnehin nicht. Große Teile ihrer Etats sindbei vielen Ländern durch Personalausga-ben, Zinszahlungen oder Abführungen andie Kommunen fest gebunden. Die Alter-native sind neue Kredite, deren Zinskostenspätere Haushalte belasten. Und die Hoff-nung, dass der Bund nach der Wahl imSeptember die Steuern erhöht.

Die Kreditvariante wird für die Länderimmer riskanter. Bis 2020 müssen sie lautGrundgesetz ihre Haushalte so in Ordnunggebracht haben, dass sie ohne neue Schul-den auskommen. Einige Länder wolltendieses Ziel sogar noch früher erreichen.So hatte die hessische CDU/FDP-Koalitionvor wenigen Monaten getönt, die Bürgerschon 2011 über ein Schuldenverbot fürdas Land abstimmen lassen zu wollen.

Dieses Ziel hat Finanzminister Weimarinzwischen aufgegeben: „Da machen Siesich ja lächerlich.“ Matthias Bartsch,

Steffen Winter

Wirtschaft

F I N A N Z E N

GewaltigesBlutvergießen

Den Bundesländern brechen dieSteuereinnahmen zum Teil

im zweistelligen Prozentbereichweg. Jetzt drohen Rekord-

schulden und Leistungskürzungen.

220

230

210

MilliardenlückeSteuereinnahmen der Länder

nach den Steuerschätzungen

Mai 2008 und

Mai 2009

in Milliarden €

2008 2009 2010

Quelle: BMF

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202

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Ministerpräsidenten in Berlin*: Selbst die Biersteuer ist nicht krisensicher

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Beliebte DurstlöscherAnteile am deutschen Limonadenmarkt,in Prozent

6,3

18,5

41,3

12,5

10,0

Sonstige

3,6 Sinalco

2,9 Deit

1,8 Bizzl

1,5Ileburger

1,5Förstina

Discounter-

Eigenmarken

Quelle: Nielsen MAT,Juni 2009

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Neulich haben Peter Kowalsky, Ge-schäftsführer der Ostheimer Kult-brause Bionade, und sein Bruder

Stephan ein Schild an die Tür ihres Bürosgehängt. Auf dem stehen die neuen Re-geln des „Haustrunk“-Brauchs. Bis dahindurfte jeder Mitarbeiter monatlich 16 Kis-ten gratis mit nach Hause schleppen. Künf-tig gebe es nur noch 8. Für die rund 200Beschäftigten war das endgültig das Signal:Jetzt geht ihre Limonade allmählich denBach runter.

Noch vor kurzem platzte das Familien-unternehmen aus dem 3500-Seelen-Städt-chen Ostheim vor der Rhön beinahe vorSelbstvertrauen. „Der Zeitgeist von Coca-Cola war gestern, der von Bionade ist heu-te“, sagten die Kowalskys. Die Neulinge ausBayern wollten sich mit der größten Ge-tränkemarke der Welt anlegen – berauschtdavon, dass ihre teils bizarren Geschmacks-richtungen nicht nur in Hamburger Szene-bars gut ankamen, sondern bundesweit An-klang fanden. Doch zuletzt setzte Bionadenur noch 160 Millionen Flaschen im Jahr ab.Es waren mal mehr als 200 Millionen. Coca-Cola bringt es mit seinen 23 Marken allein inDeutschland auf neun Milliarden.

Dabei ist es nicht mal der Goliath ausAtlanta, der Bionade zu schaffen macht.Die Ostheimer stolpern über sich selbst –und ihre verhassten Miteigentümer.

Zunächst prozessierte die Firma immerwieder gegen große Konzerne, die Nach-ahmerprodukte wie Bios oder Sinconadaauf den Markt warfen. Auch mit Publika-tionen, wie zum Beispiel „Öko-Test“, lie-ferte sich das Unternehmen juristischeScharmützel. Das kratzte schon sehr amImage des sympathischen Kleinbetriebs.Dann erhöhte Bionade seine Preise mit einem Schlag um mehr als 30 Prozent.Prompt brach der Umsatz ein. Dann mach-ten Meldungen die Runde, das Unterneh-men sei marode und werde verkauft.

Nun wehren sich die Brüder Kowalsky.Schuld an all den miesen Nachrichten sei-en letztlich nicht sie, sondern Banken undMiteigentümer, die im Hintergrund einsonderbares Spiel spielten.

Der Bionade-Mutterbetrieb, Peter Bräuin Ostheim, hatte schon früh Finanzpro-bleme. Jahrelang hangelte sich das Unter-nehmen von Kredit zu Kredit. Einmal war

die Familie so klamm, dass die Bank dieEC-Karten von Stephan Kowalsky und sei-ner Mutter einbehielt, weil das Konto hoff-nungslos überzogen war.

2003 schließlich – Bionade begann gera-de, die ersten Erfolge zu feiern – drohtedie örtliche Volksbank mit Zwangsvoll-streckung, weil ein Kredit über 35000 Eurofällig wurde. Andere Banken sprangen auf,und plötzlich mussten Schulden in Höhevon 670000 Euro auf einen Schlag begli-chen werden.

Retter in der Not wurde der Fuldaer Ge-tränkepatron Egon Schindel, zu dessen Un-ternehmensgruppe auch Rhönsprudel ge-hört. Er lieh der Familie 380000 Euro, dieZwangsvollstreckung konnte verhindertwerden. Im Gegenzug bekam Schindel

51 Prozent an der Bionade GmbH.Das Darlehen ist längst zurückge-zahlt, der Mehrheitsgesellschafterblieb – und wurde unbequem.

Inzwischen ist Rhönsprudelselbst in finanzielle Turbulenzengeraten. Vor eineinhalb Jahrensetzten die kreditgebenden Bankenden Sanierer Manfred Ziegler beiRhönsprudel ein – und den Ko-walskys als Finanzchef vor. Ei-ne seiner ersten Amtshandlungen war, bei Bionade die Preiserhöhungdurchzusetzen – wohl auf Druckder Banken, allen voran der Hypo-Vereinsbank, bei der Rhönsprudelbesonders tief in der Schuld steht.

„Es tut uns unendlich leid, dasswir von manchen als raffgierig an-gesehen werden“, sagt Peter Ko-walsky. „Die Preiserhöhung inDeutschland war eine mehrheitlichgetroffene Entscheidung mit Rhön-sprudel. Wir allein hätten es inmehreren Schritten gemacht, nichtso, dass man dem Verbraucherfrontal eine in die Schnauze haut.Wir haben da vielleicht andereWertvorstellungen.“

Immer wieder wurde er vorge-schickt zu behaupten, die Preiser-

höhung sei nötig, um das schnelle Wachs-tum von Bionade zu finanzieren. In Wahr-heit hätten wohl Rhönsprudel und die Ban-ken einfach Kasse machen wollen, glaubter. Die HypoVereinsbank wollte sich „zuEinzelengagements“ nicht äußern.

Doch die Preiserhöhung erreichte dasGegenteil. Absatz und Umsatz gingen zu-rück. Deshalb holen die Banken nun zumfinalen Schlag aus: Rhönsprudel solle seineBionade-Beteiligung zu Geld machen. Eu-ropas größte Privatbank, Sal. Oppenheim,wurde beauftragt, einen Käufer zu finden.Kowalsky und seine Familie können demTreiben nur ohnmächtig zusehen.

Lieber heute als morgen würden sie dieFirmenanteile zurückkaufen. Doch vor-sorglich streuten die selbst ins Schlingerngeratenen Oppenheim-Banker gleich ei-nen Kaufpreis: 70 Millionen Euro sollenfür die Bionade-Hälfte fließen.

Für Kowalsky ein Mondpreis. Getränke-giganten wie Coca-Cola, Krombacher oderBitburger können das locker aufbringen –ganz gleich, ob der wahre Wert des Anteilsauf allenfalls 20 Millionen Euro geschätztwird. Trotz allen Image-Ärgers hat die Mar-ke Bionade mittlerweile eine solche Strahl-kraft, dass große Konzerne dafür gern auchmehr als das Dreifache zahlen würden. Die

Kowalskys können sich ihre Firmanicht mehr leisten.

Peter Kowalsky sagt: „Es ist, alskreisten wir als Biene um unserenDorfteich und genehmigten uns ab

und an ein Schlückchen. Und plötzlichkommen Elefanten, hängen ihren Rüsselrein und fangen an zu saugen.“ Janko Tietz

G E T R Ä N K E I N D U S T R I E

Elefant am Dorfteich

Die Kultbrause Bionade steckt in der Krise. Die Gründer-

familie macht nun Front gegen Banken und

einen ungeliebten Miteigentümer.

Bionade-Chef Peter Kowalsky: Von Kredit zu Kredit

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Page 65: Der Spiegel 2009 36

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Panorama Ausland

I R A K

Stunde der Pragmatiker

Er spielte nur sechs Jahre in der Welt-politik mit, doch dabei nahm er eine

einzigartige Rolle ein: So tief der Gra-ben zwischen Amerika und Iran auchsein mochte, der irakische Schiitenfüh-rer Abd al-Asis al-Hakim, der am vori-gen Mittwoch starb, ging in Washingtonwie in Teheran ein und aus. Sein Todkann die Gewichte im Irak verschieben,denn keiner der drei Kandidaten fürseine Nachfolge als Chef des Hohen Is-lamrats, der größten Schiitenpartei, istIran so eng verbunden, wie Hakim eswar. Während er immer darauf drängte,dem schiitischen Süden dieselbe Auto-nomie zu verschaffen, wie sie die Kur-

den im Norden haben, hat sein SohnAmmar, 38, das Konzept des Föderalis-mus fürs Erste abgeschrieben: „DasVolk hat sich gegen diese Idee entschie-den“, sagte er zum SPIEGEL. Vizepräsi-dent Adil Abd al-Mahdi, von Jesuitenausgebildet und lange im französischenExil, gilt als einer der wendigsten iraki-schen Politiker. Und Humam al-Hamu-di, ein Religionsgelehrter wie der Ver-storbene, fiel US-Beobachtern währendder Beratung über die Verfassung alsder am wenigsten von konfessionellenInteressen geleitete Schiit auf. Auchwenn er das nicht gern zeige, versteheer „sehr gut Englisch“, berichten In-sider. So dürfte auf Hakim, der imZweifel immer auf Irans Seite stand, einPragmatiker folgen, der eine größereNähe zu den USA sucht.Hakim, 2006

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Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer, bei dem Mitte Augustvermutlich 73 Menschen ums Leben kamen, hat eine neue

Debatte über Europas Immigrations- und Asylpolitik ausgelöst.In den nächsten Tagen will Brüssel ein Konzept mit einheit-lichen Regeln vorlegen, die von den Mitgliedstaaten im Okto-ber beraten werden sollen. Drei Wochen lang waren, nach Angaben der Überlebenden, 78afrikanische Flüchtlinge in einem Schlauchboot vor den KüstenMaltas und Italiens getrieben – ohne Treibstoff, ohne Nahrungoder Wasser. Nur von zwei Fischerbooten bekamen sie einigeWasserflaschen und ein paar Lebensmittel gereicht. Viele Schif-fe fuhren an ihnen vorbei, niemand war bereit, die Schiff-brüchigen aufzunehmen und an Land zu bringen. Denn in Ita-

lien droht Rettern eine Anklage als Schleuser. Als die italieni-sche Küstenwache sich endlich erbarmte, fand sie noch fünfÜberlebende. Die Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen und Kirchenschob Italiens Außenminister Franco Frattini auf die EU ab.Außer „vielen schönen Erklärungen“ bringe Brüssel nichts zu-stande, dabei handele es sich um „ein gesamteuropäisches Pro-blem“. Schon lange fordern die Mittelmeer-Anrainer, die Flücht-linge – im Vorjahr rund 67000 – sollten auf alle Länder verteiltwerden. Das lehnen die nördlichen EU-Staaten, allen voranDeutschland, Österreich und Großbritannien, allerdings ab. Siewollen auch den neuen Vorschlag der Brüsseler Kommission, je-dem EU-Land eine Flüchtlingsquote zuzuteilen, zurückweisen.

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AFP

Erste Hilfe für überlebende Afrikaner

F L Ü C H T L I N G E

Ohne Nahrung, ohne Wasser

Havariertes Schlauchboot vor Lampedusa

Page 66: Der Spiegel 2009 36

Panorama

U S A

Alptraum im HinterhofFast zwei Jahrzehnte lang war Jaycee Lee Dugard ver-

schwunden, eingesperrt in einem Hinterhof, bis sie am ver-gangenen Mittwoch endlich freikam. Ihr Martyrium begann am10. Juni 1991, als die damals Elfjährige vor den Augen ihres Stief-vaters in South Lake Tahoe, einer kleinen Stadt nordwestlich vonSan Francisco, in ein Auto gezerrt wurde. Es endete im Garteneines biederen Einfamilienhauses in Antioch, knapp 200 Kilo-meter entfernt. Die Entführte ist inzwischen 29 Jahre alt, Mut-ter zweier Töchter, 11 und 15 Jahre alt. Vater ist ihr mutmaßlicherEntführer Phillip Garrido, ein vorbestrafter Vergewaltiger, derfrüher mit Drogen gedealt und LSD genommen hatte und mitt-lerweile zum religiösen Fanatiker geworden ist. Über 18 Jahre wurde Jaycee Lee Dugard von dem Ehepaar Phil-lip und Nancy Garrido, 58 und 54 Jahre alt, gefangen gehaltenund immer wieder vergewaltigt – ähnlichwie Natascha Kampusch und Elisabeth F.in Österreich. Die Garridos bauten aller-dings kein Verlies im Keller, sondern imHinterhof. Sie trennten einen Teil ab, derdurch Zäune, Planen, dichte Hecken undBäume abgeschirmt war. Dort hielten sieDugard als Gefangene, erst allein, dannmit ihren Töchtern, in Zelten und in ei-nem schallisolierten Holzschuppen. Die Polizei hatte eine große Suchaktionnach Jaycee gestartet, ohne Erfolg. DerStiefvater geriet in Verdacht, er habeselbst die Entführung inszeniert. Die Ehemit Jaycees Mutter scheiterte. 18 Jahre in einem Hinterhof, mitten imWohngebiet von Antioch – und niemand

hat etwas gemerkt? Hinweise hat es gegeben: Eine Nachbarinschilderte Reportern, wie sie über den Zaun gespäht und spie-lende Mädchen, Zelte und Pitbulls gesehen habe. Sie habe diePolizei alarmiert, die jedoch nichts unternommen habe. Eineandere Nachbarin erzählte, sie habe die Mädchen öfter mit Gar-rido gesehen, den sie als Vater angeredet hätten. Und Ron Gar-rido, der ältere Bruder des Entführers, berichtete dem „SanFrancisco Chronicle“, sein Bruder Phillip habe vor zwei Jahreneine Tante besucht – zusammen mit den beiden Mädchen, die erals Nachbarskinder ausgegeben habe. Die Tante habe danach ge-sagt: „Ich schwöre, das ältere der Mädchen ist seine Tochter. Siehat seine Augen.“Zudem musste sich Garrido als verurteilter Vergewaltiger regel-mäßig bei seinem Bewährungshelfer melden. Im Jahr 1971 hat-te er ebenfalls in South Lake Tahoe eine junge Frau entführt undsie in ein Lagerhaus in Reno verschleppt. Er hielt sie gefangenund vergewaltigte sie. Wenig später wurde er verhaftet und saßbis 1988 im Gefängnis, dann kam er auf Bewährung frei. DreiJahre später entführte er die kleine Jaycee Lee Dugard. Weil

er als Sexualstraftäter bekannt war, kon-trollierte ihn die Polizei, zuletzt vor ei-nem Jahr.Jaycee Lee Dugard kam nur durch Zufallfrei. Phillip Garrido hatte auf dem Cam-pus der Berkeley-Universität religiöseFlugblätter verteilen wollen, zwei Mäd-chen im Gefolge. Deswegen lud ihn derBewährungshelfer nun erneut vor. Zum Termin erschien Phillip Garrido mitseiner Ehefrau Nancy, den beidenMädchen und einer weiteren weiblichenPerson, die er als Allissa vorstellte. Dermisstrauische Bewährungshelfer alar-mierte die Polizei – worauf sich die vor-gebliche Allissa als Jaycee Lee Dugardzu erkennen gab. Suchplakat, 1991

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Verdächtige Garrido, Ehefrau Nancy, Haus in Antioch

Page 67: Der Spiegel 2009 36

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Ausland

A F G H A N I S T A N

Sterben für die Wahlen

Mit der Zahl der getöteten britischenSoldaten wächst im Vereinigten

Königreich der Zweifel am Sinn des Af-ghanistan-Einsatzes. 207 Briten sind seitBeginn des Krieges gegen die Talibanim Jahr 2001 gefallen, davon allein 38seit Anfang Juli. Besonders nieder-schmetternd nimmt sich die Bilanz von„Operation Panther’s Claw“ im Zen-trum der umkämpften Provinz Hel-mand aus. Nach heftigen Kämpfen hat-ten britische Truppen dieTaliban unter anderemaus der Ortschaft Babajivertrieben, damit auchdort freie Wahlen statt-finden könnten. DieKampfhandlungen zogensich über fünf Wochenhin, zehn Briten starben.Die Wahlbeteiligung imbefreiten Gebiet bliebdann verschwindend ge-ring. An den 13 Wahl-lokalen in und um Baba-ji, von den Briten gesi-chert, sind nach Anga-

ben der BBC insgesamt nur 150 Wähleraufgetaucht. Tausende zogen es vordaheimzubleiben. Viele Frauen wurdenzudem von ihren Männern am Wählengehindert. „War es das wert?“, fragtevergangene Woche nicht nur die Boule-vardzeitung „Daily Mirror“. Großbri-tanniens Botschafter in Afghanistan,Mark Sedwill, stimmt seine Landsleuteauf weitere Opfer ein: Die Kampfein-sätze britischer Truppen im Land wür-den noch mindestens drei bis fünf Jahreandauern, „eine Generation“ langmüsse das Vereinigte Königreich dortMilitärpräsenz zeigen.

I R A N

„Leichte Beute“Teherans Vorsitzender des Vereins zur

Verteidigung der Pressefreiheit,

Maschallah Schamsol-Waesin, 51, über

Repressalien gegen Journalisten

SPIEGEL: Wie viele iranische Journalistenwurden seit der umstrittenen Präsiden-tenwahl am 12. Juni festgenommen?Schamsol-Waesin: Wir wissenvon 38 Verhaftungen, meis-tens junge, engagierte Leute,aber auch einige sehr er-fahrene Journalisten hat esgetroffen. Acht Journalistensind wieder freigekommen,die anderen müssen sichwohl vor Gericht verant-worten. Diese Festnahmensind reine Willkür. Ein Großteil der Kollegen wurde zu Hause festge-nommen, etliche auch in den Redaktionen. SPIEGEL: Ist Arbeit für westliche Medienbesonders gefährlich?Schamsol-Waesin: Nicht, wenn die Jour-nalisten beim Erschad, dem Ministeriumfür Kultur und Islamische Führung, akkre-ditiert sind. Bedrohlicher wird es, wenn

Journalisten ohne Erlaubnis für westlicheMedien gearbeitet haben oder die irani-sche Führung einen Fall ausnutzen will,um von einer westlichen Regierung politi-sche Zugeständnisse zu bekommen.SPIEGEL: Mit welchen Strafen müssendie Verhafteten rechnen?Schamsol-Waesin: Wenn ihnen „Propa-ganda gegen die Islamische Republik“vorgeworfen wird, droht ihnen eineHöchststrafe von drei Jahren. In derjüngsten Verhaftungswelle ging es aber

um den Vorwurf der „Akti-vitäten gegen die nationaleSicherheit“. Darauf stehenbis zu zehn Jahre. SPIEGEL: RevolutionsführerAjatollah Ali Chamenei hatin einer Ansprache am vori-gen Mittwoch betont, dassdie „Anführer der jüngstenVorfälle“ für ihn „nichtHandlanger anderer Länder“seien, solange die Justiz dies„nicht bewiesen“ habe. Schamsol-Waesin: Es ist alleineine Frage der Politik, wie

gegen kritische Journalisten und Oppo-sitionelle vorgegangen wird. In der jet-zigen Situation sind wir eine leichteBeute. Unsere Anwälte haben keineAkteneinsicht und werden zu den Pro-zessen nicht zugelassen.

P E R U

Hilfe in großem Stil

Die Regierungen in Lima und Wa-shington bereiten offenbar einen

Plan zur Bekämpfung des Drogen-handels und der Guerillaorganisation„Leuchtender Pfad“ vor. Das berichtetder brasilianische SicherheitsexperteSalvador Raza vom Center for Hemi-spheric Defense Studies in Washington.Demnach wollen die USA zunächst 1,2 Milliarden Dollar in die militärischeZusammenarbeit mit Lima investieren.Der „Plan Peru“ soll sich auf die Koka-Anbaugebiete im Urwald östlich derAnden konzentrieren, wo der Leuch-tende Pfad den Rauschgifthandel kon-trolliert. Mit den Drogen-Dollar finan-ziert die Guerilla, die nach Schätzungendes peruanischen Militärs nur aus eini-gen hundert Männern und Frauen be-steht, ihre Wiederaufrüstung. Seit Au-gust 2008 sind bei Überfällen auf Poli-zei- und Militärposten im peruanischenDschungel 38 Soldaten ums Leben ge-kommen. Der peruanische HeereschefGeneral Otto Guibovich behauptet, dass

Abimael Guzmán, der Begründer dermaoistischen Guerilla, die Aktionen ausdem Gefängnis steuert, wo er seit 1992eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt.Während des Kampfs gegen die Terror-organisation sind 70000 Peruaner umsLeben gekommen. Washington unter-hält gute Beziehungen zur Regierung inLima. Das US-Militär darf peruanischeBasen für Anti-Drogen-Einsätze nutzen,die RauschgiftbekämpfungsbehördeDEA hat dort zahlreiche Agenten imEinsatz. Nach Kolumbien und Mexikowäre Peru das dritte lateinamerikani-sche Land, in dem die USA in großemStil bei der Drogenbekämpfung helfen.Die Kokain-Produktion hat drastischzugenommen. Agrarspezialisten zufolgewird das Wachstum der Pflanzen gene-tisch verbessert.

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Vernichtung von Drogen in Peru

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Page 68: Der Spiegel 2009 36

Zelle 28, Block 3, Hadarim-Gefäng-nis, 30 Kilometer nordöstlich von TelAviv: Hier sitzt der eine Mann, der

in den nächsten Monaten den Nahen Ostenaufmischen könnte. Der andere sitzt imWeißen Haus in Washington.

Marwan Barghuti, 50, wurde von einemisraelischen Gericht im Jahr 2004 wegender Planung mehrerer Morde zu lebens-langer Haft verurteilt. Er sprach damalsvon einem „Schauprozess“, der ihn inseiner Haltung nicht beirren werde: Dercharismatische Palästinenserführer beton-te auch hinter Gittern den notwendigen„Kampf gegen die Besatzungsmacht“, plä-dierte aber gleichzeitig für die friedlicheKoexistenz mit den Israelis, für eine Zwei-Staaten-Lösung. Beim Kongress der imWestjordanland regierenden Fatah inBetlehem erhielt der Gefangene vor dreiWochen die drittmeisten Stimmen – füreinen Platz im Zentralkomitee.

Immer wieder gab es Gerüchte, die Is-raelis wollten Barghuti aus der Haft ent-

lassen, um einem möglichen „palästinen-sischen Nelson Mandela“ den Weg zu eb-nen. Als Benjamin Netanjahus rechts-nationale Regierung vor fünf Monaten insAmt kam, schienen die Chancen für einensolchen Test allerdings auf ein Minimumgeschrumpft. Doch jetzt könnte IsraelsHardliner-Premier den Mann aus Zelle 28bald in die Freiheit entlassen, ohne bei sei-nen Anhängern das Gesicht zu verlieren:Im Austausch gegen den seit drei Jahrenverschleppten israelischen Soldaten GiladSchalit verlangt die radikalislamische Ha-mas 450 in Israel einsitzende, namentlichaufgeführte Palästinenser.

Eher überraschenderweise steht Bar-ghuti auf der Liste – der Fatah-Führer hatsich immer wieder sehr kritisch über den„Putsch“ der Hamas-Ultras im Gaza-Strei-fen geäußert und eine Aussöhnung der zu-tiefst verfeindeten, sich auch mit Waffen-gewalt bekämpfenden Organisationen ge-fordert. Und wenn eine palästinensischeEinigung überhaupt vorstellbar ist, dann

nur mit Barghuti. Der lange vorbereitete,oft an Details gescheiterte Schalit-Dealkönnte jetzt in den nächsten Wochen mitdeutscher Vermittlung erfolgreich durch-gezogen werden (siehe Seite 86).

Was in Sachen Gefangenenaustauschläuft und das Gesicht des Nahen Ostensverändern könnte, wird auch in Washing-ton genau beobachtet – und, wie es heißt,„wohlwollend begleitet“. Präsident BarackObama verfolgt im Nahen Osten ehrgeizi-ge Ziele. Er arbeitet an einem umfassendenFriedensplan, dessen Konturen sich jetztabzeichnen. Obama verknüpft die zwei alsunlösbar angesehenen Hauptprobleme derRegion, den Konflikt zwischen Palästinen-sern und Israelis sowie den drohendenAufstieg Irans zur Atommacht – und setztalle Akteure massiv unter Druck, umgleichzeitig an beiden Fronten Fortschrittezu erzielen, die dann in eine Gesamtlösungmünden könnten.

Aber ist es nicht naiv, wenn der US-Prä-sident von einem Friedensabkommen in

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N A H O S T

Und sie bewegen sich dochUS-Präsident Barack Obama macht Ernst mit seiner neuen Nahost-Politik: Er drängt Israel zum

Einfrieren seiner Siedlungsaktivitäten in den besetzten Gebieten – und gleichzeitig Europa zu verschärften Sanktionen gegen Teheran. Israel, Iran und selbst die Hamas reagieren darauf.

ABBAS MOMANI / AFP

Junge Palästinenser werfen im Westjordanland Steine auf israelische Soldaten: Kampf gegen Besatzer

Ausland

Page 69: Der Spiegel 2009 36

zwei Jahren spricht, wo doch radikale Is-lamisten nach wie vor Israel zerstören wol-len und radikale Zionisten mit ihrem Sied-lungsausbau in den besetzten Gebietentäglich neue Provokationen schaffen? Lässtsich die iranische Führung noch vom Wegzur Bombe abbringen? „Es ist jedenfallsein kühner Schachzug“, urteilt die briti-sche Tageszeitung „The Guardian“.

Wie es funktioniert, konnte man in dervergangenen Woche bei der Europareisedes israelischen Premiers beobachten:Obama war nicht präsent, aber immer da-bei. Und ebenso seine Forderungen: Die Is-raelis müssen den Siedlungsbau in den be-setzten Gebieten einfrieren und mit derFatah-Führung verhandeln. Einerseits. DieIraner werden mit verschärften Sanktio-nen bestraft, und zwar noch in diesemHerbst, wenn sie das bis Ende Septemberbefristete Angebot zu umfassenden Atom-gesprächen ausschlagen. Anderer-seits. Netanjahu wollte die Paralle-lität dieser Forderungen, vor allemaber die Verbindung zwischen denbeiden Themen unbedingt verhin-dern – und scheiterte damit bei sei-ner Europareise.

Am Dienstag stand Israels Pre-mier neben seinem britischenAmtskollegen Gordon Brown inDowning Street 10, die Distanz zwi-schen den beiden war deutlich zuspüren. Der Bau jüdischer Siedlun-gen sei ein „Hindernis“, sagteBrown, und müsse gestoppt wer-den. Gleichzeitig drohte er Teheranmit härteren Sanktionen. In Paris

sekundierte Präsident Nicolas Sarkozy, dernicht nur mit einer Verschärfung der Gang-art drohte, sondern die Zuverlässigkeit undKompromissbereitschaft Teherans grund-sätzlich in Frage stellte. „Es sind dieselbenFührer, die behaupten, Irans Atompro-gramm diene nur friedlichen Mitteln unddie Wahlen seien regelgerecht abgelaufen– wer soll ihnen glauben?“

Am Mittwoch traf Netanjahu den Nah-ost-Sonderbeauftragten Obamas, ebenfallsin London. George Mitchell trägt seit Wo-chen das Wort vom „vollständigen Sied-lungsstopp“ wie ein Mantra vor sich her.Hinter den Kulissen soll im Fall einer israe-lischen Totalverweigerung sogar offen vonKürzungen der Washingtoner Waffenliefe-rungen und der Milliardenhilfen die Redegewesen sein.

Am Donnerstag dann die wohl größteEnttäuschung – Angela Merkel, laut Ne-

tanjahus Amtsvorgänger Ehud Olmert Is-raels „bester Freund in Europa“ und bisherals äußerst milde gegenüber Israels Besat-zungspolitik aufgefallen, stimmte mit deut-lichen Worten ein in den Chor: Ein Stoppdes Siedlungsbaus sei eine „entscheidendeVoraussetzung“ für einen umfassendenFrieden, bei dieser Frage seien „substan-tielle Veränderungen“ auf israelischer Sei-te notwendig. „Die Zeit drängt“, warntedie Kanzlerin ihren Gast und sprach par-allell zu diesen Mahnungen von der Not-wendigkeit, den Druck auf Teheran zu er-höhen. Netanjahu ging in Berlin auf Mer-kels Forderungen nicht ein, beschränktesich darauf, die guten Beziehungen zuDeutschland hervorzuheben.

Die konzertierte Aktion des Westensscheint Früchte zu tragen. Der Stillstand,der ja Normalzustand ist in Nahost, be-ginnt sich zu verändern: Viel Druck, und

siehe da – Politiker aller Seiten be-wegen sich doch.

Ziemlich überraschend nannteder in Damaskus ansässige und bis-her für Maximalforderungen be-kannte Hamas-Politbürochef Cha-lid Maschaal im Mai die Gründungeines palästinensischen Staates imWestjordanland und Gaza-Streifensein „Ziel“. Ein solcher Versuchs-ballon dürfte dem Westen nicht rei-chen, mit der Hamas in Gesprächeeinzutreten. Aber sollte der SatzMaschaals ernst gemeint gewesensein, käme er einer De-facto-Aner-kennung der Existenz Israels gleich.Viel weiter ist auch die Fatah noch

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HASHLAMOUN/PICTURE-ALLIANCE/DPA

Israelische Siedler werfen im Westjordanland Steine auf Palästinenser: Rache für Übergriffe

Bündnispartner Netanjahu, Obama: Schwierige Beziehung

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Die Geburtstagsfeier in dem nord-israelischen Dorf Mizpe Hila wardurchzogen von einer Mischung

aus Trauer und Hoffnung. VergangeneWoche gratulierten Noam und AvivaSchalit ihrem Sohn Gilad zu dessen 23.Geburtstag, entschuldigten sich in einemstillen Gebet dafür, dass sie ihn bislangnicht aus den Händen seiner Entführer be-freien konnten, und hofften zugleich, dassdies sein letzter Geburtstag in Gefangen-schaft sein würde. Der junge Soldat istnoch immer in den Händen der Hamas,entführt im Juni 2006 bei einem Überfallan der Grenze zum Gaza-Streifen.

Seit voriger Woche gibt es allerdingsbegründete Hoffnung auf eine absehbareFreilassung des Korporals, die genährtwird durch geheime Verhandlungen desBundesnachrichtendienstes (BND). Seitkurzem führt der deutsche Auslands-geheimdienst Gespräche mit der israeli-schen Regierung und der Hamas. DasZiel ist ein neuer Gefangenenaustausch,Schalit gegen einige hundert palästinen-sische Häftlinge aus israelischen Gefäng-nissen. Wie immer im Nahen Osten gehtes nicht nur um das Schicksal eines Sol-daten, sondern auch um die große Zu-kunft der Region. Eine Einigung mit derHamas würde die Aussichten auf eineWiederbelebung des zuletzt zum Still-stand gekommenen Friedensprozessesdeutlich verbessern.

Die schwierige Mission hat der deut-sche Geheimdienst auf ausdrücklichenWunsch der israelischen Regierung über-nommen. Wenn es um den Nahen Ostengeht, gilt der BND als ebenso qualifizier-ter wie ehrlicher Makler zwischen denverfeindeten Lagern. Seit mehr als 15 Jah-ren vermitteln die Deutschen erfolgreich,zuletzt zwischen der Hisbollah und Jeru-salem. Am Ende stand im Juli 2008 ein ge-lungener Deal, der die Leichen von zweiSoldaten nach Israel zurückbrachte.

Die Unterhändler aus Berlin sind nunwieder aktiv. Seit Ende Juli jettet einBND-Agent zwischen Europa und demNahen Osten hin und her, diesmal zwi-schen Tel Aviv, Kairo, Damaskus undBerlin. Nur die Gesprächspartner habengewechselt. Der deutsche Regierungs-beamte vermittelt zwischen der neuenisraelischen Regierung von Premierminis-ter Benjamin Netanjahu und der palästi-nensischen Hamas.

Für die Bundesregierung ist das neu-erliche Mandat eine Chance, den politi-schen Einfluss in der Region auszubauenund sich als politischer Gesprächspart-ner unverzichtbar zu machen – aller-dings birgt die Mission auch Risiken. Zurschiitischen Hisbollah („Partei Gottes“) inBeirut unterhält der BND traditionellgute Beziehungen, doch zur palästinen-sischen Hamas sind die Kontakte kaumentwickelt, die Hamas war für den BNDbislang kein Verhandlungspartner.

Dazu kommt, dass im Fall Schalit auchdie ägyptische Regierung aktiv ist, diesich bereits kurz nach der Entführung alsVermittler angeboten hatte und seitdemerfolglos versuchte, den Fall zu lösen. Die Ägypter sind mäßig begeistert, dassnun der BND einspringt. Offiziell bleibtÄgyptens Staatschef Husni MubarakSchirmherr, der ägyptische Geheimdienstverhandelt parallel zum BND.

Im Frühjahr sah es zeitweilig so aus, alsseien die verfeindeten Parteien bereit,den Deal abzuwickeln, doch plötzlichstockten die Gespräche. Die Hamas hoff-te auf eine politische Aufwertung, Länderwie Frankreich, Norwegen oder Kanada

boten sich beiden Seiten als Vermittleran. Bei zu großer internationaler Auf-merksamkeit drohte aus Sicht Netanjahusein politischer Erfolg für die Hamas, dendie Israelis unbedingt verhindern wollen.Deshalb stoppte die Regierung in Jeru-salem die Bemühungen und bat in Berlinum Hilfe; die Bundesregierung steht imRuf, keine eigene außenpolitische Agen-da im Nahen Osten zu verfolgen. Am ver-gangenen Donnerstag bedankte sich Ne-tanjahu persönlich während seines Be-

suchs im Kanzleramt bei Angela Merkelfür die Unterstützung.

Für Netanjahu wäre die Freilassungvon Schalit ein kaum zu überschätzen-der politischer Erfolg. Mit einem Aus-tausch könnte er sein Image als Hardlinerund Hasardeur korrigieren – und neben-bei auch seinen Vorgänger Ehud Olmertübertrumpfen, der fast drei Jahre verge-bens verhandelt hatte.

Auch die Hamas braucht dringend ei-nen Erfolg. Seit dem verheerenden Bom-bardement des Gaza-Streifens durch dieisraelische Armee im Winter wächst derUnmut der Palästinenser über die Isla-misten, viele Araber geben ihnen eine

Der ehrliche Makler aus BerlinIm Entführungsfall Schalit vermittelt der BND zwischen Israel und Hamas –

und hat nun einen konkreten Vorschlag vorgelegt.

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Eltern Schalit: Stilles Gebet für den Sohn

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Mitschuld an der schlechten Versorgungder Bevölkerung. Ein erfolgreiches Frei-pressen von Gefangenen aus israelischerHaft würde die Hamas-Führung stabili-sieren und die Position gegenüber derkonkurrierenden Fatah stärken.

Die Chancen stehen deshalb nichtschlecht, dass sich die Hamas auf einenneuen Vorschlag des BND einlässt, demdie Israelis grundsätzlich bereits zuge-stimmt haben. Es ist eine Art Fahrplan, wo-nach der Austausch in mehreren Schrittenabgewickelt werden soll. Nach der Freilas-sung einer ersten Gruppe von Palästinen-sern würde Schalit nach Kairo gebracht,anschließend soll die israelische Regierungeine zweite Gruppe Inhaftierter entlassen.Netanjahu besteht darauf, dass diese Grup-pe durch eine freiwillige humanitäre Gesteseiner Regierung freikommt, ohne feste Zu-

sage eines Zeitpunkts. Auf diese Weise sol-len mehr als 450 Palästinenser heimkeh-ren. Bis Anfang September hat der Chefdes Hamas-Politbüros, Chalid Maschaal,der bislang nicht persönlich an den Ge-sprächen teilnimmt, Zeit zu reagieren.

Gilad Schalits Eltern sind seit derBeteiligung der Deutschen wieder vollerOptimismus, sie hoffen, dass es jetztschnell geht. Eine Einladung zu einerSolidaritätsveranstaltung in DeutschlandEnde September lehnte Noam Schalitvorsorglich ab. „In solch einer Zeit“, sagter dem SPIEGEL, „ziehe ich es vor, inIsrael zu bleiben.“ Christoph Schult,

Holger Stark

nicht gegangen, mit der sowohl der Westenals auch Israel verhandeln.

Aus Iran kommen Signale, die zumindestder vagen Hoffnung Nahrung geben, auchdort hätte man die Zeichen der Zeit ver-standen. Eine Gruppe iranischer Politikeraus dem „Pragmatiker-Lager“ regte laut In-formationen aus Diplomatenkreisen eine den Uno-Forderungen nahekommende „be-grenzte Suspendierung der Urananreiche-rung“ an. Die Staatsführung hat das zwarabgelehnt, da man aber bisher davon ausge-gangen sei, innerhalb Irans wäre die Atom-frage unumstritten, halten westliche Beob-achter den Vorgang für bemerkenswert.

Gegenüber den Waffenkontrolleurender Internationalen Atomenergiebehördehat sich Iran außerdem gerade bereiterklärt, einige besonders „verdächtige“Atomanlagen wie die zur Herstellung von Brennstoff betriebene Fabrik in Na-tans und den zur Plutoniumgewinnung

geeigneten Schwerwasser-Reaktor in Arakbesser kontrollieren zu lassen. Die IAEAberichtet in ihrem neuen, noch unveröf-fentlichten Bericht davon, dass Iran dieAnzahl seiner Zentrifugen zur Urananrei-cherung seit Mai nicht mehr aufgestockthabe. Experten halten ein iranisches Um-denken freilich für höchst unwahrschein-lich: Teheran hat in der Vergangenheit im-mer wieder mal sein Tempo verlangsamtund den Uno-Kontrolleuren Zugeständ-nisse gemacht, wenn es taktisch opportunerschien. Drei Runden von Uno-Sank-tionen hat Iran bisher relativ unbeschadetüberstanden. Eine mögliche vierte Sank-tionsrunde im Oktober mit einem Ein-fuhrstopp für Treibstoff würde die Wirt-schaft extrem hart treffen.

Netanjahu soll hinter den Kulissen zäh-neknirschend bereits teilweise auf ObamasForderungen eingegangen sein. Neun Mo-nate lang will er den Häuserbau in denSiedlungen einfrieren, Ostjerusalem aus-genommen. Das ist weniger als von Obamagefordert, reicht aber wohl als Grundlagefür eine vom US-Präsidenten noch für denHerbst vorgesehene neue Nahost-Frie-densrunde in seinem Beisein – zumal auchFatah-Chef Mahmud Abbas unter Wa-shingtons Druck nun bereit sein soll, Ne-tanjahu zu treffen. Details über die Wie-derauferstehung des Friedensprozesses willObama am Rande der Uno-Vollversamm-lung Führern wichtiger anderer Staatenund möglichst vielen Repräsentanten derarabischen Welt erläutern.

Scheitern könnte die Annäherung nochan Netanjahus Kabinett der unberechen-baren Ultras. Etwa an Wissenschafts-minister Daniel Herschkowitz, der Oba-mas Positionen als „fast schon antise-mitisch“ bezeichnete. Aber auch der fürseinen Jähzorn wie für sein merkwürdigesDemokratieverständnis bekannte Natio-nale Sicherheitsberater löste Kopfschüt-teln aus: Vor dem Besuch des israelischenPremiers verlangte Uzi Arad, KanzlerinMerkel solle die Frage des Siedlungsbausdoch nicht öffentlich zur Sprache bringen;auch müsse möglichst verhindert werden,dass Journalisten diesbezügliche Fragenstellten.

Entsprechende Berichte der israelischenTageszeitung „Haaretz“ wurden in Berlinfür zutreffend erklärt. Offensichtlich umnicht Öl ins Feuer zu gießen, will sich keindeutscher Politiker zu Arads Reaktion aufdas Ausschlagen seiner Wünsche äußern.Christoph Heusgen, Leiter Außenpolitikim Kanzleramt, bestätigt gegenüber demSPIEGEL immerhin, dass es zu einerscharfen Auseinandersetzung kam, Aradsei „laut geworden“. Israelische Quellenformulieren es deutlicher: Netanjahus Si-cherheitsberater wurde demnach regel-recht ausfällig.

Und noch auf einen anderen ist in Zei-ten bröckelnder Überzeugungen oderzumindest neu justierter politischer Posi-tionen trauriger Verlass: auf Israels Außen-minister Avigdor Lieberman. Der Scharf-macher, der immer wieder mit rassistischenSprüchen auffällt, erklärte Anfang vergan-gener Woche, er glaube nicht an einenFrieden mit den Palästinensern, ObamasVorstellungen seien „unrealistisch“. „Sowie die letzten 16 Jahre keine Fortschrittegebracht haben, werden auch die nächsten16 Jahre keinen Frieden bringen.“

Es könnte sein, dass sich das ProblemLieberman demnächst löst: Die israelischeJustiz ermittelt wegen Geldwäsche, Ver-untreuung und Bestechlichkeit gegen denAußenminister, er bestreitet alle Vorwürfe:Im Fall einer Anklage, hat Lieberman ver-sprochen, werde er sein Amt aufgeben.

Erich Follath, Christoph Schult

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Entführter Israeli Schalit, inhaftierter Palästinenser Barghuti: Hoffnung auf Freiheit

Page 72: Der Spiegel 2009 36

Die geschwärzten Seiten sind natür-lich die interessantesten. Alleinzwei Dutzend davon gibt es zu den

183 Sitzungen, in denen Chalid ScheichMohammed, der Chefplaner der Anschlä-ge des 11. September, im März 2003 demWaterboarding ausgesetzt wurde.

Die 24 Seiten ließ zuerst George W.Bush schwärzen und dann Barack Obama.In der unzensierten Version wird in diesenPassagen geschildert, wie der Gefangenebeim Waterboarding fast gestorben wäre.Auf eine Liege geschnallt, mit einem Tuchüber Mund und Nase, wurden ihm immerwieder große Mengen Wasser über das Ge-sicht gekippt, so dass er glauben musste, erwerde ertrinken. Mohammed sollte sodazu gebracht werden, sein Wissen über al-Qaida preiszugeben.

Insgesamt 259 Seiten lang ist der interneCIA-Bericht, der vorige Woche in großenTeilen freigegeben wurde. Der General-inspekteur des Geheimdienstes, John Hel-gerson, hatte ihn schon im Mai 2004 fertig-gestellt und auch ans Weiße Haus geschickt.Gemeinsam mit den Foltermemoranden, dieim April veröffentlicht wurden, belegt derReport, wie die Weltmacht Amerika nach9/11 totalitäre Inseln im Rechtsstaat schuf.

* Nach seiner Festnahme 2002 in Pakistan.

Einiges vom Geschwärzten ist dennochbekannt: dass zwei Qaida-Gefangene imIrak starben, dass mehrere Gefangene, diedie CIA verhörte, damals spurlos ver-schwanden.

Aus den ungeschwärzten Passagen gehtdetailliert hervor, wie die Geheimdienst-leute vorgingen. Es gab Scheinhinrichtun-gen: „Der Vernehmer lädt eine Pistole amKopf des Gefangenen durch.“ Es gab To-desdrohungen: „Wir bringen deine Kinderum.“ Die Anweisungen für die folterglei-chen Verhöre fielen präzise aus: „Der Ge-fangene darf acht Stunden in einer großen,aber nur zwei Stunden in einer kleinen Kiste eingesperrt werden.“

Der Veröffentlichung des Reports gingeine erbitterte Diskussion zwischen demJustizministerium und der CIA voraus. DerGeheimdienst fürchtet um seinen Ruf unddie Moral der Agenten. Das Ministeriumargumentierte, es sei notwendig, über die-se Vergangenheit aufzuklären, die Öffent-lichkeit habe einen Anspruch auf Trans-parenz – ein Versprechen Obamas nachder Geheimniskrämerei der Vorgänger.

Erst nach der Lektüre des CIA-Berichtssoll Justizminister Eric Holder den Ent-

schluss gefasst haben, einen Sonderermitt-ler einzusetzen. Er heißt John Durham, ist59 Jahre alt, gilt als unbestechlich und un-parteiisch. Für ihn sprach auch, dass ereher medienscheu ist.

Durham kennt die Materie gut. Er warschon mit der unrechtmäßigen Vernich-tung von 92 CIA-Videobändern befasst, aufdenen Befragungen und Verhörmethoden,inklusive Waterboarding, dokumentiertwurden. Er muss am Ende entscheiden, obeinzelne CIA-Agenten angeklagt werdensollen. Es heißt, er sei dafür.

Von Präsident Obama ist bekannt, dasser diese Art der Vergangenheitsbewälti-gung vermeiden wollte. Das Dilemma ist jaabsehbar, falls es zu einem Prozess gegenCIA-Agenten kommen sollte. Die Erlassefür die Folter haben andere gegeben – imWeißen Haus und im Justizministerium.Und sie sollen dann unbehelligt bleiben?

Zudem haben Sonderermittler die Nei-gung, sich zu verselbständigen, und siedürfen es auch. Kenneth Starr begann mitder Untersuchung einiger Grundstücksge-schäfte Hillary Clintons und stieß dabeiauf die Affären ihres Ehemanns. Am Endestanden das Amtsenthebungsverfahren

und peinliche Auftritte desPräsidenten.

Durhams Untersuchungwird sich auch der Frage wid-men müssen, wann das Fol-terprogramm unter Bush ei-gentlich begann. Der CIA-Bericht bestätigt erneut, dassdie speziellen Verhörmetho-den, auch das Waterboar-ding, längst angewandt wur-den, ehe sie in einem erstenMemorandum am 1. August2002 für legal erklärt wurden.

„Das ist auch der Grunddafür, warum die CIA die Vi-deobänder vernichtet hat“,meint Brent Mickum, ein

Ausland

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Häftling Subeida*: Folter mit Waterboarding

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G E H E I M D I E N S T E

Acht Stunden in der Kiste

Ein interner Bericht schildert detailliert, wie CIA-Agenten folter-

ten. Nun prüft ein Sonder-ermittler, ob den Verantwortlichender Prozess gemacht werden soll.

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Justizminister Holder, Ex-CIA-Logistiker Foggo: Aufklärung über eine totalitäre Insel im Rechtsstaat

Page 73: Der Spiegel 2009 36

Anwalt, der Abu Subeida verteidigt. DerPalästinenser soll als erster Gefangener imApril 2002 gefoltert worden sein. „Die Bän-der hätten Rückschlüsse auf dieses Datumzugelassen“, sagt Mickum.

Offenbar haben die Juristen im WeißenHaus im Nachhinein legalisiert, was dieCIA-Agenten längst anwandten. Die Er-kenntnisse des neuen Sonderermittlerskönnten sie in Bedrängnis bringen.

Auch für die deutsche Regierung kommtder neue Drang nach Aufklärung unge-legen. Denn die CIA flog einige ihrerHäftlinge, die unter Terrorverdacht stan-den, in andere Länder aus, um sie in Ge-heimgefängnissen zu verhören. Dabei warDeutschland ein zentrales Drehkreuz, fasttäglich starteten von hier Flüge von CIA-Partnerfirmen in alle Welt. Bislang bliebungeklärt, welche Informationen die deut-schen Sicherheitsbehörden über das Vor-gehen des US-Dienstes besaßen. Und seitkurzem gibt es neue Vorwürfe.

Sie beruhen auf den Aussagen von KyleDustin Foggo, einem zigarrerauchendenHalodri und Lebemann, der zwischen 2001bis 2004 einen der wichtigsten Auslands-posten der CIA leitete: das „Frankfurt Re-gional Support Terminal“ nahe dem Rhein-Main-Flughafen.

Von dort aus, so erzählte Foggo der„New York Times“, habe er Geheimge-fängnisse in Marokko und Osteuropa ge-plant, aufgebaut und ausgestattet. AusFrankfurt trug Foggo zur Logistik des Fol-terprogramms bei.

Sein Job sei „zu heikel“ gewesen, so sag-te Foggo, um ihn im Hauptquartier inLangley, nahe Washington, zu erledigen.Ende 2004 stieg er zur Nummer drei in derHierarchie innerhalb des Dienstes auf.

Zum Aufgabenbereich Foggos könnteein weiteres, bisher unbekanntes Geheim-gefängnis in Litauen gehört haben: gut 30 Kilometer südlich von Vilnius, in derUmgebung des Dorfes Rudninkai. Mittenim Wald befindet sich hier ein ehemaligerFlugplatz der Sowjettruppen.

Anwohner sagen nun, sie hätten auf demGelände vor vier bis fünf Jahren Ameri-kaner gesehen, allerdings nie Gefangenebemerkt. Die Anlage war eingezäunt, Zu-tritt verboten, auch weil hier noch alteBomben liegen. Der Sprecher des litau-ischen Abgeordnetenhauses verlangt, dasseine parlamentarischer Untersuchungs-kommission dem Fall nachgehen soll.

Was der CIA-Logistiker Foggo vonFrankfurt aus betrieb, kann der Bundesre-gierung nicht gefallen. Sie versucht gerade,sich einen Überblick über die Vorgänge zuverschaffen. Ein Mitarbeiter des deutschenVerfassungsschutzes sprach vorige Wochebei der amerikanischen Botschaft vor. Erwollte wissen, ob die Erzählungen Foggosüber die Zeit in Frankfurt der Wahrheitentsprächen. Die Antwort dürfte positivausfallen. John Goetz,

Marcel Rosenbach, Britta Sandberg

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Page 74: Der Spiegel 2009 36

SPIEGEL: Warum haben Sie Anfang 2003die interne Untersuchung des CIA-Ver-hörprogramms angeordnet, die nun veröf-fentlicht wurde?Helgerson*: Damals kamen mehrere CIA-Agenten zu mir und teilten mir ihre Be-denken wegen des neuen Programms mit.Sie waren besorgt, dass der Dienst etwastat, was nicht vereinbar war mit den ame-rikanischen Werten. So etwas hatte es vor-her nie gegeben, und es gab auch keineRechtsgrundlage dafür. Ich war aber über-zeugt, dass genau die nötig war, um un-sere Agenten, aber auch die Gefangenenzu schützen. Weil das Verhörprogrammdamals schon seit 15 Monaten lief, habeich mich dann entschieden, die ganze Sa-che zu untersuchen. Und während des folgenden Jahres haben wir dann ja auchDinge entdeckt, die wir so nicht erwartet hätten. SPIEGEL: Wurden Ihnen die Ermittlungenerschwert von Seiten der Behörde? Helgerson: Nein, überhaupt nicht. EinigeAgenten waren sehr froh, dass wir uns die-ser Sache endlich annahmen. Andere, diesolche Verhöre durchführten, hatten Angstvor der Untersuchung, weil sie wussten,dass sie auf bisher unbekanntem Terrainoperierten. Aber der Generalinspekteur

* Wie viele andere ehemalige CIA-Mitarbeiter legt JohnHelgerson großen Wert darauf, dass kein Foto von ihm ge-zeigt wird.

der CIA ist vollkommen unabhängig, dasist per Gesetz so geregelt, er kann frei ent-scheiden. Damit hatte ich uneingeschränk-ten Zugang zu allen Angehörigen und allenDokumenten des Dienstes. Wir haben überhundert Interviews mit CIA-Agenten ge-führt. Wir konnten über 38000 interne Do-kumente einsehen. Niemand hat sich un-seren Ermittlungen widersetzt, alle habenkooperiert. SPIEGEL: Sie haben mit einem zwölfköpfi-gen Team über ein Jahr lang ermittelt, esdauerte noch mal ein halbes Jahr, bis derBericht fertig war. Das klingt nicht unbe-dingt nach einer reibungslosen Zusam-menarbeit … Helgerson: Die Ermittlungen waren aus ei-nem ganz anderen Grund schwierig: Dasganze Verhörprogramm war zu dieser Zeitnoch völlig desorganisiert. In dieser An-fangsphase des Kampfes gegen den Terrorwurde überall improvisiert. Jeder machte,was er wollte und das an verschiedenstenOrten der Erde. SPIEGEL: Sind Sie persönlich zu den Ge-heimgefängnissen der CIA in Europa undanderswo gereist?Helgerson: Aus Gründen der Geheimhal-tung darf ich leider nicht sagen, wer wannwohin reiste. Aber so viel kann ich preis-geben: Mitglieder meines Teams habensich weltweit alle existierenden Geheim-gefängnisse angesehen. Was wir dort sa-hen, darf ich leider nicht erzählen.

SPIEGEL: Können Sie uns etwas über die 92Videobänder sagen, auf denen die CIA dieBefragungen von Gefangenen und auchdas Waterboarding dokumentierte und diespäter vernichtet wurden? Die hat IhrTeam gesehen. Helgerson: Unsere Ermittler haben jede Mi-nute der damals noch existierenden Bän-der gesehen. Wir haben darüber auch aus-führlich berichtet: etwa über die Häufig-keit, in der das Waterboarding zum Einsatzkam, und die weit über das hinausging,was das Justizministerium in Abstimmungmit der CIA zuvor festgelegt hatte. Überdie Tatsache, dass Mengen von Wasser da-bei benutzt wurden, die ebenfalls nicht denVorgaben entsprachen. SPIEGEL: Waren Sie schockiert, als Sie die-se Bänder sahen?Helgerson: Wissen Sie, CIA-Leute sprechenungern über ihre Gefühle, und natürlichwar auch schon vorher absehbar, was daauf uns zukommen würde. Das Sichten der

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„Überall wurde improvisiert“John Helgerson, 65, Ex-Generalinspekteur der CIA, über die

Untersuchung der umstrittenen Verhörmethoden des Dienstes unddie Verunsicherung der Behörde nach dem 11. September 2001

CIA-Zentrale in Langley: „Keine Richtlinien, keine

Page 75: Der Spiegel 2009 36

Verhörbänder selbst hatte deshalb eineneher klinischen Charakter. Und ich willauch im Nachhinein nicht anfangen, überdie Gefühle der Agenten zu spekulieren,jeder reagiert ganz verschieden darauf. Ei-nes aber ist sicher: Ich kam eindeutig zuder Schlussfolgerung, dass der Dienst Miss-brauch mit der Technik des Waterboardinggetrieben hatte. SPIEGEL: Ihr Bericht ruft den Eindruck her-vor, als ob es in der Zeit nach den An-schlägen vom 11. September 2001 beson-ders wild und unkontrolliert zugegangenwäre. Helgerson: Damals hatte der Dienst Mühe,auf die neuen Herausforderungen zu rea-gieren. Innerhalb der CIA hatte man wenigKenntnisse über al-Qaida, wir hatten keineErfahrung mit Verhören. Es gab in dieserfrühen Zeit keine Richtlinien, keine über-geordnete Kontrolle, kein Training für dieAgenten im Einsatz. Die CIA hat damalseindeutig Grenzen überschritten.

SPIEGEL: Abu Subeida, den die CIAzu dieser Zeit für eine zentrale al-Qaida-Figur hielt, wurde im März2002 in Pakistan gefangen genom-men und kurze Zeit später in einGeheimgefängnis nach Thailand ge-bracht. Er war der erste Gefangene,an dem die neuen Verhörmethodenausprobiert wurden – lange vordem Memorandum aus dem Justiz-ministerium, das am 1. August 2002diese Methoden legalisierte. Ha-ben die Juristen also lediglich imNachhinein etwas autorisiert, das in der Praxis schon lange angewandtwurde? Helgerson: Ich darf Ihnen nichts sa-gen, das über den veröffentlichtenTeil des Berichts hinausgeht, aberim Prinzip haben Sie recht. Es gabzu dieser Zeit nur eine mündlicheRechtsunterweisung an die CIA.

SPIEGEL: Immer wieder hat der ehemaligeVizepräsident Richard Cheney behauptet,die umstrittenen Verhörmethoden seien er-folgreich gewesen. Sie kennen die Verhörewie kein Zweiter: Hat er recht oder unrecht? Helgerson: Im Report steht, dass durch dasgesamte Verhörprogramm viele wertvolleInformationen gewonnen wurden. Aberwährend unserer Ermittlungen war es füruns nicht möglich nachzuvollziehen, wel-che Informationen und Erkenntnisse desDienstes das Resultat traditioneller Befra-gungen und welche aus dem speziellenVerhörprogramm hervorgegangen waren.Nach allem, was ich gesehen habe, mussich zugeben, dass ich immer noch nichtweiß, ob diese Methoden effektiv undnotwendig waren. Oder ob man dieselbenErgebnisse nicht auch durch traditionelleVerhörtechniken erzielt hätte. SPIEGEL: Hat die CIA also Folter und fol-terähnliche Verhörmethoden angeordnet,die zu nichts führten?

Helgerson: Zu nichts? Die Dinge sind nichtimmer schwarz oder weiß, man kann nichtso einfach sagen, ja, es hat funktioniert,oder nein, leider nicht. Wertvolle, weiter-führende Erkenntnisse wurden gewon-nen, durch verschiedenste Techniken, auchdurch ganz traditionelle Befragungen. SPIEGEL: Sie schlossen Ihren Bericht Ende2003 ab. Nach einer langen redaktionellenBearbeitung wurde er im Mai 2004 inner-halb des Regierungsapparates verteilt. Werbekam ihn zu lesen?Helgerson: Das Weiße Haus hat ihn sorg-fältig studiert, das Justizministerium undnatürlich auch die CIA. Ich habe persön-lich Mitglieder des Abgeordnetenhausesund Vizepräsident Cheney über Inhaltedes Berichts unterrichtet. Ich glaube, dassEinzelne von Anfang an die Ergebnissedieser Untersuchung sehr ernst genom-men haben. Aber ich war auch nicht über-rascht, dass die damalige Regierung nursehr verhalten auf den Bericht reagiert hat. SPIEGEL: Die Regierung Obama will dieVorgänge nun untersuchen lassen. Helgerson: Ich glaube, unter den derzeiti-gen Umständen hatte Justizminister EricHolder gar keine andere Wahl, als eineeingehende Untersuchung durch einenSonderstaatsanwalt anzukündigen. AmEnde wird er meiner Meinung nach voneiner strafrechtlichen Verfolgung all de-rer, die am Verhörprogramm teilnahmen,aber absehen. Eine Anklage in diesen Fäl-len würde sehr schwierig werden, weil esso viel mildernde Umstände gibt. Ich binfroh, dass ich diese schwierige Entschei-dung der Strafverfolgung nicht treffenmuss. Mein Job war es, die Fakten zusam-menzutragen. Und ich kann Ihnen sagen,dass mein Leben sehr viel entspannter ist,seit ich im März in den Ruhestand gegan-gen bin und das nun anderen überlasse.

Interview: Britta Sandberg

Kontrolle, kein Training“

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Saif al-Islam al-Gaddafi, 37, ist eincharmanter Schlaks. Er ist höflich, et-was schüchtern, er verhaspelt sich

leicht und wirbt mit entwaffnender Offen-heit um Zustimmung.

So ähnlich soll auch sein Vater einst ge-wesen sein: Muammar al-Gaddafi, der am1. September 1969 gegen einen greisen Kö-nig putschte und die Monarchie beendete.26 Jahre war er damals alt und buhlte, wieheute sein Sohn, um Aufmerksamkeit.

Sieben US-Präsidenten hat Gaddafi seit-her überstanden, fünf deutsche Kanzlerund sechs britische Premierminister. DenGroßteil seiner Amtszeit verbrachte er inder Rolle des Exzentrikers, ja des beken-nenden Terroristen. Dann vollzog er 2003eine überraschende Wandlung, schwordem Terror ab und gab seine Giftgas- undNuklearpläne auf.

Er öffnete sein Land, er suchte Aufnah-me in die Weltgemeinschaft und vor allemEntspannung mit den USA. Der Westenwar froh und hofierte ihn. Aber auch dergezähmte Gaddafi ist noch ein bemer-kenswertes Phänomen, eine skurrile Er-scheinung. Er sieht aus wie ein gealterterRockstar und beweist der Welt momentan,dass er noch immer „der verrückte Hunddes Nahen Ostens“ ist, wie ihn RonaldReagan einst nannte.

Am Tag seiner Freilassung aus huma-nitären Gründen holte Saif al-Islam al-

Gaddafi jenen Mann in Glasgow ab, denein Gericht vor acht Jahren für den Bom-benanschlag von Lockerbie zu lebenslan-ger Haft verurteilt hatte. 270 Tote gab esdamals, eines der schlimmsten Attentateauf ein Flugzeug überhaupt.

Herzlich schloss Gaddafi senior dann amvorvergangenen Donnerstag den krebs-kranken Abd al-Bassit al-Mikrahi in dieArme, genüsslich dankte er dem britischenPremier, „meinem Freund Brown, der Kö-nigin von Großbritannien, Elisabeth, undPrinz Andrew“, welche die „mutige Ent-scheidung“ möglich gemacht hätten.

Die Hinterbliebenen der Lockerbie-Op-fer sind empört. „Höchst anstößig“ fandauch US-Präsident Barack Obama, wassich in Tripolis ereignete. Gordon Brownschwieg fünf Tage, dann bekannte auch er,„zornig und abgestoßen“ zu sein. In einerGrußbotschaft zum Beginn des Ramadanhatte der britische Premier den „liebenMuammar“ noch gebeten, Mikrahis Rück-kehr „mit Feingefühl“ zu behandeln.

Es sei immer auch um die Freilassungdes Libyers gegangen, erzählte der be-schwingte Saif al-Islam, wenn Tripolis inden vergangenen Jahren mit London überGas und Öl verhandelt habe. Die britischeRegierung leugnet den Zusammenhang,doch Libyen ist das ölreichste Land in Afri-ka. BP hat vor kurzem einen Vertrag überBohrungen abgeschlossen, im Wert von900 Millionen Dollar.

Auch die Schweiz wurde das Opfer vonGaddafis neusten Provokationen. Bundes-präsident Hans-Rudolf Merz musste per-sönlich anreisen, um den Oberst freundlichzu stimmen.

Vor einem Jahr hatte die Genfer PolizeiGaddafis jüngeren Sohn Hannibal, 32, unddessen Ehefrau festgenommen. Die beidenhatten im Hotel „Président Wilson“ zwei

* Am 10. Juli beim erweiterten G-8-Gipfel in L’Aquila.

ihrer Bediensteten schwer misshandelt(SPIEGEL 31/2008).

Hannibal kam bald frei, doch der Vaterübte Rache: Er drehte der Schweiz vor-übergehend den Ölhahn zu, strich derFluggesellschaft Swiss die Flüge nach Tri-polis, ließ keinen Eidgenossen mehr insLand und überzog die Schweiz mitSchmähungen, die selbst für seine Ver-hältnisse ungewöhnlich perfide ausfielen:Dieses Land sei kein Staat, sondern ein„Finanzier des Terrorismus“. Man müssedie Schweiz auflösen und ihr Territoriumunter den Nachbarstaaten verteilen.

Diese Sätze fielen im Juli – als Gaddafiam Rande des G-8-Gipfels im italienischenAquila weilte.

Bereits ein Jahr zuvor hatte er zweiSchweizer Staatsbürger unter fadenschei-nigen Gründen in Libyen festnehmen las-sen. Um sie wieder freizubekommen,musste der Schweizer Bundespräsident inTripolis einen demütigenden Auftritt hintersich bringen: „Ich entschuldige mich beimlibyschen Volk“, sagte Hans-Rudolf Merz,„für die ungerechtfertigte Verhaftung vonHannibal al-Gaddafi.“ Sie sei „ungebühr-lich und unnötig“ gewesen, heißt es zu-dem in einem Abkommen mit der liby-schen Regierung. Diese „offizielle undförmliche Entschuldigung“ sei ein ersterSchritt zur Normalisierung der Beziehun-gen, ließ die libysche Regierung wissen.

Dem Terror hat Muammar al-Gaddafiabgeschworen. Er ist nicht mehr der Heldder arabischen Massen, der sich direkt mitder Supermacht Amerika anlegt. Dafür ter-rorisiert er jetzt kleinere und größere Län-derchefs, stellt sie bloß, wann immer ereine Gelegenheit findet.

Für Ende September hat Gaddafi sichzur Uno-Vollversammlung in New York an-gemeldet – sein erster Besuch in Amerika.Wie üblich will er mit seinem Beduinenzeltanreisen. Im Central Park dürfe er es nichtaufstellen, beschied die Stadtverwaltungvon New York auf Anfrage.

Das Zelt lässt er jetzt wohl in Englewoodin New Jersey aufschlagen. Dort besitztdie libysche Uno-Vertretung seit 1982 einAnwesen. Nebenan steht eine große Tal-mud-Akademie, ein paar hundert Meterweiter wohnt der berühmte Rabbi ShmuleyBoteach, ein Freund des verstorbenen Pop-stars Michael Jackson und des israelischenLikud-Politikers Natan Scharanski. DieNachbarn protestieren dagegen, dass einriesiger Zaun ums libysche Grundstück ge-zogen wird, damit Gaddafi unbeobachtetbleiben kann.

In der Uno wird der Oberst vermutlichseine Ideen für den Nahen Osten vorstel-len. Zuletzt war er der Ansicht, Israel undPalästina müssten wiedervereinigt werden.Einen Namen für das Gebilde hat er schon:„Isratina“. Bernhard Zand

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L I B Y E N

Verrückter HundRückfall in alte Gewohnheiten:

Mit giftigem Lob bringt Staatschefal-Gaddafi die Briten, mit

Schmähungen die Schweizer Regie-rung in Schwierigkeiten.

Staatschef Gaddafi, Gefolge*

Provokationen vom Exzentriker

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Page 77: Der Spiegel 2009 36

Er will eine Entschuldigung, schriftlich.Es geht um seine Ehre und darum,dass nicht irgendwelche Beamte ihn

schlagen, treten, ihm einen Finger brechenkönnen. Deswegen ist Wang Tao nach Pe-king gekommen, den ganzen Weg aus derProvinz Henan, schon 28-mal. Er will sichbeschweren, eine Petition einreichen beim„Staatlichen Büro für Briefe und Gesuche“.Aber immer wieder, sagt er, habe man ihn inein „schwarzes Gefängnis“ gesteckt, 28-mal.

Dabei ist es sein gutes Recht, um seinRecht zu kämpfen. Das Petitionswesen, dasRecht auf Eingaben bei der Regierung,wurde 1951 von der Kommunistischen Par-tei wieder eingeführt, es stammt noch ausder Kaiserzeit. Etwa 11,5 Millionen Chine-sen machen jährlich Gebrauch davon.Doch vor den Feiern zum 60. Jahrestagder Gründung der Volksrepublik im Okto-ber will die Regierung die Unzufriedenenaus der Hauptstadt verbannen.

Nicht der Bittsteller soll künftig zur Zen-tralregierung reisen, sondern Pekinger Be-amte sollen in der Provinz nach dem Rech-ten sehen. So wollen es neue Richtlinien.Außerdem müssen lokale Behörden sichmindestens einen Tag im Monat freihalten,um Forderungen der Bürger anzuhören.

Zugleich verschärft die Regierung dieKontrollen in der Hauptstadt. Offenbar ha-

ben Taxifahrer Order, mögliche Bittstellerzu melden. Außerdem sollen Vermieterrund um den Südbahnhof den Hilfesu-chenden keine Zimmer mehr geben. Kurzvor den Olympischen Spielen hatte die Re-gierung eine Siedlung abreißen lassen, inder viele Petitionäre wohnten.

Diese Maßnahmen werden den Stromder Bittsteller kaum stoppen, glaubt HuXingdou, ein Wirtschaftswissenschaftleram Pekinger Institut für Technologie. Sonaiv seien die Menschen, dass sie auf dieHilfe der Zentralregierung vertrauten.

Seit Premier Wen Jiabao als gütiger, sichsorgender Landesvater auftritt, wie vorigesJahr beim Erdbeben in der Provinz Si-chuan, hoffen die Bittsteller, sie müsstennur jemanden ganz oben auf sich auf-merksam machen, um Genugtuung zu be-kommen. Und oft wird diese Hoffnung zurBesessenheit. Jahre verbringen einige Fa-milien damit, ihre Petitionen einzureichen,manchmal sogar Jahrzehnte.

Auch Wang hat eine ganze Liste vonForderungen. Er will seine Stelle als Bus-fahrer zurück, die Entlassung sei grundlosgewesen. Er will eine Entschädigung fürden Schwiegervater, Pächter einer Kohle-mine, dem die lokalen Behörden den För-derstollen wegnahmen. Vor allem aber willer moralische Wiedergutmachung.

Wie einen Schwerverbrecher habe manihn auf die Wache gebracht, nur weil er zulaut auf die lokalen Beamten geschimpfthabe. Als er bei der Bezirksregierung überdie Schläge der Beamten berichten wollte,habe die Polizei gedroht: Denk an das poli-tische Führungszeugnis deiner Kinder!

Wang ging zum Petitionsbüro der Stadt,ohne Erfolg. Er ging zum Petitionsbüro derProvinz Henan, da warteten schon die Hä-scher aus der Heimat auf ihn. Deshalb fuhrWang nach Peking.

Als er in der Schlange vor dem Peti-tionsamt stand, kamen ein paar freundlicheHerren auf ihn zu, versprachen Unterkunft

und Hilfe, brachten ihn zu einem „Jugend-Hotel“. Dort sperrten sie ihn ein, zusam-men mit anderen Petitionären, und trans-portierten ihn zurück nach Hause. Die Be-amten, die ihn in die Falle gelockt hatten,sprachen denselben Dialekt wie er; aufihren Ausweisen stand der Name seinerHeimatstadt in Henan.

Die chinesische Organisation CivilRights and Livelihood Watch sagt, tatsäch-lich gebe es, wie Wang erzählt, „schwarzeGefängnisse“ in Peking, die von Lokalre-gierungen in billigen Absteigen oder Kel-lern ihrer Vertretungsbüros betrieben wür-den. Dort müssten die Petitionäre oft zuDutzenden in einem Raum hausen, aufdem Boden schlafen, hungern. „Sie wer-den behandelt wie Schweine und Hunde“,erklärt die Organisation. Vor kurzem wur-de eine junge Frau in einer dieser Unter-künfte vergewaltigt, darüber berichtete so-gar die „China Daily“.

Die lokalen Behörden wollen verhin-dern, dass die Zentralregierung von denKlagen erfährt. Viele Petitionäre bedeutenschlechte Noten im internen Bewertungs-system der Partei. Beschwerdeführer müs-sen nach ihrer Rückkehr die Rache der lo-kalen Beamten fürchten.

Wirtschaftsprofessor Hu Xingdou kamin seiner Untersuchung zu dem Ergebnis,dass 45 Prozent der Befragten hinterher inGewahrsam genommen, 13 Prozent in Ar-beitslager verbannt worden seien. Außer-dem berichteten Bittsteller, man habe siezwangsweise in die Psychiatrie eingewie-sen, ihr Eigentum beschlagnahmt, ihreWohnungen zerstört.

Deswegen traut sich Wang nicht mehrnach Hause. Er möchte in Peking bleiben,bis er sein Recht bekommt. Doch geht erjetzt nicht mehr persönlich zum Amt. Erschickt nur noch Briefe an die Behörden.Auch an Wen Jiabao hat er schon ge-schrieben, rund 100-mal. Der Premier hatnicht geantwortet. Sandra Schulz

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C H I N A

Im schwarzenGefängnis

Vor den Jubelfeiern zum Staats-geburtstag will sich Peking von

lästigen Bittstellern befreien. Be-schwerden sollen nur noch

vor Ort angenommen werden.

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Chinesische Sicherheitskräfte, Premier Wen: „Sie werden behandelt wie Schweine und Hunde“

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Ein Plakat ziert das Militärgefängnis inLos Teques, einem Vorort von Cara-cas. „Vaterland, Sozialismus oder

Tod“ steht darauf. Vor dem Aufgang zumZellentrakt drängen sich Familienangehö-rige der Häftlinge. Die Soldaten durch-stechen Fleischpasteten, Kuchen und an-dere Mitbringsel, sie suchen nach Handysoder Waffen.

Der bekannteste Häftling des Landessitzt in einer geräumigen Zelle im drittenStock. General Raúl Isaías Baduel ist 54, erwar Verteidigungsminister und Heeres-kommandeur. Nun nimmt er begierig einpaar Zeitungen in Empfang, die seineWächter durchgehen ließen. Zugang zu Te-lefon oder Internet bleibt ihm verwehrt.

Vor fünf Monaten hatten ihm Bewaff-nete in der Nähe seines Hauses aufgelau-ert. Als er über Handy Hilfe rufen wollte,drückte ihm einer der Männer eine Pisto-le an die Stirn. In einem unauffälligen Wa-gen brachten sie ihn in eine Kaserne, wosie sich als Angehörige des militärischenGeheimdienstes zu erkennen gaben.

Der Staatsanwalt wirft Baduel vor, dasser nach seiner Absetzung als Verteidi-gungsminister vor zwei Jahren umgerech-net 100000 Dollar aus der Staatskasse mit-gehen ließ. Die Soldaten, die diese Vor-würfe angeblich bezeugen können, habenbislang nicht ausgesagt. Eine Anhörung vorGericht wurde verschoben, angeblich istder Richter erkrankt. „Ich bin ein politi-scher Gefangener“, sagt der General. Fürseine Verhaftung macht er einen altenFreund verantwortlich: den PräsidentenHugo Rafael Chávez Frias, 55.

Als junge Soldaten hatten die beidenFreunde gelobt, die „Ketten der Oligarchiezu sprengen“ und dem venezolanischenVolk ein freies, gerechtes und soziales Le-ben zu ermöglichen. Den Schwur legtensie im Dezember 1982 unter einem jahr-hundertealten Baum ab, unter dem einstSüdamerikas Befreiungsheld Simón Bo-lívar gerastet haben soll. Es war der Anfangder „bolivarischen Revolution“ und derBeginn von Hugo Chávez’ langem Weg andie Macht.

Der Weg war uneben, führte nach ei-nem gescheiterten Putsch und zweijährigerHaft im Dezember 1998 in einer demokra-tischen Wahl zum Ziel. Heute, gut zehnJahre später, geht es Chávez vor allem dar-um, seine Alleinherrschaft abzusichern.

Aus dem jugendlichen Feuerkopf ist eingerissener Volkstribun geworden, der mitPlebisziten herrscht. Knapp zehn Wahlenund Volksabstimmungen hat Chávez ge-wonnen (und eine, die ihm schon vor zwei Jahren die Möglichkeit zur endlosenWiederwahl sichern sollte, verloren). SeinRegime spaltet Familien und zerstörtFreundschaften. Zehntausende Venezola-

ner haben sich seinetwegen ins Ausland abgesetzt.

Mittlerweile regiert der Caudillo dasLand, als wäre es seine private Hacienda.Am liebsten herrscht er per Fernsehen: AlleKanäle müssen sonntags seine Selbstdar-stellungsshow „Aló Presidente“ übertragen,mehrmals pro Woche gibt es eine Kurzver-sion. Auch bei offiziellen Auftritten besteht

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V E N E Z U E L A

Der Erdöl-MessiasMit Einkünften aus dem Energiesektor finanziert Präsident Hugo Chávez

seinen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Gegen den Widerstand einer wachsenden Opposition versucht er nun, seine Alleinherrschaft zu zementieren.

Bruttoinlandsproduktje Einwohner in tausend Dollar

Ölexportein Millionen Barrel pro Tag

Einwohner: 28,5 Mio. 2009

Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze: 28,5 % 2007

Arbeitslosen- quote: 7,8 % Juni 2009

Quelle: IWF, *Prognose Quelle: INE

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Caracas

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V E N E Z U E L A

B R A S I L I E N

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K a r i b i s c h e s M e e r

Staatschef Chávez: Gerissener Volkstribun

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Übertragungszwang, so kommt Chávezlocker auf 20 Stunden Sendezeit pro Woche.

Sein Publikum unterhält er mit Volks-liedern und deftigen Witzen. Er kommen-tiert die Weltlage und liest aus BolívarsWerken. Vor laufender Kamera entlässtund ernennt er Minister, preist Handysoder Shampoo aus „volkseigener Produk-tion“. Er plaudert über seine Bordellbesu-che als junger Soldat und lästert über denWhisky-Konsum seiner Landsleute. Alseine Anruferin klagt, dass die staatlichenKrankenhäuser überfüllt seien, versprichter: „Keine Sorge, ich schicke dir meinenLeibarzt.“ Und schickt ihn.

Bis zu acht Stunden dauern die Mono-loge, seine Energie scheint unerschöpflich.Als Chávez jüngst ausgerechnet die Hälfteder auf vier Tage angesetzten Jubiläums-sendung von „Aló Presidente“ ausfallenließ, spekulierten viele Venezolaner übereine Staatskrise. Mit aufgedunsenem Ge-sicht kehrte Chávez nach drei Tagen aufden Bildschirm zurück, angeblich hatte ereine Magenverstimmung. Er halte sich mitDrogen fit, glauben seine Gegner.

Seit kurzem geraten die Fernsehauftritteungewöhnlich aggressiv. Der Ton hat sichverschärft, politische Gegner verhöhntChávez als „Feinde“, die es zu „vernich-ten“ gelte. Wie sein großes Vorbild FidelCastro denkt er nur noch in militärischenKategorien, wenn es um politische Aus-einandersetzungen geht.

„Mi Comandante“, begrüßt ihn die Par-lamentspräsidentin ehrfürchtig, als der Prä-sident zum 10. Jahrestag der VerfassungAnfang August vor der Nationalversamm-lung erscheint. Er entsteigt einem gepan-zerten amerikanischen Geländewagen, einPulk aus Adjutanten mit roten Baretteneilt voraus.

Bevor der Caudillo den Plenarsaal be-tritt, dreht er eine Runde im Hof des Par-

laments. Dort und auf den Balkonen undBalustraden sind Hunderte seiner Anhän-ger in roten Uniformen aufmarschiert, siewarten seit Stunden auf ihn.

Marlinda Chorrillo, 62, ein kleines Müt-terchen, ist aus Catia gekommen, einer Ar-mensiedlung bei Caracas. Sie drängelt nachvorn, will ihren Präsidenten einmal um-armen oder wenigstens am Ärmel zupfen.„Chávez, ich liebe dich!“, ruft sie über dieMenge hinweg. Seine Anhänger verehrenden Staatschef wie einen Messias, viele ha-ben sein Foto über dem Hausaltar hängen,neben dem anderen Heiland.

Der Präsident ergreift die Hände, diesich ihm entgegenstrecken, er kommtkaum voran. Ein paar Indianer, halbnackt

in Stammestracht, die aus dem Amazo-nasgebiet für diesen Auftritt eingeflogenwurden, dürfen ihm entgegentreten, erdrückt sie an die Brust. Schweißtropfenstehen auf seiner Boxernase.

Chávez ist ein Zambo – so nennen sie inVenezuela dunkelhäutige Mischlinge. Diehellhäutige Elite von Caracas verhöhnt ihnals „Affen“, aber sie ist machtlos gegensein Charisma. Er umarmt die Indianer,sie recken zu seiner Ehre ihre Lanzenhoch, dann schieben ihn seine Helfer indas Parlament.

Als er wenig später vor die Nationalver-sammlung tritt, ist sein Anzug geglättet,die Krawatte sitzt wieder perfekt, Chávezist nun ganz der Staatsmann. Er schwenktein kleines rotes Büchlein, die Verfassungvon 1999, die ihm das Recht auf Wieder-wahl sichert. „Dieses Buch garantiert un-seren Weg zum Sozialismus“, sagt er.

An der ursprünglichen Verfassung hattesein Weggefährte Baduel mitgearbeitet, siegilt als demokratischste Verfassung der ve-nezolanischen Geschichte. Doch Chávezwar sie zu wenig sozialistisch. Im Dezem-ber 2007 ließ er über einige Zusatzartikelabstimmen, die seinen Linkskurs fest-schreiben und ihm das Recht auf unbe-grenzte Wiederwahl garantieren sollten.Baduel rief zum Widerstand auf, es wardas Ende ihrer Freundschaft. Das Referen-dum scheiterte, aber Baduel wusste, dassChávez nicht lockerlassen würde.

In den vergangenen Monaten hat derPräsident mit Hilfe neuer Gesetze und Erlasse den Weg zum „Sozialismus des 21.Jahrhunderts“, wie er ihn versteht, nachund nach geebnet. Er darf sich seit einemneuen Referendum im Februar unbegrenztoft wiederwählen lassen. Dann verstaat-lichte er Industriebetriebe und Banken,enteignete Kaffeefarmen und Grundbesitz,bedrohte Oppositionspolitiker und Jour-nalisten. „Wir sind auf dem Weg zu einemTotalitarismus mit legaler Fassade“, meintTeodoro Petkoff, der einst Guerillero warund heute der Opposition angehört.

Die Nationalversammlung beugt sichden Kapriolen des Staatschefs, sie bestehtzu über 90 Prozent aus seinen Anhängern.Die Opposition hat sich selbst geschwächt,weil sie die letzten Parlamentswahlen 2005boykottierte. Jetzt muss sie mitansehen,wie Chávez alle Macht an sich zieht. „DerBoykott war ein unverzeihlicher Fehler“,bekennt Pablo Pérez, 40, der Gouverneurdes wichtigen Bundesstaats Zulia.

Pérez zählt zur neuen Generation unterden Oppositionspolitikern, die bei den Re-gionalwahlen im vergangenen Novemberan die Regierung kam. Mehrere bedeut-same Gouverneursposten und das Rathausvon Caracas sind in ihrer Hand.

Ihren Erfolg haben sie auch frustriertenAnhängern des Staatschefs zu verdanken:Viele Funktionäre des Regimes sind eben-so korrupt wie die Führungsschicht unterChávez’ Amtsvorgängern. Die „Bolibur-

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Anti-Chávez-Protest in Caracas: „Auf dem Weg zum Totalitarismus“

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Chávez-Gegner Pérez

Angriff aus dem Hinterland

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Chávez-Aktivistin González

Enttäuschung im Slum

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guesia“, wie die roten Bosse des Regimesgenannt werden, trinkt am liebsten 18 Jah-re alten Whisky, fährt protzige amerika-nische Geländewagen und hat sich Grund-stücke und Häuser in den besten Lagengesichert. Viele Chávez-Anhänger, die frü-her blind den Empfehlungen des Präsi-denten folgten, sind deshalb bei der Wahlzu Hause geblieben oder haben für Dissi-denten gestimmt.

Der reiche Ölstaat Zulia mit seinerHauptstadt Maracaibo war schon immereine Hochburg der Opposition. Im See vonMaracaibo, einer riesigen Lagune mit Mee-reszugang, sprudelt aus 12000 Bohrlöcherndas schwarze Gold, das Venezuela zumSaudi-Arabien Lateinamerikas gemachthat. Täglich stechen Tanker Richtung USAin See, Chávez’ Erzfeind ist der beste Kun-de. „Unsere Ölreserven reichen für min-destens 120 Jahre“, sagt Edwin Lingg, derPräsident der Erdöl-Handelskammer. Dochdie Petrodollars fließen vor allem in dieKassen der Zentralregierung. „Chávez hältden Teil der Einkünfte, der uns zusteht,zurück“, klagt Gouverneur Pérez.

Das Monopol für Förderung und Ver-marktung des Öls liegt beim StaatskonzernPDVSA. Früher galt die Firma weltweit alsVorzeigebetrieb. Doch Chávez plünderteden Konzern, um seine teuren Sozial-programme zu finanzieren, und belasteteihn mit neuen Aufgaben. Heute verkauftPDVSA subventionierte Lebensmittel, be-zahlt Alphabetisierungskurse und politi-sche Kampagnen. Die Bilanz ist selbst fürExperten kaum noch zu durchschauen.„PDVSA ist zum Gemischtwarenladen ge-worden“, sagt Lingg. „Unsere Ingenieureverkaufen Käse und Brot.“

* Bei einer Pressekonferenz in Caracas am 5. November2007.

Vor sieben Jahren streikten die Arbeiterdes Ölkonzerns. Chávez sah in dem Auf-stand einen „Putschversuch“, er entließ18 000 von 40 000 PDVSA-Angestellten.Tausende Fachkräfte setzten sich ins Aus-land ab. Im Nahen Osten, in Kanada undRussland fanden die gutausgebildeten Öl-ingenieure rasch neue Jobs.

Eigentlich braucht der Staatskonzerndringend Geld für Investitionen. DochChávez missbraucht ihn weiterhin als Motorseiner Revolution. Im Mai ordnete er dieVerstaatlichung aller Kontraktfirmen an, diebislang für PDVSA arbeiteten. Über Nachtverleibte sich der Monopolist gut 70 Unter-nehmen ein, die vor allem für den Trans-port zu den Bohrtürmen zuständig waren.

Die Firma De-Ko am Ostufer des Ma-racaibo-Sees gehört zu den Opfern. Mor-gens um fünf Uhr stürmte ein rotgekleide-tes Enteignungskommando das Gelände.Die Besetzer wurden eskortiert von be-waffneten Soldaten. „Dieser Betrieb gehörtjetzt PDVSA“, verkündete der Anführerder Gruppe dem Geschäftsführer José Con-treras. Der hatte nicht einmal mehr Zeit,seine Sachen aus dem Büro zu holen.

Die neuen Herren pinselten die Fassaderot an und überklebten das Firmenlogo mit einem riesigen Porträt des Caudillos.„Chávez hat unsere Mole zurückerobert“,steht darunter. Sieben Transportboote, zweiSchlepper, Kräne und Fabrikhallen im Wertvon mehreren Millionen Dollar nahmen dieBesatzer in Beschlag. Eine Entschädigunghat die Regierung bislang nicht bezahlt.„Das war keine Enteignung, sondern einRaubüberfall“, klagt Contreras.

Zudem versucht die Regierung, die un-abhängigen Gewerkschaften der Ölarbeiterzu entmachten und sie in eine regierungs-hörige Einheitsgewerkschaft zu zwingen.„Die Regierung tut so, als sei sie arbeiter-

freundlich, dabei haben wir nichts zu sa-gen“, sagt Gewerkschaftsführer Carlos Con-treras, eigentlich ein Chávez-Anhänger. Sospaltet der Präsident seine eigene Basis.

Nirgendwo lässt sich die Stimmung imLand besser ausloten als im Elendsviertel„23 de Enero“ am Rande des Zentrums vonCaracas. In unverputzten Ziegelbauten undverfallenen Hochhäusern aus den fünfzigerJahren, die wie Waben an den grünen Hü-geln kleben, hausen die Schlägertrupps derRegierung. Sie verprügeln unliebsame Jour-nalisten und Regierungsgegner. Kein Taxi-fahrer traut sich in diesen Slum.

Chávez hat sein Wahllokal im 23 deEnero, die meisten Anwohner sind „Chavistas“. „Unter früheren Regierungenherrschte hier Ausgangssperre, die Polizeihat gemordet und gefoltert“, sagt GlenMartínez, 39, Leiter der kommunalen Ra-diostation Radio 23. „Chávez hat uns erst-mals als Bürger wahrgenommen.“

Radio 23 ist eines von Dutzenden„Colectivos“. So nennen sich politischeGruppen, aber auch kriminelle Gangs, wel-che die Slums unter sich aufgeteilt haben.Früher wagte sich Martínez nur mit einemRevolver in die Öffentlichkeit. „Ich hatteviele Feinde. Aber wir haben diese Ge-gend befriedet, jetzt herrscht Waffenstill-stand.“ Den Sendeplatz auf Radio 23 stellter kommunalen Frauenverbänden zur Ver-fügung, er gibt Tipps zur Sexualerziehungund informiert über politische Veranstal-tungen. Über dem Sendepult hängt einPorträt von Che Guevara, englischsprachi-ge Songs sind verpönt.

Hinter dem verfallenen Gebäude ver-rottet eine ausgemusterte Sendeanlage, diedas Militär gespendet hat. „Chávez hat ver-sprochen, unser Haus zu sanieren“, sagtMartínez. Das war vor zwei Jahren, seitherhat der Präsident nichts mehr von sichhören lassen. Auch Martínez’ Lebensge-fährtin Lisbeth González, die im Slum„Bürgerräte“ eingerichtet hat und die ört-liche Basis für Chávez festigen soll, ist fru-striert: „Eine wirkliche Revolution hat eshier nie gegeben“, sagt sie.

„Der Mann bekommt Angst vor dem ei-genen Volk“, meint auch sein einstigerWeggefährte Baduel im Gefängnis.

Die Zelle teilt er sich mit einem Admiralund einem General der Nationalgarde. Siewurden vor einem Jahr verhaftet, weil sie angeblich die Absicht verfolgten, denPräsidenten umzubringen. Zu dritt spielendie Häftlinge Volleyball, um sich fit zu halten.

Jüngst hat Baduel seinem früherenFreund einen Brief geschrieben, darin steht:„Herr Präsident, Sie haben die Institutionendes Landes überwältigt und das Militär dis-kreditiert, aber mich können Sie nicht ein-schüchtern.“ Eine Antwort erwartet ernicht, und über sein weiteres Schicksalmacht er sich auch keine Illusionen: „Ichkomme an dem Tag frei, an dem Chávezgeht, keinen Tag früher.“ Jens Glüsing

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Ehemaliger Chávez-Vertrauter Baduel*: Gefängnis für den Wegbereiter der Revolution

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Bauherr und Meister stehen zusam-men, in einer mit Heiligenfigurenund altem Gestühl zugerümpelten

Kirche, die derzeit als Atelier dient. Vorihnen hängen die Entwurfskartons, die vierEvangelisten überlebensgroß, zehn Meterhoch. „Man muss die Buchstaben erkennenkönnen“, sagt der Bauherr, ein etwas un-tersetzter Vertreter des Stadtrates. Dennwas nützt die Schrift auf dem Band des Jo-hannes, wenn das Publikum sie später nichtlesen kann? „Aber …“, sagt der Maler.

Oleg Supjereko ist über 2600 Kilometerweit hergekommen, aus Moskau nachNoto, südwestlich von Syrakus, um einFresko in den Dimensionen der Sixtini-schen Kapelle zu malen. 400 QuadratmeterFresken, nach eigenem Entwurf. Einschmaler junger Mann mit fahlem Blond-haar, 33 Jahre alt, Vater Tischler, MutterBäckerin, der aus irgendwel-chen Gründen malen kann wieMichelangelo.

„Aber“, sagt er, „das hieße,Johannes hält sein Schriftbandverkehrt herum.“

Wie soll das gewundeneBand gemalt werden? Realis-tisch, als würde der Evangelistdarin lesen? Oder pragmatisch,damit das Volk unten auf denKirchenbänken auch etwas er-kennen kann? Bauherr undMaler verhandeln. Eine uralteSzene, ein uralter Konflikt undebenso klassisch die Lösung:„Rom muss entscheiden“, sagtder Mann aus dem Rathaus.„Ich ruf den Vatikan an.“

Die Kathedrale von Noto,der Barockstadt im Osten Si-ziliens, stürzte 1996 zusammen. Sie sollteim alten Stil wiederaufgebaut werden,ohne einen Sack Zement, nur aus Steinund Kalk. „Wir wollten zeigen, dass manauch in Sizilien etwas Schönes bauenkann“, sagt Maria Fiorella Scandura, diePräfektin von Syrakus. Als der Dom imJuni 2007 pünktlich wieder eingeweihtwurde, sprach der Bischof in Noto von ei-nem Wunder. Auch die Dunkelmännerhätten fromm auf das Abfackeln der Bau-fahrzeuge verzichtet.

Oleg Supjereko steht auf einem 20 Me-ter hohen Gerüst, dort, wo die Kuppel sichzu wölben beginnt, hört Bach und ist mitden Schwingen des Adlers beschäftigt, derhinter dem Apostel Johannes stehen soll.Rom hat inzwischen gesprochen und prag-matisch bestimmt, die Lettern IOANNES

sollten auf das Schriftband gemalt werden,lesbar für die Adressaten.

Ein Maurer hat den Putz vorbereitet,eine Assistentin die Pinsel sortiert und dieGläser mit den Farben. Ans Gerüst geklebtist eine Zeichnung mit dem Entwurf. Wiein Rom vor 500 Jahren. Fresko sei eine derschwierigsten Techniken, sagt Supjereko:„Man muss schnell sein und darf keinenFehler machen.“ Mehr nicht.

Die Farbspur verblasst gleich hinter demPinsel, weil der Kalkputz das Wasser ein-saugt. Schwer zu sagen, welchen Farbtondas Pigment ergibt, wenn es sich, nach Wo-chen erst, mit dem Putz verbunden hat.

Für den Untergrund werden antike Zie-gelreste zu Pulver gemahlen und mit nord-italienischem Flusssand und ungelöschtemKalk vermischt, dann drei Jahre liegen ge-lassen. Schon Giovanni Tiepolo, der vene-

zianische Maler des 18. Jahrhunderts, hatdiese Rezeptur verwendet. Feinputz wirddann in mehreren Schichten aufgetragenund lässt sich maximal drei Stunden langbemalen, bis er abgebunden ist. Bei Hitzenur zwei Stunden, und es ist sehr heiß imAugust in Noto.

„Tempera oder Acryl geben zu flacheFarben. Mit der Freskotechnik bekommtman die Sfumatura hin, die Schattierun-gen, dieses Leuchten wie von altem Mar-mor.“ Nur ein Fresko werde „auch in tau-send Jahren noch“ seine Farben so behal-ten, sagt Oleg Supjereko.

Man dürfe eine Kuppel nicht mit be-malter Leinwand bekleben, hatte er da-mals gesagt, vor der Kommission. Er wol-le in Fresko arbeiten. Er wolle es riskieren,auch wenn er bis dahin nur ein einziges

kleines Fresko gemacht hatte, in einer Pri-vatkapelle in Treviso. Die Herren in derKommission, ein Minister, ein Bischof, einKommissar der schönen Künste, sahen vorsich einen ziemlich blassen jungen Mannmit langen, hinter die Ohren gelegten Haa-ren. Dann sahen sie Fotos seiner Bilder.Und er bekam den 400000-Euro-Auftrag.

Oleg Supjereko hat die Akademie fürMalerei in Moskau besucht, dann einigeJahre in Venedig die Techniken der Klas-siker studiert. Er zeichnet wie Leonardo daVinci, malt das Licht über der Lagune wieCanaletto und braucht für einen gemar-terten Heiligen im Stil Tizians vielleichtzwei, drei Tage.

Ein annähernd vergleichbares Fresko-projekt hat es in Italien nur in der wieder-aufgebauten Abtei von Montecassino ge-geben. Und da wurde es abgebrochen.

In Noto könnte es gelingen.Nach zwei Monaten sind dievier Pfeilerfelder unterhalb derKuppel ausgemalt. Die Evan-gelisten schweben schon inihren Faltengewändern, als trä-ten sie aus der Decke heraus.Matthäus, Markus, Lukas, Jo-hannes.

Nach der Sommerpausewird die Kuppel ausgemalt.Oleg Supjereko hat sich einModell gebaut, um die Projek-tion in der Wölbung richtighinzubekommen. Es soll einPfingstwunder werden, mitden Aposteln als jugendlicherSchar auf dem Rand der Kup-pel balancierend.

Den Vizebürgermeister er-innerte der Adlerkopf hinter

dem Johannes zu sehr an die Mussolini-Zeit. Jetzt hält der Vogel den Schnabel et-was geöffnet, als versuchte er ein Lächeln.Dem Bischof wiederum schienen die Hüf-ten der Madonna etwas zu sinnlich. Abersie durften bleiben.

„Nur Maria Magdalena hat der Vatikanmir gestrichen“, sagt Supjereko. „Nach derAufregung um den ,Da Vinci Code‘ vonDan Brown sei die Figur zu problematisch,haben sie gesagt.“ Im Buch hat Jesus mit Maria Magdalena eine Liaison, ein Sakrileg.

Der Evangelist Johannes unter der Kup-pel von Noto trägt sein Haar länger als dieanderen und hinter die Ohren gelegt. Er istein wenig sommersprossig-blass, mit schma-lem Gesicht, so um die 33 Jahre alt, siehtaber jünger aus. Alexander Smoltczyk

Ausland

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Der Meister aus MoskauGlobal Village: Ein junger Russe malt die Kuppel einer Kathedrale aus – mit Fresken im Stil von Michelangelo.

NOTO

Künstler Supjereko: „Man muss schnell sein“

FABR

IZIO

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Page 82: Der Spiegel 2009 36

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L A N D W I R T S C H A F T

Blick geschult fürBlumenkohl

Noch sind es Menschenhände, dieden Blumenkohl ernten. Doch

Forscher am britischen National Physi-cal Laboratory in Teddington habenjetzt die Voraussetzung dafür geschaf-fen, dass künftig Ernteroboter diese Arbeit übernehmen können. Entschei-dend dafür ist eine neue Bildgebungs-technik, die, basierend auf Mikro-wellen, Kohlköpfe unter ihrem Blatt-werk automatisch identifizieren undvermessen kann. Die Gefahr, einen reifen Blumenkohl bei der Ernte zu vergessen, wird damit reduziert. Nochwurde die neue Technik in keinen Roboter eingebaut, doch bereits imkommenden Jahr könnte eine solcheMaschine auf den Markt kommen. Erste Tests mit dem neuen Bildsystemlaufen bereits. „Unser Ziel ist eine

automatisierte Erntemaschine, mit der sich die Produktivität dramatisch steigern lässt“, sagt Projektleiter Richard Dudley. Ein Problem für dieLandwirte in Großbritannien ist vor allem die sinkende Zahl ausländischerErntehelfer; das Gemüse verdorrtstellenweise auf den Feldern. DieForscher können sich grundsätzlich vorstellen, dass ihr System auf den Feldern noch mehr erkennen kann als Blumenkohl: „Die Chancen stehengut, dass man tatsächlich unter Blät-tern versteckte Erdbeeren sehen wür-de“, so Dudley.

Prisma

Helfer bei Blumenkohlernte in Iserlohn

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A R C H Ä O L O G I E

Butter aus dem Moor

Lange bevor es Kühlschränke gab, lager-ten die Iren Butter im Moor. Zwei Arbei-

ter der irischen Torfbehörde haben unlängsteinen Klumpen entdeckt, den Bauern dortvor rund 3000 Jahren versenkt haben müs-sen. John Fitzharris und Martin Lane staun-ten nicht schlecht, als sie in den feuchtenWiesen des Gilltown-Moores rund 40 Kilo-meter westlich von Dublin einen weißenStreifen im Boden fanden. Zutage kam einknapp ein Meter hohes und 35 Kilogrammschweres Eichenholzfass mit Deckel – undrandvoll mit einer weichen Masse, die sogarnoch leicht nach Butter roch. Archäologendes National Museums of Ireland datiertenden Fund in die Eisenzeit um etwa 1000 vorChristus. Damit ist es die älteste bekannteMoorbutter. Ob die Iren ihre Butter imMoor versenkten, um sie dort unter Luftab-schluss für den Winter zu konservieren,oder ob die Prozedur der Geschmacksver-edelung diente, ist nicht bekannt. Als Brot-aufstrich taugt sie allerdings nach 3000 Jah-ren nicht mehr: Die Masse hat sich in Adipo-cire verwandelt – jene Substanz, zu der auchdas Fettgewebe von Wasserleichen wird.

3000 Jahre altes Butterfass

Rund 20 schneeweiße Eulen hat DonWalser bereits bei sich aufgenommen,

und es werden immer mehr. Sie kommenvon überall her, aus dem ganzen britischenKönigreich. Sie heißen Caren, Lizzy oderAlfred, nur nicht Hedwig, so wie dasberühmte Haustier des noch berühmterenFantasy-Zauberers Harry Potter. Dennochhaben sie eines gemein: Ihre Besitzer habenerst begeistert den Film gesehen, in demPotter-Darsteller Daniel Radcliffe seine

weiße Post-Eule bekommt. Und später, alsdie Begeisterung abgeklungen war, habensie die Tiere verstoßen. Tierschützer Walserhat deshalb auf der südenglischen Isle ofWight das erste private Asyl für heimatloseHarry-Potter-Eulen aufgemacht. „Kinder le-sen die Bücher, sehen die Filme und sagendann zu ihren Eltern: ,So eine Eule wollenwir auch‘“, so Walser. „Aber die Eltern machen sich nicht klar, wie aufwendig diePflege ist, die Tiere können immerhin bis

Filmfigur Harry Potter mit Eule

T I E R E

Heim für Harry-Potter-Eulen

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Wissenschaft · Technik

Interview mit dem Nobelpreisträger Paul Crutzen, 75,

vom Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz über die

unterschätzte Gefahr von Lachgas für die Ozonschicht

SPIEGEL: US-Forscher warnten vergangene Woche, dass Lach-gas der für die Ozonschicht gefährlichste Stoff wird und damitdie Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) ablöst. Sind Sieüberrascht?Crutzen: Absolut. Zwar habe ich schon in den siebziger Jahrendes vergangenen Jahrhunderts nachgewiesen, dass nicht nurdie FCKW, sondern auch Lachgas das Ozon indirekt angreifen.Doch dass dieses Gas künftig eine solche Bedeutung für dieZerstörung des Ozons in der Erdatmosphäre hat, ist eine wirk-liche Überraschung. Jetzt, da die FCKW verboten sind undsich langsam abbauen, übernimmt offensichtlich das Lachgasdie wichtigere Rolle.SPIEGEL: Woher stammt es?Crutzen: Aus natürlichen Quellen wie den Meeren, aber auchaus Viehhaltung und Ackerbau: Pflanzen nehmen nur rund 30 Prozent des Stickstoffdüngers auf, der Rest zersetzt sich un-ter anderem zu Lachgas. Diese Bedrohung könnte in Zukunfterheblich zunehmen, wenn die Menschheit für die Erzeugungvon Biokraftstoffen noch mehr Landwirtschaft treibt. Für dieOzonschicht wäre das äußerst heikel.SPIEGEL: Lachgas verschärft zudem noch den Treibhauseffekt.Wie schädlich ist es für das Klima?Crutzen: Ein Molekül des Gases heizt die Erde 300-mal mehrauf als ein Kohlendioxidmolekül. Außerdem ist es sehr lang-

lebig in der Erdatmosphäre. Mein Team hat bereits im vergan-genen Jahr darauf hingewiesen, dass Biokraftstoffe die globaleErwärmung am Ende sogar noch beschleunigen könnten, stattsie zu vermeiden.SPIEGEL: Das Montreal-Protokoll von 1987 verbietet FCKWund gilt als eines der größten umweltpolitischen Erfolge, weilsich die Ozonschicht über den Polen offensichtlich langsam erholt. Lachgas jedoch taucht in dem Abkommen nicht auf –ein Fehler?Crutzen: Leider lässt sich Lachgas, eben weil es so allgegen-wärtig ist in der Landwirtschaft, nicht so einfach verbieten wie die FCKW, für die es damals Ersatzstoffe beim Einsatz in Kühlschränken und Sprühdosen gab. Das ist genauso ver-trackt wie mit Kohlendioxid, das bei jedem Verbrennungsvor-gang entsteht.SPIEGEL: Wie ließen sich die Lachgas-Emissionen verringern?Crutzen: Am wichtigsten ist, den Einsatz von Stickstoffdüngerdurch die Bauern zu drosseln. Das würde der Ozonschicht unddem Klima helfen.

M E D I Z I N

Beeren gegenHepatitis

Der Wirkstoff einer Heidelbeeren-art könnte möglicherweise zu ei-

nem neuen Therapiemittel für Hepa-titis-C-Infizierte werden. Zu diesemErgebnis kommen japanische For-scher der Universität von Miyazaki.Gerade im Süden Japans, wo dieStadt Miyazaki liegt, ist die Rate derInfektionen besonders hoch. Bislangkönnen chronische Hepatitis-C-In-fektionen, die unter anderem häufigLeberzirrhose und Leberkrebs verur-sachen, oft nur sehr eingeschränktbehandelt werden, auch eine Imp-fung ist nicht möglich. Bis zu 30 Jah-re kann es dauern, bis eine Infektionzur Leberzirrhose führt. Die japani-schen Wissenschaftler haben nunnach einem Wirkstoff gesucht, der alsErnährungszusatz die Vermehrung derViren noch weiter verlangsamen oder sogar ganz stoppen kann. Die Forscheruntersuchten dazu rund 300 verschiede-ne Früchte und Gemüsesorten – undwurden schließlich bei einer Heidelbeer-art fündig. Die Beerensubstanz selbst ist

mitunter giftig, doch in geringen Kon-zentrationen könnte der Wirkstoff im-mer noch hilfreich sein für die weltweitrund 200 Millionen Hepatitis-C-Infizier-ten. Die Japaner wollen nun herausfin-den, auf welche Weise die Heidelbeeredas Virus stoppen kann.

K L I M A

„Heikel für die Ozonschicht“

Heidelbeeren

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Ozongefährdende GaseEmissionen in Kilotonnen pro Jahr mit Gewichtung des Zerstörungspotentials

Distickstoffoxid („Lachgas“) 2008

FCKW 2008

FCKW 1987

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Quelle: NOAA

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zu 20 Jahre alt werden.“ Die Eulen landendann im Heim, das Heim wendet sich anWalser. „Mal können sich Familien ihrenGarten nicht mehr leisten, mal haben sieeinfach keine Lust mehr auf das Tier“, sagtWalser. Ein Eulenpaar, das bei ihm lebt,wurde von seinen Besitzern drei Tage langohne Futter zurückgelassen und wäre bei-nahe gestorben. „Empörend“, findet Wal-ser. Britischen Tierschützern ist das Phäno-men nicht unbekannt: So sei unter den Bri-ten einst auch eine plötzliche Liebe für Dal-matiner und Schildkröten ausgebrochen –damals waren der Kinofilm „101 Dalmati-ner“ beziehungsweise die TV-Serie „NinjaTurtles“ angelaufen.

Page 84: Der Spiegel 2009 36

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Ein gemütlicher Ort ist es nicht, das Fi-schereimotorschiff FMS „Susanne“,nicht für den Fisch und auch nicht

für den Menschen.Sechs Männer bilden die Crew, der Ka-

pitän schläft fast nie, die Matrosen selten.Ihre Kajüten sind kaum größer als dieStockbetten darin. Alle vier bis fünf Stun-den klingelt der Wecker, dann wird dasNetz gehievt.

Der Seelachs, ein Räuber aus der Familieder Dorsche, kommt auf das Schiff von ach-tern – in ballonartig geblähten Netzen. DieFische patschen aufs Deck, sausen eine Lukehinab direkt in eine Apparatur aus Schlacht-maschine, Förderband und Rutschen. Kaumgefangen, liegen sie entdarmt und nachGröße sortiert auf Eis. Gut hundert Tonnenkann „Susanne“ auf einer Fangfahrt bun-kern; und die kommen manchmal binnenweniger Tage zusammen.

Mit einer behördlich zugestandenen Jah-resquote von 2300 Tonnen Seelachs zählt

das 40 Meter lange Schiff zu den beute-trächtigsten Frischfischfängern der Nord-see. Wichtiger aber: Es fischt obendreinerwiesenermaßen bestands- und natur-schonend.

Und das ist selten in der Nordsee, einsteinem der fischreichsten Meere der Erde –und einem, das besonders skrupellos aus-

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gebeutet wird. Schollenfischer durchpflü-gen den Meeresgrund mit schwerem Me-tallgeschirr und hinterlassen submarineMondlandschaften. Beifang, für den derFänger keine Vermarktungslizenz hat,fliegt tonnenweise als Müll über Bord.

So wird, was früher Massenware war,zur Rarität. Der Hering stand zeitweisekurz vor der Ausrottung und erholte sicherst nach rigiden Fangverboten. Nun wirdder Kabeljau knapp, einst ein Standard-fisch norddeutscher Küche, heute eine teu-re Delikatesse.

Schwinden die Bestände, wird am Endeder Fischer zur bedrohten Art. Fangflottenaus acht Nationen, von Frankreich bis Nor-wegen, wetteifern um schrumpfende Be-stände – eine schlechte Voraussetzung fürökologische Einsicht und freiwillige Selbst-beschränkung.

Als erster und einziger deutscher Fisch-fangbetrieb hat die Cuxhavener Kutter-fisch-Zentrale, Eigner der „Susanne“ und

F I S C H E R E I

Käpt’n Iglo auf ÖkokursTausende Tonnen Kabeljau werden nutzlos in die Nordsee geworfen, Schollenfischer durchpflügen

den Meeresgrund. Nur eine neue Form nachhaltiger Fischerei kann Umwelt und Fisch-bestand vor den deutschen Küsten schonen – der Fang mit großmaschigen, bodenfreundlichen Netzen.

Kabeljau in der Nordsee

Seelachsfang auf der FMS „Susanne“

Entdarmt und nach Größe sortiert

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Page 85: Der Spiegel 2009 36

Schürfen im SchlickFischerei mit Grundschleppnetz

Scherbrett

Steert

Meeresgrund

Grundtau GummirolleEinsatz eines naturschonenden

und bodenfreundlichen Schleppnetzes

Kopftau mitSchwimmern

Der Trawler schleppt das

Netz mit etwa vier Knoten.

Das Grundtau schabt dabei

über den Meeresgrund;

Scherbretter spreizen das

Netz seitlich auseinander

und wirbeln eine Schlamm-

wolke auf, die den Fisch in

das Netz leitet, Schwimmer-

kugeln halten es aufrecht.

Bei naturschonenden Net-

zen ist das Grundtau statt

mit schweren Stahlkugeln

mit Gummirollen bewehrt.

Grundtau

Schlamm-wolke

Der nach unten flüchtendeKabeljau kann unter demNetz hindurch entkommen

Bislang allerdings erweist sich die sanf-te Methode noch als handfestes Handicap.Unbestritten mindert die Bestandsscho-nung den Fangertrag. Die Kutterfisch-Net-ze haben eine Maschenweite von mindes-tens 120 Millimetern. Die EU lässt für denSeelachsfang auch 100 Millimeter zu. Dasüber den Meeresboden schabende Grund-tau des Schleppnetzes wird gewöhnlich mit Ketten oder Metallkugeln beschwert,was den Fangertrag erhöht, die marineBodenfauna aber beschädigt. Die Fischerder Kutterfisch-Zentrale setzen deshalbwesentlich leichtere Grundtaue ein, die aufGummirädern laufen. In Folge all dieserMaßnahmen, schätzt Schmidt, gehen ihmetwa 30 Prozent weniger Fische ins Netz.

Die Fischer bezahlen solchen Ökopio-niergeist schlicht mit mehr Arbeitsauf-wand. Manfred Rahr, der Kapitän der„Susanne“, ist 58 Jahre alt und einer dererfahrensten Schiffsführer im Dienst vonKutterfisch. Mit seiner fünfköpfigen Mann-schaft durchkämmt er kundig die Nordsee.Um seine Jahresquote einzusammeln,braucht er etwa 230 Seetage. Das Netz ist,Tag wie Nacht, fast ununterbrochen imWasser, die Mannschaft ruht kaum, ver-dient aber gut. Kapitäne mit guten Quotenund etwas Fortune haben Jahreseinkom-men von über 150000 Euro, ihre Matro-sen weit bessere Gehälter als Handwerkeran Land.

Allerdings könnten Rahr und seine Crewexakt das gleiche Geld einnehmen und da-bei drei Monate im Jahr freimachen, hättedas Netz eine Maschengröße von 100 statt120 Millimetern.

Dass die nachhaltige Fischerei mehr Ar-beit bedeutet, verdrießt Rahr indes nicht.Er sei „Fischer aus Leidenschaft“ undschon deshalb für die bestandsschonendeMethode, denn nur so habe der Beruf Zu-kunft. Kutterfisch bildet nach wie vor Lehr-linge aus. Der jüngste Matrose an Bord der„Susanne“ ist 17.

Noch allerdings fischen Rahr und seineLeute in einem schwierigen politischenUmfeld – absurd sind vor allem die Folgendes EU-weit geltenden Verbots, Beifang zuvermarkten, also Speisefische von Arten,die ins Netz gehen, obwohl das Schiff dafürkeine Fangquote hat. Wer diesen Beifangin der EU an Land bringt, muss Strafe zah-len. Die Fischer werfen die unerwünschtenArten deshalb meist auf hoher See überBord. Auch das ist zwar verboten, wirdaber kaum überwacht.

Diese Entsorgungsform, Discard ge-nannt, gilt als eine der schlimmsten Fehl-entwicklungen modernen Fischfangs. Welt-weit, schätzt der WWF, werden MillionenTonnen Fisch auf diese Weise sinnlos ver-nichtet.

In der Nordsee ist vor allem der Kabel-jau betroffen. Er gilt als überfischt. Da ersich aber gern unter andere Fische mischt,gerät er häufig als Beifang ins Netz – auchbei Fischern ohne Kabeljauquote. Und die

Die Cuxhavener Firma Kutterfisch be-warb sich vor vier Jahren um das MSC-Sie-gel für Seelachs. Es schien ein eher leich-tes Unterfangen. Die Flotte des Betriebsfischte schon damals mit sehr großmaschi-gen Netzen, da er aus verarbeitungstech-nischen Gründen an großen Fischen inter-essiert war. Dennoch dauerte der Zertifi-zierungsprozess drei Jahre und kostete dasUnternehmen gut 90000 Euro.

Treibende Kraft hinter dem Ökovorstoßwar Kai Arne Schmidt, mit 44 der jüngsteder drei Geschäftsführer und mit 26 JahrenBetriebszugehörigkeit zugleich der dienst-älteste. „Es ist der richtige Weg“, sagt erohne Pathos, „und wer soll ihn gehen,wenn nicht wir?“

Kutterfisch ist kein Unternehmen fürBarfußläufer, die heimelige Ökoträumespinnen. Hinter dem urigen Firmenlogoverbirgt sich einer der größten heimi-schen Verarbeiter von Nordseefisch. Erfängt und verwertet 10 800 Tonnen See-lachs pro Jahr, über zwei Drittel der deut-schen Quote. Für Dorsch, Hering undFlunder laufen bereits weitere MSC-Zerti-fizierungsprozesse.

Schmidt will beweisen, dass Fischfangim großen Stil auch bestandsschonendfunktionieren kann. Und ihn treibt durch-aus betriebswirtschaftliches Kalkül: „NurFirmen, die diese Standards erfüllen, sindauf lange Sicht zukunftsfähig.“ Der Druckdurch die Konsumenten nehme zu. So er-wäge etwa der niederländische Handel,von 2012 an nur noch MSC-zertifizierteWare aus der Nordsee zu vermarkten.

elf anderer Trawler, das internationaleUmweltsiegel der Organisation Marine Ste-wardship Council (MSC) für seinen See-lachsfang erhalten. Ihre Produkte, frischeund gefrorene Fischfilets, dürfen mit einerovalen Kennzeichnung in den Handel. Siezeigt einen Haken und ein Fischsymbol aufblauem Grund und soll den Konsumentenmit gutem Gewissen sättigen: Wer das hierisst, macht sich nicht mitschuldig am Raub-bau auf den Meeren.

MSC, eine gemeinnützige Gesellschaftmit Sitz in London, wurde vor zwölf Jahrenin einer Initiative der Naturschutzorga-nisation WWF und des Lebensmittelrie-sen Unilever gegründet, damals Dach-konzern des Tiefkühlkostfabrikanten Lang-nese-Iglo.

Der zunächst misstrauenweckende Ver-such, Käpt’n Iglo auf Ökokurs zu trimmen,erwies sich als erfolgreiches Beispiel orga-nisierten Bestandsschutzes: MSC rühmtsich inzwischen eines weltweiten Be-kanntheitsgrads von über zehn Prozent,zertifiziert immerhin rund vier Prozent desglobalen Seefischfangs – und das mit aus-gesprochen strengen Richtlinien.

Wer das Gütesiegel tragen will, muss et-lichen Anforderungen genügen: Unter an-derem muss er sich von Fanggründen fern-halten, deren Bestände als überfischt odergefährdet gelten, mit großmaschigen Net-zen arbeiten, die die kleineren, noch nichtfortpflanzungsfähigen Tiere durchlassen,möglichst bodenschonende Grundschlepp-netze einsetzen und sein Tun exakt doku-mentieren.

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Wissenschaft

Page 86: Der Spiegel 2009 36

schmeißen ihn dann als Müll ins Meer.21800 Tonnen Kabeljau, so der Internatio-nale Rat für Meeresforschung, wurden imvergangenen Jahr in der Nordsee überBord geworfen. Das entspricht fast der ge-samten EU-Fangquote von 2008.

Dass sich diesem Problem beikommenlässt, zeigt die Praxis in Norwegen: Einer-seits schreibt dort die Regierung den MSC-Standard von 120 Millimeter Netzmaschen-durchmesser für den Seelachsfang vor;allein dadurch reduziert sich der Beifangerheblich. Andererseits wird, was dennochins Netz geht, ohne Strafzahlung der Ver-wertung zugeführt.

Schmidt, der für Kutterfisch die Kon-takte zu den EU-Behörden hält, plädiertseit langem für „norwegische Verhältnis-se“. Dort, sagt er, sei alles viel klarer undeinfacher geregelt: „Die EU-Vorschriftenfür die Nordsee umfassen 240 Seiten Klein-gedrucktes. Den Norwegern reichen 30DIN-A4-Blätter, groß beschrieben und ver-ständlich.“

Die Seelachsflotte von Kutterfisch hatimmerhin eine jährliche Beifangquote von300 Tonnen Kabeljau, entsprechend etwadrei Prozent des Gesamtfangs, muss die-se aber nicht einmal ausschöpfen. Die Net-ze, die der Cuxhavener Betrieb einsetzt,bieten dem unerwünschten Fisch guteFluchtmöglichkeiten: Das leichte Grund-tau schwebt über Bodenwellen und lässtden Kabeljau besser fliehen. Anders alsder Seelachs, der zur Seite flieht, tauchtdieser Fisch nach unten ab.

In diesem Jahr, schätzt Schmidt, wirdKutterfisch seinen Kabeljaubeifang auf un-ter zwei Prozent halten, was den Staat zu-friedenstellt – jedoch nicht den MSC. Werdas Gütesiegel trägt, muss einen laufen-den Verbesserungsprozess nachweisen.Eine der Prioritäten dabei ist die weitereReduktion des Beifangs.

Schmidt ließ zu diesem Zweck ein halb-schwebendes („semipelagisches“) Grund-schleppnetz entwickeln, dessen ultraleich-tes Grundtau den Boden kaum nochberühren soll. Extrem weite Maschen imVorgeschirr bieten dem Kabeljau riesigeFluchttore.

Am 22. August ließ Kapitän Rahr das fi-ligrane Knüpfwerk erstmals vor Norwegenin die Tiefe. Der Probebetrieb dauertekaum eine Stunde, dann meldeten dieNetzsensoren seltsame Signale.

Sogleich hievte die Crew das Versuchs-netz an Bord. Es hing in Fetzen. Das zart-gewirkte Untergeschirr hatte dem steini-gen Meeresboden nicht standgehalten undwar völlig zerrissen. Der Schaden, schätztRahr, dürfte sich auf gut 10000 Euro be-laufen.

An Bord war eine Mitarbeiterin des MSCund blickte betreten drein. Der Kapitännutzte die Gelegenheit, sich ein wenig Luftzu machen: „Wenn alles nach euch geht“,wetterte er, „dann fischen wir uns am Endedie Hose vom Arsch.“ Christian Wüst

Ein Schuss fiel, ein Arbeiter wurdeniedergestreckt. Doch die wütendeMenge stürmte unbeirrt weiter über

den Schlosshof von Versailles, die Haupt-treppe hinauf, bis kurz vor die Gemächerder Königin. Es hatte kaum zu dämmernbegonnen am Morgen des 6. Oktober 1789,und gewöhnlich erholte sich Marie-Antoi-nette zu solch früher Stunde noch von denVergnügungen des Vorabends.

Nun aber flüchtete sie knapp bekleidetund in höchster Not durch ihr Ankleide-zimmer ans Bett ihres Gatten, König Lud-wigs XVI. Doch hatte das Herrscher-paar nicht selbst dazu beigetragen, durch lose Reden den Pöbel zur Raserei zubringen?

„Soll es doch Kuchen essen“, soll dieKönigin geraten haben, als ein Höfling be-richtete, das Volk habe kein Brot. Ihr Ehe-mann Ludwig war kaum besser: „Majestät,das Volk verlangt nach Brot“, warnte einRatgeber den König – „Bin ich Bäcker?“,entgegnete der Herrscher.

Vielleicht sind die Bonmots zu schön,um wahr zu sein; gut möglich, dass sie derPhantasie eines Revolutionspropagandistenentsprungen sind. Gewiss aber ist: AmVorabend der Revolution litt ein Großteildes französischen Volkes Not. In etlichenLandstrichen aßen die Einwohner statt Ku-chen nur Kastanien. Die Zahl der von hun-

gernden Eltern ausgesetzten Säuglinge warauf das Sechsfache gestiegen.

Wie drastisch sich die Zustände zuge-spitzt hatten, kann nun der MünchnerVolkswirt Hermann Schubert präzise nach-vollziehen. Im Militärarchiv des Châteaude Vincennes in Paris hat er beinahe zufäl-lig einen bisher weitgehend ungesichtetenZahlenschatz gehoben. Über ein Jahr langhackte der Wissenschaftler Daten aus29500 Registrationsakten von französischenMilizen und Soldaten aus einem Zeitraumvom Beginn des 18. Jahrhunderts bis kurznach der Revolution in seinen Laptop.

Demnach haben die Milizionärsjahrgän-ge im Laufe von gut 40 Jahren von ohnehinkurzen 165 Zentimetern im Durchschnittnochmals knapp drei Zentimeter einge-büßt. Solch Schrumpfung eines ganzenVolkes gilt Anthropometrikern wie Schu-bert und seinem Doktorvater John Komlosvon der Ludwig-Maximilians-UniversitätMünchen als untrüglicher Hinweis auf einedesolate Versorgung. Ein besonderer Glücks-fall für die heutige Forschung: Das Heer

der kleinwüchsigen Kriegerbietet einen durchaus re-präsentativen Querschnittder damaligen BevölkerungFrankreichs, denn die Mili-zionäre waren per Los-verfahren ausgewählt undzwangsrekrutiert worden.

Die Zahlen könnten hel-fen, eine Frage zu beantwor-ten, die beinahe so alt ist wiedie Französische Revolutionselbst: War der Aufstandeine Hungerrevolte des ver-elendeten Volkes oder docheher eine Erhebung des auf-strebenden Bürgertums?

Dass die Franzosen hun-gerten, ist den Historikernseit langem bekannt, über eingenaues Maß der Not imLand aber verfügten sie bis-

her nicht. Erst anhand der neu ausgewerte-ten Daten lässt sich jetzt ablesen, dass sichdie Hungerkur des Volkes über mehrereDekaden hinzog. In den letzten fünf Jahrenvor der Revolution, so zeigt sich nun, hattesie ihren absoluten Höhepunkt erreicht.

Dem Aufruhr im Land zum Trotz no-tierten Armeeangehörige eifrig Körper-größe, Augen- und Haarfarbe sowie wei-tere auffällige Merkmale der Rekruten. Diepenible Buchführung sollte helfen, Fah-nenflüchtige wieder einzufangen, die nachder Prämienzahlung desertierten. Nur ausdiesem Grund sind die wertvollen Datenüberhaupt vorhanden.

Und noch etwas fördern die Messdatenzutage: Für die Hungernden zahlte sich derblutige Aufstand aus. Dem Volk ging esanschließend besser. Schon ein Jahrzehntnach der Revolution war der Durch-schnittsrekrut wieder größer.

Frank Thadeusz

Wissenschaft

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G E S C H I C H T E

Kastanien statt KuchenWarum ist die Französische

Revolution wirklich ausgebrochen?Ein Münchner Wissenschaftler

legt Daten vor, die genau zeigen, wie sehr das Volk hungerte.

Hinrichtung Ludwigs XVI. 1793: „Bin ich Bäcker?“

INTER

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Page 87: Der Spiegel 2009 36

Trügerischer Test Akkulaufzeiten bei tragbaren Rechnern nach Testvarianten*

Prozessor

Turion X2 Ultra

Dual-Core ZM-82

Prozessor

Core 2 Duo P8400

MobileMark

2007Herkömmlicher Test

Testverfahren**

** OEM System Comparison 2 Quelle: AMD

3DMark06Test v. a. mit

Grafik-Animationen

2:28 Stunden 3:28 Stunden

1:23 Stunden 1:31 Stunden

*Aktuelle Zahlen der neuesten Prozessor-generation liegen nicht vor

Ursprünglich sollten sie armen Kin-dern in Afrika helfen, nun rettensie die PC-Industrie: Kleinstrech-

ner zum Schleuderpreis von teils unter 300Euro.

Die kühne Idee wurde von vielenbelächelt, als Nicholas Negroponte, derumtriebige Vordenker des MIT Media Labbei Boston, 2005 mit einer neuen Idee hau-sieren ging. Mitten hinein in den kollekti-ven Wahn des Schneller-Höher-Weiter, derGigahertzprozessoren und Riesenbild-schirme forderte er ein Umdenken: Wiewäre es, wenn man ein Billig-Notebookfür hundert Dollar konstruieren würde, da-mit auch arme Weltgegenden nicht von derDigitalisierung abgehängt werden?

Die PC-Industrie lief Sturm gegen denidealistischen Häretiker, Bill Gates ver-höhnte das Konzept. Dann ging es Schlagauf Schlag: 2007 kam der winzige „EeePC“ auf den Markt und fand reißendenAbsatz. Seitdem unterbieten sich namhaf-te Hersteller mit immer neuen Rekorden:das Kleinste, das Schmalste, das Billigste.

Die Bonsairechner für Arme gelten heu-te sogar als Stütze der ganzen Branche.Ohne sie wäre der PC-Absatz im zweitenQuartal in Europa um über 15 Prozentgeschrumpft – so waren es nur gut 3 Pro-zent.

Auch auf der Unterhaltungselektronik-messe Ifa, die am Freitag in Berlin beginnt,

sorgen die Rechenzwerge für Wirbel – undfür Verwirrung.

„Netbook“ wird die Gerätegattung ge-nannt, ideal für den kleinen Datenhungerunterwegs. Doch die Grenzen verschwim-men: die zum Handy zum Beispiel, wenndie Netbooks, nur 900 Gramm schwer,locker in die Handtasche passen und sichins Mobilfunknetz einwählen können; oderdie zum Navigationsgerät, wenn sich dieMinirechner per GPS-Chip verorten.

Immer mehr Hersteller wollen mitver-dienen am Geiz-ist-geil-Rechner: Googlewill sein Android-Betriebssystem auf Net-books laufen lassen, Nokia stellt sein„Booklet 3G“ vor, und Blogger rätseln, obApple einsteigt mit einer Art Riesen-iPhone.

Der Netbook-Markt ist unübersichtlich,und das Chaos scheint dabei bisweilen derVerkaufsförderung zu dienen: 80 Prozentder Verkäufer, so das Ergebnis einer Stich-probe der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, „scheiterten mehr oder wenigerdramatisch“ – mal verschwiegen sie dasfehlende DVD-Laufwerk, mal versprachensie das Betriebssystem Windows Vista, wonur XP drin war, und „drängten massivzum Kauf“.

Wie immer bei einer jungen Technikwird die Markteinführung über einen er-bitterten Schlagwortabtausch geführt: BeiFlachbildfernsehern war es die schiereGröße, bevor sich herumsprach, dass die

flüssige Darstellung von Bildschwenks dieeigentliche Schwachstelle ist; bei Digital-kameras ging es um Megapixel, bis sichzeigte, dass gute Optik und Unterdrückungdes Bildrauschens viel wichtiger sind.

Bei den Winzlingsrechnern liefern sichdie Hersteller vor allem bei den Gramm-und Millimeterangaben ein Wettrennen.Leicht gerät dabei aus dem Blick, dass sichmanch ein Gerät wegen der Spiegelungenauf dem Bildschirm oder allzu winzigerTasten kaum ernsthaft benutzen lässt. Diemeisten Netbooks taugen bestenfalls alsZweitgerät und Notbehelf auf Reisen.

Nun rückt eine neue Frage immer mehrin den Vordergrund: Wer kann am längs-ten? Wurden anfangs drei Stunden Lauf-zeit abseits einer Steckdose versprochen,pirschen sich die neuesten Akkus angeb-lich bereits in Richtung zwölf Stunden Be-triebsdauer vor: Das sogenannte All-Day-Computing wird in Aussicht gestellt.

Diese erstaunliche Leistungssteigerungist zwei Entwicklungen zu verdanken:einer neuen Generation von Stromspar-prozessoren sowie stärkeren Akkus mitsechs Zellen statt bislang nur drei.

Dennoch droht für viele Netbook-Lieb-haber ein böses Erwachen, wenn sie dieAngaben zu wörtlich nehmen: „Wenn wireinen Rechner testen, der 13 Stunden Lauf-zeit verspricht, dann kommt man realis-tisch etwa auf 9 Stunden“, sagt KirstinWohlfart, Projektleiterin bei der StiftungWarentest. „Die meisten Herstelleranga-ben zur Batterielaufzeit sind irreführend.“

Als Faustregel gilt: Meist machen dieNetbooks schon nach der Hälfte der ver-sprochenen Dauer schlapp.

Der Trick ist einfach, und er trägt einenNamen: MobileMark 2007 (MM07). Beidiesem Test wird die Batterielaufzeit aufSparflamme getestet; weder lange Videoswerden abgespielt noch Grafiken intensivbearbeitet. Es ist, als würde der Spritver-brauch eines Rennwagens bergab mitRückenwind getestet – so lässt sich ein Fer-rari leicht als Drei-Liter-Auto deklarieren.

Nun regt sich Unmut. Experten fordernrealistischere Tests. Vor allem der Chip-Hersteller AMD fühlt sich gegenüber demPlatzhirsch Intel benachteiligt.

Längst gibt es praxisnähere Tests wieetwa den 3DMark06. Die Forderung: Ähn-lich wie bei Handys, wo Bereitschaftszeitund die Sprechzeit separat angegeben wer-den, sollte sich auch die Netbook-Industrieeinigen auf separate Angaben zur Laufzeitim Ruhemodus, beim Internetsurfen oderbeim Abspielen von Videofilmen.

„Es gibt nur drei Möglichkeiten“, warntPatrick Moorhead von AMD: „Entwederreguliert sich die Industrie selbst, oder dieWettbewerbsbehörde reguliert uns, oderwir landen vor Gericht. Ich plädiere fürdie erste Variante.“ Hilmar Schmundt

110

C O M P U T E R

VerwirrendeZwerge

Netbook-Minirechner sind eine der Hauptattraktionen auf der

Funkausstellung in Berlin. Doch Experten warnen vor Kinder-

krankheiten und Mogelpackungen. MARTIN

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Schulkinder mit Billig-Laptops in Peru

Bonsairechner für Arme

Page 88: Der Spiegel 2009 36

Bei dem Mediziner aus Süddeutsch-land war die Mutter schuld. „Jun-ge, wann machst du endlich deinen

Doktor?“, fragte die ehrgeizige alte Dameihren Sohn immer wieder.

Der hatte zwar eine eigene Praxis, aufdem Klingelschild aber fehlten die beidenbegehrten Buchstaben mit dem Punkt da-hinter. Eine professionelle Promotionsbe-ratung sollte Abhilfe schaffen, die Mutterbot an, sich an den Kosten zu beteiligen.

Über Anzeigen in der „Frankfurter All-gemeinen“ und im „Deutschen Ärzteblatt“stieß der Mediziner auf das „Institut fürWissenschaftsberatung“ in Bergisch Glad-bach. Er ließ sich Informationsmaterialschicken, später gab es ein Treffen in einemMünchner Tagungshotel. Für 20000 Eurovermittelte die Firma einen willigen Dok-torvater, und so konnte der Medizinerseiner Mutter schließlich die ersehnte Ur-kunde präsentieren.

Dummerweise wurde die Kölner Staats-anwaltschaft auf den Fall aufmerksam, nunmuss der Mediziner fürchten, dass ihm sei-ne Universität den teuren Titel wieder ab-nimmt. Seine Arbeit gehört zu mindestens315 dubiosen Promotionsverfahren, die dieKölner „Ermittlungsgruppe Doktor“ der-zeit untersucht.

Die Fahnder gehen dem Verdacht nach,dass etliche Hochschullehrer gegen GeldKandidaten als Doktoranden angenommenhaben. Das „Institut für Wissenschaftsbe-ratung“ soll in der Regel jeweils 4000 Euroan die Professoren gezahlt haben, die eineHälfte für die Annahme zur Promotion,die andere bei erfolgreichem Abschluss.Ein so erworbener Doktortitel kostete dieKunden offenbar zwischen 12 000 und36 000 Euro, die Differenz verblieb als Gewinn bei den Vermittlern.

Die Affäre könnte sich zum größtenWissenschaftsskandal der vergangenenJahre in Deutschland ausweiten. Etwa hun-dert Doktorväter von rund einem DutzendHochschulen sollen mitgewirkt haben, diemeisten von ihnen außerplanmäßige Pro-fessoren und Privatdozenten.

Besonders anfällig für diese ungewöhn-liche Art der Titelbeschaffung sind offen-bar die medizinischen Fakultäten. Etwa dieHälfte der betroffenen Kunden des Insti-tuts sollen Human- oder Zahnmedizinergewesen sein. Zu den verdächtigten Hoch-schullehrern zählen ein Mediziner der Ber-liner Charité und ein Arzt, der mit der Me-

dizinischen Hochschule Hannover verban-delt sein soll.

Die Affäre bringt Licht in eine Branche,in der ein akademischer Titel viel, Red-lichkeit aber wenig zählt. Und sie offenbartden laxen Umgang vieler Professoren mitihren Dienstpflichten.

„Ein Titel erspart dem Titelträger jedeTüchtigkeit“, spottete schon Kurt Tuchols-ky. Ein Doktortitel verspricht oftmals ein höheres Gehalt, viel Reputation undschmeichelt damit der Eitelkeit. Dafür istvielen Menschen offenbar kein Preis zuhoch.

Und so fliegen immer wieder falscheDoktoren auf, allein in diesem Jahr zumBeispiel ein Mitglied der SPD-Stadtrats-fraktion von Köln, ein CDU-Politiker imthüringischen Nordhausen, der ehemaligeBüroleiter der niedersächsischen Sozial-ministerin und eine Schulrätin in Ludwigs-burg, Baden-Württemberg.

In Köln geht es nun um mehr als Ehreund Eitelkeit. Die Ermittler wollen denHochschullehrern Korruption nachweisen.Die Betreuung von Doktoranden gehörtzu den Dienstpflichten eines Professors,wenn er dafür Geld nimmt, macht er sichstrafbar. Aus Angst aufzufliegen, habensich bereits fünf Professoren freiwillig denKölner Ermittlern gestellt, einer, der fünfDoktoranden betreute, erhielt einen Straf-befehl über elf Monate Haft, bei weiteren

wurde das Verfahren bereits gegen Zah-lung eines Bußgelds eingestellt, bei ande-ren wird noch geprüft.

Doch dabei wird es nicht bleiben, dennbei einer Razzia in Bergisch Gladbach si-cherten Beamte der Kölner Kriminalpolizeibereits vor anderthalb Jahren körbeweisebelastendes Material, unter anderem etwa1800 Kundenakten. Der Geschäftsführerdes Instituts, Martin D., selbst promovier-ter Philosoph, hatte offenbar über mancheInteressenten genau Buch geführt („ge-pflegtes Äußeres, blauäugig, hoch moti-viert“) und notierte gern auch die Markedes gefahrenen Autos.

Die Fahnder fanden reichlich Schrift-verkehr zwischen dem Institut und Dok-torvätern, die sich unter anderem über die mangelnde Leistungskraft ihrer Schütz-linge beklagten. „Es reicht einfach nicht

* Vor dem Landgericht Hildesheim 2008.

Wissenschaft

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K O R R U P T I O N

Die Doktor-MacherDie Ermittlungen der Kölner Staatsanwaltschaft gegen etwa

hundert Hochschullehrer bringen Licht in eine Branche, in der ein akademischer Titel viel, Redlichkeit aber wenig zählt.

Medizinvorlesung im Leipziger Institut für Anatomie, Promotionsvermittler D.*, Firmenschild: Die

Page 89: Der Spiegel 2009 36

zur Promotion“, heißt es in einem Schrei-ben. In einem anderen weist ein Pri-vatdozent darauf hin, dass er einen Doktoranden besonders streng prüfenmüsse, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten.

Für die Staatsanwaltschaft sind dieseSätze ein Hinweis darauf, dass den Profes-soren bewusst war, dass sie mauschelten.Dafür spreche auch, dass sich die Ver-dächtigten Geld auf Konten ihrer Ehefrau-

en, ihrer Eltern oder ihrer eigenen Firmenüberweisen ließen, um die Zahlungen zuverschleiern.

Die Doktor-Macher von Bergisch Glad-bach sind inzwischen pleite, nach derRazzia sprangen Kunden ab. Das Institut,über 20 Jahre lang im Geschäft, galt alsMarktführer der Branche. D. ist prakti-scherweise Mitautor des Duden-Ratgebers„Wie verfasst man wissenschaftliche Ar-beiten?“.

Ins Visier der Staatsanwälte gerieten diePromotionsberater durch einen Prozessvor dem Landgericht Hildesheim. Dortmusste sich Anfang vergangenen JahresThomas A. verantworten, ein Juraprofes-sor aus Hannover. A. übernahm Dokto-randen, die aus Bergisch Gladbach ver-mittelt wurden, und zwar gegen insgesamtetwa 150000 Euro. Zudem habe er einerStudentin bessere Noten gegeben – alsGegenleistung für Sex. A. habe eigentlich

ständig Doktorarbeiten gelesen, berichteteseine studentische Geliebte vor Gericht.

Die Recherchen gegen den geständigenProf. Dr. iur., der zu drei Jahren Haftverurteilt wurde, offenbarten auch dieMachenschaften des Dr. phil. D. und seinesInstituts. D. bekam dreieinhalb Jahre Haftund 75000 Euro Geldstrafe. Das Urteil istrechtskräftig, nachdem der Bundesge-richtshof im Mai die Revision verworfenhat. D. hat vor Gericht den Vorwurf der

Bestechung zurückgewiesen. Alle Promo-tionsverfahren seien korrekt verlaufen.

Der Streit um die Promotionen, denendie beiden gemeinsam den Weg bereitethaben, ist allerdings nicht ausgestanden.14 Doktoranden, die ihm das Institut ver-mittelt hatte, brachte der Professor erfolg-reich zur Promotion. Neun von ihnenerkannte die Universität den Titel ab. Siehätten schließlich bemerken können, dassnicht alles mit rechten Dingen zuging. Dieneun sind dagegen vor das Verwaltungs-gericht gezogen, das bislang noch keineEntscheidung getroffen hat.

Die Universität Hannover verlangt nunvon Promotionsbewerbern eine Zusiche-rung, dass sie ohne Hilfe eines Vermittlersan die Universität gelangt sind. Diese Er-klärung aber wollen nicht alle abgeben,drei Kandidaten sind gar vor das Oberver-waltungsgericht gezogen und haben einePrüfung der strengen Regelung beantragt –

Juristen, ob promoviert oder nicht, ken-nen eben ihre rechtlichen Möglichkeiten.

Der Fall zeigt, dass es nicht leicht ist,Fehlverhalten von Wissenschaftlern zusanktionieren. Bei den Kölner Ermittlun-gen konnte bislang nicht nachgewiesenwerden, dass die Doktoranden wussten,dass mit ihrem Geld Professoren bestochenwurden. Außerdem gebe es, so der KölnerOberstaatsanwalt Günther Feld, „keinenAnhaltspunkt dafür, dass Doktorarbeitengekauft wurden“. Die geforderten wissen-schaftlichen Arbeiten wurden geschriebenund abgenommen – wenn auch von wahr-scheinlich wohlwollenden Betreuern.

Mit Strafverfolgung allein wird sich dasProblem der wundersamen Titelvermeh-rung nicht eindämmen lassen. Kritikerbemängeln, dass die wissenschaftlichenStandards in den vergangenen Jahren im-mer stärker aufgeweicht wurden. 24 000Promotionen werden inzwischen jedesJahr abgenommen, doppelt so viele wienoch vor 30 Jahren. Die unübersichtlicheMassenabfertigung lade zu Schummeleiengeradezu ein. So• wird bei Evaluationen von Hochschulen

eine große Zahl von Promovierten be-lohnt, nicht die Qualität der Arbeiten;

• kann jede Fakultät sich ihre eigene Pro-motionsordnung basteln, während zen-trale Regelungen fehlen;

• beschleunigen die Hochschulen die Ent-wertung der Grade, indem sie inflationärHonorarprofessuren und Ehrendoktor-würden vergeben.Es ist kein Zufall, dass Tricksereien be-

sonders häufig bei den Medizinern vor-kommen, einem Fach mit hohem Leis-tungs- und Konkurrenzdruck und vielStandesdünkel. „Keine Profession ist sosehr vom Doktortitel abhängig“, sagt Ulri-ke Beisiegel, Humanbiologin und Ombuds-frau der Deutschen Forschungsgemein-schaft für wissenschaftliches Fehlverhal-ten. Nachwuchsmediziner stünden unterhohem Zeitdruck.

„Manche Dissertationen untersuchen ir-relevante Fragestellungen mit unzulässigenMethoden und erhalten zu guter Letztnoch einen wohlklingenden Titel“, kriti-sierte der Mediziner Max Einhäupl als da-maliger Vorsitzender des Wissenschaftsratsdie Doktorinflation.

Das Gremium wettert schon seit Jahrengegen die Dünnbrettbohrer in der Medi-zin. Auch die Wissenschaftsexperten der Europäischen Kommission betrachten dendeutschen Dr. med. als Abschluss zweiterKlasse, der in der Regel nicht mit deminternational üblichen Ph. D. mithaltenkönne.

Deutsche Ärztevertreter kämpfen hin-gegen verbissen um das Privileg des leichterworbenen Grades. Schließlich seien esdie Patienten, die auf einen DoktortitelWert legen würden. Weil er so vertrauens-erweckend sei. Jan Friedmann,

Barbara Schmid, Markus Verbeet

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unübersichtliche Massenabfertigung an den Hochschulen lädt zu Schummeleien geradezu ein

Page 90: Der Spiegel 2009 36

Zierrat aus dem ZahnWie aus einem einzigen, massiven Elfenbeinblock eine vielgliedrige Schmuckkette entstehen kann

Experten nehmen an, dass der Elfenbeinblock, aus dem die Kette geschnitzt wurde, vom Stoßzahn eines Narwals stammt. Durch Sägen und Fräsen wurde die Grundform des Werkstücks herausgearbeitet.

1cm

vereinfachte Rekonstruktion

2 Um ein Band aus Hunderten, inein-

ander verschlungenen Kettengliedern

zu erstellen, wurden zunächst parallel

verlaufende, kreuzförmige Stränge aus

dem Material herausgearbeitet.

3 Der Kunsthandwerker markierte die senkrechten und waagerechten Profile mit einer regelmäßigen Unterteilung und sägte sie halbkreisförmig an.

4 Jede so entstandene zylindrische Teilform wurde anschließendausgehöhlt und zu einem ringförmigen Element zurechtgeschliffen.

5 Der fertige Abschnitt ist ebenso beweglich wie eine aus Einzelelementen aufgereihte Kette – keines der Glieder weist jedoch eine Nahtstelle auf.

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K U N S T H A N D W E R K

Der Herr der RingeFlohkutschen und Elfenbeinreliefs in Briefmarkengröße:

Im 18. Jahrhundert schufen Künstler für Fürstenhöfe Miniaturen,deren Herstellungstechnik den Forschern bis heute

unerklärlich ist. Jetzt sind erneut mysteriöse Wunderkammer-Objekte aufgetaucht. Wie wurden sie geschaffen?

Stenbock-Collier

Page 91: Der Spiegel 2009 36

Das Inferno begann Punkt Mitter-nacht: Soldaten mit Teerfackeln lie-fen durch die Straßen Altonas und

zündeten Haus für Haus an. Fischerkatengingen in Flammen auf, Brücken, Bürger-häuser und Kirchen.

Planmäßig wurde die prosperierendeElbstadt im Januar 1713 zerstört. Fast alleHäuser verkohlten, in den Gassen roch esnach verbranntem Fleisch. Befohlen hatteden Terror der schwedische FeldmarschallMagnus Stenbock.

Der teuflische General, der bald danachin Festungshaft geriet, hinterließ der Nach-welt allerdings auch ein ganz anderesWerk, das geradezu überirdisch zu nennenist. Die jahrelange Muße imKerker nutzte er, um ein Collier zu basteln, das die fein-motorische Leistungskraft eines Homo sapiens zu überschreitenscheint.

Aus dem bleichen Zahn einesarktischen Narwals ist das 96Zentimeter lange, 17,5 Grammschwere Kleinod gefertigt. Esbesteht aus 4802 Ringlein mitDurchmessern von nur etwa dreiMillimetern. Manche der Glie-der sind kaum 0,25 Millimeterdick – so groß sind Hausstaub-milben. „Ein solches Band aushartem Elfenbein zusammenzu-fügen ist nahezu unvorstellbar“,urteilt der Wiener Kunsthistori-ker Peter Hartmann.

Lange befand sich das Col-lier auf der britischen Insel. Eshabe einer „Familie aus demUmkreis des englischen Königs-hauses“ gehört, heißt es in derVerkaufsannonce des Münch-ner Auktionshauses Ahrend undWager.

Der Uhrmacher Herfried Eder griff zu.Für 20000 Euro erwarb er das Geschmeideund brachte es an einen sicheren Ort inder Schweiz.

Seither wähnt sich der Mann im Besitzeiner „Weltsensation“. Umfänglich hat erden Schmuck untersucht, die feinen Glie-der durchgezählt, Materialproben genom-men und hochauflösende Bilder von demObjekt erstellt. Jetzt legte er seine Ergeb-nisse Museumskuratoren im In- und Aus-land vor. Die reagierten fasziniert.

Denn erst genaues Studium offenbart,wie außergewöhnlich das Stück ist: Nor-malerweise haben Kettenglieder kleineNähte, um sie miteinander verbinden zukönnen – nicht so aber die Ringlein desStenbock-Colliers. Zwar ist das 300 Jahrealte Material von Spannungsrissen durch-setzt. „Systematische Sägestellen aber gibtes offenbar nicht“, staunt die KuratorinAstrid Scherp vom Bayerischen National-museum.

Das bedeutet: Der grause Feldherr schäl-te sein Juwel in einem einzigen Stück aus

dem Walzahn heraus. Seine Arbeitsweiseglich der von Michelangelo, der auf dieFrage, wie er seine David-Statue so meis-terhaft aus dem Marmor habe schlagenkönnen, antwortete: „Der David war im-mer schon da gewesen. Ich musste lediglichden überflüssigen Marmor um ihn herumentfernen.“

Seit Wochen knobeln nun schwedischeund deutsche Museumskuratoren gemein-sam mit Elfenbeinspezialisten: Wie nurging Stenbock vor? Welche Arbeitstechnikwendete er an?

Bekannt ist, dass Stenbock Ölbilder mal-te, er drechselte und schrieb Gedichte.Nach 1703 wurde er zum Kanzler der Uni-

versität Lund gekürt. Über seine Finger-fertigkeit aber berichten die Quellen nichts.

Selbst Helmut Jäger, der an Deutsch-lands einziger Berufsfachschule für Holzund Elfenbein in Erbach lehrt (und als be-gnadeter Handwerker zwölf Jahre lang allebeinernen Schmuckstücke aus dem Dresd-ner Grünen Gewölbe restaurierte), weißkeinen Rat.

„Vielleicht hat Stenbock den Walzahnmit Alaun oder einer anderen Tinkturbiegsam gemacht“, spekuliert er. Denkbarsei auch, dass der Rekordbastler seineWunderkette auf einer Wippdrehbankformte – „allerdings hätte ihn das unvor-stellbare Mühe gekostet“ (siehe Grafik).

Hinter vergitterten Fenstern, bei Was-ser und Brot, eine schwere Lupenbrille aufder Nase, in der Hand Kettenglieder imFlohformat, an denen er Monat für Monatherumhobelte – so, glaubt Eder, habe mansich den Wahnfried aus Schweden vorzu-stellen.

Unbezweifelt ist vorerst nur das Alterder Mirabilie. Sie entstammt jener Zeit, als

Europas Potentaten mit Leidenschaft ihreWunderkammern mit Seltsamkeiten undwertvollen Raritäten vollstopften. Eigen-artige Kollektionen kamen so zusammen,halb Freakshow und Krempelzirkus, halbSchautempel höchster Kunstfertigkeit.

Bereits im 16. Jahrhundert schufen ge-schickte Handwerker für den Adel Kabi-nettstücke aus den Zähnen von Haien undPottwalen, sie formten Becher aus Nauti-lusschalen, Spieluhren und Automaten mitundurchschaubarem Räderwerk. Auchkleine Anatomiepuppen mit herausnehm-baren Organen wurden gefertigt undSchatzkästlein mit trickreichen Verschluss-mechanismen.

Oft verblüfft die schiere Win-zigkeit der Schaustücke. Schonim 16. Jahrhundert bewegte sich die Zunft im Millimeter-bereich. Sie schuf „Flohkütsch-lein“, verzierte Kirschkerne undKegelspiele, die in ausgehöhltePfefferkörner passten.

Als wichtigste Hilfsmittel dien-ten dabei metallische Drehbänke.In schneller Rotation drehten sichdie eingespannten Werkstücke,während scharfe Schaber, gebo-gene Fräsen und Löffelmesser imautomatischen Takt Spiralen oderkomplizierte Schlangenlinien insMaterial frästen.

Jene Kreis- und Ellipsenbah-nen, die Kepler und Kopernikusdamals als Lauf der Planetenerkannt hatten, ahmten dieDrechsler mit ihren Maschinennach.

Auch der Adel verfiel demFieber. Aus Plaisier dilettierteZar Peter der Große ebenso ander Drehbank wie die britischenRoyals.

Die wahren Profis lieferten sich unter-dessen einen Wettbewerb hart an derGrenze zum Unmöglichen. Bei einigenWunderkammer-Stücken ist die Machartbis heute ungelöst.

Aus Berchtesgaden zum Beispiel stammtein Holzbecher, groß wie ein Fingerhut.Seine Wandstärke: 0,1 Millimeter. So dickist Schreibpapier. Niemand weiß, wie derUrheber es schaffte, das Holz so dünn zuschleifen.

Kopfzerbrechen bereiten auch die „Chi-nesischen Bälle“. Der Name steht für klei-ne Hohlkugeln, die, ohne Naht und auseinem einzigen Stück gefertigt, wie rus-sische Matrjoschka-Puppen ineinander-stecken. Ein Drechselgenie vom DresdnerKönigshof schaffte es sogar, eine Abfol-ge von immer kleiner werdenden Vielecken(Polyedern) herzustellen. Manche Forscherglauben, dass sich die Herstellung diesesUnikums über Generationen hinzog.

Die Mikrobilder, mit denen eine Grup-pe von Kleinstbildhauern im Rokokogleichsam die Tür ins Land Liliput aufstieß,

Wissenschaft

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Wunderkugeln: Ohne Naht und aus einem Stück gefertigt

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Page 92: Der Spiegel 2009 36

sind ein weiteres Mysterium. Mit feinstenSäglein und Hohlsticheln sind hier Figu-ren in Ameisengröße geschnitzt. Die De-tails auf ihren Reliefs, Dachschindeln oderAngelruten etwa, messen sich in hunderts-tel Millimetern. Knapp ein halbes Dutzendsolcher Schnitzvirtuosen ist bekannt. Essind allesamt Männer mit bayerischer Abstammung. Insgesamt schufen sie guthundert Werke.

Die meisten ihrer Wichtelbilder befin-den sich heute in Privatbesitz. Nur die Ere-mitage und das British Museum haben jevier, das Kunsthistorische Museum in Wienhat weitere fünf Exemplare.

Erst jüngst hat der SpezialistHartmann etwas Licht in dietrickreichen Techniken dieserHaarspalter unter den Bildhau-ern gebracht. Sein Fazit: „Mikro-bilder zählen zu den spektaku-lärsten Dingen, die jemals vonKünstlern geschaffen wurden.“

Als Pioniere der Bewegunggelten die Bamberger Paul Jo-hann und Sebastian Hess. Um1765 begannen sie damit, Tem-pelruinen im Zwergenstil zu er-schaffen. Hirtenidyllen schnurr-ten bei ihnen auf Briefmarken-größe zusammen.

Als wichtigstes Werk von Se-bastian gilt die Maria-Theresien-Brosche, an der er drei Jahre lang herumfummelte. Das Stückist sieben Zentimeter lang – Platz genug, um 26 Menschen, 5 Häuser, Bäume und 2 Schiffeunterzubringen. Später gelangtedie Kostbarbeit nach England, wo sie „um den Preis eineskleines Schlosses“ den Besitzerwechselte, wie es in den Quellenheißt.

Um 1770 zog das geniale Bru-derpaar in die Kaiserstadt Wienund entwarf dort immer unge-heurere Petitessen.

Paul Johann überbot das ältereGeschwister noch. Auf seinemElfenbeinbild „Frauen am Brun-nen“ ist ein Lamm mit einerSchulterhöhe von einem Millime-ter dargestellt. Nach der Fertig-stellung kam die zerbrechlicheMiniatur unter Bergkristall.

Wie nur konnte so etwas gelingen? Auchdas von Paul Johann gestaltete Blattwerkbereitet Kopfzerbrechen. Der Abstand zwischen den Zweigen beträgt 0,02 bis 0,03 Millimeter. Zum Vergleich: Kopfhaarist zwei- bis dreimal so dick.

Vollends verdutzt, dass Äste und Blät-ter dreidimensional emporragen. Sie wer-fen Schatten auf die kobaltblaue Unter-lage. „Selbst mit allerdünnsten Schneid-sticheln und Sägeblättern ist solch eineAusarbeitung nicht erklärbar“, stauntHartmann.

Derlei Rekordschrumpfungen konnteeuropaweit lange niemand unterbieten. Erstder Augsburger Stephani und sein KollegeDresch durchstießen eine Generation spä-ter eine neue Schallmauer – mit Blattwerkvon nur noch 0,01 Millimetern. Sie hattendie Grenze zum Unsichtbaren erreicht.

Das Leben dieser Mikroschnitzer liegtfast völlig im Dunkeln. Es gibt kaum Le-bensdaten, keine Konterfeis, nicht einmalihre Vornamen sind bekannt. Klar ist nur,dass das Duo um 1790 in London auf-tauchte und alsbald für Furore sorgte.

Dem Zeitgeschmack entsprechend, ho-belten die Schrumpfkünstler vor allem an

Pastoralszenen und Segelschiffen: Eineihrer Fregatten hat – bei 1,8 ZentimeterHöhe – geblähte Segel und Kanonen-luken. An Bord stehen zwei Millimetergroße Matrosen. Sogar ihre Hüte sind zuerkennen.

Doch der Wettlauf ums immer Kleinerehatte seinen Preis. Die Künstler lebten un-ter dauernder Anspannung. Wochenlanghobelten sie an ihren Mini-Reliefs herum.Ein Ausrutscher mit dem Stichel aus Tole-dostahl, und das Geäst ihrer Bäumlein zer-bröselte.

Womöglich wurde Paul Johann Hess des-halb gemütskrank. Der Mann, den ein altesKünstlerlexikon als „Genie“ lobt, „das ge-wiss seinesgleichen nicht hat“, ertrank 1798unter ungeklärten Umständen in der Donau.

Ähnlich tragisch erging es NikolausKlammer, Sohn eines bayerischen Por-zellanmachers, den die Hess-Brüder alsSchüler aufnahmen und in die Geheimnis-se der Mikroschnitzerei einweihten.

Erst vor wenigen Wochen ist ein bislangunbekanntes Elfenbeinrelief dieses Meistersaufgetaucht. Hartmann erhielt das Stückzur Begutachtung aus Privatbesitz. Es zeigtauf einer 2,4 mal 1,8 Zentimeter großen

Fläche eine Hafenszene mit 5Schiffen und über 20 Personen.

Geradezu süchtig feilte derMann an seinen Kleinodien undvergaß dabei die Welt um sich. Erverschuldete sich. Als die Frauund alle sechs Kinder – vermut-lich an den Pocken – starben, ver-lor er seine ruhige Hand und fielin Depressionen. Am Ende friste-te er sein Leben als Zeichenlehrer.

Noch elender erging es jenemFeuerteufel und KerkerschnitzerMagnus Stenbock, der nachknapp fünf Jahren Festungshaftentkräftet starb.

Eders neue Untersuchungenzeigen, dass sich der nordischeHerr der Ringe offenbar langsaman sein Rekordobjekt herange-tastet hat. Dem Besitzer ist es ge-lungen, in Museen weitere Elfen-beinketten ausfindig zu machen,die wahrscheinlich ebenfalls ausder Hand des Generals stammen.

Eine davon liegt – zerrissen –im Depot des Grünen Gewölbes inDresden. Ihre Glieder sind nochetwas gröber. Zwei weitere Exem-plare, schon feiner gearbeitet,befinden sich in schwedischen Mu-seen. Sie müssen bereits entstan-den sein, ehe Stenbock im Zwin-ger von Kopenhagen landete.

Erst 1713, inzwischen hinterGittern, fasste der Adlige offenbarden Entschluss, Unvorstellbareszu vollbringen. In einem Brief ausdem Gefängnis kündigte er an, er plane nunmehr ein unerhörtes„christliches Werck“.

Auslöser war womöglich ein über-bordender Schuldkomplex. Die letztenSchriften des Häftlings sind voller Trä-nen und stammelnden Selbstbezichtigun-gen. Stenbock hatte Angst, dass ihm derHimmel versperrt sei. Womöglich wollteer mit seinem Werk bei Gott um Abbitteflehen.

Auffällig ist, dass viele Stränge der El-fenbeinkette jeweils 51 Glieder aufweisen.Diese Nummer trägt der wichtigste Buß-psalm der Bibel: „Gott sei mir Sündergnädig.“ Matthias Schulz

Wissenschaft

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Maria-Theresien-Brosche: Vorstoß ins Land Liliput

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Sport

T I S C H T E N N I S

Abspecken an der Platte

Bundesligaspiele, Champions League, sieben wei-tere internationale Wettkampfserien und jedes

Jahr Welt- und seit 2007 auch Europameisterschaf-ten – Tischtennisspieler haben einen dichten Kalen-der. In knapp zwei Wochen beginnt wieder eine EM, in Stutt-gart. Der europäische Verband ETTU wollte auf diese Weisehohe Marketingeinnahmen erzielen, jetzt meldet der diesjähri-ge EM-Veranstalter Zweifel an dem Konzept an. „Die Ver-

marktung wird durch die vielen Termine nurschlechter. Die Fernsehsender beklagen sichschon“, sagt Thomas Weikert, Präsident des Deut-schen Tischtennis-Bunds und Vizepräsident desWeltverbands. Die EM sollte nur alle zwei Jahrestattfinden, fordert er, schließlich klagten auch dieAkteure über die Belastung. So musste Deutsch-lands Starspieler, der Weltranglistenvierte Timo

Boll, im April die WM wegen Rückenschmerzen absagen.Übernächste Woche hat die ETTU über eine Resolution zuentscheiden: Demnach würde die EM künftig gesplittet inTeam- und Einzelmeisterschaften, die sich jährlich abwechseln.

Peter de Lange, 46, Anwalt

der 13-jährigen Niederlän-

derin Laura Dekker, über

den Plan seiner Mandantin,

um die Welt zu segeln

SPIEGEL: Das Familiengericht in Utrechthat Laura Dekker vergangene Wocheaus Sorge um ihre Gesundheit und Ent-wicklung vorerst verboten, allein um dieWelt zu segeln. Was werden Sie jetzt unternehmen?De Lange: Bis zum 26. Oktober müssenwir einen Fragenkatalog beantworten.Das Gericht will alles über die Reise wis-sen, über Lauras Route, das Boot unddie Sicherheit. Wir werden beweisen,dass der Plan gut durchdacht ist. Davonbin ich überzeugt. Laura ist glücklich,dass das Gericht ihren Trip nicht verbo-ten, sondern nur den Start verzögert hat.SPIEGEL: Laura steht nun bis Ende Okto-ber unter der Aufsicht des Jugendamtsund einer Kinderpsychologin. Ihre El-tern würden ihr weiterhin die Solo-Welt-umrundung erlauben. Warum?De Lange: Das Gericht hat ausdrücklichbetont, dass es Dick Dekker nicht füreinen schlechten Vater hält. Zuerst woll-ten Lauras Eltern auch nicht, dass sie se-

gelt. Aber dann hat Laura sie überzeugt,dass es ihr großer Traum ist. Die Elternstellten aber die Bedingung, dass sichLaura um das Schiff, Geld und Sponso-ren selbst kümmern muss.SPIEGEL: Laura ist doch noch ein Kind.So sieht es auch das Familiengericht. Eshat ein psychologisches Gutachten bisOktober angefordert.De Lange: Das ist kein Problem. Laura istmental stark. Sie ist viel erwachsener,als es für ihr Alter üblich ist. Laura isteine Spitzensportlerin, ihre Segeltech-nik ist top.SPIEGEL: Warum hat ein Mädchen mit 13 Jahren den Wunsch, um die Welt zusegeln?De Lange: Laura war die ersten vier Jah-re ihres Lebens auf Ozeanen unterwegs.Segeln ist für sie alles. Vor drei Monatensegelte Laura bereits allein nach Eng-land und zurück.SPIEGEL: Geht es in Wahrheit nicht umden Rekord, der jüngste Mensch zu sein,der allein den Erdball umsegelt hat?De Lange: Nein. Laura will die Welt ent-decken. Ihr ist es wichtig, in vielen Häfen anzulegen, um Länder und Men-schen kennenzulernen. Der Rekord wä-re nur ein Zusatz.

R A D S P O R T

Wer verstehtArmstrong?

Lance Armstrong, 37, gilt als Vorzei-ge-Twitterer unter den Sportstars.

Den Kurznachrichtendienst im Internetnutzt der amerikanische Radprofi nahe-zu pausenlos als Plattform zur Kom-munikation mit dem staunenden Publi-kum. Nicht jede seiner Neuigkeiten bewegt die Welt („Ich habe eine neueFrisur“), aber manches bewegt seine

Fans. Jetzt lud er sie via Twitter zu ei-ner spontanen Radtour durch die schot-tischen Lowlands ein. „Hey Glasgow,Schottland! Ich werde morgen zu euchkommen. Wer will eine Runde Rad fah-ren?“, schrieb Armstrong. 300 Radlerkamen zum Treffpunkt. Mit dabei warder Schotte Graeme Obree, in denneunziger Jahren Weltrekordler imBahnradfahren. Während des 90-minü-tigen, verregneten Trips schaffte dieGruppe knapp 40 Kilometer. „Haha!Phantastisch!“, twitterte der Star. Nurmit der Verständigung zwischen dembreiten Amerikanisch des Texaners unddem harten Schottisch seiner Mitfahrerhaperte es offenbar bei der Tour. BeimTwittern wäre das nicht passiert. „Nächs-tes Mal versuche ich, die Sonne mitzu-bringen. Und ihr bringt einen Überset-zer mit“, zwitscherte der Held zum Ab-schied in akzentfreiem Schriftenglisch.

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„Ihr großer Traum“

Boll

Page 94: Der Spiegel 2009 36

MillionenspielWie viel die Clubs der 1. und 2. Liga in der Saison 2007/08 zahlten

Quelle: DFL

Berater-

honorareAblöse-

summen

Spieler-

gehälter

786Mio.€

229Mio.€

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Früher war sein Leben Musik, Groß-stadtmusik, rebellische Musik. An ei-ner Wand seines geräumigen Büros

in der Altstadt von Aix-en-Provence hängteine DVD aus Platin, es ist eine Aus-zeichnung für 150000 verkaufte Live-Mit-schnitte des größten HipHop-Festivals, das Frankreich bis dahin erlebt hatte:50000 Menschen kamen ins Pariser Stadede France, und Karim Aklil hatte es orga-nisiert. Sieben Jahre ist das her.

Heute ist sein Leben Fußball. Man er-kennt es an der Wand im Nebenzimmer.Dort hängen, gerahmt und hinter Glas,mehr als ein Dutzend Trikots mit Namenüber den Rückennummern. Sie gehörenseinen Spielern.

Karim Aklil, 35, der in FrankreichsMusikszene selbst ein Star war und dessenNähe auch junge Fußballprofis suchten,die „auf Autos, ein schönes Leben undHipHop“ standen, ist jetzt Spielervermitt-ler, und so wie er sich anhört, hat er auchhier Großes vor. „Ich bin immer sehr ehr-geizig“, sagt der Mann mit dem kur-

zen schwarzen Haar, nachdem er am Tele-fon einen lästigen Konkurrenten abge-bügelt hat, „ich will die Nummer eins werden.“

Das dürfte schwierig werden, zumindestauf dem deutschen Markt. Aklil hat in deran diesem Montag endenden Transferpe-riode für den wohl größten Eklat gesorgt.In einer öffentlich insze-nierten Intrige versuchteer, den Hoffenheimer Tor-jäger Demba Ba aus seinembis 2011 laufenden Vertragzu hebeln und beim VfBStuttgart unterzubringen.Dort hätte der Stürmerrund das Vierfache ver-dient – und Aklil hätte einehohe sechsstellige Provi-sion kassiert.

Der Deal platzte. Seithergilt der Franzose als Proto-typ des Abzockers, für denein gültiger Vertrag nichtmehr wert ist als die Zei-

tung vom Vortag. Hoffenheims ManagerJan Schindelmeiser nennt Aklil nur noch„Ali Baba“, was nach Wegelagerer klingensoll. Und Holger Hieronymus, bei derDeutschen Fußball Liga als Geschäftsfüh-rer für den Spielbetrieb zuständig, sagt:„Da zeigte sich wieder das Schmuddel-image der Branche.“

Es sind enorme Summenim Spiel. In der Saison2007/08 schoben die deut-schen Proficlubs für Trans-fers knapp 230 MillionenEuro hin und her; die Aus-gaben für Spielergehälterlagen im selben Zeitraumbei 786 Millionen Euro;und die Provisionen fürVermittler betrugen knapp59 Millionen Euro, „Ten-denz weiter steigend“, wieHieronymus sagt.

Die hohen Gewinnmar-gen ziehen neben zahl-reichen seriösen Beratern

Sport

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TOBIAS KUBERSKI / GES

Spieler Ba (l.)

„Da zeigte sich wieder

das Schmuddelimage“

Berater Aklil

„Autos, ein schönes

Leben und HipHop“

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F U S S B A L L

Dreieckshandel über UruguayDie hohen Profite auf dem Transfermarkt locken auch windige Vermittler an. Häufig lassen

sich Clubs die finanziellen Details bei den Spielerwechseln von den Beratern diktieren.Manches davon bewegt sich am Rande der Legalität – wie im Fall des Brasilianers Zé Roberto.

Page 95: Der Spiegel 2009 36

auch viele windige Figuren an: Autohänd-ler, gescheiterte Vereinsmanager, Kampf-sportler mit und ohne Knasterfahrungoder Immobilienkönige vom HamburgerKiez.

Das Entree bei den Clubs wird all diesenGlücksrittern ziemlich leichtgemacht. Zwarverlangt der Deutsche Fußball-Bund (DFB)von jedem eine Lizenz, der bei einemTransfer als Berater auftritt und kein An-walt ist. Doch die Vereine scheren sichnicht mehr um derartige Formalien, sobaldsie für einen Spieler entflammt sind.

Vor drei Jahren versuchten die Clubs,sich auf eine Linie im Umgang mit schlechtbeleumundeten oder nicht lizenzierten Ver-mittlern zu einigen. Doch es zeigte sich,dass es nicht weit her ist mit der Solidaritätin der Liga. Bereits beim ersten Treffen, er-innert sich ein Teilnehmer, habe der Ver-treter von Bayern München wissen lassen,dass er auch 20 Prozent Provision an einenBerater zahle, wenn er einen Spieler unbe-dingt wolle. Damit war die Debatte beendet.

Zehn Prozent sind die Regel. Das be-deutet: Kassiert ein Profi in vier Jahrenein Festgehalt in Höhe von acht MillionenEuro brutto, überweist der Club dem Be-rater 800000 Euro, in der Regel zu glei-chen Teilen auf die Vertragsdauer por-tioniert. Gängige Praxis ist auch, dass dieAgenten an Einsatz-, Sieg- oder Titel-prämien ihrer Spieler partizipieren. Gele-gentlich beanspruchen sie auch einen An-teil der Ablösesumme für sich.

So kassierte Djair da Cunha, der Vaterund Berater des brasilianischen National-spielers Diego, bei dessen Wechsel von

Werder Bremen zu Juventus Turin im Maineben seinem Anteil am Bruttogehalt auch15 Prozent der Ablösesumme, die bei knapp25 Millionen Euro lag. Vergebens hatte ernoch versucht, den Preis für Diego nachoben zu treiben, indem er sich mit denBossen des FC Bayern München traf – ob-wohl er sich da mit den Italienern schongeeinigt hatte.

Bei so viel Chuzpe überrascht es nicht,dass sich die Clubbosse schon immer überSpielervermittler beschwert haben, die„den Hals nicht vollkriegen“. „Haie“

nannte sie der frühere Schalke-ManagerRudi Aussauer, der einstige Vorstandschefdes 1. FC Kaiserslautern, René Jäggi, pol-terte: „Blinddärme! Niemand braucht sie.“

Seltsam nur, dass die beiden nach demEnde ihrer Vereinskarrieren nun selbstSpieler vermitteln. Auch Christian Hoch-stätter, früher Manager bei Borussia Mön-chengladbach und Hannover 96, hat dieSeiten gewechselt, genauso wie der einsti-ge Kaiserslauterer VorstandsvorsitzendeJürgen Friedrich oder der ehemalige Le-verkusener Manager Reiner Calmund.

Sie alle kennen die Usancen der Branche.Und da kommt es immer mal wieder vor,dass sich bei einem Transfer Berater unterder Hand von zwei Seiten entlohnen lassen– auch wenn dies ein Verstoß gegen denFifa-Kodex ist. Kaum einer zeigt sich dabeiso begabt wie der Peruaner Carlos Delgado.

Nachdem der Spielervermittler denStürmer Claudio Pizarro im Sommer 2001von Werder Bremen zum FC Bayern trans-feriert hatte, verschickte er zwei Rechnun-gen: eine an die „Señores FC Bayern Mün-

chen“ in Höhe von 1,5 Millionen Dollar,Monate später eine weitere an Pizarro inHöhe von 2,25 Millionen Dollar. Delgadopartizipierte auch an einem über 21 Mil-lionen Dollar schweren Werbedeal des Pro-fis mit Adidas. So brachte ihm PizarrosTransfer nach München in weniger als zweiJahren exakt 6926702 Dollar ein.

Ein Gespür für schnelles Geld bewiesDelgado auch mit Paolo Guerrero. AnfangMärz 2005 verlängerte er den 2006 aus-laufenden Vertrag des Stürmers mit demFC Bayern vorzeitig um zwei Jahre. Da-

für erhielt Delgado von den Münchnern300000 Euro.

Als Guerrero 2006 zum HSV wechselte,machte Delgado erneut Kasse. Bei denVerhandlungen schrieb er auf einen Zetteldie Zahl, die für ihn als Provision drin seinmusste: 450000 Euro. Die Rechnung an die„Señores Hamburger Sport-Verein“ reich-te er am 27. Oktober nach. Weitere dreiTage später verpflichtete sich Guerrero,378 000 Euro auf Delgados Privatkonto zuzahlen. Offenbar um dem Eindruck entge-genzuwirken, er habe auch von Guerreroeine Transferprovision kassiert, setzte Del-gado ein Schreiben auf, in dem er dieÜberweisung als „Rückzahlung eines per-sönlichen Darlehens“ bezeichnet. Spielerund Berater unterschrieben das Papier.Kurz darauf trennte sich Guerrero von sei-nem langjährigen Agenten.

Nur selten gelangen derartige Doku-mente in fremde Hände, Spielervermittlerverstehen sich auf Diskretion. Die AkteDelgado liegt offen, weil seine Verflossene,ein früheres Unterwäsche-Model, koffer-

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Spieler Zé Roberto

Rund vier Millionen Euro

an Nacional Montevideo

Berater Figer

„Unregelmäßigkeiten bei

Finanzgeschäften“

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Page 96: Der Spiegel 2009 36

lief auch dieser Transfer anders. Schon da-mals lagen die Transferrechte an Zé Rober-to bei Nacional Montevideo – einem Club,für den er nie spielte. Die Münchner ei-nigten sich mit Berater Figer auf eine Aus-leihgebühr in Höhe von einer Million Euro,die sie Nacional Montevideo überwiesen,um den Brasilianer bis zum 30. Juni 2009verpflichten zu können. Bayern-ManagerHoeneß bestätigte dies.

Der Dreieckshandel zwischen Brasilienund Europa über Uruguay ist schon langeeine Spezialität des Spielervermittlers JuanFiger. Vor zwölf Jahren, als Zé Robertovon seinem Club Portuguesa São Paulo zuReal Madrid wechselte, lotste Figer denSpieler auch schon kurzzeitig nach Mon-

tevideo, um den Transferüber Uruguay abzu-wickeln. Damals wurdeZé Roberto beim ClubCentral Español Monte-video zwischengeparkt.

Am 29. November1997 tat sich Erstaunli-ches. Erst überwies Cen-tral Español Montevideoeine Ablösesumme inHöhe von 4,6 MillionenDollar an Zé Robertos al-ten Club in São Paulo.Dann liefen auf dem Ver-

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weise Beweismaterial aus seinen Bestän-den entwendet hatte. Nun staunt die Welt,wie locker es ein früherer Hotelangestell-ter aus Lima, der gern Cowboystiefel trägt,mit der Vermittlung von Fußballprofis zumvielfachen Millionär gebracht hat.

Die Staatsanwaltschaft in Lima ermitteltderzeit gegen Delgado wegen des Ver-dachts der Steuerhinterziehung und Geld-wäsche. Der Agent beteuert seine Un-schuld. Für die Bosse von Werder Bremensind die Ermittlungen kein Grund, auf sei-ne Dienste zu verzichten. So saß Delgadowieder mit am Tisch, als die Bremer in dervorvergangenen Woche Claudio Pizarrovom FC Chelsea kauften.

Wie schnell es zu unangenehmen Über-raschungen kommen kann, wenn zwie-lichtige Agenten mit im Spiel sind, musstedie Führung des Hamburger SV erleben.

Im Sommer 2004 hatten die Norddeut-schen den belgischen Nationalspieler EmileMpenza von Standard Lüttich verpflich-tet. Dessen Unterhändler war eine derschillerndsten Figuren der Szene: LucianoD’Onofrio, ein Zigarillo rauchender Bon-vivant, der auch mal zum engsten Kreisum Zinédine Zidane gehört hatte.

Anfang 2006 zog Mpenza weiter nachKatar, danach tauchten plötzlich Ermittlerin der HSV-Geschäftsstelle auf. Sie legtenein Rechtshilfeersuchen vor und verlangtenEinsicht in sämtliche Vereinbarungen desClubs mit D’Onofrio. Der Verdacht richte-te sich nicht gegen den HSV, die Fahndernahmen sämtliche Dokumente mit. Im Ok-tober 2007 wurde D’Onofrio wegen Unre-gelmäßigkeiten bei Geschäften mit demClub Olympique Marseille zu einer Haft-und Geldstrafe verurteilt.

Jetzt haben sich die Hamburger erneutmit einem Berater eingelassen, der kaumetwas mehr hasst als Fragen zu seinem Ge-schäftsmodell: Juan Figer, Spitzname „dasPhantom“ – ein Mann, der den Handel mitKickern aus Südamerika dominiert, dies-seits und jenseits des Atlantiks.

Figer hat dem HSV Anfang Juli den Mit-telfeldspieler Zé Roberto beschert, der vonBayern München kam – ablösefrei, wie esin allen Zeitungen und Sportmagazinenheißt. Wahr ist, dass der HSV für den Bra-silianer rund vier Millionen Euro Ablösezahlte – an den Club Nacional in Monte-video, Uruguay. Vereins-boss Bernd Hoffmann be-stätigte dem SPIEGELden Vorgang, zur Höheder Ablösesumme äußer-te er sich nicht.

Bereits im Sommer2007, als Zé Roberto vombrasilianischen Club FCSantos zum FC Bayernwechselte, hieß es aller-orten, der Spieler sei ab-lösefrei nach Münchengekommen. Nach Re-cherchen des SPIEGEL

einskonto von Central Español 9,98 Mil-lionen Dollar von Real Madrid ein, demVerein, der Zé Robertos tatsächliches Zielwar. So blieb in der Kasse des Clubs inUruguay auf einen Schlag ein Plus vonüber fünf Millionen Dollar. Wer von demGeld profitierte, wurde nie geklärt.

In einem vierbändigen Abschlussberichtüber den weltweiten Handel mit brasilia-nischen Fußballprofis, den ein Untersu-chungsausschuss des Senats 2001 in derHauptstadt Brasília vorlegte, attestieren dieParlamentarier Figer „Unregelmäßigkeitenbei Wechsel- und Finanzgeschäften“. Ver-mutet wird, dass der mächtige Agent eini-ge Clubs in Uruguay unter Kontrolle hält –und auf diese Weise Zugriff auf die Aus-leihgebühren und Ablösesummen hat, diedort für von ihm vermittelte Profis einge-hen. Figer äußerte sich dazu nicht.

Wenn es darum geht, Clubs zu schröp-fen, beweisen Vermittler auch in den Nie-derungen des deutschen Fußballs erstaun-liche Kreativität. Dies belegt ein Vertragzwischen der Berliner Agentur FRV Sport-management GmbH und Eintracht Trier,der dem SPIEGEL vorliegt.

Demnach lieh FRV den Trierern imJuli 2001 „Risikokapital“ in Höhe von120000 Mark, um dem Verein den Aufstiegin die Zweite Liga zu ermöglichen. DieRückzahlungsmodalitäten muten an, alsseien die Bosse von Eintracht Trier mit ei-ner Schusswaffe bedroht worden, als sieunterschrieben. Denn sie zahlten nicht nurdas Darlehen zurück, sondern nach demAufstieg weitere 500000 Mark – als Risi-koprämie. Der damalige FRV-EigentümerRené Deffke, ein Berliner, ist noch heutestolz: „Det war ein jutes Jeschäft, wa?“

Etwas mehr Transparenz könnte nichtschaden. Wie das funktionieren kann, zeigtder englische Verband. Seit Anfang Juligelten auf der Insel strenge Regeln, die ineinem 38 Seiten umfassenden Kodex zu-sammengefasst sind. Demnach müssen li-zenzierte Berater von der Insel dem Ver-band spätestens fünf Tage nach einem Dealalle Zahlungsmodalitäten offenbaren.

Die Vereine wiederum sind verpflichtet,zukünftig zum 30. November jedes Jahreszu publizieren, an welchen Berater welcheSummen geflossen sind. Das britische Re-gelwerk dient auch als Vorlage für die Fifa,die vom kommenden Jahr an für die Ver-eine eine weitreichende Berichtspflichtüber Transferdetails einführen will.

Beim DFB laufen derweil die Vorberei-tungen für die nächste Vermittlerprüfungam 24. September. Wer sie besteht, darfsich – wie derzeit 262 Männer und Frauen– als lizenzierter Berater bezeichnen.

Über 100 Kandidaten haben sich gemel-det. Es ist nicht gerade die Intelligenzija,die sich da zweimal im Jahr in Frankfurtam Main versammelt. Die Durchfallquotebei dem Test liegt bei 75 Prozent.

Christoph Biermann, Jörg Kramer,

Michael Wulzinger

Berater Delgado

Kofferweise entwendetes

Beweismaterial

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Spieler Pizarro

Mehr als 21 Millionen

Dollar von Adidas

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Provisionsforderung Delgados

450000 Euro vom HSV

Page 97: Der Spiegel 2009 36

L I T E R A T U R

Auf der Geisterbahn

Es ist verdammt schwer, zu einerfesten Größe in der kleinen Welt

der deutschsprachigen Literatur zuwerden. Der österreichische Schriftstel-ler Thomas Glavinic, 37, hat es ge-schafft – indem er einen ganzen Romandarüber schrieb, wie verdammt schweres ist, zu einer von Kritikern und Le-sern beachteten Größe in der Welt derdeutschsprachigen Literatur zu werden.Dieses Buch war sehr witzig, mit schö-nem Furor geschrieben und erschienunter dem Titel „Das bin doch ich“ vorzwei Jahren; es wurde ziemlich viel Al-kohol darin getrunken und von einemSchriftsteller erzählt, der unbedingt aufdie Auswahlliste für den DeutschenBuchpreis will. Genau das hat Glavinicdann auch geschafft, inzwischen schonzweimal. 2007 war er mit „Das bindoch ich“ auf der Shortlist der sechsbesten deutschsprachigen Romane, indiesem Jahr hat ihn die Buchpreis-Juryfür „Das Leben der Wünsche“ schonmal auf der Longlist der besten zwan-zig platziert. Nur leider ist Glavinicsneues Buch, von der „Frankfurter All-

gemeinen“ bereits als„Meisterwerk“ beju-belt, vollkommen hu-morfrei und in einer oftunfassbar hölzernenSprache geschrieben.Auch der Plot klappert:Ein Klischee-Erfolgstypnamens Jonas, natür-lich Werber, natürlichmit süßen Kindern, ei-ner leicht zickigen Ehe-frau und einer ober-

scharfen Geliebten gesegnet, trifft darineine (sehr hässliche und paradoxer-weise männliche) gute Fee, die ihm ver-kündet, er habe drei Wünsche frei. Eräußert nur einen, nämlich den, „dasssich alle meine Wünsche erfüllen“. Da-mit ist er, wie es die philosophischeMoralkeule so will, in der Falle: Dennauch seine un- und halbbewusstenWünsche werden wahr. So liegt dieGattin bald tot in der Badewanne, soentgeht er ganz knapp einer Flugzeug-katastrophe und derlei Hokuspokusmehr. Für den Helden verwandelt sichdie ganze Welt in einen surrealistischenAlptraum, für den Leser wird „Das Le-ben der Wünsche“ zu einer öden Geis-terbahnfahrt durch die Vorhöllen einerschlampig zusammengeleimten Kolpor-tage. Verwünsch dir was.

Thomas Glavinic: „Das Leben der Wünsche“. HanserVerlag, München; 320 Seiten; 21,50 Euro.

124

Szene

P O P

„Drink Sister, Drink“

Balkan-Beats und amerikanischer R&B ist nicht gerade die Kombination, die pop-kulturell einleuchtet – es liegen einige Welten zwischen den Hochglanz-Video-

clips, mit denen Letzterer sich präsentiert, und der unrasierten, schnapsdurchtränk-ten Feierseligkeit Ersterer. Dabei besteht das Grundgerüst von beiden aus Rhyth-men, die sich problemlos verschmelzen lassen – Bläsersätze erfreuen sich in den

Karpaten ja ohnehinähnlicher Beliebtheitwie in den amerikani-schen Südstaaten. DieBerliner Sängerin RuthMaria Renner alias MissPlatnum führt nun vor,wie problemlos die bei-den Stile fusionieren. 28 Jahre ist sie alt, alsKind mit ihren Elternaus Rumänien eingewan-dert, und zwischen allden deutschen Künst-lern, von Peter Fox bisJan Delay, die sich inden vergangenen Jahrenihren eigenen Reim aufdie afroamerikanischeMusiktradition gemacht

haben, sticht sie mit bedingungsloser Originalität hervor. „The Sweetest Hangover“heißt ihre neue Platte, ihr mittlerweile drittes Album. Auf Englisch eingesungen,geht es sowohl um die großen Themen des Soul („Why Did You Do It“, „Where DidYou Go Boy“) wie um die der Balkanmusik („Drink Sister, Drink“, „I’m Broke“). In einem Stück wie „Fakebling“, das sich um die Faszination von teurem Schmuckdreht und mit großartig-vulgärem Akzent eingesungen ist, dürften sich die einen wiedie anderen wiederfinden.

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Miss Platnum

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„Julie & Julia“ ist das komödiantische Dop-pelporträt zweier Genießerinnen: JuliaChild, Gattin eines in Paris stationiertenUS-Diplomaten, verfällt der französischenKüche, schreibt einen Kochbuchklassiker(„Mastering the Art of French Cooking“)und wird in den sechziger Jahren zurberühmtesten Fernsehköchin Amerikas –und so populär, dass sie in der TV-Show„Saturday Night Live“ parodiert wird undals Inspiration für ein Musical dient. JuliePowell, eine New Yorker Angestellte,kocht Jahrzehnte später Childs Rezeptenach, verfasst darüber einen Blog undmacht schließlich selbst als Bestsellerauto-rin Karriere. Regisseurin Nora Ephron(„Schlaflos in Seattle“) kombiniert dieBiografien der beiden Frauen als Mi-schung aus Emanzipationsdrama undFarce. Dass bei der Zubereitung von Bœufbourguignon Spannung aufkommt, liegtjedoch vor allem an HauptdarstellerinMeryl Streep, die Julia Child als wunder-bar exaltierte Überköchin spielt.

Kino in Kürze

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Streep in „Julie & Julia“

Page 98: Der Spiegel 2009 36

F I L M

Aliens im Ghetto

Der Überraschungserfolg dieses Kinosommers entstand inAfrika. Der Science-Fiction-Film „District 9“, der in den

USA schon fast 100 Millionen Dollareingespielt hat, wurde von dem 29-jähri-gen südafrikanischen Regisseur NeillBlomkamp in den Slums von Johannes-burg gedreht. „Die Geschichte des Filmshat sich direkt aus der Stadt mit all ihrensozialen Gegensätzen und ihren Rassen-konflikten entwickelt“, sagt er. In demsemidokumentarischen Spektakel, vom„Herr der Ringe“-Macher Peter Jacksonproduziert, beschreibt der renommierteWerbefilmer Blomkamp eine neue

Apartheid – auf höchst unterhaltsame Weise. Außerirdische,die vor Jahren in Johannesburg gestrandet sind, werden in „District 9“ von den Menschen in Lagern gefangen gehal-ten und fristen dort ein kärgliches Dasein. „Die Aliens sindnicht nett und freundlich, sondern hässlich und gewalttätig,trotzdem soll sich der Zuschauer mit ihnen identifizieren“,

sagt Blomkamp. So hat er für sie sogareine eigene Kunstsprache erfunden unduntertitelt – damit sie „möglichst zivili-siert erscheinen“. Der Blockbuster ausAfrika läuft nächste Woche auch inDeutschland an. Wird sich Hollywoodnun mehr für das Kino auf dem verges-senen Kontinent interessieren? „Wohlkaum“, meint Blomkamp skeptisch.„Auch unser Film wird wenig bewirken.Wer die Wirklichkeit verändern will,muss leider zur Uno gehen.“

125

Kultur

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Szene aus „District 9“

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Antiker Pferdekopf von Waldgirmes

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Die Frankfurter Ar-

chäologin Gabriele

Rasbach, 47, über den

spektakulären Fund

eines römischen Bron-

zepferdekopfs

SPIEGEL: Frau Rasbach, Sie haben alsGrabungsleiterin im hessischen Wald-girmes auf dem Boden eines Brun-nens einen vergoldeten Pferdekopfgefunden – eine Sensation?Rasbach: Sensationell ist dafür garkein Ausdruck. In Waldgirmes gra-ben wir seit 14 Jahren. Für uns istdieser Fund absolut außergewöhn-lich, ein großer Glücksfall. Das Stückist besonders gut erhalten, weil es imWasser luftdicht konserviert wurde.Die größte Überraschung ist aber die hohe künstlerische Qualität. DerPferdekopf ist äußerst filigran gear-beitet und reich verziert. SPIEGEL: Wie gelangt ein solchesPrunkstück ins hessische Waldgebiet? Rasbach: Der antike Ort wurde vonden Römern im Jahr 3 vor Christusgebaut und sollte ein Verwaltungs-zentrum werden. In der Mitte standein Forumsgebäude und im Innenhofvermutlich dieses Reiterstandbild, alsAbbild des Kaisers Augustus.SPIEGEL: Vom Reiter selbst haben Sienur einen Schuh gefunden. Woherwissen Sie, wen die Statue darstellte? Rasbach: Es kann eigentlich nur Au-gustus gewesen sein – er war das politische Aushängeschild für die-se neueroberte Region. Der Schuh ist

ein typischer senatorischer Stiefel, dennur sehr hochrangige Römer trugen.SPIEGEL: Suchen Sie nun nach denübrigen Teilen des Standbildes? Rasbach: Wir sind ja keine Schatzgrä-ber, sondern betreiben wissenschaft-liche Forschungsgrabungen.SPIEGEL: Und welche Erkenntnisse ge-winnen Sie? Rasbach: Die Grabungsstätte ist des-halb besonders interessant, weil sieein friedlicher Begegnungsort vonRömern und Germanen war. DerBrunnen, in dem wir den Pferdekopfgefunden haben, enthielt auch Ha-selnüsse, Zwetschgen- oder Oliven-kerne. Dadurch können wir Speise-gewohnheiten untersuchen oder Han-delsverbindungen nachweisen. DieRömer haben hier Märkte gebaut unddie Einheimischen an die römischeVerwaltung gewöhnt. Wir untersu-chen die ersten Schritte eines friedli-chen Zivilisierungsprozesses. SPIEGEL: Der dann durch die Varus-schlacht im Jahre 9 nach Christus be-endet wurde. Wissen Sie, auf wel-chem Weg der Pferdekopf damals imBrunnen gelandet sein könnte?Rasbach: Es wäre möglich, dass dieGermanen den Pferdekopf ihren ei-genen Göttern geweiht und dann imBrunnen versenkt haben. Mit echtenPferdeköpfen wurde damals so ver-fahren. Das feingearbeitete römischeReiterstandbild muss auf die Germa-nen unglaublichen Eindruck gemachthaben. Es könnte als besondere Gabegedient haben.

A R C H Ä O L O G I E

„Wir sind keine Schatzgräber“

Page 99: Der Spiegel 2009 36

126 d e r s p i e g e l 3 6 / 2 0 0 9

Robert, Edward, John F. Kennedy 1963John F. Kennedy Jr. 1997 John F. Kennedy in Berlin 1963

Jacqueline, John F. Kennedy 1959

Edward Kennedy, Barack Obama in Washington 2008

Edward Kennedys Unfallwagen in Chappaquiddick 1969

Page 100: Der Spiegel 2009 36

Der Mast mit der amerikanischenFlagge war schon von weitem zusehen. Die Sonne schien, das Meer

leuchtete, die Wiese war frisch gemäht,und das Sommerhaus mit seinen Fenster-läden und Schindeln strahlte weiß.

Es war das Abbild einer amerikanischenPostkarte. Es war wie in einer Kulisse, dieerzählt von Nachmittagen auf dem Segel-boot draußen im Nantucket Sound, vonden Footballspielen der drei Brüder, diesich in Badehosen aufmachten, die Weltzu erobern.

Anthony Kennedy Shriver, 44, hatte imMai vergangenen Jahres zu einem großenGartenfest auf das Anwesen der Kennedysin Hyannis Port eingeladen, dorthin, woschon der Großvater gelebt hatte: Joseph P.Kennedy, der sein Geld erst an der Börseverdiente und später während der Prohi-bition mit dem Schmuggel von Alkohol.

Der Enkel Anthony wollte Spenden sam-meln an diesem Tag, insgesamt drei Millio-nen Dollar für eine Stiftung, die sich umBehinderte kümmert. Die Tische waren mitweißen und roten Blumen geschmückt,Mozzarella mit Cherrytomaten, Rinderfiletmit grünem Spargel wurden gereicht.

Carl Lewis, der ehemalige Sprinter,stand dort, Schönheitsköniginnen aus Mas-sachusetts und auch Tom Brady, der Foot-ballstar, waren geladen. Jemand gab denguten Rat, nicht so viel zu essen, weil esspäter noch Hummer geben sollte.

Eigentlich hätte der 76-jährige Ted Ken-nedy an diesem Tag die Rede halten sollen.Morgens noch hatte er mit seinen Hundenauf der Wiese gespielt, beim Frühstück aberwar er plötzlich zusammengebrochen undmusste mit einem Hubschrauber ins Kran-kenhaus geflogen werden, wo schließlichein Tumor in seinem Kopf gefunden wurde.An diesem Tag im Mai 2008 schlich sichder Tod in das Leben von Ted Kennedy.

Niemand wäre überrascht gewesen,wenn die Familie das Fest abgesagt hätte.Stattdessen aber rief Anthony KennedyShriver die Gäste zusammen und hielt einekleine Rede über seine Stiftung und dieSpenden, die er einsammeln wollte an die-sem Wochenende. Er trug Jeans und einbuntes Radler-Shirt, er war morgens mitdem Rennrad unterwegs gewesen und hat-te sich noch nicht geduscht.

Als Kennedy brauchte er keinen Anzug,um ernst genommen zu werden, auchwenn alle anderen einen trugen. „Ich willjetzt nichts Unpassendes sagen, aber wennOnkel Teddy schon mal nicht hier ist, soll-ten wir das ausnutzen. Ich weiß, dass sichviele Leute in den letzten Jahren sein Hausgern anschauen wollten, also nutzen SieIhre Chance, es ist immer ein bisschenschwieriger, wenn er zu Hause ist. Wir ha-ben jetzt sturmfreie Bude.“

Haltung bewahren, niemals aufgeben.Der Traum muss weiterleben. Ted Kenne-dy hat diesen Satz immer wieder gesagt.Zum ersten Mal 1968, als sein BruderRobert im Präsidentschaftswahlkampf er-mordet wurde. Er hat ihn auch gesagt, alser 1980 selbst die letzte Chance verpasste,ins Weiße Haus einzuziehen. Der Traummuss weiterleben – deswegen hielt auchdamals, im vergangenen Jahr, sein NeffeAnthony die Rede, deswegen gab es wei-terhin Bier und gutes Essen. Mag passie-ren, was will, es muss immer weitergehen.Auch jetzt, nach dem Tod von Ted Ken-nedy, des letzten Großen der Dynastie, imAlter von 77 Jahren am vorigen Dienstag.

So sehen die Kennedys das, und so siehtes die Welt. Es ist die Familie, die einenneuen Stil von Politik erfand, in der sichWashington und Hollywood zusammen-fanden, Gerechtigkeit und Glamour, Auf-bruch und Eleganz. Sie schuf ein neuesBild von Politik, in der Parteiprogrammekeine Rolle spielten, sondern große Wortewie Freiheit und Optimismus.

Den Traum gibt es jetzt seit bald 50 Jah-ren, und wo immer auf der Welt heute einjunger Politiker auftritt, der gut reden kannund einen Neuanfang verspricht, ist erauch wie ein Kennedy.

Der Name ist zum Maßstab gewordenfür die Idee von einer neuen, besserenWelt, auch wenn die lebenden jüngerenKennedys, 26 Cousins und Cousinen derdritten Generation, das Versprechen ihresgroßen Namens niemals mehr einlösenkönnen. „Ich mache mir nichts vor“, sag-te Anthony Kennedy Shriver im vergange-nen Jahr auf dem Sitz seiner Familie, „dieLeute kommen wegen unseres Namens.Und deswegen benutze ich ihn.“

Die drei Brüder, John, Robert und Ed-ward, waren die Keimzelle dieses Traums,

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M Y T H E N

Der letzte ErbeSie standen für Jugend und Optimismus, verhießen Fortschritt und

Aufbruch: Auch nach dem Tod des Senators Ted Kennedy, des letzten Großen der amerikanischen Familiendynastie, ist

die Strahlkraft des legendären Namens nicht erloschen.

Caroline Kennedy 2008

Attentatsopfer Robert Kennedy 1968

John F. Kennedy Jr., Familie 1963

Kultur

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Page 101: Der Spiegel 2009 36

Maria Shriver geb. 1955verheiratet mitArnold Schwarzenegger

Anthony Paul Kennedy Shriver

geb. 1965

fünf Kinder, darunter:

Robert „Bobby“ Sargent

Shriver III geb. 1954

DieKennedys

vier Kinder

vier Kinder

kinderlos

Joseph PatrickKennedy Jr. 1915–1944

2. Weltkrieg

Robert F. „Bobby“

Kennedy 1925–1968

Attentat

kinderlosRosemary Kennedy

1918–2005

Eunice Kennedy

Shriver 1921– 2009

Edward Moore „Ted“

Kennedy 1932 –2009

John F. „Jack“

Kennedy 1917 –196335. Präsident der USA

Attentat

John F. Kennedy Jr. 1960–1999

Flugzeugabsturz

Caroline Bouvier Kennedy

geb. 1957

Rose Fitzgerald

Kennedy

1890– 1995

Joseph Patrick

Kennedy

1888– 1969

Kennedys,die untertragischenUmständenstarben

kinderlosKathleen KennedyCavendish 1920–1948

Flugzeugabsturz

Patricia KennedyLawford 1924 –2006

Jean Ann KennedySmith geb. 1928

David Kennedy 1955–1984

Drogen

Michael LeMoyne Kennedy

1958–1997

Skiunfall

elf Kinder, darunter:

Patrick J. Kennedy geb. 1967

drei Kinder, darunter:

genhaftigkeit dieses Präsidenten. Zugleichhat dieser Tod seine Präsidentschaft voreinem harten historischen Urteil bewahrt.Nicht die Kuba-Krise und die Killerkom-mandos prägen sie bis heute, nicht die Er-

* Vorn: Patricia, Rose, Edward, Joseph, Rosemary, Eunice;hinten: John, Jean, Robert, Kathleen.

eine kleine Bande, ehrgei-zig, sympathisch, sexy. Siewurden getrieben von denAmbitionen ihres Vaters, derselbst einmal Präsident wer-den wollte, aber scheiterte,auch weil er als Botschafterder USA in London Sympa-thie für Adolf Hitler gezeigthatte.

Sie wollten sich messen,immer besser sein als die an-deren, im Football, beimTennis, beim Debattieren.Der Vater erzog sie wiebeim Militär, etwas wert warnur der, der es nach obenschaffte, in ein politischesAmt, und schließlich zurPräsidentschaft. Er formteaus der Familie eine Firma,bis heute gibt sie jedem sei-nen Platz, bietet sie eineChance, sich zu bewähren,um aufzusteigen.

Als sich vor ein paar Jah-ren der Rocksänger Bonobei Teds Schwester Eunicemeldete, weil auch die Ken-nedys etwas für Afrika tunsollten, verwies sie ihn nichtetwa an ihren Bruder Ted,sondern an ihren Sohn Bob-by Shriver, der von da anmit Bono Geld für Afrikasammelte. Es galt das Prin-zip, dass immer der Nächsteaufrückte, wenn einer sei-nen Platz freimachte. Nurkein Stillstand, immer wei-ter mit der Stafette.

Stark, unerschütterlich,optimistisch, das sind dieKennedys, sie sind aber auchein Meisterwerk der Selbst-inszenierung. Lange sollteniemand etwas wissen vonden Schwächen, von denSchlägen, die auch dieseFamilie trafen. Von Rose-mary Kennedy, der ältestenSchwester von JFK, die geis-tig behindert war und nacheiner riskanten und miss-glückten Operation wegge-sperrt wurde.

Von den Schmerzen JohnF. Kennedys, der immerkränklich war, manchmalkaum in der Lage zu regie-ren, von seinem schwachenRücken und den Cortisonspritzen, mit de-nen er fit gehalten werden musste. Nie-mand sollte das sehen, auch das gehörtezum System Kennedy: Nur so konnte dasCharisma der Jugend zum Kennedy-Kultwerden.

Der Mord an John F. Kennedy 1963 inDallas hat dieses Bild eingefroren, die Jun-

innerung an seine zahlrei-chen Affären, sondern dieunvergesslichen Bilder, vonseiner Freundschaft mitFrank Sinatra, von MarilynMonroe, die „Happy Birth-day, Mr. President“ für ihnhauchte, und von seinerTochter „Sweet Caroline“mit Pferdeschwanz.

Sein Tod hat erst den My-thos geschaffen, eine ArtFranchise, eine Lizenz fürseine Nachfahren, die JFKsRolle, seine Präsidentschaftstets für ihre Zwecke um-deuteten.

Seine unvollendete Amts-zeit wurde zur Projektions-fläche für allerlei Wünscheund Karrieren; jeder auf sei-ne Art spann weiter amMythos. Seine Frau Jacque-line verbreitete überall nachseinem Tod, wie sehr JohnF. Kennedy die Sage vonCamelot liebte, die Ge-schichte von König Artusund seinen Rittern der Ta-felrunde, ein König, der fürsein Land starb und zumHelden wurde.

Sein Bruder Robert führ-te in seinem Namen denKampf für mehr Gleichbe-rechtigung der Rassen, ob-wohl sich John F. Kennedyfür die Bürgerrechtsbewe-gung von Martin LutherKing nur sehr zögerlich er-wärmt hatte. Und TeddyKennedy nutzte den Ruf seines Bruders für seinenKampf um mehr soziale Ge-rechtigkeit, obwohl JFK inWirklichkeit nie der liberaleVorzeigepräsident war, denauch seine Parteifreundespäter aus ihm zu machenversuchten.

Immer mehr entrückteder Mythos, und jede Tragö-die, die den Mythos nähr-te, schuf neue, übermensch-liche Erwartungen an dieErben.

Erst der Mord an John,dann der Mord an Bobby,der gute Chancen hatte,auch Präsident zu werden,in einem Hotel in Los An-

geles im Sommer 1968. Dann 1969 TeddysAutounfall in Chappaquiddick mit demTod seiner Begleiterin Mary Jo Kopechne,der für die Kennedys ein für alle Mal dasEnde der Träume vom Weißen Haus be-siegelte.

Ted Kennedys Sohn Patrick fragte sicheinmal, ob er überhaupt „genug Kenne-

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Kennedy-Clan 1934*: Das Versprechen eines großen Namens einlösen

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dy“ sei: hart genug, ehrgeizig genug,erfolgreich genug. Nicht einmal sein Va-ter traute ihm anfangs ein Amt zu. Der„Boston Globe“, das Heimatblatt desClans, nannte ihn einen „Un-Kennedy“,das Gegenteil für jung, sexy, männlich, die lebende Antithese zum Mythos vonCamelot.

Patrick Kennedy ist heute Abgeordneterim Repräsentantenhaus, seit dem Tod sei-nes Vaters in der vergangenen Woche derletzte gebürtige Kennedy, der ein natio-nales politisches Amt innehat; aber jederöffentliche Auftritt, selbst ein Interviewscheint für ihn eine Tortur.

Die Legende ist längst zur Bürde ge-worden. Einige haben sich abgewendetwie die Ehefrau von Arnold Schwarzen-egger, Maria Shriver, die sich stets gegendas Ansinnen gewehrt hatte, ein politi-sches Amt anzustreben. Caroline Ken-nedy, die Tochter von JFK, zog sich inletzter Minute zurück, als der Clan sie zurKandidatin für den frei gewordenen Se-natssitz von Hillary Clinton bestimmenwollte.

Andere aus der Familie wollten Großeswie ihre Väter und Onkel und verwechsel-ten wahre Heldentaten mit halsbrecheri-schen Mutproben. Sie versuchten hip zusein, abenteuerlich, provokant, um jedenPreis, aber sie verloren sich im Grenzgebietzwischen Glamour und Klamauk.

Sex, Drogen, Alkohol beschädigten denMythos von Amerikas „First Family“. 1984starb Robert Kennedys Sohn David in Flo-rida an einer Überdosis Drogen. 1997 ver-unglückte dessen Bruder Michael beimSkifahren in Aspen tödlich. Und 1999 ka-men John F. Kennedy Jr., damals derheimliche Kronprinz, seine Frau Carolynund deren Schwester bei einem Flugzeug-absturz ums Leben.

Ted Kennedy war der letzte großeStammhalter der Kennedys, aber er warkein großer Redner und auch kein Vi-sionär. Stattdessen hat er in seinen mehrals 40 Jahren im Kapitol 2500 Gesetze imSenat eingebracht. Er war der erste undeinzige der Kennedy-Brüder, der graueHaare bekommen hat, dem alle zuschauenkonnten beim Altern.

Seit einem Flugzeugabsturz 1964 hatte erchronische Rücken- und Nackenschmer-zen, er wurde bald übergewichtig, sein Ge-sicht gezeichnet vom Alkohol und vom Al-ter. Aber den Mythos der Kennedys konn-te er trotzdem bewahren.

Als sich Barack Obama im vergangenenJahr aufmachte, Präsident zu werden,suchte er die Unterstützung der Kennedys,er wollte der erste schwarze Kennedy wer-den. Aber er brauchte nicht den jugend-lichen Charme, der die Kennedys berühmtgemacht hat, den Glamour des Clans, Cha-risma hatte er selbst genug.

Er brauchte jemanden, der ihm Glaub-würdigkeit verlieh, er brauchte den My-thos. Marc Hujer

Lore ist leidenschaftlich, aber nichtmehr ganz jung, über sechzig. DieBibliothekarin leidet darunter, dass

der Architekt Harry, mit dem sie schon 40Jahre zusammenlebt, lieber im Garten„zupft und kratzt und pflanzt“, statt sichmit ihr zu befassen und zum Beispiel zulesen, was sie liest: „Du liest nicht, du in-teressierst dich nicht, du verblödest.“

Er ignoriert die von ihr organisierteDichterlesung mit Martin Walser (immer-hin hat er mal, so wörtlich, „das flüchtigePferd“ verschlungen), spielt lieber Golf(obwohl er stets Golfspieler zum Kotzenfand), bagatellisiert seine einstigen Seiten-sprünge mit Mira und Verena („Was füreine Verena?“), zeigt sich aber gerührt, alsLore zugibt, sie habe auf das Grab derMutter weiße Rosen gelegt. Er war vorhindort und hat die Blumen gesehen. Er fragt

sie: „Du hattest sie lieber, als du zugibst,oder?“ Sie: „Ich weiß nicht. Vielleicht. Ichhab einfach so ein Verlustgefühl. So einLoch.“ Er kontert wie ein Gentleman alterSchule: „Das füllen wir mit einem schönenSeidenkleid.“ Sie: „Harry …“ Er: „Ja?“Sie: „Ich glaube, ich liebe dich noch.“ Er:„Sag mir Bescheid, wenn du es genauweißt.“ Sie: „Du alter Blödmann.“

So vertrackt ist sie wohl, die „Alte Lie-be“ eines würdigen Paars, das über Jahr-zehnte zusammengeblieben ist. Schroffund zärtlich, kratzbürstig und versöhnlich,ungeduldig und schwelgend in „Weißt dunoch“-Sentimentalität, ewig hadernd mitdem Lauf der Welt und den Sprüchen desPartners, aber auch voller Selbstzweifel.

„Alte Liebe“ ist der Titel eines unter-haltsamen Romans, den Elke Heidenreich,66, und Bernd Schroeder, 65, gemeinsam

Kultur

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A U T O R E N

„Mein Gott, wein doch nicht“„Alte Liebe“ heißt ein melancholisch heiterer Dialogroman,

den Elke Heidenreich und Bernd Schroeder gemeinsam verfassthaben. Spiegelt das Buch die gescheiterte Ehe der beiden?

Partner Heidenreich, Schroeder: Stück für Stück um die Wette geschrieben

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geschrieben haben und der am 7. Septem-ber erscheint**.

Heidenreich und Schroeder leben inKöln. „Alte Liebe“ ist der Name eines still-gelegten Rheinschiffs, auf dem die beidenhin und wieder ein Bier trinken – „direktüber den Wellen“, wie Heidenreich, jetztganz die „Lesen!“-Domina ihrer langjähri-gen ZDF-Sendung, betont. Ihr skeptischblinzelnder Blick scheint zu prüfen, ob dieAnspielung auf Grillparzers Stück „DesMeeres und der Liebe Wellen“ wohl ver-standen worden ist.

Der Liebe Wellen haben auch sie einstwarm umspült: Heidenreich und Schroederhaben 1972 geheiratet und waren bis 1995ein Paar, sie verfassten gemeinsam Hör-und Fernsehspiele, auch den Erzählungs-band „Rudernde Hunde“, der 2002 einBestseller wurde, obwohl es kaum Rezen-sionen gab. „Heute“, sagt Schroeder, derbrummelnde, bärtige Riese und Autor be-achtlicher Romane wie „Die Madonnina“und „Unter Brüdern“, „da wissen wir oftnicht mehr genau, wer von uns was indiesen Gemeinschaftswerken geschriebenhat.“ Die beiden ergänzen sich gut: Er isteher der Dramaturg und „Konstrukteur“(sie über ihn), sie glänzt vor allem als spru-delnde Monolog- und Dialog-schreiberin.

Obwohl sie schon lange ge-trennt leben, arbeiten sie nochgut zusammen. Heidenreich: „Erist und bleibt meine Familie, wirkennen uns seit der Studenten-zeit, ich habe ja keine Elternmehr, auch keine Geschwister.“

Lore und Harry, die Wechsel-redner des neuen Romans, pol-tern, pöbeln („Hör auf mit demScheiß“), räsonieren, grummelnund gurren, wie ihre literarischenSchöpfer dies gern im Leben tun.In Heidenreichs Geschichten-band „Der Welt den Rücken“(2001) gibt es ein Paar, Alma undBen, das mental zu den Vorfah-ren von Lore und Harry zählt.Diese Ehepaare beharken einander mal imskurrilen Stil von Loriot („Bitte sagen Siejetzt nichts“), mal mit der absurden Grau-samkeit, die George und Martha in Ed-ward Albees Stück „Wer hat Angst vor Vir-ginia Woolf?“ entwickeln.

Steckt im Muster dieser Redeschlachtenein Rückblick auf die reale, gemeinsameEhehölle? Manches passt auffällig zumneuen Roman: Schroeder ist wirklich einGartenfreak, und Heidenreichs Lesesuchtist dem Beruf der Bibliothekarin rechtnahe, auch deren Redefuror kennt manaus dem Heidenreich-Leben. Das Alter derAkteure und ihr Leiden an miesen Hotelswirken ebenfalls authentisch.

Heidenreich reagiert dennoch leicht er-regt auf die Frage: „Nein, autobiografischist nix von alledem! Das sind wirklich nichtwir!“ Schroeder assistiert gelassen: „Wir

erzählen nicht unser Leben, aber es ist vielvon unserem Temperament darin, und eswurde aus eigenen Erfahrungen, auch ausErlebnissen von und mit Freunden, ge-schöpft.“ Sie hätten sich eines Tages ein-fach vorgenommen: „Lass uns mal zusam-men eine Geschichte schreiben über einälteres Ehepaar aus der 68er-Generation,darüber, wie die heute so denken undfühlen und zurückblicken. Die altern heu-te anders, unkonventioneller als die Elternder ersten Nachkriegsgeneration.“

Dann haben sie ziemlich spontan, „or-ganisch Stück für Stück“ (Schroeder), umdie Wette geschrieben, es war ein span-nendes Spiel mit- und gegeneinander: Erstdenkt Lore solo über sich nach, dannzankt sie mit Harry – der Part von Hei-denreich, die in diesem Dialog auchHarrys Antworten formuliert. Dann sin-niert Harry vor sich hin, bis er mit Lorespricht – dafür ist Schroeder zuständig. Sogeht es hin und her, ob sie nun über dasEssen, über eine hysterische Schwägerin,den Garten, das Bier mit Kumpel Ede oderdie katholische Kirche reden, ob die De-menz der Mutter oder die lächerlichePrunkhochzeit der durchgeknallten Toch-ter in Leipzig zu verhandeln ist. Harry hat,

im ergreifenden „Epilog“, schließlich dasletzte Wort.

Heidenreich und Schroeder haben sichdie jeweils neueste Folge über den Com-puter zugespielt, dann führte der anderedie Handlung fort. Die Texte haben sie sichspäter zur Feinabstimmung vorgelesen.

In Kapitel 24 befördert Schroeder aliasHarry Lores Bruder Theo ins Jenseits, ei-nen Hochstapler und Lügner, den Heiden-reich erfunden hat – was Schroeder nichtgut fand. So fährt Theo, unmittelbar nacheiner Krebsdiagnose, eines Morgens „mitüberhöhter Geschwindigkeit auf der Au-tobahn frontal an einen Brückenpfeiler“ –Selbstmord. Die Todesart ist ein versteck-

* Szene aus dem Film „Wer hat Angst vor VirginiaWoolf?“ mit Elizabeth Taylor und Richard Burton, 1966.** Elke Heidenreich, Bernd Schroeder: „Alte Liebe“.Hanser Verlag, München; 192 Seiten; 17,90 Euro.

tes Zitat aus einer von Heidenreichs Er-zählungen, wo eine Tochter einen solchenAufprall der neben ihr im Auto sitzendenMutter androht. Theos Ende ist ein subti-ler Racheakt Schroeders.

Ausgerechnet bei der Hochzeitsfeier derTochter, vorher ein Streit- und Keifthema,fängt die Beziehung der beiden noch ein-mal erotisches Feuer. „Sind wir alte Leu-te?“ Nein, findet Lore und erzählt: „Harryhat dem Chauffeur gewunken, und wirsind sofort ins Hotel gefahren und. Ja. Und.Wie lange ist es her, das letzte Mal? Ganzlange, wenn ich bedenke, wie schön eswar.“ Später er: „Ich kann’s noch, was?“Sie: „Du blöder alter Angeber. Ja, dukannst es noch.“ Er: „Ich bin glücklich,Lore.“ – „Ich auch.“

„Alte Liebe“ ist ein wunderbar leichtdahinfließender Dialogroman, der aberletztlich schwer wiegt. Ein bühnenreifesCapriccio, doch getragen von Jahrzehntengemeinsamer Lebenserfahrung, also auchvon einer gewissen Schwermut: „MeinGott, Lore, wein doch nicht.“

Elke Heidenreich ist heute mit dem 28Jahre jüngeren Komponisten Marc-AurelFloros liiert. Der nimmt an der alten Liebe keinen Anstoß. Er freut sich, so

bestätigen es beide, in Schroe-der „einen guten Freund mehr“zu haben.

Von der „Bild“-Zeitung wurdeHeidenreich neulich Hand inHand mit ihrem „jungen Le-bensgefährten“ aufgestöbert, beiden Nibelungen-Festspielen inWorms. Hat sie unter der Publi-city gelitten? Heidenreich: „Nein,wir hatten diese Sache ja nichtverheimlicht. Neu war das Foto,das in Worms jemand geschos-sen hat. Wir sind seit knapp vierJahren zusammen, so lange ar-beiten wir auch schon zusam-men.“ Sie schrieb Floros Libret-ti für Opern, er berät sie, wennsie die Titel für die neue „EditionElke Heidenreich bei C. Bertels-

mann“ aussucht. Die ersten vier Bände derReihe, die sich dem Wechselspiel von Mu-sik und Literatur widmet, sind gerade er-schienen, darunter die legendäre Verdi-Biografie von Franz Werfel.

Die Verbindung mit Floros hat für Hei-denreich eine lebensgeschichtliche Dimen-sion: „Meine Liebe ist immer die Musikgewesen, mein Beruf die Literatur.“ Musikund Literatur haben sie, die über Jahre in einer Pflegefamilie aufwuchs, in früherJugend über das Fehlen eines intaktenElternhauses hinweggetröstet.

Der Abschied von ihrer ZDF-Sendung„Lesen!“ 2008 – eine Variante des Formatsgibt’s im Internet unter litcolony.de – betrafden Beruf, er verletzte nicht das Herz derstreitlustigen Dame. „Kein Absturz“, sagtsie. Insofern: keine Tränen bei Elke Hei-denreich. Mathias Schreiber

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Romanthema Ehestreit*: Kratzbürstige Rededuelle

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Raus, hinaus aus Berlin, RichtungScharmützelsee, immer leerer wer-den die Straßen, dann kommt schon

das Dorf, der Feldweg, das Sommerhaus.Im Garten, am Eingang, steht ein Pflau-menbaum. Er trägt schwer an seinenFrüchten und am Regen der vergangenenNacht. Still ist es hier, merkwürdig, dass erso abgeschieden wohnt, dieser Mann, denkaum einer kennt außerhalb der Kino-branche und der doch seit mehr als fünfJahrzehnten die ganz berühmten Groß-stadtfilme erfindet. Berlin-Filme, jung undschnell und brennend vor Gefühl: „Berlin– Ecke Schönhauser“, „Solo Sunny“,„Sommer vorm Balkon“.

Wolfgang Kohlhaase ist einer der wich-tigsten Drehbuchautoren der deutschenFilmgeschichte, und dass hierzulandeDrehbuchautoren nicht berühmt werden,dafür kann er nichts. Ein Film gilt heute inDeutschland als Werk eines Regisseurs –„nur in der DDR war Besitz nicht so wich-tig“, sagt er, der einmal DDR-Bürger war,mit einem heiseren Lachen.

Nun bittet er in sein Haus, läuft durchdie Räume, in denen er lebt und arbei-tet. Tatsächlich hängt das bei ihm engzusammen, leben und arbeiten: Immerwieder kommt Besuch aus der Stadt, man redet und trinkt ungarischen Schnaps,später dann arbeitet Kohlhaase in einerder vielen Sitzecken weiter an seinemDrehbuch, einen festen Schreibtisch hat er nicht. Und es kann sein, dass ein Satz, der kurz zuvor fiel, als die Freundenoch da waren, hineinfließt in das neue Werk.

Kohlhaase zeigt das Haus und den Gar-ten und die Katzen, fünf laufen hier her-um, auch aus praktischen Erwägungen:„Wenn man fünf hat, ist immer eine ge-sund.“ Eine Katze, Couscous, bleibt in sei-ner Nähe, sie ist dick und schwarz und hatnur noch einen kurzen Schwanz; Kohl-haase erzählt, dass sie eines Tages im Tür-rahmen saß, und dann kam ein Windstoßund schlug die Tür zu, da war er halt ab,der halbe Schwanz. Eigentlich ungerührthabe die Katze die Verletzung hingenom-men, als wundere sie sich, wie das Lebenso spielen kann.

Kohlhaase, Jahrgang 1931, erzählt vomSchicksal dieser Katze, als sei das eine Pa-rabel auf sein eigenes Dasein. Verwundetist auch er durch die Zeitläufte: hineinge-

boren gerade eben noch in eine taumeln-de Weimarer Republik, aufgewachsen inder Nazi-Zeit, dann die vier JahrzehnteDDR, zwei jetzt schon in der neuen Bun-desrepublik. Durch all das ist er „durch-gekommen“, mit Blessuren, aber immer-hin „durchgekommen“. Und wenn manfragt, ob das denn reiche als Haltung, dannantwortet er: „Durchkommen, das ist

schon was.“ „Man sucht sich seine Zeitnicht aus, seine Eltern nicht, auch nichtsein Land.“

Was ihm half dabei, war sein Humor,sein sinnliches, durch kein Funktionärsge-quatsche irritierbares Verhältnis zur Spra-che, zum Dialog. Und letztlich stört ihnauch das Scheitern nicht, die Dinge, dienicht ganz gelingen. Im Gegenteil: Aus den

Kultur

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F I L M

Ein Mann der ZwischengrößeDer Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase schreibt seit mehr als 50 Jahren deutsche Filmgeschichte,

von der DDR bis in die Gegenwart. Sein neues Werk „Whisky mit Wodka“ ist eine Tragikomödie über die Kinobranche – und damit auch eine Bilanz seiner Karriere.

Autor Kohlhaase: „Durchkommen, das ist schon was“

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Unebenheiten des Lebens ergeben sichStoffe, ergibt sich Humor.

„Ist ohne Frühstück“, sagt in Kohlhaases„Sommer vorm Balkon“ eine junge Frauzu ihrem Liebhaber, als sie ihn am Mor-gen danach vor die Tür setzt. Und als derprotestiert, fügt sie hinzu: „Ist auch ohneDiskussion.“

Kohlhaase hat diese wunderbare Sen-tenz abgeschrieben: bei sich selbst. „Istauch ohne Diskussion“, so wehrte sich dieunglückliche Sängerin in „Solo Sunny“ ge-gen klammernde Männer. „Solo Sunny“ragte schon damals heraus aus den Filmender DDR-Produktion, weil das Werk auchim Westen ernst genommen wurde. DieHauptdarstellerin Renate Krößner gewanndafür bei den (West-)Berliner Filmfest-spielen 1980 einen Silbernen Bären.

Kohlhaase ist einer der wenigen ost-deutschen Filmschaffenden, deren Karrie-re das Ende der DDR überdauert hat. In

den neunziger Jahren schrieb er, unter an-derem, das Drehbuch für eine Neuver-filmung des „Hauptmann von Köpenick“mit Harald Juhnke und drehte eine TV-Dokumentation über den von den Nazisverfolgten jüdischen Gelehrten VictorKlemperer. Außerdem arbeitete Kohlhaasegemeinsam mit seinem westdeutschen Re-giekollegen Volker Schlöndorff ein Kapiteldeutsch-deutscher Geschichte auf: „DieStille nach dem Schuss“ zeichnet das Le-ben einer RAF-Terroristin nach, die in derDDR untertaucht.

Doch vor allem bei „Sommer vorm Bal-kon“, seiner Tragikomödie über die Freund-schaft zweier junger Frauen, die gelegentlichvon diversen Männern auf der Durchreisegestört wird, klang 2005 wieder jener Dia-logwitz durch, der Kohlhaase zu DDR-Zei-ten einzigartig machte: ein knapper, lako-nischer Ton, lebensklug, also melancholisch,manchmal sogar bitter. Ein Ton, der sich

auch durch Kohlhaases neuen Film zieht,der diese Woche in die Kinos kommt. Erheißt „Whisky mit Wodka“, wieder eineTragikomödie, und wie schon bei „Sommervorm Balkon“ führt Andreas Dresen Regie.

„Whisky mit Wodka“ ist ein Film, der aneinem Filmset spielt, er kreist um Schau-spieler zwischen Larmoyanz und Größen-wahn und einen feigen Regisseur. Und ja:Getrunken wird auch, und falls die Be-hauptung stimmt, dass Kinder und Be-trunkene die Wahrheit sagen, dann ist„Whisky mit Wodka“ ein sehr wahrer Film.

Komisch ist er übrigens auch. HenryHübchen verkörpert den SchauspielstarOtto Kullberg, einen selbstverliebten Cha-rismatiker mit einem Alkoholproblem. AlsOtto betrunken einen Drehtag vergeigt,wird ein Ersatzschauspieler angeheuert,mit dem zur Sicherheit alle Szenen nocheinmal gedreht werden sollen.

Natürlich gibt es sofort Streit. Das ganzeFilmteam leidet unter dem Duell der bei-den Akteure: der Regisseur (gespielt vonSylvester Groth), die Hauptdarstellerin(Corinna Harfouch), die Nachwuchsaktrice,der Produzent, die Techniker. Sogar demKameraassistenten gönnt Kohlhaases Buchmehrere Auftritte und ein paar Zeilen Text.Das einzige Teammitglied, das fehlt in„Whisky mit Wodka“, ist der Drehbuch-autor, Kohlhaases Alter Ego. Zufall?

Eher nicht. Autoren, die beim Dreh auf-tauchen, „werden von einem Teil der Ver-anstaltung als störend empfunden“, sagtKohlhaase, und das komische Potential,das in solchen Auftritten liegen könnte,wollte er dann lieber doch nicht ausschöp-fen, auch weil das Ganze „kein Kabarettüber Filmemachen“ werden sollte.

Wer will, kann „Whisky mit Wodka“dennoch für eine Bilanz von KohlhaasesKarriere halten, vielleicht sogar für die sei-nes Lebens: ein mal zärtlicher, mal gna-denloser Blick von außen auf menschlicheSchwächen, hier am Beispiel der Kino-branche. So direkt würde Kohlhaase selbstdas allerdings nie formulieren. „Die großenThemen, die immer wiederkehren, sindLiebe und Tod und Wetter“, sagt er statt-dessen und macht eine kleine Kunstpause,um der Pointe hinterherzuhorchen.

Es sind oft nur kurze Dialoge und Ne-benszenen – aber immer wieder kommt erin seinen Drehbüchern auf das deutsch-deutsche Dilemma zu sprechen. CorinnaHarfouch sagt in „Whisky mit Wodka“ zueinem Kollegen: „Sie sind ja aus demOsten, wie man früher sagte. Da wurdedie Kunst doch einerseits behindert undandererseits sehr ernst genommen, war dasso?“ „So ungefähr“, lautet die Antwort.

Im Fernsehfilm „Haus und Kind“ schicktKohlhaase ein Berliner Westpaar in dieBrandenburger Provinz**. Sie entdecken

* Oben: mit Valery Tscheplanowa, Henry Hübchen, Co-rinna Harfouch; unten: mit Hübchen, Markus Hering.** Sendetermin: Mittwoch, 7. Oktober, 20.15 Uhr, ARD.

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Szenen aus „Whisky mit Wodka“*: Schauspieler zwischen Larmoyanz und Größenwahn

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ein Haus, in dem eine alte Frau vor sich hinvegetiert. Sie wollen das Haus haben, amEnde bringen sie die Frau fast um und mer-ken gar nicht, was sie da tun, sie wollen nurdas Beste: „Das Prinzip ist ja nicht, böseMenschen nehmen guten Menschen etwasweg, sondern: Die Menschen sind in unter-schiedlichen Lagen“, sagt Kohlhaase und willdamit nicht nur den Film erklären, sondernden ganzen mühsamen Einheitsprozess.

Die Guten gegen die Bösen, solche Fil-me macht er nicht – es würde nicht passen,sein eigenes Leben ist nicht so gelaufen. Ererzählt, dass er eigentlich immer zwischenallen Prinzipien hing. Wieder hat er eineParabel parat, mit der er erklärt, was er da-mit meint: In der DDR fand er keine pas-senden Hosen, entweder waren sie ihm zugroß oder zu klein. Bei seinen Reisen in

den Westen – er durfte reisen – fand erdagegen Hosen. Irgendwann fragte er ei-nen Wirtschaftsfunktionär, woran das lie-gen könne. Antwort: „In der DDR gibt eskeine Zwischengrößen. Und Sie habenwohl eine Zwischengröße.“ Das war dieLösung für ihn, auf einmal erkannte ersich: als Mann der Zwischengröße.

Kohlhaase mochte die DDR, weil es an-geblich „einen Vorrat an Utopie“ gab, auchweil Menschen wie Bertolt Brecht undHelene Weigel oder Anna Seghers und John

* „Sommer vorm Balkon“, 2005 (o.), „Solo Sunny“, 1980,„Die Stille nach dem Schuss“, 2000.

Heartfield dorthin gekommen waren „unddie Potenz von Lebenswerken mitbrach-ten“. Gleichzeitig litt er an dem Staat. EinFilm über Fabrikarbeiter, dessen Drehbucher geschrieben hatte, „Berlin um dieEcke“, war den Zensurbürokraten zu bri-sant und verschwand 1965 im Giftschrank.

„Die einen machen die Filme, die ande-ren verbieten sie“, spottete Kohlhaase da-mals. Doch hinter der Lakonie versteckteer seine Wut: „Man war nicht der Mei-nung, dass die Politiker recht hatten, dieFrage war: Wie geht man mit ihnen um?“

Kohlhaase, SED-Mitglied ab Mitte derfünfziger Jahre, war kein Dissident. SeineUnterschrift fehlt unter jener berühmtenPetition, mit der DDR-Künstler wie ChristaWolf und Stefan Heym 1976 gegen die Aus-bürgerung des Liedermachers Wolf Bier-

mann protestierten. „Mir war klar, dassdas nichts nützt, dass es nur Streit gebenwird und keine Lösung, Erklärungen undGegenerklärungen und Entfremdung zwi-schen Freunden“, sagt er und weiß, dassSätze wie diese heute nicht gut klingen.

Dennoch hat er damals gesagt, was erdachte. Es gibt historische Akten, in de-nen Kohlhaase auftaucht, Überbleibsel derSammelwut von DDR-Bürokraten. Sie be-legen, wie sich Kohlhaase geäußert hat,wenn es offiziell und ernst wurde, sie lie-gen heute in großen Ordnern im BerlinerBundesarchiv. Umfangreiche Konvolute,„Informationsberichte des Genossen Ha-

ger an den Genossen Honecker“ etwa,muss man durchblättern, auch einen „Be-richt über die Hackfruchternte“, bis mandann auf den Namen Kohlhaase stößt.

Er ergreift das Wort auf einem „Kon-gress der Film- und Fernsehschaffenden“im September 1982. Erst werden in unend-licher Schleife „Genossen“ begrüßt und„Gäste der Nationalen Volksarmee“. Dannwettern andere Redner über den „notori-schen Antikommunismus, der an dem Planbastelt, via Satellit in unsere Stuben zukommen“. Endlich tritt Kohlhaase auf.

Er ist streng mit den Genossen, die vorihm sitzen. Er verteidigt die Filme, für diesie ihn kritisieren, er droht: „Ich erinneremich, dass wir nicht nur einmal nicht ge-schätzt haben, was wir hatten. Ich denke,das sollten wir nicht wieder tun.“

„Ich gestehe“, so heißt es im Protokollder Rede weiter, „dass ich Filme nicht nachsoziologischen Gesichtspunkten ansehe,genau genommen auch nicht nach politi-schen. Ich lasse mich vom menschlichenSchicksal ergreifen. Sehr ungleiche Exis-tenzen können meine eigene berühren.“Wenn er eine Figur für einen Film skizzie-re, stelle er sich Fragen: „Welche Angst istda und welche Zuversicht, und vielleicht indesselben Mannes Brust.“

Es ist eine große Rede, einfach im Ton.Natürlich preist Kohlhaase auch die Ar-beiterklasse, er hat ja an sie geglaubt, docher macht klar, wenn es überhaupt nochfunktionieren könne mit dem Fortschrittdes Sozialismus, dann nur so: Ambivalen-zen, politische, menschliche müssten mög-lich sein: „Wer genau hinsieht, bringt nichtnur frohe Kunde. Wer etwas ändern will,muss sehen, wie es ist.“

Nun sitzt er in seinem Sommerhaus,konfrontiert mit der alten Rede, verwun-dert, er kann sich kaum erinnern. Dannzuckt er mit den Achseln: „Man wollte eswenigstens gesagt haben.“

Mit den Filmen, die er heute macht, hater dieselbe Absicht. „Leben ist Versuch“,daran habe sich nichts geändert – auch daswill er den Jüngeren gesagt haben.

Im Sommerhaus öffnet sich eine Tür,Emöke Pöstényi kommt herein, KohlhaasesFrau. Kurze schwarze Haare, geraderGang, leuchtender Blick. Pöstényi, 67, istTänzerin aus Ungarn, sie war Choreografinund Solotänzerin des Fernsehballetts.

Sie stellt Pflaumen aus dem Garten aufden Tisch, in Sekundenschnelle ist sie in ei-nen Disput mit ihrem Mann verwickelt. Esgeht um die Gestaltung des Abends, siesind sich nicht einig, ping-pong geht es hinund her, Satz, Niederlage, Satz, Sieg.

Und weil beide wirklich böse guckenund dann wieder lachen, ist den Besu-chern, die unfreiwillige Zeugen dieses Ehe-scharmützels werden, überhaupt nicht klar,was das hier ist: ein Probedurchlauf fürsnächste Drehbuch oder ein echter Zwist?

Alle Gefühle auf einmal.Susanne Beyer, Martin Wolf

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Kohlhaase-Filme*: „Liebe, Tod und Wetter“

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Belletristik

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Sachbücher

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6 (6) Eduard Augustin/Philipp von

Keisenberg/Christian Zaschke

Ein Mann – Ein BuchSüddeutsche Zeitung; 19,90 Euro

7 (10) Rhonda Byrne The Secret – Das Geheimnis Goldmann; 16,95 Euro

8 (7) Helmut Schmidt/Giovanni

di Lorenzo Auf eine Zigarettemit Helmut Schmidt Kiepenheuer & Witsch; 16,95 Euro

9 (5) Volker Zastrow Die Vier –Eine Intrige Rowohlt Berlin; 19,90 Euro

10 (11) Wilhelm Schlötterer

Macht und Missbrauch Fackelträger; 22,95 Euro

11 (9) Richard David Precht

Liebe – Ein unordentliches GefühlGoldmann; 19,95 Euro

12 (18) Ilija Trojanow/ Juli Zeh

Angriff auf die Freiheit Hanser; 14,90 Euro

13 (–) Rüdiger Safranski Goethe und Schiller – Geschichte einer Freundschaft Hanser; 21,50 Euro

14 (8) Michael Winterhoff

Warum unsere Kinder Tyrannenwerden Gütersloher Verlagshaus; 17,95 Euro

15 (12) Hanspeter Künzler MichaelJackson – Black or WhiteHannibal; 14,95 Euro

16 (14) Helmut Schmidt Außer DienstSiedler; 22,95 Euro

17 (–) Albrecht Müller MeinungsmacheDroemer; 19,95 Euro

18 (–) Paul Sahner Karl mvg; 24,90 Euro

19 (–) Coco Chanel /Paul Morand

Die Kunst, Chanel zu sein – Coco Chanel erzählt ihr Leben SchirmerGraf; 19,80 Euro

20 (13) Michael Winterhoff

Tyrannen müssen nicht sein Gütersloher Verlagshaus; 17,95 Euro

1 (1) Stephenie Meyer

Bis(s) zum Abendrot Carlsen; 22,90 Euro

2 (2) Stephenie Meyer

Bis(s) zum Ende der Nacht Carlsen; 24,90 Euro

3 (3) Dora Heldt

Tante Inge haut abdtv; 12,90 Euro

4 (11) John Grisham

Der AnwaltHeyne; 21,95 Euro

5 (4) Sarah Kuttner

MängelexemplarS. Fischer; 14,95 Euro

6 (5) William Paul Young

Die HütteAllegria; 16,90 Euro

7 (6) Moritz Netenjakob

Macho ManKiepenheuer & Witsch; 13,95 Euro

8 (10) Anonymus

Das Buch ohne NamenLübbe; 16,95 Euro

9 (9) Henning Mankell

Daisy SistersZsolnay; 24,90 Euro

10 (8) Simon Beckett

LeichenblässeWunderlich; 19,90 Euro

11 (7) Cassandra Clare

City of Glass –Die Chroniken der Unterwelt 3Arena; 19,95 Euro

12 (–) Ferdinand von

Schirach

Verbrechen Piper; 16,95 Euro

13 (17) Daniel Glattauer

Alle sieben Wellen Deuticke; 17,90 Euro

14 (14) Stephenie Meyer

SeelenCarlsen; 24,90 Euro

15 (12) Donna Leon

Das Mädchen seiner Träume Diogenes; 21,90 Euro

16 (–) Iny Lorentz

Die Rose von Asturien Knaur; 19,95 Euro

17 (–) Patricia Cornwell

ScarpettaHoffmann und Campe; 24 Euro

18 (–) François Lelord

Hector & Hector und die Geheimnisse des LebensPiper; 16,95 Euro

19 (19) Hans Rath

Man tut, was man kannWunderlich; 14,90 Euro

20 (–) Suzanne Collins

Die Tribute von Panem – Tödliche SpieleOetinger; 17,90 Euro

Abgründe der

menschlichen Natur:

großartige Kurz-

geschichten eines

Berliner Strafverteidigers

40 Jahre auf der

Bühne: Highlights

und Krisen in der

Karriere des erfolg-

reichen Rockmusikers

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Page 108: Der Spiegel 2009 36

Früher einmal befand sich in den Räu-men eine Kinderkrippe. Heute sindsie der Rahmen für die Deko-Or-

gien eines erfolgreichen Künstlers. Hier inLondons Eastend, wo die Metropole kei-nen Glamour hat, die Wege zur nächstenU-Bahn-Station weit und Taxis selten sind,residiert der junge indischstämmige MalerRaqib Shaw in einer farbigen, überschäu-menden Fabelwelt aus Blumen, Grün-pflanzen und künstlichen Vögeln.

Er empfängt im Stil eines genussvol-len Bohemiens. Im Erdgeschoss stehen und hängen Kubikmeter Grünpflanzen. InDutzenden Vogelkäfigen, die von derDecke baumeln, sitzen künstliche Vö-gel, in einem Zimmerteich schwimmen Fi-sche. Spiegel vergrößern optisch den Zier-dschungel.

Der Gastgeber ist generös. Seine Haus-hälterin bringt Champagner und hat of-fenbar Anweisung, das Glas nie leer wer-den zu lassen. Raqib Shaw, 34, wirkt eben-so bunt und lebhaft wie seine Umgebung.Der zierliche Mann, der in Kalkutta gebo-ren wurde, in Kaschmir aufwuchs und inLondon am berühmten Saint Martin’s Col-lege studierte, lacht grell, laut und lang.

Sein Auftritt erinnert ein bisschen an dieKunstfigur Brüno. Dessen Lebensziel, be-rühmt zu werden, ist Shaw jedenfalls schonziemlich nahegekommen.

Er ist einer der aufstrebenden Starsdes internationalen Kunstbetriebs. Undwenn der flapsige Satz stimmt, dass aufdem Kunstmarkt die Inder heute das sind,was vor kurzem noch die Chinesen waren,dann hat Shaw im Moment gerade die rich-tige Herkunft aufzuweisen.

Das glaubt offenbar auch die GalerieWhite Cube in Mayfair, die ihn vertritt.Eine allerfeinste Adresse: White Cube, dasist die Galerie von Tracey Emin, DamienHirst oder Gilbert & George. Besser kannman derzeit in London nicht betreut wer-den. In Mayfair wird Shaws internationaleKarriere geplant.

Derzeit stellt die Kunsthalle Wien seinenZyklus „Absence of God“ aus. Gott mag inden Arbeiten des Künstlers abwesend sein,Glitzer, Glanz und jede Menge Dekor sindes entschieden nicht. Shaw präsentiert aufgrellbunten Untergründen, die er mit Au-tolack aufträgt, ein irrwitziges Pandämo-nium – Affen mit Vogelköpfen, Menschenmit Rattenhäuptern, geflügelte Skelette mit

Kronen auf Knochenschädeln. Ein durchund durch farbenfrohes Allerlei des ge-pflegten Schreckens, eine Geisterwelt fürLiebhaber des exotischen Oberflächen-grusels. Es schimmert und glimmert aufShaws großformatigen Bildern. Die Arbei-ten sind mit bunten Glitzersteinen undkunstvoll gebrannten Email-Elementen be-legt. Das ist gekonntes Handwerk mit hem-mungsloser Lust am Ornament. Aber ist esauch Kunst?

Der Markt glaubt es, und wenn die Prei-se steigen, schwinden die Zweifel an derBedeutung eines Künstlers in gleichemMaße. 2007 wechselte ein Werk Shaws beiSotheby’s in London für 2,7 MillionenPfund den Besitzer. Die einlieferndeSammlerin hatte ein paar Jahre zuvor einpaar tausend Pfund dafür bezahlt.

Flinke Interpreten bemühen den MalerHieronymus Bosch aus dem 15. Jahrhun-dert mit seinen ungleich bedrohlicherenFabelwesen, um Shaws Show-Universumin kunstgeschichtlichen Höhen zu ver-orten. Aber was den Menschen im Mittel-alter bei Bosch wie der schiere Schrecken,die bildgewordene Unmoral vorgekommensein muss, kann im 21. Jahrhundert nichtmehr funktionieren. Abschreckung hat alsMittel der Kunst ausgedient.

Um eine moralische Botschaft, sagt Shaw,gehe es ihm auch gar nicht, eher um dieFlucht in eine wunderbare Traumwelt, dieSuche nach einem phantastischen Para-dies. Im Untergeschoss seiner LondonerWohnräume hat es schon Gestalt ange-nommen. Es herrscht Dämmerlicht, inüberdimensionalen Vasen stehen Hunder-te frische rote Nelken. Shaw liebt Blumen.Sein privates Arkadien sieht aus, als hättenein Provinzfriseur und ein Florist denJackpot geknackt und sich mit dem Geldihr Ideal vom perfekten Kitschambienteerfüllt. Raqib Shaw begibt sich gern inGrenzgebiete. Die Trennungslinie zwi-schen „Realität und Einbildung scheint im-mer unklarer zu werden“, glaubt er. Viel-leicht suche er in seinen Arbeiten die „per-fekte Schönheit der Heimat“, die nur nochin seiner „Phantasie“ existiere.

Seine Familie besitzt in Indien ein flo-rierendes Handelsunternehmen. EinenSohn zu haben, der sich für Kunst und Blu-men und nicht für Teppiche interessiertund der lieber in den künstlichen Weltenseiner Bilder oder im Bombast seiner Um-gebung lebt, passt nicht so recht in diesesTraditionsmilieu. Die Frage, wie denn dieFamilie mit seinem Schaffen zurechtkom-me, beantwortet Raqib Shaw lieber nicht.Zum ersten Mal bleibt er still.

Dieses Schweigen mag erklären, warumShaw die Rolle als malender Dandy vomSubkontinent so ungebrochen übernom-men hat. Sie ist Tarnung und Befreiungzugleich. Joachim Kronsbein

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Künstler Shaw

Auf der Suche nach Schönheit

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ATEL

Detail aus Shaw-Arbeit „Absence of God VI“

Hemmungslose Lust am Ornament

AUS DEM BUCH: RAQIB SHAW: ABSENCE OF GOD. PUBLISHED BY WHITE CUBE (LONDON) AND KUNSTHALLE WIEN ON THE OCCASION OF: RAQIB SHAW

M A L E R

Nelken, Fischeund Champagner

Mit bonbonbunten Bildern vollerexotischer Fabelwesen ist der

exzentrische Inder Raqib Shaw zueinem der gefragtesten Stars

auf dem Kunstmarkt geworden.

Page 109: Der Spiegel 2009 36

Hamed Abdel-Samad hat schonmehrere Leben hinter sich. Mit 16machte er Abitur, umarmte seine

Mutter, gab dem Vater die Hand und brachin die Hauptstadt Kairo auf, ein begabterjunger Mann, der nicht nur lernen, son-dern die Welt verändern wollte.

Die erste Entscheidung, die er treffen musste, so erinnert er sich, war: „Schließeich mich den Marxisten oder den Muslim-brüdern an?“ Sein Vater war ein Imam,also ging er zu den Marxisten, „Muslim-brüder ohne Gott“. Nach einem knappenJahr hatte er genug von den gottlosen Re-voluzzern und wechselte zu den echtenMuslimbrüdern. Die nahmen ihn mit offe-nen Armen auf und boten ihm alles, wasein wacher und suchender Geist braucht:Spiritualität, Kameradschaft, Nestwärme.Den Koran zu lesen, hatte ihm schon seinVater beigebracht; bei den Brüdern lernteer, die Lektüre in die Praxis umzusetzen,für Allah und den Sieg des Islam über dieUngläubigen. Am meisten Spaß machte es,bei Demonstrationen mitzumarschieren,die Fahne des Propheten zu schwenkenund zu rufen: „Tod den Juden!“

Heute, keine 20 Jahre später, lebt Ha-med Abdel-Samad in München, ist mit ei-ner Dänin verheiratet und arbeitet am In-

stitut für Jüdische Geschichte und Kulturder Universität. Thema seiner Dissertation,die gerade entsteht, ist das „Bild der Judenin ägyptischen Schulbüchern“.

Eine erstaunliche Biografie, so ver-schlungen, dass man zuerst an einen Aben-teuerroman glauben möchte, eine arabi-sche Ausgabe von Felix Krull. Aber Ha-med Abdel-Samad ist kein Literat undauch kein Hochstapler, er hat nur aufge-schrieben, was er erlebt hat, seinen „Ab-schied vom Himmel“*.

Es ist der Weg aus einem ägyptischenDorf nach Europa, das Schicksal einesmuslimischen Migranten, der Wandel vomGlaubenskämpfer zum aufgeklärten Intel-lektuellen – einzigartig, verrückt und dochirgendwie exemplarisch. Das Buch, so derAutor, erzähle „eine ganz gewöhnliche Ge-schichte, wie sie tausendfach passiert“; un-gewöhnlich sei allenfalls, dass sich ein jun-ger Mann wie er getraut habe, sie anderenmitzuteilen.

Bei Frauen kommt so was öfter vor.Männer dagegen, so Abdel-Samad, wür-den lieber über ihre Heldentaten berich-ten als darüber, wie sie geschlagen, miss-

* Hamed Abdel-Samad: „Mein Abschied vom Himmel“.Fackelträger Verlag, Köln; 320 Seiten; 19,95 Euro.

braucht und vergewaltigt wurden, wie siegelitten haben und immer noch leiden undwie viel Kraft es sie gekostet hat, sich ausder Tyrannei der Tradition zu befreien.

Genau das hat Hamed Abdel-Samad ge-macht, 1972 als drittes von fünf Kindern ei-nes Predigers bei Gizeh geboren, vomSchicksal dazu bestimmt, eines Tages indie Fußstapfen seines Vaters zu treten.

Er studierte Englisch und Französischan der Universität in Kairo, nahm einenJob am Flughafen an und lernte zufälligeine deutsche Touristin kennen, die ihn zusich nach Augsburg einlud. Die beiden hei-rateten, aber nicht aus Liebe. Sie war 18Jahre älter und geschieden, hatte „dieLohnsteuerklasse drei“ vor Augen, er „dendeutschen Pass“. Die Ehe hielt nur kurz,die kulturellen Differenzen waren nochgrößer als der Altersunterschied.

In seinem Buch wundert sich Abdel-Sa-mad über den „unmäßigen Alkoholkonsumder Deutschen“, die „wie Tiere arbeitenund wie Tiere Spaß haben“. Deutschlandkommt ihm fremd vor, „wie ein kompli-ziertes Gerät, für das es keine Gebrauchs-anweisung gibt“. In nur vier Monaten lernter „Schwimmen und Radfahren“, Deutschund auch den Umgang mit Begriffen wie„Selbst-Über-Windung“ und „Beziehungs-Arbeit“.

Er besteht eine Eignungsprüfung fürdas Studium der Politikwissenschaft an derUniversität Augsburg und stürzt sich in„diese verfluchte Freiheit“. Seine Magis-terarbeit über „Radikalisierung in derFremde“ handelt von jungen Muslimen inDeutschland, die aus „bedingungsloser Re-ligiosität“ heraus in die Isolation geratenund keine Gelegenheit auslassen, „ge-kränkt und gedemütigt“ zu sein.

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MAD

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Kultur

M I G R A N T E N

Verfluchte FreiheitEin junger ägyptischer Akademiker in Deutschland hat die

Geschichte seiner Entwicklung aufgeschrieben – ein Ausbruch aus der frommen Tyrannei der Tradition.

Autor Abdel-Samad mit Ehefrau Connie in Kopenhagen: „Ich wollte weg vom Islam, weg von allem“

Page 110: Der Spiegel 2009 36

Dabei habe er gemerkt, sagt er, dass esnicht nur um den Frust in der Fremde geht:„Das ständige Beleidigtsein ist unsereSchweinegrippe, wir überlegen jeden Tag,wer und was uns wieder gekränkt hat;überall in der arabischen Welt sind die Leu-te frustriert, sie wissen nicht, wohin mit ih-rer Wut und suchen nach Sündenböcken.“

So war er auch einmal, zornig und im-mer auf der Suche nach jemandem, den erfür sein Unglück verantwortlich machenkonnte.

Die Wut gegen die eigenen Eltern zurichten war unmöglich, obwohl er vomVater misshandelt worden war und zuse-hen musste, wie der die Mutter schlug: nor-mal, das machten alle Männer und Väter.Als er mit vier Jahren von einem 15-Jähri-gen missbraucht wurde, hatte er keinen,dem er sich anvertrauen konnte. Mit elfwurde er noch einmal vergewaltigt, dies-mal von einer Gang älterer Schüler. Auchdiese Erfahrung musste er für sich behal-ten, um nicht Schande über sich und seineFamilie zu bringen. Das Leben war von ei-

nem Gedanken bestimmt: „Was man tunmuss, um seine Ehre nicht zu verlieren.“

Abdel-Samads Schwestern waren jeweils16, als sie die Schule verließen und ihre er-heblich älteren Lehrer heirateten. Die einewurde mit 38 Großmutter, die andere mit34. Alles ganz normal, Hauptsache, die Fraugeht unberührt in die Ehe. Den Unverhei-rateten bleibt nur die Flucht in die Phanta-sie oder die Religion. Freitags, so schreibtAbdel-Samad, seien „die Moscheen voll mitdiesen im sexuellen Notstand lebenden jun-gen Menschen“. Die gesellschaftlichen Zu-stände färbten auf die zwischenmensch-lichen Beziehungen ab: „Jeder unterdrücktjeden. Der Staat unterdrückt die Menschen,und die Menschen unterdrücken einander.“

Es dauert eine Weile, bis er sich aus die-sem Kreislauf herauskatapultiert. Mittenim Studium in Augsburg zieht es ihn fürein Jahr nach Japan, wo er die Landes-

sprache lernt. „Ich wollte weg aus Europa,weg vom Islam, weg von allem.“ Auf einerKonferenz in Kyoto trifft er seine jetzigeFrau Connie. Deren Mutter ist Japanerin,ihr Vater Däne. Connie wurde in Kopen-hagen geboren, hat in Japan Philoso-phie studiert und will mit einer Arbeit überSartre und Kierkegaard promovieren.

Nach dem Studium arbeitet Abdel-Sa-mad bei der Unesco in Genf, dann am Lehr-stuhl für Islamwissenschaft in Erfurt undschließlich am Institut für Schulbuchfor-schung in Braunschweig, bevor ihn der His-toriker Michael Brenner im Herbst 2008 andie Uni München holt, ausgerechnet ans In-stitut für Jüdische Geschichte und Kultur.

Mehr multikulti geht nicht. „Wer, wennnicht ich?“, sagt Abdel-Samad dazu, „ichmache das, was zu meiner Biografie passt,ich biete mein Leben an.“ Schließlich sei erin seiner Jugend ein „überzeugter Antise-mit“ gewesen, obwohl er „noch nie einemJuden begegnet war“.

Der Sohn eines Predigers hat sich sein Le-ben von der Seele geschrieben. Es war Zu-

fall, dass es so gekommen ist. Als er einmalim Krankenhaus lag, fing Abdel-Samad anzu schreiben, ohne Konzept und ohne Noti-zen, mal auf Deutsch, mal auf Arabisch,schließlich „sah das Buch aus wie ich“.

Er gab das Manuskript einem Freund zulesen, der bot es einem kleinen unabhän-gigen Verlag in Kairo an – als Roman, allesandere wäre zu gefährlich gewesen. DasBuch wurde von fast allen großen ägypti-schen Zeitungen besprochen und veran-lasste eine Vereinigung namens „Nusratal-Islam“ (Unterstützung des Islam) zu ei-ner Fatwa, die bis jetzt ohne Folgen blieb.Nur in Abdel-Samads Heimatdorf gab esTumulte, einige Bewohner wollten dasBuch verbrennen, worauf Abdel-SamadsVater nach über zwölf Jahren zum erstenMal wieder auf die Kanzel stieg, um seinenSohn zu verteidigen. Seit dessen Weggangins Ausland hatte er nicht mehr gepredigt,

so sehr schämte er sich, dass er als Erzie-her versagt hatte.

Nicht, dass er jetzt stolz auf seinen Sohnwäre, aber: „Er respektiert, was ich ma-che.“ Nur Abdel-Samads Mutter tut so, alswäre nichts passiert. Dass ihr Sohn kein re-ligiöser Mensch mehr ist, dass er sich voneinem „wütenden unberechenbaren Gott“verabschiedet hat, nimmt sie nicht zurKenntnis. Alles, worauf es ihr ankommt,ist, dass sie ihn ab und zu wieder in dieArme nehmen und für ihn kochen kann.

Und Abdel-Samad selbst? Ist er jetzt zurRuhe gekommen? Je mehr er über sichnachdenkt, umso größer wird wieder seineDistanz zu Deutschland. Neulich war malwieder auf einer Versammlung von Gut-menschen die Rede von den Ausländern,die Deutschland „kulturell bereichern“würden. Da stand er auf und sagte: „Ichbin nicht hergekommen, um euch zu be-reichern. Ich habe mein Land verlassen,um in Freiheit leben zu können.“

Abdel-Samad teilt heute die Menschennicht in Freunde und Feinde ein, sondern

in solche, die die Freiheit lieben, und sol-che, die sich versklaven lassen, egal obvon einer Religion oder einer weltlichenIdeologie. Den Koran kann er noch immerauswendig, hat aber schon lange keineMoschee mehr besucht. Allerdings: Wenner einen Burger bestellt, bittet er darum,dass er ohne Speck zubereitet wird. „Ichbin ein Muslim, der vom Glauben zumWissen konvertiert ist.“ Er hat Kant,Hegel, Spinoza, Kafka und Tocqueville gelesen, er kann aber auch Paulaner,Franziskaner und Erdinger Weißbier amGeschmack unterscheiden – in Bayern ein wesentliches Indiz für geglückte Inte-gration.

Und wenn einer wissen möchte, wie erdas alles mit seiner Herkunft vereinbarenkann, dreht er den Spieß um: „Entschul-digen Sie bitte, bin ich Ihnen nicht musli-misch genug?“ Henryk M. Broder

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Muslimische Frauen im Iran, Mitglied der Muslimbrüder in Kairo: Ständige Suche nach Sündenböcken

Page 111: Der Spiegel 2009 36

Kultur

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Gewaltiger kann man diese Kamera-fahrt hinein in einen Roman nichtbeginnen, und armseliger kann die-

se Fahrt nicht enden. Der Auftakt zu Peter Hennings „Die

Ängstlichen“ kommt biblisch daher: „Aufdem fünftgrößten Planeten im Sonnensys-tem herrschten in diesen Tagen Missstandund Furcht.“

Und dann wird dieser Planet näher her-angeholt, wir rasen durch den Ozonsmogin der Troposphäre, nicht ohne einen Ver-weis auf die Schieflage der klimatischenWeltordnung, hinab in ei-nen Orkan über Südhessen,durch die Wolkenschleierüber den BankentürmenFrankfurts, hinein in einesintflutartige Verfinsterungin Hanau, zu einer altenFrau, die das Unwetterdurch das Küchenfensterbeobachtet.

Theaterdonner also unddann nur noch Hanau undneurotische Angst hinterBungalowscheiben, und dasüber 500 Seiten. Aber wasfür welche!

Eine Familie, die aus lau-ter „Ängstlichen“ besteht,aus Lebensversagern, Kran-ken, abgelederten Alltags-krüppeln, Hypochondern,Ehebrechern – alle losegruppiert um ein Zentrum,um die alte Johanna, diekeines mehr ist, denn dieFamilie ist längst in beziehungslose Ato-me zerfallen.

Neben dem halluzinogenen Pop-Astro-nautentum des David Foster Wallace oderden zerebralen Prosa-ZertrümmerungenDietmar Daths ist Hennings Familienge-schichte so altmodisch wie die der „Bud-denbrooks“. Nun, vielleicht die der drittenGeneration: Henning betastet die Risse inden Routinen „einer deutschen Familie“und entdeckt das Grauen darunter.

Während draußen der gewaltige Sturmtobt, der Häuser flach legt und Bäumeentwurzelt, neue Kräfte sammelt und wie-der hereinbricht, während also die elemen-tare Katastrophe mit allem hingepinseltwird, was Hennings beachtlicher Tuschkas-ten hergibt, sind die Ängstlichen mit nichts

Peter Henning: „Die Ängstlichen“. Aufbau Verlag, Berlin;496 Seiten; 22,95 Euro.

anderem beschäftigt als mit sich selbst. Mitder lähmenden Stille.

Sie werden unter Druck gesetzt, und esist virtuos, wie Henning diesen Druck Sei-te um Seite erhöht. Sie müssen sich durchEheprobleme, Operationen, Jobkrisen, Lie-besverluste schlagen, sogar mit Bedrohun-gen durch Geldeintreiber fertig werden –aber dann wiederum: Was ist schon eineGangsterpistole verglichen mit Zahnfleisch-bluten vor dem Toilettenspiegel.

Über fünf Jahre lang hat Henning, 50, an dieser Radierung aus der kleinbürger-

lichen Hölle gearbeitet. Vorausgeschickthatte er Gedichte, Kurzgeschichten, Ro-mane. Er gewann Preise dafür, überWasser gehalten hat er sich als Journa-list. Er besuchte Julien Green in Paris und Paul Bowles in Marokko. LiterarischeAbenteurer, Einsamkeitshelden, Außensei-ter. All diese Autoren waren Spezialis-ten der Selbstbestimmung, Profis auf der Klippe, Vorbilder aus Wagnis und Wahn-sinn.

Und nun dieses Typenarsenal des Still-stands, dem man zubrüllen möchte: Tutwas, es gibt noch eine Welt jenseits.

Johanna, die Patriarchin, steht kurz da-vor, ins Altersheim zu ziehen. Sie möchtenoch einmal ihre Familie um sich versam-meln. „Harmonisch“ ist das Wort, um dassich Johannas Welt am meisten dreht – un-mittelbar gefolgt von den Vokabeln „Sor-ge“, „Blutdruck“ und „Bakterien“.

Johannas langjähriger Lebensgefährte istJanek, ein Spieler und Morphinist, der vordenen, die er geprellt hat, auf der Fluchtist. Ihr ältester Sohn Helmut: ein kontakt-armer Neurotiker. Seine Telefongesprächemit Johanna sind knapp. „Und so gingensie schon nach wenigen Minuten wie zweieinander zufällig über den Weg gelaufeneStraßenköter auseinander, die sich kurzund mehr oder weniger desinteressiert be-schnüffelt hatten.“

Helmut verachtet die eigene Familie fastso sehr wie die Ausländer, die mittlerwei-

le auch in Hanau zu sehensind, überall. Am meistenaber verachtet er seinen ei-genen Sohn Ben, einen zar-ten, eher lebensuntüchtigenJournalisten, dem eines Ta-ges tatsächlich die Liebe desLebens begegnet. Er ver-masselt sie.

Auch Johannas TochterUlrike ist eingesperrt, in eineEhe, die sie nur aus Gründender finanziellen Absicherungeinging, und in einen Körper,der sich stemmt gegen „dieBegrenztheit ihrer Figur“.

Sie hasst ihren Mann Rai-ner, der sie betrügt, doch siekommt nicht von ihm los.Sie erpresst ihn mit einemGeheimnis, das seine Kar-riere ruinieren könnte, undsetzt ihn unter Druck, bis ersich winselnd im Keller ih-rer Villa verbarrikadiert.

Am barmherzigsten noch ist Johannasdrittes Kind Konrad gezeichnet, der in ei-ner Psychiatrie untergebracht ist und ei-nes Tages die Medikamente absetzt, dieihn ruhigstellen. Konrad ist der Einzige,der den Ausbruch wagen wird, den die an-deren verpassen. Und ausgerechnet er hatnicht die geringste Chance. Aber er siehtdas Ziel: Von einem Baum aus glaubt erBarcelona zu erkennen.

Peter Henning ist – bis hin zum dunklenSchlussakkord – ein virtuoser Roman dervergeblichen Aufbrüche gelungen. Er hatden Roman zur Zeit geschrieben, in einerWelt der lastenden Zukunftsängste und dernicht erfüllten Versprechungen.

Und was den Theaterdonner zu Beginnangeht: Selbstbewusst betritt dieser Autormit seinem wuchtigen Roman die Bühne.Doch er hat recht damit, in jeder Bezie-hung. Matthias Matussek

Die Stille im SturmLiteraturkritik: Peter Hennings bedrückende Familiengeschichte „Die Ängstlichen“

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Autor Henning: Neurosen hinter Bungalowfenstern

Page 112: Der Spiegel 2009 36

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Trends Medien

Szene aus dem NDR-Film „Katzenzungen“ Szene aus dem Strobel/Becker-Film „Vor meiner Zeit“

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Nach den Affären um die Sportchefs vom Hessischen Rund-funk (Jürgen Emig) und vom Mitteldeutschen Rundfunk

(Wilfried Mohren) hat die ARD einen neuen Fall von Vettern-wirtschaft zu verkraften. Die NDR-Fernsehfilmchefin DorisHeinze hat mehrfach Drehbücher ihres Ehemanns verfilmen las-sen, die der unter einem Pseudonym verfasst hatte. Am Don-nerstag vergangener Woche suspendierte der Sender sie.Ihr Ehemann, der Regisseur Claus Strobel, erfand das Phantom„Niklas Becker“. Der vermeintliche Autor bekam für ein ARD-Presseheft sogar eine erfundene Biografie: Er „wuchs im Ruhr-gebiet auf. Nach seinem Studium der Publizistik und der Kunst-geschichte arbeitete er zunächst als Übersetzer, Journalist undFilmkritiker. Seit 1986 lebt er in Ams-terdam und Montreal, wo er unter an-derem als Script-Doctor tätig war. AlsCo-Autor verfasste er mehrere Dreh-bücher für das kanadische Fernsehen.“Heinze war eine mächtige Frau beimNDR. Sie entschied mit über die Ver-wirklichung von Projekten, die Karrie-ren von Autoren und war unter an-derem für die „Tatorte“ aus Kiel, Han-nover und Hamburg verantwortlich.„Man legte sich besser nicht mit ihr an.Wir hatten schon fast drei Jahre langHinweise auf ‚Niklas Becker‘“, sagtDrehbuchautor Pim Richter („Tatort“)vom Vorstand des Verbands DeutscherDrehbuchautoren. „Niemand wollte es sich aber mit einer somächtigen Institution wie Doris Heinze verscherzen.“Thorsten Fischer hätte mit dem Phantom eigentlich reden müs-sen. Der renommierte Regisseur, dessen Film über RomySchneider im November in der ARD läuft, hatte das Drehbuchzum Film „Katzenzungen“ von Doris Heinze auf den Tisch be-kommen – geschrieben von jenem Niklas Becker. Er fand dasWerk zu dürftig und weigerte sich, es zu verfilmen. Schließlich,so erzählt er, ließ er sich von NDR-Fernsehfilmchefin Heinzedazu überreden, das Drehbuch zu überarbeiten. Er versuchtedeshalb, mit jenem ominösen Becker Kontakt aufzunehmen.Doch das gelang nie. „Er sei schwer zu erreichen, lebe viel imAusland, hieß es erst, und später, es gebe überhaupt keine Kon-taktmöglichkeit.“ Er habe das Buch schließlich komplett neu ge-

schrieben, sagt Fischer – allerdings stand am Ende auch NiklasBecker als Co-Autor auf dem Drehbuch. Heinze habe daraufbestanden. Heinzes Anwalt Gerd Benoit sagt dazu, die Qualitätder Drehbücher sei „nie strittig“ gewesen. Was den Fall Hein-ze so absurd erscheinen lässt: Die NDR-Hierarchin hätte legaleinmal pro Jahr ein eigenes Drehbuch in der ARD verfilmen las-sen dürfen – allerdings nicht selbst zugleich redaktionell be-treuen, eine Regelung, die beim NDR 2003 in Kraft trat. Doch ein dubioses System braucht Mitwisser in den Produk-tionsfirmen. Schließlich werden dort – und nicht beim Sender– die Autorenhonorare angewiesen. Die betroffene MünchnerProduktionsfirma mauert bislang. Angeblich soll nur eine feste

freie Produzentin involviert gewesensein. Und angeblich soll niemandemaufgefallen sein, dass das PhantomBecker nie irgendwo erschien.Die Nebengeschäfte des Medienpaarswaren jedenfalls lukrativ. Bis zu 30000Euro bekommt ein Autor für ein Dreh-buch. Für Wiederholungen gibt es weite-re Zahlungen. 100000 Euro für einen gu-ten Film sind so möglich. Manche ARD-Anstalt arbeitet allerdings auch nach demBuy-out-System: Für eine höhere An-fangsgage von 50000 bis 60000 Euro darfder Film dann beliebig oft wiederholtwerden. Laut NDR wurden die Becker-Filme per Buy-out bezahlt.

Die ARD zeigt sich geschockt. „Sie war eine Leistungsträgerinund eine große Kreative, daher ist ihr Fall umso tragischer undeigentlich unverständlich“, sagt ARD-Programmdirektor VolkerHerres über Heinze. Ein strukturelles Problem für die gesam-te ARD sieht er erst einmal nicht: „Im Lichte einer solchen Er-fahrung wird man immer prüfen, ob wir uns gegen solche Be-trügereien noch besser schützen können. Aber wenn einer arg-listig täuscht, ist so etwas kaum zu verhindern.“Literarisch ist der Fall im Übrigen ein ganz besonderer Lecker-bissen. Denn das Duo Heinze/Strobel könnte den Decknamendem „Wintermärchen“ von Heinrich Heine entnommen ha-ben. Bei dem heißt es: „Zu Biberich hab ich Steine ver-schluckt, / Wahrhaftig, sie schmeckten nicht lecker! / Dochschwerer liegen im Magen mir /Die Verse von Niklas Becker.“

Ehepaar Strobel, Heinze

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Das Phantom der Fernsehfilmchefin

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SPIEGEL: Frau Roche, Mitte September star-ten Sie als Moderatorin der Radio-Bremen-Talkshow „3 nach 9“. Die CDU-Politikerinund Pfarrersfrau Elisabeth Motschmannwetterte schon, wer sich wie Sie selbst als„perverse Sau“ bezeichne, dürfe eine sorenommierte Sendung nicht bekommen.Das muss Ihnen gefallen, oder?Roche: Stimmt, das hätte man sich als PR-Masche gar nicht besser ausdenken kön-nen. Ich habe das nicht gelesen. Ich haltemich fern von so etwas. Aber nach dem,was ich gehört habe, suhlt Frau Motsch-mann sich ja seitenweise in den Sachen,die sie angeblich so schlimm findet. Das istschon fast wieder niedlich.SPIEGEL: Die Pfarrersfrau dürfte repräsen-tieren, was viele Stammzuschauer des ge-pflegten öffentlich-rechtlichen Talks überSie denken.Roche: Bei manchen Zuschauern werde ichbestimmt wie der Blitz einschlagen, wennich einfach nur dasitze. Aber die Aufre-gung wird schnell wieder verpuffen. Ichhabe nicht vor, meine Gäste zu beleidigen,und ich bereite mich auf Interviews ge-nauso akribisch vor wie Amelie Fried daswahrscheinlich getan hat.SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, in einerTalkshow gehe es nicht um Wahrheit, son-dern um Unterhaltung. Gilt das auch für „3 nach 9“?Roche: Na klar. Auch dem konservativstenPublikum ist es lieber, wenn es vorm Fern-sehen nicht einschläft. Auch konservativeLeute gucken so eine Show, weil sie immerhoffen, vielleicht passiert ja heute was. SPIEGEL: Bestand bei „3 nach 9“ bisher dasRisiko, dass das Publikum einschläft?Roche: Ja, manchmal, klar. Das liegt auchan dieser sehr, sehr schweren Ernsthaftig-keit. Ich bin ja dafür, dass ein Gast lieberlügt, damit es unterhaltsam wird, als einelangweilige Wahrheit zu erzählen. SPIEGEL: Ist das Ihr Ernst?Roche: Natürlich, das ist doch die Voraus-setzung für gute Unterhaltung. Egal, obam Kneipentisch oder im Fernsehen.SPIEGEL: Belügen Sie uns dann hier auch? Roche: Bisher noch nicht. Aber falls ich be-ginne, Sie anzuöden, müssen Sie nur Be-scheid sagen.SPIEGEL: Was sind Ihrer Meinung nach dielangweiligsten Talkshow-Wahrheiten?Roche: Für mich ist das langweiligste einSchauspieler, der sagt, wie nett sein Regis-

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„Man muss lügen können“Bestsellerautorin Charlotte Roche, 31, über ihren Einstieg bei der Talkshow „3 nach 9“,

den monströsen Erfolg ihres Romans „Feuchtgebiete“ und ihre Begeisterung für Heidi Klum

Entertainerin Roche: „Ich war mal eine verbale Sau, aber ich bin es nicht mehr“

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seur war, wie toll er sich mit den Kollegenverstanden hat und was für ein wichtigerFilm das ist, den er gerade promotet. Dasist das Schlimmste, was es gibt.SPIEGEL: Diese Leute kommen doch geradedeshalb in die Talkshows, weil sie sich daso wichtig fühlen dürfen.Roche: Ja, leider.SPIEGEL: Auch die Moderatoren nehmensich bisweilen ziemlich ernst.Roche: Diese vorgetragene Wichtigkeit istganz schlimm, vor allem bei ReinholdBeckmann. Der ist so ein Dar-steller von einem Journalisten,der in jede Frage eine un-glaub-li-che Be-deu-tung legt– und in Wahrheit ganz nack-te Boulevardfragen stellt. Ermacht so auf seriöser Journa-list, aber hakt nur den Frage-katalog der „Bunten“ ab. Bo-ris, jetzt mal ganz ehrlich, undso. Er redet übers Bumsen inder Kleiderkammer, tut aberso, als hätte das eine meta-physische Dimension.SPIEGEL: Wie wollen Sie demTalkshow-Genre die Lange-weile austreiben?Roche: In den USA weiß jedergroße Weltschauspieler, wenner in einer Show auftritt, dasser peinliche Geschichten vonsich erzählen und sich selbstkleinmachen muss. Auf kei-nen Fall darf er versuchen,superernst genommen zuwerden. SPIEGEL: Wenn Sie Gast inTalkshows sind, liefern Siedemnach meist eine Show.Roche: Ich bin der ideale Gast.Das größte, was ich in meinerKarriere gemacht habe, warenmeine Auftritte bei HaraldSchmidt. Ich vergöttere ihn jaund habe immer totale Angst,bei ihm zu versagen. Darumbereite ich mich tagelang aufeinen solchen Auftritt vor. Ichweiß, ich brauche für einenAuftritt drei, vier Geschichten.Ich brauche zwei Gags pro Mi-nute. Das ist eine Wahnsinnskopfarbeit,das vorher zu überlegen. Ich übe das zig-mal vor Verwandten, erzähle die Ge-schichten mal kürzer, mal länger. Hinterhermuss das natürlich spontan wirken, undalle Leute müssen denken, die Roche warbestimmt betrunken. Aber spontan ist danichts.SPIEGEL: Klingt nach harter Arbeit.Roche: Ich finde es einfach unmöglich,wenn einer erzählt, ich war gerade in Mai-land und habe mir Schuhe gekauft. Dadenk ich nur: Das ist deine Geschichte, diedu allen erzählen willst? Mann, setz dichvorher hin, mach dir Gedanken, und lieferwas ab! In Deutschland herrscht immer

noch dieser langweilige Respekt vor denKollegen. Das will doch keiner hören. Manwill doch Lästergeschichten hören. WasGemeines.SPIEGEL: Wie ist denn das Verhältnis zuIhrem neuen Talk-Kollegen Giovanni diLorenzo?Roche: Dazu kann ich noch nichts sagen.Wir haben uns ja auch erst dreimal kurzgesehen. Ich habe Sorge, dass ich nebendem wie so ein dummer, platter Bauer wir-ke. Der ist eine sehr respekteinflößende

Person, er spricht immer so leise, und allehängen an seinen Lippen.SPIEGEL: Vor Ihnen haben die Gäste wohleher Angst, vor allem die Männer.Roche: Ach, Männer sind doch schon er-leichtert, wenn sie merken, dass ich gewa-schen bin und mir keine Büsche unter denArmen wachsen. Wenn ich da nett „Hallo“sage, fällt von denen eine Riesenanspan-nung ab. Das war schon bei den Interviewsmit männlichen Journalisten so, als dasBuch gerade rauskam. Manche habenwirklich ganz erleichtert gesagt: „Sie habenja geduscht, ich bin so froh!“

* Mit Ines Schiller am 25. September 2008 in Halle.

SPIEGEL: Vor einem Jahr durchbrach IhrBuch „Feuchtgebiete“ die Marke von einerMillion verkauften Exemplaren. Was hatdas für Sie verändert?Roche: Ich war wie ein Buch auf zwei Bei-nen, das durch die Gegend läuft, und allesagen: Das ist doch dieses Buch mit demPflaster vorn drauf. Das verändert alles.Es ist ja nicht leicht auszuhalten, dass jederdenkt, die wäscht sich nicht, die ist tierischbehaart, und ganz sicher hat sie Hämor-rhoiden. Man läuft rum und sieht die

Denkblasen der anderen, undin jeder Denkblase ist eine Hä-morrhoide.SPIEGEL: Aber dafür sind Siedoch selbst verantwortlich, dassteht alles in Ihrem Buch.Roche: Das Buch ist zu einemMonster geworden. Man ist zuviel in den Köpfen der Leute. SPIEGEL: Wie sind Sie damitumgegangen?Roche: Ich bin einfach nichtaus meinem Viertel rausge-gangen. Dort kennt man michja, und nach ein paar Wochenhatte sich das beruhigt. SPIEGEL: Der Erfolg hat IhnenAngst gemacht?Roche: Man muss aufpassen,dass man nicht größenwahn-sinnig wird. Wenn mir das vorzehn Jahren passiert wäre,wäre ich an Drogen zugrundegegangen. Wenn ich keine Fa-milie hätte und mein Kindnicht jeden Tag zur Schulebringen müsste, wäre es eineVollkatastrophe geworden.SPIEGEL: Ist dieser Verkaufser-folg eigentlich eine Leistung,auf die Sie stolz sind?Roche: Es ist komisch, aber umdas Buch geht es gar nichtmehr. Die Leute sagen nichtmehr: tolles Buch, sondernGlückwunsch zum Erfolg. Esist der Erfolg, der die Leutefasziniert.SPIEGEL: Sind Sie stolz?Roche: Wenn ich das Buch an-gucke, wie es so daliegt, dann

ist es mir total fremd. Es ist das Buch vonallen geworden und nicht mehr nur meins.Das ist gruslig. Ich verbinde damit auchschlimme Dinge: zu viele Lesungen, zuviele Fotos, zu viel von zu Hause weg gewesen. Ich war nahe am Nervenzusam-menbruch. Aber wenn ich das alles ver-gesse und daran denke, wie viel Spaß esgemacht hat, das zu schreiben, dann binich stolz. SPIEGEL: Macht es Ihnen noch Spaß, dieZoten-Charlotte zu sein?Roche: Nein, ich kann nicht mehr. Es gibteine Erschöpfung. Ich war mal eine verba-le Sau, aber ich bin es nicht mehr. Das istvorbei. Früher fand ich es total geil, Män-

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TV-Talkpaar Roche, di Lorenzo: „Sehr respekteinflößend“

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Theaterprobe von „Feuchtgebiete“*: „Das verändert alles“

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ner unter den Tisch zu saufen. Das warvorbei, als ich Mutter wurde. Dann fandich es auch gut, noch viel obszöner und zo-tiger zu sein als jeder Mann, den ich ken-ne. Aber ich habe mein ganzes Pulver jetztverschossen. Ich habe in so vielen Sen-dungen gesessen und immer nur Zoten ge-macht. Ich habe mich selbst darauf redu-ziert. Ich kann einfach nicht mehr. SPIEGEL: Im Fernsehen hatten Sie fast im-mer schlechte Quoten, wurden aber vonder Kritik gefeiert. Bei Ihrem Roman„Feuchtgebiete“ war das umgekehrt. SindSie jetzt eine Frau für die Nische oder fürdie Masse?Roche: Bis ich dreißig war, konnte ich im-mer sagen: Was ich im Fernsehen mache,ist zu schlau für die Masse. Ich war uner-folgreich, aber total beliebt. Zum erstenMal in meinem Leben sind Leute neidisch. SPIEGEL: Im aktuellen Roman von BodoKirchhoff rechnet er mit einer Figur ab,die auf Sie gemünzt ist. Verstehen Sie denNeid der Literaten?Roche: Ja, mein Erfolg muss jafür alle total frustrierend sein,die Bücher schreiben. Auchfür Journalisten. Es gibt dadiesen Harald Martenstein …SPIEGEL: … den „Zeit“-Kolum-nisten …Roche: Ich glaube, der ist be-sessen. Immer wenn ich denlese, ist der schon wieder da-bei, sich zu erregen, so nachdem Motto: Ein Buch über Hä-morrhoiden hätte er auch schrei-ben können. Hat er aber nicht.SPIEGEL: Ihr Buch ist in 30Sprachen übersetzt. Gibt esUnterschiede in der Wahrneh-mung von „Feuchtgebiete“? Roche: Alle Länder waren coo-ler als Deutschland. Holländi-sche Kritiker sagen, bei ihnendrehe sich fast jedes Buch ums Kacken undMasturbieren, das seien doch auch diewichtigsten Themen im Leben. Die kannman nicht schocken. Für Ausländer ist dasBuch ein Beweis, dass die Deutschen einAnalproblem haben. Kommt ja auch oft inFilmen vor. Die Verbindung von Nazis undStuhlgang. Das finden Ausländer sehr lus-tig. Die sehen darin ein Psychogramm derdeutschen Seele. SPIEGEL: Im Ausland war es dann auch keinfeministisches Manifest?Roche: Nein, das war es nur hier. Hier waralles viel größer, viel hysterischer, ernsterund schwerer.SPIEGEL: Hierzulande sind Sie für mancheFeministinnen eine Ikone geworden. DieBotschaft: Frauen befreien sich von Rol-lenmustern und Konsumterror, wenn siesich nicht waschen und untenrum nichtrasieren.Roche: So war das aber nicht gemeint. DieStimmung in den Lesungen war so eineweibliche Befreiungsstimmung. In dem

Buch geht es um viele Sachen, mit denenich ein Problem habe. Viele Frauen habenmit ihren Freundinnen angefangen, überDinge zu reden, was vorher nicht ging. Wirdenken immer nur, unsere Welt ist soübersexualisiert. In Wahrheit sind wir alleverklemmt. Alle haben Angst, sich zu bla-mieren, wenn man etwas über sich erzählt.SPIEGEL: Heidi Klum wurde zu Ihrer Anti-podin aufgebaut. Aber Sie mögen „Ger-many’s Next Topmodel“ angeblich. Oderist das auch nur eine lustige Lüge?Roche: Ich schaue die Sendung immer, undich bin immer auf Heidis Seite und vertei-dige sie. Das gibt jedes Mal Krach in derFamilie. Die anderen haben immer Mitleidmit den Models, weil die so jung sind, oftweinen und so weit weg sind von zu Hau-se. Aber wer so schwach ist, darf ebennicht Model werden wollen.SPIEGEL: Würden Sie gern mal mit Klumtauschen?Roche: Ich würde wahnsinnig gern in einerCastingshow-Jury sitzen. Da würden sich

die Leute wundern, wie mies und hart ichwäre. Ist auch weniger anstrengend, als im-mer nur zu lachen. SPIEGEL: Wer ist derzeit die beste deutscheUnterhaltungskünstlerin?Roche: Ich glaube Heidi Klum. Sie ist dieabgewichsteste Verkäuferin von allen. Siezieht es eisenhart durch. Die ist ein welt-weiter Star, dagegen komme ich im pupsi-gen Deutschland nicht an. SPIEGEL: Ob Buchbestseller oder Fernsehen– letztlich kommt es nur darauf an, wer ambesten unterhält?Roche: Auch ein Buch wird letztlich wieeine neue Flasche Wasser verkauft. DieLeute sagen dann, „Guck mal, wie nett die da sitzt und mit dem Kerner schä-kert“, kriegen gute Laune und gehen wieferngesteuert ins Geschäft und kaufen das Buch. Dann landet man auf der Best-sellerliste. Und was dann kommt, kann

* Am 21. Mai beim Finale von „Germany’s Next Topmo-del“ mit der Gewinnerin Sara Nuru in Köln.

ich nicht begreifen: Menschen kaufen Bü-cher, nur weil sie in der Bestsellerliste sind. SPIEGEL: Was ist daran unbegreiflich?Roche: Schreibt man ein Buch für Men-schen, die Bücher lesen, kann das niemalsein richtiger Bestseller werden. Schreibtman aber ein Buch für Fernsehzuschauer,geht das. Es schauen einfach mehr Leutefern, als Leute Bücher lesen. Die habensonst kein einziges Buch, nur „Feuchtge-biete“ steht da im Schrank. SPIEGEL: Wann kann man sich ein zweitesRoche-Buch dazustellen?Roche: Ich habe im Januar angefangen, einneues Buch zu schreiben. Es ist ja super-einfach, man schreibt ein Buch und kanndavon leben. Mittlerweile frage ich michaber, weshalb ich überhaupt ein zweitesBuch schreiben muss. Ich bin ja keine Au-torin. Ich muss niemandem beweisen, dassich das ein zweites Mal schaffe. SPIEGEL: Über die private Charlotte Rocheweiß man kaum etwas von Belang.

Roche: Ich bin ein riesenag-gressiver Beschützer meinerPrivatsphäre. Ich will nicht,dass die „Bild“-Zeitung übermeine Familie schreibt. Ichklage gegen alles. Wenn„Bild“ schreibt, CharlotteRoche ist 29, dann erstreitenwir eine Gegendarstellung,dass ich 31 bin. Ich gehe ge-gen wirklich alles vor, was diemachen. SPIEGEL: Macht Ihnen dasSpaß?Roche: Ja, weil man immer ge-winnt. Das kann ich total emp-fehlen, immer gegen „Bild“ zuklagen. SPIEGEL: Wie finden Sie die ak-tuelle „Bild“-Werbekampagnemit Prominenten?

Roche: Widerlich. Es gibt eine Liste in mei-nem Kopf, und da werden Personen gestri-chen: Supernanny – fand ich nett, ist jetztgestorben. Werbung für „Bild“, völlig un-tendurch, egal, was die noch sagt. Es sind jaauch Leute darunter, die selbst viel gegen„Bild“ klagen. Das ist doch eine fiese Dop-pelmoral. Ich bin da viel nachtragender.SPIEGEL: Alice Schwarzer?Roche: Gestorben.SPIEGEL: Richard von Weizsäcker? Roche: Gestorben. SPIEGEL: Johannes B. Kerner? Roche: Auch gestorben. Sind die denn alleecht so eitel und denken: Toll, so viele Pla-kate in ganz Deutschland mit meinem Ge-sicht drauf?SPIEGEL: Es gab einen langen Rechtsstreitmit „Bild“ über die Berichterstattung zumTod Ihrer drei Brüder bei einem Verkehrs-unfall. Bekommen Sie nach wie vor An-fragen von „Bild“? Roche: Ja, da weiß eine Hand nicht, was dieandere tut. Es arbeiten sicher ganz nette

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TV-Star Klum*: „Ich bin immer auf Heidis Seite“

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und unschuldige Menschen dort. Sie kom-men trotzdem alle in die Hölle. Ich redemit denen niemals. Das ganze Blatt basiertnur auf Esoterik, auf Fragen wie: „Wer istgestorben?“, „Wer hat geil Krebs?“ und„Wer hat sich getrennt?“SPIEGEL: Sie werfen „Bild“ vor zu lügen,kokettieren aber selbst damit, lustige Lü-gen zu erzählen. Uns interessiert derWahrheitsgehalt Ihrer Geschichten. Wasist etwa mit den Plänen, Hardcore-Pornoszu drehen oder einen Swinger-Club fürcoole Menschen aufzumachen?Roche: Erst mal auf Eis gelegt.SPIEGEL: Es war Teil Ihrer Inszenierung.Roche: Nein, das war vergangenes Jahreine ernsthafte Idee von mir. Einen styli-schen Swinger-Club aufzumachen, findeich nach wie vor toll. Ich kenne Swinger-Clubs von RTL II, die sehen total angst-einflößend aus. Da sitzen dicke Männermit Tanga und Maske an einer Schwarz-lichtbar. Totaler Alptraum. Meine Idee warein Laden mit schönem Interieur, guterMusik und Menschen in meinem Alter. SPIEGEL: Ausgerechnet Sie wollen also eineKörperkontrolle machen?Roche: Nein, die hässlichen sind sowieso vielbesser im Bett. Die geben sich mehr Mühe. SPIEGEL: Gibt es einen Rollenkonflikt: Diemediale Charlotte Roche lügt, ist zotig undwill ständig anecken, und die private FrauRoche führt ein ganz spießiges Leben?

Roche: Total. Privat lässt mich jeder in Ruhe.Meine Freunde sagen immer, wenn dich dieMenschen da draußen wirklich kennen wür-den und wüssten, wie spießig du bist…SPIEGEL: Sie schrecken aber auch nicht da-vor zurück für die Inszenierung Ihres Bu-ches einen Freund zu bemühen, der beimLesen des Buches eine Erektion bekom-men habe. Roche: Der hat das gar nicht mitbekom-men, dass ich das gesagt habe. SPIEGEL: Würden Sie sich so was auch aus-denken, damit das Buch sich besser ver-kauft? Roche: Klar. Die Grenzen sind fließend.Manchmal sagt man eine Lüge so oft, dass

* Mit den Redakteuren Martin U. Müller und MarkusBrauck in Köln.

sie dann zur Wahrheit wird. Das ist bei mirtotal so. Meine Mutter hat immer zu mirgesagt, dass man lügen können muss. Manwill doch beim Lügen nicht rot werden. SPIEGEL: Wenn wir uns dieses Interviewausgedacht hätten?Roche: Dann würde ich Sie verklagen. Aussportlichen Gründen. Aber lustig fänd iches trotzdem. SPIEGEL: Haben Sie sich von den Millio-nen, die Sie verdient haben, eigentlich maleinen echten Lustkauf gegönnt?Roche: Nichts. Alles Betongold. Ich hab ja vorher schon ganz gut verdient. Doch,ich habe ein Schlauchboot gekauft, 4,6 Me-ter lang, 20 PS starker Motor. Ich interes-siere mich nicht für Autos. Kurz bevor dieFinanzkrise losging, kam die erste Über-weisung. Ich dachte, das kann ich nichtder Bank geben. Ich habe wahnsinnigeAngst, was davon abzugeben. Super spie-ßig eben. Anale Phase, zumachen, nichtshergeben. Ich habe mich bei diesen Sum-men total verändert. Es darf nicht wenigerwerden. SPIEGEL: Jetzt fehlt eigentlich nur noch,eine konservative Partei zu wählen. Roche: Um Gottes willen. Ich bin links. Mil-lionäre schröpfen. Vom Konto her müssteich CDU wählen. Aber ich bin absolut beiden Linken. SPIEGEL: Frau Roche, wir danken Ihnen fürdieses Gespräch.

Roche beim SPIEGEL-Gespräch*

„Ich bin der ideale Gast“

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ServiceImpressum

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NETZWELT | Voll programmiert

Die heißesten Gadgets der Ifa in Berlin landen in Küche oder Keller. Von derWaschmaschine bis zur Kaffeemaschine hält intelligente Digitaltechnik Einzug inden Alltag. SPIEGEL ONLINE stellt die neuesten Trends vor.

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Staubsauger: Haushaltstechnik wird intelligent

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Mach mir den Schröder! – der ent-schleunigte SPD-Wahlkampf; Rechter

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Schröder (r.) im Wahlkampfwww.spiegel.de – Schneller wissen, was wichtig ist.

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Register

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g e s t o r b e n

Toni Sailer, 73. „Verrückt waren wir sicher.Mit Halbschuhen in den Skiern, alleslocker, mit Tempo 100 einen Meter nebenden Bäumen vorbei“, sagte Österreichsbedeutendster Sportlerdes 20. Jahrhundertsüber die intensiven Mo-mente als Skifahrer.Damals, als die Pistennoch mit Strohsäckenstatt Fangzäunen abge-sichert waren, wurdeder Draufgänger ausKitzbühel zum Ski-Idol. Bei den Olympi-schen Spielen 1956 in Cortina gewann Sai-ler in allen Disziplinen – Slalom, Rie-senslalom und Abfahrt. Nach der WM 1958beendete er seine Sportlerlaufbahn, mit nur22 Jahren. Er habe das Skifahren „völligverlernt“, sagte Sailer. Der wahre Grundfür sein Karriereende war wohl ein ande-rer: Ihn reizten die Schauspielerei und dasShowgeschäft. 1957 drehte er seinen erstenFilm „Ein Stück vom Himmel“. Dann folg-te „Der schwarze Blitz“, der Filmtitel spiel-te auf Sailers Spitznamen an. Er sang Schla-ger, spielte Theater und übernahm Rollenin über 20 Filmen. In der Komödie „TanteTrude aus Buxtehude“ (1971) stand der„Blitz aus Kitz“ mit Rudi Carrell vor derKamera. 2008 wurde bekannt, dass Saileran Kehlkopfkrebs leidet. Der Ski-Held sag-te jedoch, er habe mehr Angst vor einer ge-fährlichen Abfahrt als vor dem Tod. ToniSailer starb am 24. August in Innsbruck.

Günter Kießling, 83. Außerhalb des Mili-tärs bekannt wurde der Weltkriegsleutnantund Bundeswehrgeneral erst am 5. Januar1984, als die „Süddeutsche Zeitung“ ent-hüllte, Verteidigungsminister Manfred Wör-ner habe den stellvertretenden Nato-Ober-befehlshaber heimlich entlassen. Ein Un-tersuchungsausschuss des Bundestags fandsich bald am „Über-gang von Morast in ab-grundtiefen Sumpf“,wie der VorsitzendeAlfred Biehle (CSU)dem CDU-Minister vor-hielt. Wörner hatteKießling nur aufgrundvon Gerüchten über an-gebliche homosexuelleKontakte vorzeitig pen-sioniert. Kanzler Helmut Kohl rehabilitier-te den Offizier und ließ ihn würdevoll miteinem Großen Zapfenstreich verabschie-den. 1998 ehrte ihn CDU-Minister VolkerRühe erneut, indem er Kießling die Festre-de zur Eröffnung der neuen Heeres-Offi-zierschule in Dresden halten ließ. Die Hee-resführung hielt indes Distanz, eine Schriftdes Pensionärs zum „Leitbild des Offiziers“

hielt sie für „zu rückwärtsgewandt“. In vie-len Artikeln lobte der spätere Uni-Dozentdie „weltweit bewunderten militärischenLeistungen der Wehrmacht“, mahnte aberauch: „Nie wieder dürfen Soldaten in einenKrieg gejagt werden, auf dessen Sinn undZweck sie nicht den geringsten Einfluss ha-ben.“ Günter Kießling starb in der Nachtzum 28. August in Rendsburg.

Sergej Michalkow, 96. Der Schriftstellerwar ein herausragender Vertreter jenes Teilsder russischen Intelligenz, der sein Schick-sal mit dem Sowjetsystem verband. DerAdelsspross verkörperte eine Synthese vonrussischem und sowjetischem Patriotismus.Damit geriet er ins Blickfeld des Diktators:In Stalins Auftrag verfasste Michalkow 1943den Text der sowjetischen Hymne. Derenerste Aufführung im Bolschoi-Theater saher noch im hohen Alter als „das bedeu-tendste Ereignis meines Lebens“. Der vier-fache Stalin- und Staatspreisträger und„Held der sozialistischen Arbeit“ verkauf-te mehr als 300 Millionen Bücher. Erschrieb vor allem Kinderliteratur, auch Fa-

beln und Gedichte. DerDichter, über den seinSohn Nikita sagt, erhabe „das Land seinerKindheit nie verlas-sen“, war gegenüberder sowjetischen Ob-rigkeit von einer Nai-vität, die seine Kritikerfür Zynismus hielten.Michalkow polemisier-

te heftig gegen regimekritische Kollegenwie Boris Pasternak und Alexander Sol-schenizyn. Unter Präsident Wladimir Putindurfte er wiederum die Verse zur Hymnedes neuen Russland schreiben. Der Staats-dichter war am Lebensabend überzeugt, erhabe „alles richtig gemacht“. Sergej Michal-kow starb am 27. August in Moskau.

Wolf Leder, 103. Ein halbes Jahrhundertlang wirkte der Bühnen- und Kostümbild-ner an den großen Berliner Häusern, ab1954 als Ausstattungsleiter des Friedrich-stadtpalastes. Seine Welt war das Bunte,Leichte, der Glanz und Glitter der Ope-retten und Revuen, die schon seine frühenBerufsjahre in den Zwanzigern undDreißigern prägten. Die politischen Wir-ren der Nazi-Zeit und der deutschen Tei-lung konnten dem gebürtigen Berlinernichts anhaben – Leder schaffte es, für dieKunst zu leben und sich aus dem Politi-schen herauszuhalten. Als einer der weni-gen Berufspendler lebte und arbeitete erzu DDR-Zeiten in beiden Teilen Berlins,stattete Friedrichstadtpalast und Theaterdes Westens aus. Er träume „in Farbe undmeistens von Bühnenbildern“, sagte derBundesverdienstkreuzträger. Wolf Lederstarb am 24. August in Berlin.

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Personalien

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Thomas Jurk, 47, chronisch unterschätztersächsischer SPD-Chef und Wirtschafts-minister, hat sich als begabter Menschen-fischer entpuppt. Auf der Homepage desGenossen wirbt neuerdings der Personal-berater Reinhard Otto in höchsten Tönenfür den Sozialdemokraten – ausgerechnetder Mann, der Jurk im Mai 2008 die un-schöne „Kellen-Affäre“ beschert hatte. Derpassionierte Motorradfahrer Otto war da-mals vom Minister höchstpersönlich aufder Autobahn mit einer Polizeikelle ange-halten und zur Rede gestellt worden – we-gen angeblich rüpelhaften Fahrverhaltens.Otto beschwerte sich; Jurk kassierte einenStrafbefehl über 9000 Euro wegen Amts-anmaßung. Im Mai dieses Jahres trafensich Täter und Opfer dann zur Aussprachein einem Dresdner Lokal in Elbnähe. Da-bei kamen sich die beiden erstaunlichnahe. „Jurk hat mich menschlich sehr be-eindruckt“, so Otto. Unter dem Eindruckder Unterredung sei er jetzt gar der SPDbeigetreten. Und die Sache mit der Kelle?„Ach, an seiner Stelle hätte ich genausogehandelt“, flötet der geläuterte Biker.

Hervé Jaubert, 53,französischer Ex-Spion und Marine-ingenieur, musstesich wie eine arabi-sche Frau verschlei-ern, um am Persi-schen Golf die Luftder Freiheit zu at-men. Ursprünglichvon den Scheichsnach Dubai geholt,um Mini-Luxus-U-Boote zu bauen, ge-riet er mit dem Ge-setz in Konflikt: DiePolizei warf ihmUnterschlagung vonzwei Millionen Eurovor, drohte ihm Fol-ter an und nahmihm vor seinem

Prozess den Pass ab. Wochenlang sei er„mit einem Ball von Angst im Bauch“ her-umgelaufen, berichtet Jaubert, doch „dieseruchlosen Emirater“ hätten zu spät ge-merkt, mit wem sie es zu tun hatten: Erzog sich einen Taucheranzug an, warf sicheine schwarze Abaja über, schlenderte zumStrand hinunter und schnitt nach 007-Ma-nier dem einzigen Küstenwachboot in derGegend die Treibstoffleitung durch. Dannschipperte er heimlich über den IndischenOzean nach Mumbai hinüber – und warfrei. So steht es in seiner Autobiografie„Flucht aus Dubai“ geschrieben, die imOktober erscheinen und das „korrupte Jus-tizsystem“ von Dubai bloßstellen soll. DieScheichs, sonst empfindlich mit kritischemSchriftgut, sehen Jauberts Bericht offenbar

gelassen entgegen. Sie werde nicht gegenden Vertrieb des Buches einschreiten, ließdie Zensurbehörde verlauten.

Margaret Atwood, 69, international viel-fach prämierte kanadische Schriftstellerin,ist zur Lesereise für ihr neues Buch „TheYear of the Flood“ mit dem Schiff nachGroßbritannien gefahren. Die umweltbe-

wusste Autorin fährt zu Hause ein Hybrid-auto und setzt gegen die Sommerhitze imheimatlichen Toronto Sonnensegel ein stattder üblichen Aircondition. Die politischeMahnerin, die im vergangenen Jahr nochvor der Weltwirtschaftskrise in ihrem Essayband „Payback: Schulden und dieSchattenseiten des Wohlstands“ vor derSchuldenspirale warnte (SPIEGEL 48/2008),

Judit Mascó, 40, spanisches Pendant zu Deutschlands Long-term-Model Heidi Klum, hat für das Magazin „El País Semanal“ 20 Jahre nach dem Beginn ihrer Karriere als niedliches Covergirl von „SportsIllustrated“ eine andere Seite von sich zur Schau gestellt: die der kühl-aggressiven Domina, die ein junger Beau hilflos anschmachtet. Dass das Pose ist, wissen die meisten ihrer Landsleute, denn Mascóist als Gesundheitsberaterin, Autorin eines Model-Ratgebers sowie Ex-Moderatorin der TV-Show „Super-modelo“ eine Persönlichkeit mit Vorbildcharakter. Tatsächlich entschied sich die Katalanin schon früh inihrer Karriere, lieber das „lokale Sternchen“ (Mascó) zu werden, denn als Jetset-Model mehr Stunden inFlugzeugen als bei ihrer Familie zu verbringen. Sie heiratete ihre Jugendliebe, einen Anwalt, bekam vierTöchter und pflegte ihr High-School-Blondchen-Image – schließlich habe sie damit „viel Geld verdient“.Vor allem, so Mascó, dank treuer Kunden aus Deutschland: den Katalogen großer Versandhäuser.

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Jaubert

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hält nämlich Klimawandel und Umwelt-zerstörung für die wirklich ernsten Gefah-ren – und nicht etwa Schweinepest oderAids. „Als Spezies stehen wir vor einemmagischen Moment“, sagte Atwood inLondon. Sie verglich diesen mit dem Zu-stand in einem Reagenzglas voller Futterund Amöben, die sich in jeder Minute ein-mal teilen. „Um Mitternacht ist das Glasvoll und kein Futter mehr übrig“, so dieAutorin. „Eine Minute vor Mitternacht wardas Glas noch halb voll, und die Amöbensagten: ‚Uns geht es gut, das Glas ist janoch halb voll Futter.‘“ An genau diesem„magischen“ Punkt befinde sich jetzt dieMenschheit.

Barbara Schöneberger, 35, TV-Star,Schauspielerin und neuerdings Sängerin,engagiert sich unentgeltlich für die Deut-sche Oper. Verkleidet als Kaiserin aus der„Frau ohne Schatten“, als Legionär in Wag-ners „Rienzi“ oder als Desdemona aus„Otello“ – so schwarz angemalt wie ihr eifersüchtiger Verehrer, mit betroffener Miene, am Zügel ein Pferd mit Augenklap-pen –, zeigt sich die frühere „Blondes Gift“-Moderatorin erstmals als Muse der Hoch-kultur. Diese Sympathie habe sie „bis zumeinem 35. Lebensjahr unter Verschluss gehalten“, so Schöneberger, obwohl sie einen „hochklassischen Hintergrund“ habe.Schließlich ist ihr Vater Soloklarinettist ander Münchner Staatsoper. Für sie selbst,

verriet sie ihrem Fotografen André Rival,bedeute Oper „Schwelgen-Können“. Dabeioutet sich Schöneberger als Anhängerinklassisch-opulenter Inszenierungen. Es sei„geistlos, wenn in jedem Stück eine SS-Uni-form auftaucht“, kritisiert sie politische Anspielungen in der Oper. „Wenn ich Elendsehen will, schalte ich ProSieben ein.“

Frédéric Beigbeder, 43, Pariser Schrift-steller und Ex-Werber mit dem Renommeeeines Ché Guevara im Gucci-Anzug, wid-met sich in seinem neuen Buch „Un ro-man français“ seiner gutbürgerlichen Ju-gend. Anlass der Nabelschau war seineVerhaftung am 28. Januar 2008, als derDandy beim Kokainschnupfen auf derKühlerhaube eines Autos erwischt wurde.Am Morgen zuvor hatte er erfahren, dasssein älterer Bruder Charles Beigbeder, einStar-Manager, vom Präsidenten der Repu-blik den Orden der Ehrenlegion erhaltenwürde. Während seiner Untersuchungshaftstellte sich Beigbeder unangenehme Fra-gen: „Während des Zweiten Weltkriegs hatmein Großvater Juden gerettet. Ich dage-gen, zwei Generationen später, bin in einerZelle wegen pubertärer Dummheiten. Wasist passiert?“ In seiner Familie sei stets sogetan worden, als wäre alles gut – dabeiwar Frédéric das einzige Scheidungskindseiner Klasse. Zum Bruder quälte ihnHassliebe, „er war vollkommen, also warich unvollkommen“, ein Muster, das sichdurch ihre Biografien fortsetzt: WährendCharles als Familienvater und Katholik zurVorbildfigur der Konservativen avanciert,lässt Frédéric sich scheiden und schreibtlinke Popliteratur. Der Rechten grollt derertappte Drogennutzer nach wie vor: „Sar-kozy hat Frankreich in einen Polizeistaatverwandelt!“

Veronica Lario, 53, Ex-Schauspielerin, be-schert ihrem Noch-Gatten, Italiens Regie-rungschef Silvio Berlusconi, 72, mit ei-nem alten Buch neuen Ärger. Vorige Wo-che legte der Verlag ihre Autobiografie„Tendenza Veronica“ von 2004 mit einemzusätzlichen Kapitel neu vor. DieSignora enthüllt darin die „wah-re Geschichte“ ihres Ehedramasmit dem rüstigen Großvater aufsteter Trophäenjagd. Zwar sindalle Details der berlusconiani-schen Home- und Bett-Storyslängst bekannt. Die rauschendenFeste des milliardenschwerenMedienmoguls, zu denen regel-mäßig Dutzende junger Show-girls und Models, gelegentlich

auch reifere Escort-Damen herangekarrtwerden, ebenso wie Berlusconis „Papi“-Verhältnis zu einer Schülerin aus einemVorort von Neapel. Nach dieser Eskapadedes regen Regenten hatte Lario im Mai dieScheidung eingereicht und ihrem Ehemanneine Klinik für Sexsüchtige empfohlen.Aber nicht das, was seine Frau erzählt, istfür Berlusconi politisch brisant, sondernder Umstand, dass ausgerechnet sie es er-zählt. Denn die Integrität der Familie, oderzumindest deren Fassade, ist ein Grund-pfeiler der bürgerlich-katholischen Gesell-schaft. Und diese Säule zerbröselt dem insDauerlächeln gelifteten Italien-Chef gerade.

Maya Gabeira, 22, brasilianische Welt-klasse-Wellenreiterin, ist jetzt die mut-maßlich größte Woge heruntergesurft, mitder es je eine Frau aufgenommen hat, wie

das Online-Portal Surfline berichtet. Derspektakuläre Ritt fand im August am Dun-geons Riff bei Kapstadt statt, einem Surfer-Mekka mit turmhohen Monsterwellen. FürGabeira, die für ihre Erfolge in dem Ex-tremsport erst im Juli vom US-SportkanalESPN als „herausragendste Athletin desJahres“ geehrt wurde, war Dungeons derHärtetest schlechthin: „Die Wellen bre-chen sich überall, und sie kommen sehrplötzlich. Außerdem jagt die kalte, hai-gesättigte See zusätzlich Angst ein.“ DochGabeira ist das Überleben im Haifisch-becken gewohnt: „Big-Wave-Surfen isteine Männerwelt“, sagt sie, das sei nichtimmer „besonders lustig“. Gabeira, Toch-

ter des (geschiedenen) Promi-Paars Fernando Gabeira, Grü-nen-Politiker, und Yame Reis,Modedesignerin, lernte als Aus-tauschschülerin in Australiensurfen. Es dauerte Jahre, bis siean Profi-Events teilnehmen durf-te. Sie hat sich mehrfach dieNase gebrochen, ihr Körper istdauerzerschrammt, aber sie ge-nießt es, immer wieder „dieMänner zu beeindrucken“.

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Aus dem „SPIEGEL“ über die Rettung derFinanzholding Hypo Real Estate: „Es istvollbracht. Der Text steht. Die Runde ver-lagert sich in den Großen Saal, um bei ei-nem Glas Wein auszuspannen. Steinbrück,der die ganze Zeit in seinem Büro Aktienbearbeitet hat, stößt dazu.“

Anzeige in der „Schwäbischen Zeitung“

Aus einer Presseerklärung in der Zeit-schrift „Fachanwalt Arbeitsrecht“: „DasLAG wird nunmehr die Kündigungsvor-würfe, der Kläger habe mit einer Soft-Air-Pistole auf ihm untergebene Mitarbeitergeschossen, einem Mitarbeiter eine Gas-pistole an die Schläfe und ein Messer andie Kehle gehalten, einem Mitarbeiter miteiner elektrischen Fliegenklatsche einenStromschlag versetzt, einem Mitarbeitermit einer Lederpeitsche oder einem Strei-fen aus einer Ledertischablage geschlagenund dazu aufgerufen, die im Winter 2003bevorstehende Inventur zu boykottieren,aufzuklären und zu bewerten haben.“

Anzeige im „Reutlinger General-Anzei-ger“

Bildunterschrift in der „Westfalenpost“:„Karina (Gitarre), Lukas (Geige), Hannah(Cello), Jonathan (Trompete), Tim (Posau-ne) und Isabella (Flöte) erhielten ihre In-strumente unverpackt. Die übrigen Kinderder Grundschule Breckerfeld blieben inihren Koffern, um im Trubel der Übergabenicht zu Schaden zu kommen.“

Anzeige im „Hamburger Abendblatt“

Autokritik in der „Welt“: „Rund 135000Euro wirken fast schon unverschämt. Weraufs Geld gucken muss, sollte besser dasjetzige Einstiegsmodell, den Panamera S,ab 94575 Euro mit 400 PS kaufen.“

Zitate

Die „Süddeutsche Zeitung“ zu den

Folgen der SPIEGEL-Enthüllungen über

die Stasi-Vergangenheit des Auf-

sichtsratschefs des 1.-FC-Union-Berlin-

Sponsors ISP (Nr. 35/2009):

Am Wochenende hatte der SPIEGEL ISP-Aufsichtsrats-Chef Czilinsky als ehemaligenStasi-Spitzel enttarnt. Da ahnte man beiUnion plötzlich, woher der geheimnisvolle51-Jährige das mit dem weltweiten „Netz-werken“ so gut konnte: Vor der Wende warer Führungsoffizier des DDR-Ministeriumsfür Staatssicherheit gewesen, zuletzt imRang eines Hauptmanns der Hauptverwal-tung Aufklärung (HVA). Laut SPIEGELkümmerte sich Czilinsky um mindestens 26 „operative Vorgänge“, etwa geheimeKuriergänge und das Anwerben von Agen-ten … Jürgen Czilinsky, der gerade in Afri-ka weilt, räumte die Stasi-Tätigkeit ein …und trat eilig von seinem ISP-Amt zurück –aber da war schon nichts mehr zu retten.

Die dänische Tageszeitung „Politiken“

über eine Kopenhagen-Reportage

auf SPIEGEL ONLINE (am 23. August):

„Es ist nie erbaulich, wenn etwas Negativesüber Kopenhagen verfasst wird. Durch dieTourismus-Brille betrachtet, kann so etwasnie gut sein“, kommentiert Wonderful Co-penhagens Kommunikationschefin AnéhChristina Hajdu den Artikel des ein-flussreichen Nachrichten-Magazins. Der63-jährige Journalist Henryk Broder be-schreibt, wie er zu Boden geschlagen undseine Kamera in ein brennendes Ölfass ge-worfen wurde, als er in der Pusher StreetFotos machte. Daraufhin musste er erken-nen, dass die Polizei ihm weder dabei hel-fen konnte noch wollte, die Gewalttäterausfindig zu machen.

US-Entertainer Stephen Colbert in

seiner TV-Show am 18. August

zur SPIEGEL-Berichterstattung über

den Wahlkampf von

Vera Lengsfeld (Nr. 34/2009):

Ich lüpfe meinen Hut für DeutschlandsChristlich-Demokratische Union … Ich binüber etwas in der aktuellen Ausgabe desdeutschen Magazins DER SPIEGEL gestol-pert. Ich lese ihn wegen der Comics … DieCDU-Kandidatin Vera Lengsfeld bewirbtsich um einen Sitz im Deutschen Bundestagfür den Bezirk Kreuzberg-Friedrichshain.Nun gab es Ärger, als Lengsfeld sichbemühte, ihre Kampagne anzuspitzen, in-dem sie ein augenfälliges Plakat mit sichselbst und Parteichefin Angela Merkel ver-öffentlichte mit der Überschrift: ‚Wir habenmehr anzubieten.‘ Wow! Ich bin ein Ber-liner – was mich an Marmeladen-Donutserinnert. Wir wissen ja, Sex verkauft sich,und wer ist sexyer als Angela Merkel?

Hohlspiegel Rückspiegel

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