jonas jablonskis (1860–1930) und die genese der litauischen nationalsprache

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Schriften der Baltischen Historischen Kommission Herausgegeben von Konrad Maier, Matthias Thumser und Ralph Tuchtenhagen Band 17 Baltische Biographische Forschungen Herausgegeben von Norbert Angermann, Wilhelm Lenz und Konrad Maier Band 1 LIT

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Schriften der Baltischen Historischen Kommission

Herausgegeben von

Konrad Maier, Matthias Thumser

und Ralph Tuchtenhagen

Band 17

Baltische Biographische Forschungen

Herausgegeben von

Norbert Angermann, Wilhelm Lenz

und Konrad Maier

Band 1

LIT

Geisteswissenschaften und Publizistik im Baltikum

des 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Herausgegeben von

Norbert Angermann, Wilhelm Lenz und Konrad Maier

Berlin 2011

Inhalt Vorwort .......................................................................................... 9

Indrek Jürjo † Johann Wilhelm Ludwig von Luce (1756–1842). Ein Aufklärer auf der Insel Oesel ..................................................... 15

Ivar Leimus Zu den Anfängen der Numismatik in Estland: Eduard Philipp Körber (1770–1850) .............................................. 43

Mare Rand Karl Morgenstern (1770–1852) im Spiegel seiner Privatkorrespondenz ............................................ 65

Lea Leppik Zwei Vertreter des aufgeklärten Absolutismus – Generalgouverneur Philippo Paulucci (1779–1849) und Rektor Gustav Ewers (1779–1830) .......................................... 101

Ulrich Kronauer Erziehung bei Carl Gustav Jochmann (1789–1830) ........................ 121

Edward C. Thaden † Iurii Fedorovich Samarin (1819–1876) as a Baltic Historian ........... 137

Karsten Brüggemann Ein Russe in Riga: Evgraf Vasil’evič Češichin (1824–1888) als Journalist und Historiker im Dienst des Imperiums ................... 157

Kersti Lust Johann Köler (1826–1899), ein Vorkämpfer der estnischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert .................... 193

Wilhelm Lenz Carl Schirren (1826–1910) und seine „Lebensaufgabe“ ................... 217

6

Heinrich Wittram Alexander von Oettingen (1827–1905) – Theologe und Sozialethiker in Dorpat ............................................ 239

Kersti Taal Leo Meyer (1830–1899). Ein deutscher Gelehrter als Förderer der estnischen Kultur ........................................................ 265

Krzysztof Zajas Gustaw Manteuffel (1832–1916) – ein vergessener polnisch-livländischer Historiker ............................. 291

Michael Garleff Julius Eckardt (1836–1908) als baltischer Historiker und politischer Publizist in Riga ..................................................... 313

Klaus Neitmann Hermann von Bruiningk (1849–1927). Livländischer Landesarchivar und Landeshistoriker ......................... 337

Ieva Ose Karl von Löwis of Menar (1855–1930) als Erforscher der Denkmäler Alt-Livlands ...................................... 357

Anneli Lõuna Jüri Truusmann (1856–1930), Zensor und aktiver Teilnehmer am gesellschaftlichen Leben in der Zeit der Russifizierung .............. 373

Manfred Klein Jonas Basanavičius (1857–1927) und sein Beitrag zur europäischen Folkloristik ................................ 397

Stephan Kessler Jonas Jablonskis (1860–1930) und die Genese der litauischen Nationalsprache .............................. 425

Sergej Isakov Michail Lisicyn (1862–1913) – ein russischer Journalist und Vertreter des öffentlichen Lebens in Estland am Ende des 19. Jahrhunderts ........................................ 455

7

Stephan Bitter Oswald Külpe (1862–1915) und die Dorpater religionspsychologische Schule ............................ 483

Ljudmila Dub’eva Ivan Ivanovič Lappo (1869–1944): „Ich möchte die Staatsordnung von Litauen untersuchen“ .............. 513

Personenregister .............................................................................. 541

Autorenverzeichnis .......................................................................... 553

Stephan Kessler

Jonas Jablonskis (1860–1930) und die Genese der litauischen Nationalsprache

Der Standardisierungsprozess des modernen Litauisch begann in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und ist eng mit den sozialen Aspekten seiner Zeit verbunden: mit der gesellschaftlichen Nationalisierung im Allgemeinen und mit der litauischen Nationalbewegung im Besonderen. Die Standardisierer, allen voran Jonas Jablonskis, folgten einem sprach-lichen Ideal, das aus ihren Vorstellungen von „Volk“, „authentisch litau-isch“ usw. geboren wurde. Insofern wandten sich die Standardisierer vom Ende des 19. Jahrhunderts gegen einen sprachlichen Zustand des Litauischen, den sie im Spannungsfeld mehrerer, in ihren Augen ungün-stiger Einflüsse verorteten: – Jablonskis vertrat die Ansicht, dass sich der zukünftige Standard an

der „alltäglichen Sprache des einfachen Volkes“ (liaudies žmonių kal-ba) orientieren sollte1. Denn man erachtete das Litauisch der High Society aus Administration, Adel, Kirche, Politik und anderen gelehr-ten Gruppen als durch fremde, entlehnte Worte, Formen und Struk-turen beschädigt. Als eine Hauptquelle dieser Entlehnungen wurden i.d.R. die slawischen Sprachen und hier das Polnische identifiziert.

– Aber auch in sozialer und politischer Hinsicht waren am Ende des 19. Jahrhunderts das Polnische und die konservative katholische Kirche Polens der ‚Feind‘ der litauischen National-Aktivisten. Gegen beide verlief deshalb ein starker, wenn auch oft undifferenzierter2 Abgren-

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1 Bereits in seinem ersten sprachwissenschaftlichen Beitrag zeigt Jablonskis entspre-chende Ansichten, und zwar 1890 in seiner Rezension der Lietuviška gramatika (Til-sit 1886) von Mikolas Miežinis, in: Varpas 6 ([Tilsit] 1890); neuerlich in: Jablonskio raštai [Jablonskis’ Schriften], 5 Bde., hg. v. Juozas BALČIKONIS, Kaunas 1933–1936, hier Bd. IV, S. 3–9.

2 In der katholischen Kirche gab es ja nicht nur die, die Litauen als genuinen Teil Po-lens wissen wollten, sondern auch politische Köpfe wie den Bischof von Žemaiten,

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zungsprozess, weil konservierte Lebensverhältnisse und individuelle Bildungskarrieren fast unweigerlich mit der katholischen, polnisch-sprechenden Kirche und einer Zweitsozialisation zum Polnischen hin verbunden waren3.

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Motiejus Valančius (1801–1875), oder den Bischof von Sejny, Antanas Baranauskas (1835–1902), die durchaus die Eigenheiten ihrer Diözesen sahen und für ihre kir-chenpolitischen Ziele die Litauer und das Litauische in ihren Diözesen förderten. – Zu Jablonskis’ Einstellung gegenüber der katholischen Kirche vgl. z.B. seine Äuße-rungen in Briefen an Vincas Kudirka (abgedruckt in: Literatūra ir kalba 1 [1956], S. 387–390) oder sein Pamphlet „Die Stärke der litauischen Geistlichkeit“ (RUSSKIJ LI-TOVEC [Jablonskis’ Pseudonym], Sila litovskogo duhovenstva, in: Sovremennye izve-stija 113 [1884] S. 2 und 115 [1884] S. 2 f.; als: Lietuvos dvasininkų jėga, in: Jonas JABLONSKIS, Straipsniai ir laiškai [Aufsätze und Briefe], hg. v. Arnoldas PIROČKINAS, Vilnius 1991, S. 21–38). – Jablonskis gebrauchte im Laufe seines Lebens auch noch andere Pseudonyme wie A. Gerulaitis, Kalbininkas, K. Obelaitis, A. Pikčiurna oder Rygiškių Jonas.

3 „During Lithuania’s long-term union with Poland (1569–1795), the use of Polish was predominant in the Grand Duchy of Lithuania […] amongst the ruling elite, i.e. the nobility, the gentry and the church […] Following the third partitioning of Po-land in 1795, when the greater part of Lithuania had become a Russian province, the social and cultural influence of Polish persisted.“ (Gabrielle HOGAN-BRUN, Dag Try-gve Truslew HAUG, Stephan KESSLER, Processes of Language Standardization in Nor-way and Lithuania: A Comparative Analysis, in: Nation und Sprache in Nordost-europa im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Konrad MAIER, Wiesbaden [Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 9; im Druck].) Trotz des Einflusses, den der zaristische Staat in den staatlichen Einrichtungen und Schulen für das Russische durchsetzen konnte, blieb Polnisch bis weit nach 1861 die traditionelle Bildungssprache, weil die Bil-dungswege weiterhin durch kirchliche Institutionen verliefen (Stephan KESSLER, Li-teratur und werdende Nation in Lettland und Litauen; Die Versepen Lāčplēsis [1888] und Witolorauda [1846], in: Nordost-Archiv N.F. XVI [2007]: National-Texturen. National-Dichtung als literarisches Konzept in Nordosteuropa, hg. v. Jürgen Joa-chimsthaler u. Hans-Christian Trepte, S. 127-180]). Schuld daran war eine Verfü-gung aus dem Jahre 1824, die Bauernkindern den Besuch des Gymnasiums untersag-te (J. EHRET, Litauen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Bern 1919, S. 134). Diesen Kindern war somit nur noch ein kirchlicher Schulweg möglich. Das Verbot wurde erst mit Aufhebung der Leibeigenschaft zurückgenommen. Bezüglich der Stellung des Polnischen in Litauen sei erwähnt, dass Polnisch auch weiterhin Teil des Alltags der drei ‚litauischen‘ Gouvernements Kovno (Kaunas), Vil’na (Vilnius) (beide zu Russland gehörig) und Suwałki (zu Polen gehörig) war.

Jonas Jablonskis (1860–1930) 427

– Während diese Lage durchaus zu persönlichen Allianzen mit Russ-land, dem Zarismus und dem Russischen führen konnte – Jablonskis selbst ist so ein Fall –, war die zaristische Politik gegenüber Litauen bald Ursache für Kritik, nachdem als Folge des Aufstandes von 1863/64 u. a. ein Druckverbot für Bücher mit lateinischen Lettern er-lassen worden war. Es wurde trotz aller Initiativen bis 1904 aufrecht erhalten und führte auch für die litauische Kultur zu einer besonders schwierigen Situation. Die russische Schulpolitik wollte außerdem die jungen Generationen zum Russischen erziehen, als sich eine entspre-chende Ideologie in der Politik gegen das „Nordwest-Territorium“ (severo-zapadnyj kraj) Russlands durchsetzte. Die Aktionen gegen die-se und andere ‚Einengungen‘ waren verschiedenerlei4. Auch waren andere Maßnamen, die von Seiten der Obrigkeit vorgenommen wur-den, um weitere polnische Aufstände zu unterbinden, den Einfluss der ‚polnischen‘ Kirche zurückzudrängen, Litauen von Polen abzu-spalten und es dem Zarenreich zuzuführen, vielfach zugleich Repres-sionen gegen Litauer und ihr gewohntes öffentliches und privates Le-ben – mit weit reichenden Konsequenzen5.

Auch vor 1880 hatte es in Litauen bereits Standardisierungsprozesse und Standardisierer gegeben. Doch diese älteren Prozesse hatten einen ande-

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4 „During Tsarist rule, when Lithuanian publications had to be printed using the Cy-rillic script (from 1864 to 1904), about 4 000 Lithuanian books were produced, mostly abroad, in the Latin alphabet and only 60 in Cyrillic script. Many of these Latin-based books were smuggled into Lithuania. This act carried symbolic meaning and was paralleled by the publication of the first Lithuanian newspapers (Aušra: ‚Dawn‘, 1883–1886; Varpas: ‚The Bell‘, 1889–1905) in nearby East Prussia (Ost-preußen).“ (HOGAN-BRUN, HAUG, KESSLER [wie Anm. 3]). Ausführlicher dazu Gie-drius SUBAČIUS, The Influence of Clandestine Standard Lithuanian in the Latin Al-phabet on the Official Lithuanian in Cyrillic Letters (1864–1904), in: Nation und Sprache in Nordosteuropa (wie Anm. 3). Darüber hinaus sei auch die Institution der „Notschule“ (vargo mokykla) erwähnt: Damit bezeichnete man den auf Bauernhöfen heimlich durchgeführten litauischen Unterricht.

5 Stephan KESSLER, Žemaitisch und Lettgallisch – eine Misserfolgsgeschichte, in: Nati-on und Sprache in Nordosteuropa (wie Anm. 3).

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ren Charakter gehabt, als dass sie die sozialen Umbrüche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hätten zur Gänze beeinflussen können. Ins-besondere auch die Standardisierungsideen aus der ersten Hälfte und von der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich nicht durchsetzen kön-nen, obwohl sie von einflussreichen Persönlichkeiten ausgingen6. Was sich am Ende durchsetzte, das waren Jonas Jablonskis’ Ideen. Seine sprachpuristische Position verwendete dabei den ‚ethnischen‘ Argumen-tationshebel, den die Ethnopatrioten der neuen, durch Bildungskarrie-ren entstandenen Mittelschicht auch in anderen Bereichen verwendeten. Sie identifizierten sich (auch sprachlich) nicht mit der high society und schufen sich einen eigenen Gruppenstandard, den sie (jedenfalls im Falle der Sprache) aus dem Milieu ihrer elterlichen Herkunft gewannen, aber als für alle verbindlich, weil ‚ethnisch eigen‘, ‚rein‘, ‚authentisch‘ usw. deklarierten.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Litauisch auch unter Wis-senschaftlern eine gewisse Popularität erlangt, weil die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft im Litauischen etliche ‚archaische‘ sprachliche Momente entdeckte. Doch solche Werke bedienten nur eine europäische Wissenschaftselite, die kaum Interesse an der realen sprach-lichen und sozialen Situation der Träger dieser Sprache zeigten. Ja-blonskis’ Fall lag anders, nicht nur weil er aus Litauen selbst stammte. Er startete eine große Zahl von kulturellen Aktivitäten7 und veröffentlichte

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6 Ebenda. 7 Deren Bedeutung nicht zu unterschätzen ist: „Der langsam voranschreitende Prozess

der Nationalisierung muss zu einem Zwischenstadium geführt haben, in dem sich in ein und demselben Staatswesen Parallelgesellschaften entwickelten. […] Sie gründe-ten eine Gesellschaft […] in einer Gesellschaft […], weil sie parallel zu den Institu-tionen derjenigen Gesellschaft, von der man sich zu emanzipieren suchte, ‚eigene‘, ‚nationale‘ Institutionen schufen: […] parallele Gesellschaften, Parteien, Vereine, […] parallele literarische Abende und Bühnenaufführungen, eine parallele ‚nationale‘ Geschichtsschreibung, ‚eigene‘ Namen und Benennungen (um die ‚richtige‘ ethni-sche Zugehörigkeit zu markieren) usw.“ KESSLER, Literatur und werdende Nation (wie Anm. 3), S. 156 f. Zum Begriff „Ersatzinstitution“ vgl. Anm. 31.

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während eines Zeitraums von 50 Jahren unzählige Werke8. 1901 er-schien seine erste Grammatik, die trotz der politischen Hindernisse ein voller Erfolg wurde. Er hatte einen großen Einfluss auf die Presse und Schriftsteller seiner Zeit, deren Ausgaben er sprachlich überarbeitete, um sie der neuen litauischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Am An-fang des 20. Jahrhunderts hatte sich Jablonskis als bon goût-Institution für die Sprache ‚der Litauer‘ etabliert. Nach der Entstehung der Repu-blik Litauen war er Professor in Kaunas, wo er mit seinen Schülern und Studenten viele populärwissenschaftliche, aufklärerische und künstleri-sche Werke nach dem neuen Standard ins Litauische übersetzte. Er er-reichte durch all das, dass sich seine Ideen rapide verbreiteten. Durch seine Kreativität sind z. B. so alltägliche Wörter wie pirmadienis ‚Mon-tag‘, ateitis ‚Zukunft‘, degtukas ‚Streichholz‘, vienaskaita ‚Einzahl, Singu-lar‘, valstietis ‚Bauer‘, tautietis ‚Volksgenosse, Landsmann‘, tamsuolis ‚Ungebildeter‘ und įtaka ‚Einfluss‘ in die litauische Sprache gekommen9. Auch wenn es natürlich eine Metapher bleibt: Jonas Jablonskis ist der Vater des modernen Litauisch.

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8 Zugänglich über verschiedene Ausgaben: Jablonskio raštai (wie Anm. 1) (sie ist die bis heute maßgebliche Gesamtausgabe); Jonas JABLONSKIS, Rinktiniai raštai [Ausge-wählte Werke], 2 Bde., hg. v. Jonas PALIONIS, Vilnius 1957–1959 (enthält die vier grammatischen Hauptwerke und diverse Aufsätze aus den Jahren 1904 bis 1930); DERS., Straipsniai (wie Anm. 3) (enthält die Aufsätze und Briefe, die in der 5-bändigen Ausgabe fehlen, z.T. in litauischen Übersetzungen); Jablonskio laiškai [Ja-blonskis’ Briefe], hg. v. Arnoldas PIROČKINAS, Vilnius 1985.

9 Algirdas SABALIAUSKAS, Lietuvių kalbos tyrinėjimo istorija iki 1940. m. [Die Ge-schichte der Erforschung der litauischen Sprache bis auf das Jahr 1940], Vilnius 1979, S. 198. – Die Analyse dessen, was sich aufgrund von Jablonskis’ Vorschlag durchgesetzt hat oder nicht, ist kompliziert, u.a. weil Jablonskis auch experimentierte und weil es im Rahmen des Standardisierungsprozesses auch darum ging, eine Viel-zahl von gebräuchlichen Varianten auf eine zu reduzieren. Darstellungen hierzu fin-den sich u.a. in Pranas SKARDŽIUS, J. Jablonskis ir dabartinė lietuvių bendrinė kalba [Jonas Jablonskis und die moderne litauische Koine], in: Archivum philologicum 8 ([Kaunas] 1937), S. 12–35; Arnoldas PIROČKINAS, Jono Jablonskio gramatiniai tai-symai [Jonas Jablonskis’ grammatische Korrekturen], Kaunas 1976; und Helge D. RINHOLM, „Rašomóji kalbà“ – Steps toward Modern Standard Lithuanian (MSL), in: The Baltic Countries 1900–1914. Proceedings from the 9th Conference on Baltic Studies in Scandinavia, Stockholm, June 3–6, 1987, 2 Bde., hg. v. Aleksander LOIT, Uppsala 1990, hier Bd. 2, S. 457–470.

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Jonas Jablonskis10 (poln. Namensform: Jan Jabłoński) wird am 30. Dezember 186011 im Dorf Kubilėliai (poln. Kubilele) geboren, das ca. vier Kilometer nördlich vom damaligen Władysławów (lit. Naumiestis, heute Kudirkos Naumiestis)12 liegt13. Die Eltern sind Juozas Jablonskis und Jonieška Jablonskienė, geborene Šipailiūtė. Sie sind Bauern; das Dorf Kubilėliai gehört zum Forstamt. Die Freisetzung der Bauern (per-sönliche Freiheit ohne Landrecht) fand im Russischen Reich am 19. Fe-bruar 1861 statt; doch nicht in der Suwalkei: Hier hatte bereits Napole-on seinen Zivil-Codex eingeführt, welcher die Herrschaftswechsel über-stand. Denn im Prinzip hatten die Landbesitzer Litauens längst be-merkt14, dass das Fronsystem mit seiner erzwungenen Arbeit unproduk-

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10 Die folgende Biographie wurde auf der Basis dieser Werke erstellt: A. MERKELIS, J. Jablonskio bibliografija [Jablonskis-Bibliographie], in: Archivum Philologicum 2 ([Kaunas] 1931), S. 15–37; Arnoldas PIROČKINAS, J. Jablonskio seminaras [Das Ja-blonskis-Seminar], Vilnius 1970; DERS., Prie bendrinės kalbos ištakų. J. Jablonskio gyvenimas ir darbai 1860–1904 m. [An der Quelle unserer Koinē. Jablonskis’ Leben und Werk in den Jahren 1860 bis 1904], Vilnius 1977; DERS., J. Jablonskis – ben-drinės kalbos puoselėtojas, 1904–1930 [Jablonskis als Pfleger der Koinē, 1904–1930], Vilnius 1978; SABALIAUSKAS, Istorija (wie Anm. 9), S. 192–199.

11 Alle Daten folgen solange der sog. alten Zeitrechnung, wie diese in Litauen Gültig-keit hatte.

12 Damals zum Königreich Polen gehörig, im Gouvernement Suwałki gelegen, an der Grenze zu Ostpreußen. Ca. 6 000 Einwohner. Auf ostpreußischer Seite befand sich der Ort Schirwindt direkt gegenüber. Beide Städtchen trennte der Fluss lit. Šešupė, poln. Szeszupa, dt. Schirwindt oder Scheschuppe, der auch die Grenze darstellte.

13 Jablonskis stammt somit aus demjenigen ‚schmalen‘ Teil des ehemaligen Großfür-stentums Litauen linksseitig der Memel (Nemunas), der bei der Dritten Teilung Po-lens 1795 an Preußen fiel. Hier gründete Preußen die Provinz Neuostpreußen. Nach dem Krieg der sog. Vierten Koalition gegen Frankreich eignete sich Napoleon 1807 dieses Gebiet an, als er das Fürstentum Warschau bildete. Auf dem Wiener Kongress (1815) fiel das Fürstentum jedoch an Russland. Es wurde in das Königreich Polen umbenannt, als das es Teil des Russischen Reiches war (via Personalunion). Der be-treffende ‚litauische‘ Teil wurde zum Gouvernement Augustów. 1867 wurde jedoch aus ihm das Gouvernement Suwałki. Diese ‚Zuordnung‘ hat sich im Litauischen bis heute volkstümlicherweise gehalten: Man sprach und spricht von der Suvalkija ‚Su-walkei‘; die moderne Bezeichnung ist allerdings Užnemunė ‚Hintermemelland‘, weil nur der nördliche Teil der Suvalkija im heutigen Litauen liegt.

14 1817 bat z. B. der Adel des Gouvernements Vil’na (Vilnius) den Zaren erfolglos, den Bauern in diesem Gebiet die persönliche Freiheit zu geben.

Jonas Jablonskis (1860–1930) 431

tiv war: Denn in der Žemaitija gab es aus Tradition ein Feudalsystem auf Pachtbasis und dieses war (volks)wirtschaftlich erfolgreicher. Hier gelangten auch schon früh Bauern zu relativem Wohlstand und versuch-ten mehr Freiheiten für sich und ein Überschreiten der sozialen Grenzen für ihre Kinder zu erreichen. Dies wiederholte sich dann in der Suwal-kei, wenn auch die Umstände der Freisetzung von solcher Art waren, dass es noch Jahre dauerte, bis sie für die Betroffenen selbst ökonomi-sche Relevanz erlangte15. Die Generation von Bauern, die erstmals zu einem gewissen Wohlstand gelangte und soziale Ambitionen besaß, war die Generation von Jablonskis’ Eltern. So waren zwar auch Jablonskis’ Eltern landlos und fronpflichtig geblieben (der Vater sorgte für 20 ha – wahrscheinlich gepachteten – Landes); bei Jablonskis’ Geburt besaßen sie aber wohl die Hofgebäude als Immobilien.

Dieser Hintergrund bildet die Basis für Jablonskis’ Bildungskarriere, welche 1869 in der Grundschule von Władysławów (Kudirkos Naumie-stis) beginnt. Im Grunde ist es aber ein ungünstiger Augenblick für eine ‚litauische Karriere‘, denn nach dem Aufstand von 1863/64 hat die rus-sische Staatsmacht eine neue Politik eingeschlagen. Sie besteht bis 1872 in harschen Gegenmaßnahmen und einem kriegsähnlichen Zustand. Denn der eigens zur Niederschlagung des Aufstandes berufene Stellver-treter des Zaren in Litauen, Generalgouverneur Graf Michail N. Mu-rav’ëv (1796–1866), ist der Ansicht, dass Litauen quasi automatisch wieder16 russisches Land werden würde, wenn nur der Einfluss Polens

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15 Es sei somit die volkswirtschaftliche Relevanz (so bereits Miroslav HROCH, Die Vor-kämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine verglei-chende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Praha 1969, S. 157–159) und die persönliche Relevanz des Befreiungsaktes betont. Letzte-res vor allem gab den Menschen ja erst die Chance, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und als soziale Subjekte aufzutreten.

16 Es gab eine slavophile Theorie, nach der Litauen und die Litauer ursprünglich genuin russisch(sprachig) gewesen waren und sich nur durch die Geschichte (sc. mit Polen) von Russland und den Russen entfremdet hätten. Als Beweis führte man an, dass die frühesten litauischen Quellen in einer dem Russischen ähnlichen Sprachform und auch in kyrillischen Buchstaben verfasst seien. (Das stimmte, nur aus einem anderen Grund: Orthodoxe slavische Mönche hatten als Schreiber am litauischen Großfür-stenhof gearbeitet.)

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auf dieses Gebiet eingeschränkt würde. Man versucht alles, um den Ein-fluss des ‚polnischen Elements‘ zurückzudrängen. Die Makrosituation im staatlichen Schulwesen17 war diese:

„Der ganze Unterricht sollte in der ‚Staatssprache‘ stattfinden, d.h. auf Russisch. Einzig der Religionsunterricht konnte in der Muttersprache er-teilt werden, aber in der Praxis kam es nicht dazu, da beinahe die ganze […] Lehrerschaft [in Litauen] gegen […] Lehrer [aus Russland] ausge-tauscht wurde, die in der Regel ihre Ausbildung auf orthodoxen Priester-seminaren erhalten hatten. Die Folge davon war, daß die katholischen li-tauischen Bauern die offiziellen Schulen boykottierten18. Noch 1897 gin-gen nicht mehr als 7 % aller Kinder zur Schule19. An ihrer Stelle entstand auf dem Lande eine große Zahl kleiner, illegaler Schulen und Unter-richtsgruppen, wo auf litauisch unterrichtet wurde und deren Wirksam-keit von den Behörden unerbittlich verfolgt wurde20.

Auch im Königreich Polen, das man jetzt von russischer Seite nur noch als „Weichselland“ (privislanskij kraj) bezeichnete, war Russisch als Amts- und Schulsprache eingeführt worden. Polnisch war nur im Reli-gionsunterricht zugelassen. Wie in Litauen ging die Bevölkerung viel-fach dazu über, den Grundschulunterricht im Geheimen abzuhalten21.

In der Suvalkija, wo das litauische Bauertum stärker, die Absetzung vom Polentum nicht zuletzt infolge der hier entgegenkommenderen Haltung der russischen Behörden22 gegenüber den Litauern in manchem deutli-

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17 Daneben gab es auch ein kirchliches, vor allem auf ‚weiterführendem‘ Niveau (näm-lich die Priesterseminare).

18 Vgl. dazu auch Anm. 42. 19 Zu den erheblichen regionalen Differenzen vgl. HROCH, Vorkämpfer (wie Anm. 15),

S. 153 f. 20 Aleksander LOIT, Die nationalen Bewegungen im Baltikum während des 19. Jahr-

hunderts in vergleichender Perspektive, in: National Movements in the Baltic Coun-tries during the 19th Century, hg. v. DEMS., Stockholm 1985 (Studia Baltica Stock-holmiensia, 2), S. 59–81, hier S. 72.

21 Alicja DYBKOWSKA, Jan ŽARYN, Małgorzata ŽARYN, Polskie dzieje od czasów naj-dawnejszych do współczesności [Polnische Geschichte von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart], 6. Aufl., Warszawa 1999, S. 195 f.

22 Gemeint ist, dass die russische Politik in Polen und die russischgeführten Behörden die Litauer in der Suwalkei begünstigten, um sie im Sinne ihrer Ideologie von den Polen abzuspalten.

Jonas Jablonskis (1860–1930) 433

cher ausgeprägt war, stellten das (russische) Gymnasium in Marijampolė [poln. Mariampol, im Gouvernement Suwałki], das Volksschullehrerse-minar in Veiveriai Mittelpunkte nationallitauischer Tendenzen dar, die dem Einfluss des Polentums bis zu einem gewissen Grade entzogen waren […]23.

So wird auch in Jablonskis’ Grundschule auf Russisch unterrichtet; nur der Religionsunterricht ist auf Polnisch24.

Als eine weitere der politischen Maßnahmen nach dem Aufstand müssen Landbesitzer eine Sonderabgabe auf alle erzielten Gewinne zah-len; diese soll den aufständischen Schichten die Basis entziehen. In der Tat erschweren die Folgen dieser Regelung auch der Familie Jablonskis das Leben. Zwar verkauft der Vater während der Grundschulzeit den Hof in Kubilėliai und kauft einen neuen im Dorf Meištai25. Doch als Jablonskis 1872 auf das Gymnasium von Marijampolė wechselt, zwingt ihn die Not der Eltern, sich diesen weiterführenden Schulbesuch von einem Onkel finanzieren zu lassen. Das ‚russische‘ Gymnasium in Mari-jampolė ist bereits die Folge der politischen Maßnahmen nach dem pol-nischen Aufstand von 1830/31. Die Kreismittelschule (szkoła powiato-wa) aus Seiny (lit. Seinai) war 1840 nach Marijampolė versetzt worden (schon damals war der Unterricht auf Russisch abzuhalten) und sie war 1867 zu einem Klassischen Gymnasium erweitert worden. Das Lehrer-kollegium ist heterogen: Die Leitung und etliche Lehrer sind Russen und Orthodoxe; dann gibt es eine große Gruppe von katholischen Po-len, darunter Geistliche (v.a. für den Latein- und Religionsunterricht); und auch katholische Litauer gehören dazu (z.B. Jablonskis’ Mathema-tiklehrer). Jablonskis lernt die klassischen Sprachen, die im Zentrum des Curriculums stehen, besonders gut; darüber hinaus gibt es am Gymna-sium auch die Fächer Russisch, Deutsch, Französisch und Litauisch.

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23 Manfred HELLMANN, Grundzüge der Geschichte Litauens und des litauischen Vol-kes, 4. Aufl., Darmstadt 1990, S. 115.

24 Bis 1888 war im Gouvernement Suwałki Litauisch als Sprache im Religionsunter-richt zugelassen (EHRET, Litauen [wie Anm. 3], S. 135). Doch Jablonskis’ Grund-schule hat nur einen Lehrer, einen gewissen Łapiński, und den Religionsunterricht er-teilt der örtliche Vikar, J. Marma.

25 Heute im Stadtgebiet von Kudirkos Naumiestis gelegen.

Stephan Kessler 434

Dies ist eine Vorschrift der russischgeführten Bildungsverwaltung in Po-len, die ein muttersprachliches Unterrichtsfach erlaubte, wie es an derar-tigen Gymnasien in Russland auch sonst der Fall war. Wie wohl der Li-tauischunterricht ausgesehen haben wird? Unter den konkreten Um-ständen darf man nicht mal auf Litauisch beichten!26 Dies ist eine Regel der polnischen Schulgeistlichen. Offensichtlich besitzt die Schule zwei Gesichter: ein äußeres (es ist russischsprachig, orthodox und schreibt mit kyrillischen Buchstaben) und ein inneres (polnischsprachig, katholisch, lateinische Schrift). Das innere ist der traditionelle Bildungsweg, der für polnische Kinder ein Stück Freiheit ist, für litauische aber die Polonisie-rung bedeutet. Doch daran stoßen sich die litauischen Eltern eigentlich nicht: Jablonskis’ Eltern und sein Onkel hatten ihn für eine geistliche, ‚katholische‘ Laufbahn vorgesehen, einen Weg, den die meisten Schü-ler27 der Schule einschlugen. Während Jablonskis auf dem Gymnasium ist, ziehen seine Eltern 1877 – nicht sehr weit weg – ins Dorf Rygiškiai (bei Griškabūdis), wo sie ihren ersten eigenen Bauernhof erworben ha-ben. In der letzten, siebten Klasse wird Vincas Kudirka (1858–1899) Ja-blonskis’ Mitschüler28. 1881 schließt Jablonskis das Gymnasium als be-ster Schüler ab und erhält als besondere Auszeichnung eine Goldmedail-le. Diese Schulzeit ist Jablonskis’ Zweitsozialisation. Eine im Sinne der Zarenpolitik erfolgreiche, wie sich im Folgenden zeigt: Jablonskis ist an-tikatholisch und antipolnisch eingestellt sowie für lange Zeit russland-orientiert.

Gleich nach Schulabschluss beginnt Jablonskis an der Universität Moskau die Sprachen des Altertums zu studieren. Besonders großen Einfluss hat auf ihn ein Professor, der zu den philologisch-indoger-manistischen Größen des 19. Jahrhunderts gehört: Filipp F. Fortunatov (1848–1914). Fortunatov beschäftigt sich auch mit dem Litauischen und berücksichtigt es in seinen Kursen. Das Paradigma der damaligen Linguistik ist die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft mit ihrem Ziel der Rekonstruktion des Indogermanischen und der Sprachgeschich-

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26 Jablonskio raštai (wie Anm. 1), Bd. I, S. 291. 27 Vgl. dazu auch noch einmal Anm. 42. 28 Zu beider Beziehungen vgl. PIROČKINAS, Prie bendrinės kalbos (wie Anm. 10), S.

36–38.

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te jeder Einzelsprache. Zweifelsohne wird Jablonskis deshalb etwas über die Besonderheit des Litauischen im Kreise der europäischen Sprachen erfahren haben, das in den Augen von Schleicher, Fortunatov u.a. näm-lich viele ‚archaische‘ sprachliche Verhältnisse bewahrt hatte. Und Ja-blonskis wird auch nicht entgangen sein, dass sich gerade in den Mund-arten seiner Herkunftsgegend, der Suwalkei, die vom Standpunkt der Rekonstruktion aus ‚historisch korrekten‘ Längen in den Endungen der Wörter besonders gut erhalten hatten (d. h. sie wurden und werden ver-glichen mit anderen Regionen Litauens am deutlichsten gesprochen). Umso erstaunlicher ist es, dass diese wissenschaftlichen Argumente in seinen eigenen Schriften keine Anwendung finden werden.

Jablonskis’ erste öffentliche Werke29 erscheinen in Aušra30. Sie sind im Prinzip politischer Journalismus. Aus einem Brief eines gewissen Spudu-lis aus dem Jahre 1884 erfahren wir, dass Jablonskis aus Moskau die rus-sische Zeitschrift Sovremennye izvestiâ in die litauische Provinz ver-schickt31. In Sovremennye izvestiâ hatte Jablonskis nämlich seinen „Sila“-Artikel32 veröffentlicht, der die katholische Geistlichkeit in Litauen und ihren starken, aber negativen Einfluss angriff.

1885 schließt Jablonskis die Universität ab; bereits am 3. Januar reist er nach Hause. Weil er schnell eine Stelle als Lehrer an einer Schule in einem der ‚litauischen‘ Gouvernements finden muss, hat er entgegen

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29 Jauni lietuviai… [Die neuen Litauer…], in: Auszra 8–10 (1883), S. 288; Isz Maskvos… [Aus Moskau…] 4 (1884), S. 149; u. a. m. – neuerlich in: Jablonskio raš-tai (wie Anm. 1), Bd. I, S. 3 ff.

30 Vgl. auch Anm. 4. 31 Solche vermeintlichen Kleinigkeiten stehen in einem bestimmten Zusammenhang (s.

Anm. 7): Deshalb werden in meiner Darstellung gerade die Ersatzinstitutionen und nationalen Aktivitäten, an denen Jablonskis teilnahm, berücksichtigt, wenn auch nicht alles, was damals gruppenbildend und öffentlichkeitswirksam unternommen wurde, hier Platz finden kann. Mit „Ersatzinstitutionen“ sind „Kristallisationskerne institutioneller Nationsbildung“ (Vereine, Gesellschaften, Kirchen, Parlamente, Grammatiken, Sprachakademien, Entwicklung der ‚eigenen‘ Literatursprache usw.) gemeint; Begriff nach Dieter LANGEWIESCHE, ‚Nation‘, ‚Nationalismus‘, ‚National-staat‘ in der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter – Versuch einer Bilanz, in: Föderative Nation, Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Welt-krieg, hg. v. DEMS. u. Georg SCHMIDT, München 2000, S. 9–30, hier S. 20.

32 Wie Anm. 2.

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Fortunatovs Ratschlag keine Doktorarbeit geschrieben. Doch ohne Doktortitel33 findet er keine Arbeit. Zunächst ist in dieser Situation al-lerdings Jablonskis’ Problem, dass er auch für seinen einfachen Ab-schluss34 kein Zeugnis ausgestellt bekommen hat, das er trotz fortwäh-render Bemühungen erst am 26. März 1888 erhalten wird. Notgedrun-gen verbringt er den Winter 1885/86 in Griškabūdis und gibt Hausun-terricht. Im Frühjahr 1886 ist er Hauslehrer auf dem Gutshof der Fami-lie Zana in der Nähe von Žemoji Panemunė (bei Kriūkai). Dann will er seinen Doktor-Abschluss nachholen, doch jetzt ist das Problem, dass Fortunatov ihn nicht ‚angenommen‘ hat. Das Jahr 1887 über ist er wie-derholt in Moskau darum bemüht, seine Examina erneuern zu dürfen. Im Dezember 1887 wird er Gerichtssekretär im Amtsgericht von Mari-jampolė. Inzwischen sucht er nicht nur in Litauen, sondern in ganz Russland eine Stelle als Lehrer. Von April bis August ist er (angeblich) krank: In dieser Zeit muss er seine Doktorarbeit geschrieben und die Prüfungen abgelegt haben. Denn am 3. November nimmt er nicht nur eine Arbeit im Schulbezirk Dorpat (Tartu) auf (und zwar als rechte Hand des Chefs des Schulverwaltungsamtes35), sondern erhält auch am 5. November 1888 in Moskau seine Doktorurkunde. Bei dieser Gele-genheit drängt er übrigens darauf, dass man den Untertitel der Zeit-schrift Varpas36 ändere: Er solle nicht „moksliškas, politiškas ir litera-tūriškas laikraštis“ heißen (nach Vorbild slawischen Wortgebrauchs), sondern „mokslo, politikos ir literatūros laikraštis“.

Am 16. Januar 1889 wird Jablonskis Lehrer für Alte Sprachen am Gymnasium in Mitau (Jelgava), was er bis 1896 bleiben wird. Dort lernt er nicht nur den (später berühmten) lettischen Sprachwissenschaftler Karl Mühlenbach kennen, sondern hat auch Kontakt zu den Kreisen der lettischen patriotischen Aktivisten jener Zeit. Sie haben einen Verein ge-gründet, um sich zu organisieren: die „Jelgavaer Lettische Gesellschaft“ (Jelgavas Latviešu biedrība). Diesem Beispiel folgten einige Litauer: Sie

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33 Der genaue Titel ist eigentlich „Kandidat“. 34 Der damals „Ordentlicher Student“ hieß und ohne spezielle Prüfung erreicht wurde. 35 Die Einrichtung hieß eigentlich „Kanzelei des Schutzbevollmächtigten für den Bil-

dungsbezirk Dorpat“ und befand sich in Riga. 36 Vgl. Anm. 4.

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gründeten die „Jelgavaer Litauische Kameradschaft“ (Jelgavos Lietuvių draugystė). Jablonskis wird kurz nach Ankunft in Mitau ihr Mitglied; von da an trifft man sich fast jeden Samstag in seiner Wohnung.

Am 16. Juli 1890 ist Jablonskis auf einer Einsegnungsfeier in Linkuva (ca. 40 km nordöstlich von Šiauliai). Dort bittet er Gabrielius Landsber-gis-Žemkalnis (1852–1916), ihm „eine intelligente Litauerin zu ver-schaffen, mit der er zu Hause litauisch reden könne“37. So trifft man be-reits in den Sommerferien auf dem Hof Noreikoniai (in der Nähe von Pasvalys) in der Familie Dr. med. Adomas Sketeris (1859–1916) auf Ja-blonskis und dessen Verlobte Konstancija Sketeriūtė (Adomas’ Schwe-ster). Adomas und Jonas kennen sich aus Moskauer Studientagen. Die Hochzeit findet noch im selben Jahr in Švobiškis (bei Joniškėlis, unweit Linkuvas) statt und gilt zu damaliger Zeit als Ereignis, weil es sich um die litauische Hochzeit zweier ‚Intelligenzler‘ handelt38. Im Jahre 1890 erscheint auch Jablonskis’ Rezension der Lietuviška gramatika (Tilsit 1886) von Mikolas Miežinis39.

1891 geht aus einem Brief hervor, dass Jablonskis und seine Frau Ja-blonskienė, die in Mitau leben, an die Zeitschriften Varpas und Ūkinin-kas 25 Rubel zahlen. Als Gymnasialprofessor ist Jablonskis finanziell gut gestellt und versucht, die ihm genehme litauische Kultur und Öffent-lichkeit zu fördern, wann immer es geht. Die ‚litauischen Kreise‘ vor Ort sind nur klein40: Jablonskis organisiert in Mitau gelehrt-gesellige Aben-de41 und das Vereinsleben. Er kauft litauische Bücher und Handschrif-

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37 G. ŽEMKALNIS, Iš mano atsiminimų [Aus meinen Erinnerungen], in: Lietuvos žinios 87 ([Vilnius] 1914). Man beachte an der Formulierung, dass „litauisch sprechen“ nicht in „Litauerin“ enthalten ist!

38 ŽALTYS, Iš Lietuvos [Aus Litauen], in: Vienybė lietuvininkų 28 (1891), S. 329. Wo-bei man die Äußerung zweifach lesen kann: So, dass die Betonung auf ‚Intelligenzler‘, die litauisch heiraten, liegt, oder so, dass die Betonung darauf liegt, dass beide ‚intel-ligente‘ Ehepartner Litauer sind. Für das Brautpaar war es übrigens nicht leicht zu heiraten: Konstancija war keine Katholikin, sondern „Reformierte“ (d.h. Zwingliane-rin oder Kalvinistin). Sie hatten Probleme, für die Trauung einen Geistlichen zu fin-den.

39 Wie Anm. 1. 40 1887 leben in Mitau, das damals ca. 27.000 Einwohner hat, etwa 360 Litauer. 41 Vgl. allgemein zu diesem gesellschaftlichen Phänomen Aušra MARTIŠIŪTĖ, „Litaui-

sche Abende“ als Ausdruck nationaler Identität, in: Literatur und nationale Identität.

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ten auf. Er versucht, Schüler für die litauische Sache zu mobilisieren42; denn durch Zarenerlass von 1887 müssen alle Gymnasien im Schul-bezirk auf Russisch unterrichten. In Varpas erscheint unter dem Titel „Beiträge zur Sprache“ (Kalbos dalykai) erstmals ein Aufsatz43 von Ja-blonskis, der sprachwissenschaftliche bzw. sprachnormierende Fragen unter einem anwendungsbezogenen Blickwinkel behandelt (im konkre-ten Fall geht es um litauische und nichtlitauische Wörter und die Suffixe auf -ėjas, -ystė, -inis, -iškas, -ingas). Diese Schrift wird für Jablonskis stilbildend, denn im Laufe seines Lebens wird er unter stets derselben Überschrift eine lange Folge ähnlicher Beträge veröffentlichen.

1893 veröffentlicht Jablonskis u.a. den Beitrag „Simonas Daukantas’ Leben und Werk“ (S. Daukanto gyvenimas ir raštai)44. Simonas Daukan-tas (1793–1864) und seine Werke waren zu Jablonskis’ Zeiten in Ver-gessenheit geraten, obwohl Daukantas einer der produktivsten Autoren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Viele wichtige Werke von ihm waren allerdings in Handschriften verblieben. Jablonskis’ Aufsatz trug maßgeblich zur Wiederentdeckung seines Schaffens und seiner Per-son bei; umgekehrt hatte Daukantas’ Werk eine ideologische Dimensi-on, die Jablonskis besonders interessiert haben dürfte. Des Weiteren be-ginnt Jablonskis Volksdichtung zu sammeln. Gleich nach Neujahr 1894 trifft Juozas „Vaižgantas“ Tumas (1869–1933) in Mitau ein, macht sich mit Jablonskis und der litauischen Intelligenz bekannt. Im Sommer trifft sich Jablonskis mit Vincas Kudirka, Pranas Mašiotas (1863–1940), An-

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Bd. 2: Themen des literarischen Nationalismus und der nationalen Literatur im Ost-seeraum, hg. v. Yrjö VARPIO u. Maria ZADENCKA, Tampere 1999, S. 217–233.

42 Es gibt sehr viele litauische Schüler am Gymnasium in Mitau, die Eltern aus ganz Litauen hierher geschickt haben: 1890 sind es 134 (28 % aller Schüler – die größte Gruppe!), 1891 bereits 149 (oder 33 % aller). Gründe dafür gibt es mehrere: Die Schulleitung ist in vielerlei Hinsicht tolerant und moderat; in Kurland gilt das Druckverbot nicht; und die traditionsbewussten litauischen Eltern. Sie wünschen ih-ren Kindern eine ‚katholische‘ Laufbahn, für die sie die entsprechende Vorbildung in Litauen kaum mehr bekommen können. Die Folge ist, dass die meisten litauischen Schüler das Gymnasium in Mitau nicht beenden (7 Klassen), da für einen Eintritt in ein Priesterseminar nur der Besuch von 4 oder 5 Gymnasialklassen Voraussetzung ist. (PIROČKINAS, Prie bendrinės kalbos [wie Anm. 10], S. 71)

43 In: Varpas 8 u. 12 (1892). 44 In: Varpas 11 (1893).

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tanas Kriščiukaitis-Aišbė (1864–1933), Motiejus Lozoraitis (1871–1920) und Gabrielė Petkevičaitė-Bitė (1861–1943) in Jūrmala, und Ja-blonskis beginnt in diesem Kreis erstmals, Werke von Schriftstellern in sprachnormativer Hinsicht zu überarbeiten. Im selben Jahr beginnen sich bei Jablonskis die Redakteure und Mitarbeiter der Zeitschrift Var-pas regelmäßig zu treffen. Die Leitung hat Adomas Sketeris, Jablonskis’ Schwager. Doch die Redaktion wird bald in einen Richtungsstreit gera-ten, den Radikaldemokraten und Sozialisten gewinnen werden. Ja-blonskis ist hier eher ein Traditionalist. Deshalb veröffentlich er nach 1894 nicht mehr in Varpas und bis 1900 auch in sonst keiner litauisch-sprachigen Zeitung. Er wendet sich russischen Publikationsorganen zu, vor allem der Zeitschrift Živaja starina, zu der er als Mitglied der Kaiser-lichen Geografischen Gesellschaft in St. Petersburg gekommen ist.

1894 führt man im Haus von Jablonskis die Erfolgskomödie „Ameri-ka in der Sauna“ (Amerika pirtyje, ca. 1892 entstanden, erschien 1895) von Juozas Vilkutaitis-Keturakis (1869–1948) auf, und es ist die Urauf-führung des Werkes, wenn auch nur eine halböffentliche. Auf einem Hof bei Šiauliai endet die erste Maifahrt der ‚Arbeiterklasse‘ von Šiauliai, an der u.a. auch Jablonskis, Žemaitė und Povilas Višinskis (1875–1906), der Organisator der ersten öffentlichen Aufführung von Amerika pirtyje 1899 in Palanga, teilnehmen. Es gibt eine breitere Initiative, die errei-chen will, dass das Druckverbot aufgehoben wird; Jablonskis schlägt vor, in St. Petersburg eine Ausstellung litauischer Bücher zu organisieren45.

Mit dem 1. September 1896 wird Jablonskis an das Alexander-Gymnasium nach Reval (Tallinn) versetzt. Der Grund dafür ist nicht klar; einerseits waren Jablonskis’ Beziehungen zu St. Petersburg enger geworden, sodass er weniger Wegstrecke zu bewältigen hatte, anderer-seits hatte es 1895 eine Reihe von Verhaftungen von Personen gegeben, denen auch Jablonskis ‚irgendwie‘ nahegestanden hatte. Am 31. Januar 1897 erhält Jablonskis von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaf-ten den Auftrag, das unedierte litauisch-polnische Wörterbuch von An-tanas Juška (poln. Juszkiewicz, 1819–1880) zu bearbeiten. Jablonskis begibt sich deshalb für Feldforschungen im Sommer 1897 nach Veliuo-

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45 In: Varpas 9–10 (1895), S. 162.

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na46, wo er 2.000 Wörter notiert, die noch nicht im Wörterbuch ver-zeichnet waren. Jablonskis’ Arbeiten am Wörterbuch setzen sich im Jah-re 1898 fort; es gibt dazu wissenschaftlichen Briefwechsel mit Akade-miemitgliedern sowie eine Reise von ihm nach St. Petersburg im Okto-ber des Jahres. Jablonskis hat für sich die dialektalen Eigenheiten der Regionen, in die er gefahren war (Veliuona, Alsėdžiai), entdeckt. Im De-zember 1898 schreibt ihm Ignas Čižiauskas, ein Kleriker aus dem Prie-sterseminar von Sejny (lit. Seinai, heute in Polen), und berichtet ihm von den Besonderheiten des dzūkischen Dialektes. Jablonskis arbeitet weiter mit Čižiauskas zusammen und kontrolliert mit seiner Hilfe u.a. die regionale Verbreitung bestimmter Wörter. Am 28. April 1899 offe-riert Jablonskis der Akademie das erste Heft des Wörterbuchs.

Bereits in einem Brief vom 19. April 1899 erwähnt Vincas Kudirka eine Lietuviška gramatikėlė und dass diese wohl von einem Spezialisten geschrieben sein müsse. Jablonskis hatte nämlich die genannte Gramma-tik von Petras Avižonis, einem Studenten, deren 64 Blätter seine Kom-militonen in St. Petersburg mit Hilfe des Verfahrens der Hektographie vervielfältigt hatten, derart gründlich ‚durchgesehen‘, dass man sie oft als Gemeinschaftswerk betrachtet47. Dieses hektographierte Werk sandte dann jemand an die „Vereinigung der Litauer in Amerika“ (Susivieniji-mas Lietuvių Amerkioje), die einen Grammatik-Wettbewerb ausgelobt hatte. Man wollte daraufhin Avižonis die Prämie zusprechen, wenn er seine Grammatik in bestimmten Punkten überarbeiten und ergänzen würde; u.a. ging es um fehlende grammatische Termini. Daraufhin bat Avižonis Jablonskis wiederum um Hilfe, woraus eine neue Grammatik, die Lietuviškos kalbos gramatika, entstand. Geschrieben wurde sie im Sommer 1900 auf einem Gutshof in Graužikai (bei Kelmė); gedruckt wurde sie 1901 in Tilsit durch den Verlag O. Mauderode in einer Auf-lage von 3.000 Exemplaren. Beide Autoren teilten sich später die Prä-mie, wie sie sich auch das Pseudonym, unter dem die Grammatik er-schien, teilten: Petras Kriaušaitis.

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46 In: Ūkininkas 7 (1897), S. 108. 47 Avižonis hatte selbst eine Vorlage benutzt, nämlich die Grammatik der litauischen

Sprache von Friedrich KURSCHAT (Halle 1876).

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Printed in East Prussia and smuggled into Lithuania, it did not come into official educational use until after the revocation of the press ban in 1905 and the cultural and political reforms following the 1905 revolution. Nevertheless, the standard proposed in this grammar was rapidly accepted and absorbed by people at large, with some minor exceptions (the full non-contracted definite forms of the adjective that Jablonskis proposed never took hold48)49.

Wenn diese Grammatik auch nicht für alle sprachlichen Bereiche eine Norm einführt, so sind vor allem ihre programmatischen diastratischen und diatopischen Festlegungen sowie das Verfahren zur Genese eines sprachlichen Standards besonders interessant:

Die Gesetze und Charakteristika der Sprache leitet die Wissenschaft aus der Sprache der einfachen Leute (iš žmonių kalbos) ab: Ein Verfasser, der eine Sprachlehre aufstellen will, muss, wenn er es richtig machen will, al-lein die gesprochene Sprache (šnekamąją kalbą) erforschen, denn die ge-schriebene oder Schriftsprache soll sich stets nur auf deren Gesetze stützen […] Es gibt schließlich auch solche Grammatiken, in denen alle Schluss-folgerungen aus den Schriften gezogen werden: Die Sprache der einfachen Leute (žmonių kalba), die gesprochene Sprache (šnekamoji kalba) wird in solchen Grammatiken quasi beiseite gelegt […] sie (ji)50 wird zum Zweck einer solchen Grammatik verhöhnt. […] Wenn dann zum Zweck einer Grammatik die Sprache der einfachen Leute Anwendung findet, so sollte man vorsichtig sein: Seit uralten Zeiten litt unsere Nation (mūsų tauta) unter verschiedenerlei fremden Einflüssen, welche auch die Sprache unse-rer Nation (tautos kalba) ziemlich stark beschädigt haben. […] Die einfa-chen Leute unserer Nation (mūsų tautos žmonės) sprechen nicht überall gleich: Unsere Sprache teilt sich von Alters her in einige Dialekte (tarmes) und die Dialekte wiederum in eine Vielzahl von Mundarten (tarmelių). Ganz früher war der östliche Dialekt in der geschriebenen Sprache an die

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48 Jablonskis erhebt in der Grammatik aber bereits die kontrahierte bestimmte Form des Adjektivs zum Standard, bloß dass die Formen in einigen Kasus noch ‚volle‘ sind: z. B. baltámjam ‚baltajam‘ oder baltómsioms ‚baltosioms‘ (JABLONSKIS, Rinktiniai raš-tai [wie Anm. 8], Bd. 1, S. 84 f.).

49 RINHOLM, Rašomóji kalbà (wie Anm. 9), hier S. 460. 50 Lit. ji ist Einzahl: Durch diesen grammatischen Rückbezug werden die Begriffe

„Sprache der einfachen Leute“ (žmonių kalba) und „gesprochene Sprache“ (šnekamoji kalba) zu Synonymen!

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Öffentlichkeit getreten; später arbeiteten mehrheitlich žemaitische Verfas-ser; in den Schriften Preußisch-Litauens […] wird ein eigentümlicher Dialekt gebraucht, nämlich der der preußischen Litauer; in der letzten Zeit begann die Mehrheit der einfachen Leute (daugybė žmonių) „nach der Art der Bewohner der Suwalkei“ („suvalkietiškai“) zu schreiben, also fast so, wie in den Schriften der preußischen Litauer geschrieben wird. – Die Rechte einer Schriftsprache (rašomosios kalbos tiesas) erlangt immer nur ein bestimmter Dialekt; die anderen Dialekte geben ihm nur ihre be-sten Quisquilien hinzu […] Wenn man so mit den anderen Dialekten verfährt und in „einem“ Dialekt schreibt, wird man hoffen dürfen, dass der verschriftete Dialekt (raštų tarmė) allen Lesern verständlich sein und alle Rechte einer „Schriftsprache“ erlangen wird. Deshalb soll die Sprache dieser Grammatik der „einfache Dialekt der Bewohner der Suwalkei“ („paprastoji suvalkiečių tarmė“)51 sein und sie wird, wo es nötig ist, durch andere Dialekte verstärkt und unterstützt werden52.

Schon beizeiten war bemerkt worden, dass der „einfache Dialekt der Bewohner der Suwalkei“ mitunter sogar nur das Aukštaitisch der Ge-gend von Zanavykai war. Hier standen Jablonskis’ Elternhäuser, hier war er aufgewachsen. Dialektologisch gesehen macht die Gegend von Zanavykai nur einen sehr schmalen, man möchte sagen: esoterischen Korridor aus53; er wurde die Basis der modernen litauischen Standard-sprache.

Jablonskis hatte sich bis zum Erscheinen der Grammatik zu einem li-tauischen Aktivisten in Sachen Kultur und zu einer Autorität in sprach-lichen Fragen entwickelt. Insoweit unterschied sich der sprachliche Standardisierungs- und Modernisierungsprozess am Ende des 19. Jahr-hunderts nicht von früheren Versuchen oder vorhergehenden Moderni-sierern. Entscheidend für Jablonskis’ Erfolg waren jedoch nicht allein

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51 Sprachtypologisch handelt es sich dabei um die Mundarten der Užnemunė-Region (s. Anm. 13), die die litauische Dialektologie als „Kaunaser Westaukštaitisch“ (vakarų aukštaičiai kauniškiai) klassifiziert.

52 JABLONSKIS, Rinktiniai raštai (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 59 f. – Die Übersetzung erfolg-te durch mich.

53 Vgl. Vakarų aukštaičiai kauniškiai ir Klaipėdos krašto aukštaičiai; mokomoji knyga [Das Kaunaser Westaukštaitisch und das Aukštaitisch des Klaipėda-Gebietes; ein Lehrbuch], erstellt von Rima BACEVIČIŪTĖ, Danguolė MIKULĖNIENĖ, Vilija SALIENĖ, hg. v. Lietuvių kalbos institutas, Vilnius 2005, hier S. 43–59.

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seine Person, seine Aktivitäten und seine ‚volksnahen‘ Ansichten: Mit-entscheidend war die Akzeptanz, auf die er stieß. Und zwar die Akzep-tanz derjenigen Milieus, die diejenigen Aktivistencliquen stellten, die ihre politische Emanzipation per Litauertum vorantrieben und schließ-lich auch gewannen und die als primäre Multiplikatoren von Jablonskis’ normativen Vorschlägen wirkten. Die Glieder dieser Cliquen kamen mehrheitlich aus der Gegend, aus der auch Jablonskis stammte54, und so konnten sie seine Sprache auch als die ihre ansehen; sie teilten sich ja de-ren Basis, Jablonskis’ Dialekt. Dazu kam dann die soziale Frage: Die Na-tionalisierung bedeutete einen gesellschaftlichen Umbau. Jablonskis’ Vorstellungen vom zukünftigen sprachlichen Standard (und somit von der zukünftigen Öffentlichkeit, die dieser erzeugen sollte) spiegeln diese soziale Frage wider. Hier kam es im gegebenen Fall nicht so sehr auf die ‚richtigen‘ Endungen oder Aussprache an, sondern vor allem auf die ‚richtige‘ Lexik und Syntax – und die stimmten in Jablonskis’ Vorschlä-gen mit der Sprache der unteren, aufbegehrenden Milieus überein.

Jablonskis’ weiterer Lebensweg ist interessant, weil er seine einfluss-reiche Position trotz aller politischen Umbrüche beibehalten kann und frühzeitig, noch vor der eigentlichen Bildung des Nationalstaates, in Schlüsselpositionen des entstehenden nationalen Bildungswesen gelangt, über die er die neuen Normen multiplizieren kann. Er schrieb seine Grammatiken und anderen Werke stets anwendungsorientiert; der Schritt, dass sie dann zu Schulbüchern wurden oder auf ihrer Basis sol-che entstanden, war nur klein. Seine „Beiträge zur Sprache“ etwa sind keine Systemanalysen, sondern diskutieren Wort für Wort den richtigen

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54 HROCH, Vorkämpfer (wie Anm. 15), S. 62–72. Auf S. 71 heißt es zusammenfassend: „Der Nordteil der Gubernie Suvalki (Šakiai, Marjampole, Vilkaviški, Kalvarija) bilde-te nur einen sehr geringen Teil des litauischen Gebietes, es lebten dort nur 15 % aller Angehörigen des litauischen Ethnikums, aber beinahe die Hälfte aller [256] […] Pa-trioten [nämlich 122 oder 48 %] wurde auf diesem Territorium geboren. Das Gebiet mit der zweitgrößten Zahl von Geborenen – Šiauliai und Panevežis im Norden des Landes – war im Vergleich zu Suvalki doppelt so groß und hatte im allgemeinen die-selbe Bevölkerungszahl, brachte aber nur 24 % der Patrioten hervor. Auf dem restli-chen Gebiet, wo zwei Drittel des litauischen Ethnikums lebten, wurden nur 25 % der Patrioten geboren. Insbesondere Ostlitauen tritt als Territorium fast ganz ohne Pa-trioten hervor.“

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Gebrauch bestimmter Formen. Jablonskis schreckt auch nicht vor ‚har-ter‘ Arbeit zurück, indem er als Redakteur, Korrektor und Betreuer von Publikationen arbeitete (und so im Hintergrund an unzähligen Veröf-fentlichungen mitwirkte).

Zunächst läuft aber parallel zum Erscheinungsprozess seiner Gram-matik noch ein anderer Prozess an. Am 30. Oktober 1900 wird Ja-blonskis’ Wohnung von der Gouvernementspolizei durchsucht. Das kommt nicht ganz überraschend: Zum einen hatte man ihn bereits seit einiger Zeit observiert, weil er mit kompromittierten Personen Umgang hatte, und zum anderen hatte man im Frühjahr 1900 an der Grenze zu Ostpreußen einen großen Fang getan, bei dem zwei Bücherbündel ins Netz gegangen waren, die aus antizaristischer Literatur bestanden. Ein kurländischer Sonderermittler wurde eingesetzt und konnte schließlich mehr und mehr Hintermänner eines regelrechten Transportsystems auf-decken. Doch die Tallinner Litauer sind bereits gewarnt. Auch bei Ja-blonskis findet man nur weniges, was als verboten gilt. Doch man ermit-telt weiter. Schließlich hat man genug Beweise seiner antizaristischen Umtriebe gesammelt: Am 15. und 16. Dezember wird Jablonskis unter Anklage verhört. Man entlässt ihn gegen eine Kaution von 500 Rubel. Am 1. Januar 1901 wird Jablonskis auf seine eigene Bitte hin von der Arbeit suspendiert, aber erst im Sommer kommt es zu einem Urteil ge-gen ihn, seinen Schwager Sketeris und 31 andere. Danach lebt Ja-blonskis vorübergehend bei Verwandten in Žeimelis55, wo er eigentlich unter Hausarrest steht, was aber von der lokalen Polizei nicht sehr streng verfolgt wird. So unternimmt Jablonskis diverse Reisen durch Litauen, weil er an Juškas Wörterbuch weiterarbeitet und Material sammelt. Am 27. Februar 1902 wird das Urteil rechtskräftig und Jablonskis und Ske-teris müssen für zwei Jahre als Verbannte in Pskov leben. Jablonskis steht in Pskov u.a. mit einem gewissen Jokantas in Briefkontakt. Ja-blonskis hat ihm einen linguistischen Fragebogen geschickt, den Jokan-tas Stück für Stück abarbeitet. Jablonskis schickt in der Folge immer

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55 Zwischen Bauske (Bauska) in Lettland und Joniškis in Litauen, an der lettisch-litauischen Grenze, aber auf litauischer Seite gelegen.

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wieder neue Fragenkataloge. Im Dezember erscheint sogar noch ein Ar-tikel von Jablonskis, ausgerechnet in Varpas56.

Im Frühjahr 1903 kehrt Jablonskis nach Litauen zurück und lebt in Šiauliai, das ein Umschlagplatz verbotener Literatur ist. Jablonskis steht in Kontakt mit diversen Bekannten und mit den Zeitschriften Varpas und Ūkininkas. Er arbeitet als Lehrer. Am 12. April 1904 wird das Druckverbot aufgehoben. Am 14. Juni 1904 nimmt Jablonskis an einer Landpartie teil, auf der es zu antizaristischen Äußerungen kommt; Ja-blonskis wird bei einer Posse von einem (vermeintlichen) „Kreishaupt-mann“ verhört57. Im Herbst 1904 bittet Petras Vileišis (1851–1926) Ja-blonskis um Mitarbeit bei einer Zeitung, die er gründen möchte, näm-lich bei den Vilniaus žinios [Vilniuser Nachrichten]. Jablonskis stimmt zu und zieht nach Vilnius um. Am 10. Dezember 1904 erscheint die er-ste Nummer der Vilniaus žinios. Es gibt einen kleinen Festakt. Am Vor-abend der Revolution von 1905 hat sich das politische und soziale Spek-trum der russischen und so auch der litauischen Gesellschaft weiter aus-differenziert: Parteien, Organisationen und Vereine treten auf den Plan, die ein breites Spektrum von radikalsozial bis national bilden. Erste For-derungen nach litauischer Autonomie werden laut, doch noch gibt es die verschiedensten Modelle und Ideen, welche Bürger ein zukünftiges Li-tauen haben könnte (multiethnisch, jüdisch-weißrussisch-litauisch, rus-sisch-litauisch etc.) und wie dessen Autonomie aussehen könnte (als Staat in einer Föderation mit Russland, als autonomes Gebilde inner-halb des Zarenreiches, als Wiedererrichtung des Großfürstentums ohne Verbindung zu Polen u. ä. m.). Die Liberalen sammeln sich um die Vil-niaus žinios. Jonas Basanavičius58 (poln. Basanowicz, 1851–1927) wird

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56 „VADOVĖLIO“ AUTORIUS [Jablonskis’ Pseudonym], Dar apie mūsų rašybą [Mehr zu unserer Orthographie], in: Varpas 8 (1902), S. 178–182; neuerlich in: Jablonskio raš-tai (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 23–29. Der Artikel behandelt Fragen der Orthographie.

57 Ūkininkas 11 (1904), S. 316–319. 58 Bischof Valančius hatte den Druck litauischer Bücher mit lateinischen Lettern im

Ausland (in Ostpreußen) organisiert und z. T. bezahlt. Dieses Widerstandsmodell machte Schule. Die Herausgabe der Zeitschrift Aušra durch Jonas Basanavičius folgte ihm. Basanavičius stammte auch aus der Užnemunė-Region, und zwar aus einer zu Wohlstand gelangten Bauersfamilie. Basanavičius’ Casus kann hier nicht weiter auf-gerollt werden; vgl. deshalb z.B. Michael KOHRS, Entstehung und Entwicklung der

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später hinzustoßen. Schon nach der ersten Nummer treten Differenzen zwischen Vileišis und Jablonskis auf: Der Anlass sind sprachliche Fragen (so hatte Jablonskis im Kopf der Zeitung das Wort für ihren Preis von prekė zu kaina verändert). Jablonskis verlässt schließlich die Redaktion, bleibt aber bis Februar 1905 Mitarbeiter der Zeitung. Er veröffentlicht wieder zahlreiche Artikel zu sprachlichen und sprachnormativen Fragen. Auch wendet er sich gegen den Naturalismus in der litauischen Litera-tur59.

Übers Jahr 1905 spitzen sich die politischen Verhältnisse zu. Im Ok-tober findet ein Generalstreik statt. Die Liberalen um die Vilniaus žinios organisieren einen „Litauischen Kongress“ (Lietuvių suvažavimas Vilniu-je); Basanavičius ist dabei der führende Kopf, und auch seine moderat formulierte „Proklamation an das litauische Volk“ setzt sich durch60. In den Bauerschaftsgemeinden (valsčiai) werden Abgeordnete gewählt, und am 21. und 22. November 1905 findet in Vilnius unter Leitung von Ba-sanavičius der Kongress statt, den man bald den „Großen Sejm von Vil-nius“ (Didysis Vilniaus seimas) nennen wird. An ihm ist auch Jablonskis beteiligt. Es werden für alle Bereiche des Lebens bürgerliche Freiheiten beschlossen, der ubiquitäre Gebrauch des Litauischen vorgesehen, die ethnisch polymorphen Landstriche aufgefordert zu entscheiden, ob sie künftig zu Litauen gehören möchten oder nicht, Russland als feindlicher Staat definiert, die Steuerzahlungen an ihn eingestellt und die Macht an die Parteien und die Landgemeinden übergeben. Die revolutionäre Um-gestaltung erfasst daraufhin in der Tat die Bauerschaftsgemeinden, doch sie verbleibt auch nur auf dieser Ebene. Das gibt den alten Staatsautori-täten die Möglichkeit an die Hand, im Verlauf des Jahres 1906 die Re-

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litauischen Parteien bis 1926, in: Jahrestagung – 1998 – Suvažiavimo darbai, hg. v. Litauischen Kulturinstitut, Lampertheim 1999, S. 39 f., mit weiterführender Litera-tur. – Siehe auch oben den Beitrag von Manfred KLEIN, S. 397–423.

59 J. R. [Jablonskis’ Pseudonym]: Kuriems-ne-kuriems „beletristams“ [An diese und jene „Belletristen“], in: Vilniaus žinios 16 (1904); neuerlich in: Jablonskio raštai (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 85.

60 Jonas BASANAVIČIUS, Jonas KRIAUČIŪNAS [Unterzeichner]: Atsišaukimas į lietuvių tautą: Lietuviai ir Lietuvės!, in: Vilniaus žinios 254 (28. Oktober 1905), S. 1.

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volution niederzuschlagen und die alten Verhältnisse wieder einzufüh-ren.

Nicht weniger bunt sind die Jahre 1905 ff. für Jablonskis. Nachdem er die Vilniaus žinios verlassen hat, braucht er einen Lebensunterhalt. Deshalb verwirklicht er folgende Idee: Am 4. März 1905 gründen er und andere den „Förderverein der Freunde des Buchwesens ‚Aušra‘“, in dem Jablonskis als Verleger wirkt. Auch noch eine andere Gründung findet in diesem Jahr statt, die Einfluss auf Jablonskis’ Leben haben wird: Am 28. August gründen nach einem „Litauischen Abend“ zwölf Personen die „Litauische Wissenschaftliche Gesellschaft“ (Lietuvių moks-lo draugija): Basanavičius, Jablonskis, Vileišis u.a.61. Am 27. November 1905 teilt die Presse mit, dass der krajowcy-Vertreter62 Michał Römer (1880–1945; dreimal Rektor der Universität Kaunas zwischen 1927 und 1939) in Vilnius ein Tageblatt herausgeben möchte, an dem auch Ja-blonskis und Povilas Višinskis (1875–1906) mitarbeiten würden63. Die beiden dementieren das umgehend64. Stattdessen erscheint am 1. De-zember 1905 erstmalig der Lietuvos Ūkininkas, das Organ der Litaui-schen Demokratischen Partei (Lietuvių demokratų partija), dessen Chef-redakteur auf längere Zeit Jablonskis sein wird65. Jablonskis beteiligt sich an verschiedenen Protesten und Aufrufen (u.a. zur Wiedereröffnung der Universität Vilnius)66.

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61 Genau genommen wurde an jenem Abend nur der Beschluss gefasst, die Körperschaft selbst entstand dann anderthalb Jahre darauf (am 20.04.1907). Es war nicht die ein-zige derartige Gründung in jener Zeit (vgl. Friedrich SCHOLZ, Die Literaturen des Baltikums: ihre Entstehung und Entwicklung, Opladen 1990, S. 132), aber diejeni-ge, die Bestand hatte und bis 1940 maßgeblich an der Nationalisierung mitwirkte.

62 Die sog. Krajowcy traten für ein unabhängiges Litauen ein, in dem Litauer und Polen gleichberechtigt und staatsloyal zusammenleben sollten.

63 Vilniaus žinios 279 (1905). 64 Vilniaus žinios 281 (1905); neuerlich in: JABLONSKIS, Straipsniai (wie Anm. 3), S.

152 f. 65 Sein programmatischer Artikel „Kas mums rūpės“ [Was liegt uns am Herzen?], in:

Lietuvos Ūkininkas 1 (1905), neuerlich in: Jablonskio raštai (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 105–108, offenbart, dass auch für ihn die soziale Frage ins Zentrum der Nationalisie-rung gerückt ist, und zwar die soziale Frage derer, „die das Land bearbeiten und von dem Lande leben“ (kurie dirba žemę ir gyvena iš žemės).

66 Vilniaus žinios 290 (1905).

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Am 6. Dezember 1905 wird Jablonskis ins Ständige Büro der Gene-ralversammlung der Eltern von Schülern Vilniuser Mittelschulen (Visuo-tinio Vilniaus vidurinių mokylų mokinių tėvų susirinkimo nuolatinis biu-ras) gewählt, was seine Rückwendung zum Bildungswesen einläutet. Wegen Zeitmangels lehnt Jablonskis allerdings diesen Job ab. Doch in den folgenden Jahren wird das ‚nationale‘ (oder eben noch nicht lituani-sierte) Bildungswesen zu einem Feld der politischen Auseinandersetzun-gen. Und Jablonskis kümmert sich ebenfalls darum, zugleich dringend auf der Suche nach einem regelmäßigen Lebensunterhalt für sich und seine Familie. Durch die Revolution kehrt Litauisch (als Sprache und als Fach) an die staatlichen Grundschulen zurück. Doch auf weiterführen-den Bildungseinrichtungen, bei den Mittelschulen angefangen, fehlt es weiterhin67. Auch waren im Osten des Landes, insbesondere im Gou-vernement Vil’na (Vilnius), die Rahmenbedingungen äußerst schwierig. Viele Bewohner, vor allem aus den niederen Milieus, besaßen eine ethni-sche oder sprachliche Selbstzuordnung, die alle Kategorien der Nationa-lisierten unterlief. Sie, die sie eine Mischung aus Litauisch, Weißrussisch oder Polnisch sprachen, nannten sich einfach „Hiesige“ (tutejsi) und sprachen ihrer Meinung nach „ganz gewöhnlich“ (po prostu). Diese Ver-hältnisse gerieten ins Blickfeld zweier Seiten. Dank des Einflusses von Landbesitzern, Intellektuellen und Priestern verbreitete sich die Formel „Katholiken sind Polen“ rapide; in den Diözesen Wilno und Sejny un-terminierte man jede Änderung der Verhältnisse und insbesondere, dass in den Kirchen Litauisch Verwendung fände. Auf der anderen Seite wurde die Sprachenfrage von den Nationalen politisiert. So kam es we-gen ihr sogar zu regelrechten Unruhen. Was nun die ‚nationalen‘ Schu-len anging, so war der Osten des Landes ein Entwicklungsgebiet; Vilnius

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67 Dort war es zwar ebenfalls nicht verboten, aber den Umständen nach gab es kaum Möglichkeiten, es dort zu finden oder einzuführen, denn das hätte wahrscheinlich bedeutet, die Lehrerkollegien auszuwechseln. Dafür hatte man weder die Macht noch die Lehrer. Außerdem gab es natürlich eine Nachfrage nach weiterführenden Schu-len, die nicht-litauischsprachig waren. Deshalb begann man in vielen Gebieten, neue, ‚eigene‘ Schulen zu gründen. Erst peu à peu fand Litauisch einen ‚kleinen‘ Platz im Curriculum der vorhandenen Schulen.

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selbst war keine ‚litauische‘ Stadt, sondern hier prägten Juden68, Polen und ‚Ostrussen‘ die Verhältnisse69.

Jablonskis bemüht sich deshalb zuerst um die besondere Erlaubnis, Litauischunterricht an Mittelschulen erteilen zu dürfen, und, als er diese Erlaubnis hat (es gibt einen generellen Erlass), um einen Platz an einer Schule. Die Presse meldet im November 1905, dass Jablonskis Litau-ischlehrer an einer Mittelschule in Vilnius werde. Am 11. Februar 1906 heißt es aber, dass Jablonskis zugestimmt habe, Lehrer an einer Real-schule in Vilnius zu werden, wo er 20 Rubel pro Monat verdienen kön-ne und acht (!) Schüler habe. Danach meldet man, Jablonskis habe be-gonnen, an der Mädchenrealschule von Frau Prozorova Litauisch zu un-terrichten. Am 20. März wird Jablonskis zudem Lehrer am Ersten Jun-gengymnasium von Vilnius und am 22. März auch noch am Zweiten Jungengymnasium. Das Problem ist, dass der Staat den Unterricht nicht bezahlen will, sondern die Eltern der unterrichteten Kinder sollen es tun, weshalb Jablonskis ständig weitere Jobs hinzunimmt, da er vielfach umsonst unterrichtet. Im März wird dann ein Unterstützungsfond ge-bildet, der den Litauischunterricht an den Mittelschulen finanziert70.

Mit dem 1. August 1906 wechselt Jablonskis ans Lehrerseminar nach Panevėžys. Dort ist er auch nur wieder Litauischlehrer ohne Gehalt, aber erhält aus dem Fond monatlich 100 Rubel. Am 15. Oktober wird er au-ßerdem Lehrer an der örtlichen Realschule (für 280 Rubel Jahresgehalt). Für den Unterricht am Lehrerseminar hatte Jablonskis wahrscheinlich

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68 Vilnius galt ja als das „Jerusalem des Nordens“; vgl. z.B. Mathias NIENDORF, „Litwa-ken“. Stationen jüdischen Lebens in Litauen (…), in: Jüdische Welten in Osteuropa, hg. v. Annelore ENGEL-BRAUNSCHMIDT u. Eckhard HÜBNER, Frankfurt a.M. 2005, S. 101–127.

69 1897 wurden in Vilnius 154 532 Einwohner gezählt, von denen 3 124 (oder 2,02 %) angaben, ihre Muttersprache sei Litauisch, aber 61 844 (oder 40,02 %), sie sei jid-disch (evrejskij), 47 641 (oder 30,82 %), sie sei Polnisch, und – als drittgrößte Grup-pe – 37 938 (oder 24,55 %), sie sei Groß-, Klein- oder Weißrussisch. Quelle: Pervaja vseobščaja perepis’ naselenija Rossijskoj Imperii 1897 g. [Erste allgemeine Volkszäh-lung des Russischen Imperiums im Jahre 1897], hg. v. Zentralen Statistischen Aus-schuss des Innenministeriums unter Leitung von Nikolaj Aleksandrovič TROJNICKIJ, St.-Peterburg 1899, Bd. 20, H. 2, S. 58 f.

70 Vgl. hierzu Vilniaus žinios 257 (1905), 33 (1906) und 43 (1906); Lietuvos ūkininkas 17 (1906), S. 221; sowie die Artikel in Jablonskio raštai (wie Anm. 1), Bd. II, S. 3 ff.

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weitreichende Ideen. Doch er gerät in einen Konflikt mit dem Direktor der Anstalt und es gibt diverse andere Querelen, u.a. auch mit den Schü-lern, sodass es nicht wirklich mit dem Litauischen vorangeht. Jablonskis kann an der Gründungssitzung der Litauischen Wissenschaftlichen Ge-sellschaft im April 1907 nicht teilnehmen, wird aber auf der Generalver-sammlung am 5. und 6. August in die Verlagskommission gewählt, wo-für er immer wieder ins 130 km entfernte Vilnius reist. U. a. ist er in der Jury für den Wettbewerb um Litauisch-Lehrbücher. Im Sommer 1907 ist er in Bad Elster (in Sachsen) auf einer Kur. 1908 erscheint unter Ja-blonskis’ Federführung eine Übersetzung von Schriften des Zoologen Prof. Modest N. Bogdanov (1841–1888)71. Die Übersetzung wird von der Kritik gelobt. Im Juni 1908 bevollmächtigt „Žemaitė“ Žymantienė Jablonskis, für eine Werkausgabe ihre Schriften zu korrigieren und he-rauszugeben72.

Vom 26. September 1908 an hat Jablonskis die Stelle eines außer-planmäßigen Lateinlehrers am Mädchengymnasium in Brest73, die er aus purer Not heraus (er hat inzwischen fünf Kinder) angenommen hat. Hier wird er bis 1912 bleiben. Aus gesundheitlichen Gründen muss er in seinen übrigen gesellschaftlichen Aktivitäten zurückstecken; auch ist Brest relativ weit von den alten und neuen Zentren litauischer Kultur entfernt. Jablonskis hält Kontakt zu und trifft sich mit seinen Sprachwis-senschaftlerkollegen J. Šlapelis, K. Būga und J. Balčikonis. Gemeinsam arbeiten sie an einer alten Idee Jablonskis’, an einer Syntax. Sie erscheint 1911 unter Jablonskis’ Pseudonym74. Im Juli 1911 wird in der Litaui-

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71 Visuomenės įnamiai. Rašteliai apie tuos gyvulius, kurie esti šale žmogaus. Panevėžio mokinių vertimas [Die Untermieter unserer Gesellschaft. Kleine Schriften über dieje-nigen Tiere, welche neben dem Menschen fressen müssen. Eine Übersetzung von Schülern aus Panevėžys], Vilnius 1908; 2. Aufl. 1929.

72 Wie bereits erwähnt, nimmt Jablonskis auch bei Werken anderer Schriftsteller Kor-rekturarbeiten vor. So z. B. bei Jonas „Vaižgantas“ Tumas; vgl. Arnoldas PIROČKINAS, Jonas Jablonskis redaguoja Vaižgantą [Jonas Jablonskis redigiert Vaižgantas], in: Ar-chivum Lithuanicum 2 (2000), S. 151–161.

73 Vormals Brześć Litewski im Großfürstentum Litauen; nach 1795 bzw. 1815 als Brest Litovskij zu Russland gehörig; heute Brėst in Weißrussland.

74 Rygiškių Jono Lietuvių kalbos sintaksė. Pirmoji dalis [Die Syntax der litauischen Sprache von Jonas aus Rygiškiai. Erster Teil], Seinai 1911.

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schen Wissenschaftlichen Gesellschaft der „Linguisten-Ausschuss“ (kal-bininkų komisija) gegründet, in den u.a. Jablonskis, Šlapelis, Būga und Balčikonis gewählt werden. Nachdem nämlich Jablonskis’ Syntax weder unter der Ägide der Wissenschaftlichen Gesellschaft noch in ihrem Ver-lag erschienen war und nachdem Jablonskis an keiner ihrer Vollver-sammlungen teilgenommen hatte, versucht man ihn enger an die Gesell-schaft zu binden. Die Strategie der Gesellschaft geht auf. Im Januar, Fe-bruar und Juni 1912 ist Jablonskis in Vilnius, wo er an drei Sitzungen des Ausschusses teilnimmt. Im Juni findet zudem eine Vollversammlung der Gesellschaft statt, auf der er ebenfalls spricht. Und auf Drängen des Ausschusses erscheint eine Monographie75, die viele der unter dem Titel „Beiträge zu Sprache“ erschienenen Artikel in erweiterter und korrigier-ter Form zusammenfasst. Ebenfalls nimmt er an der 7. Vollversamm-lung der Gesellschaft, die vom 10. bis 12. Juni 1913 in Vilnius stattfin-det, teil. Jablonskis erkrankt dort und wohnt für die Zeit der ärztlichen Behandlung bei Būga. Anschließend fährt er zur Kur nach Franzens-bad76.

Zum 1. August 1912 wechselt Jablonskis auf die Stelle eines Latein-lehrers an das Gymnasium von Grodno77. Im Herbst bemüht er sich endlich um den Druck der Žemaitė-Werkausgabe; die Autorin ist bereits verärgert. Žemaitės Arbeiten waren bereits einmal 1910 korrigiert und zum Druck nach Amerika geschickt worden. Doch Jablonskis beginnt die Korrekturen von neuem. Žemaitė geht es aber nicht schnell genug: Schließlich kommt sie im Dezember 1913 selbst nach Grodno, und Sei-te für Seite bereiten sie die zukünftige Ausgabe78 vor. Im Sommer 1914 ist Jablonskis wieder auf Kur, diesmal in Jūrmala bei Riga.

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75 Rašomosios kalbos dalykai. Kaip yra vieno kito rašoma. Kaip reikėtų rašyti [Beiträge zur Schriftsprache. Wie von dem einen oder anderen geschrieben wird. Wie man schreiben sollte], Vilnius 1912.

76 Tschech. Františkový Lázně; damals Böhmen, heute Tschechien. 77 Vormals im Großfürstentum Litauen gelegen; nach 1795 bzw. 1815 als Grodno zu

Russland gehörig; heute Hrodna in Weißrussland. 78 Von ihr erschienen dann 8 Hefte/Folgen unter dem Titel „Žemaitės raštai“ in Vilnius

in den Jahren 1913 und 1914 im Verlag J. ir P. Leonai.

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Vom 1. August 1914 an arbeitet er als Lateinlehrer am Gymnasium von Veliž79. Den Sommer 1915 verbringt er als Gast des Christdemo-kraten und Rechtsanwalts Antanas Tumėnas (1880–1946) in der Nähe von Zarasai80. Inzwischen ist der Erste Weltkrieg nach Litauen gekom-men und der russische Staat evakuiert seine Behörden, Schulen und so-gar zahlreiche Fabriken ins Hinterland. 200.000-300.000 Menschen verlassen Litauen in Richtung Moskau, Petrograd, Voronež, Jaroslavl’, Tambov u.a., wo sie litauische ‚Kolonien‘ bilden bzw. die bereits vor-handenen ergänzen. Unterwegs in Litauen trifft Jablonskis den Finanzier und späteren Finanzminister Martynas Yčas (1885–1941), der in Voro-než81 zwei litauische Gymnasien einrichtet und Jablonskis als Lehrer ge-winnt. Im Oktober 1915 zieht Jablonskis nach Voronež, wo er bis 1918 bleiben wird und Litauisch und Latein lehrt. Im Sommer 1916 ist Ja-blonskis in Heinola in Südfinnland zur Kur. 1916 erscheint als größeres Werk von ihm eine Chrestomatie, die „Notschule“82.

Im Mai 1917 muss er aus gesundheitlichen Gründen das Lehramt aufgeben. Die litauischen Volksschulkurse in Voronež werden aber so-wieso bald eingestellt. Statt ihrer wird ein Lehrerinstitut gegründet, dem zwei Litauischlektoren zugeordnet werden: Jablonskis und Balčikonis. Karys Grinius (1866–1950; 3. Präsident der Litauischen Republik), der Leiter der beiden Yčas-Gymnasien Pranas Mašiotas (1863–1940) und Jablonskis organisieren den nationalen Obersten Rat der Litauer in Russland (Vyriausioji lietuvių taryba Rusijoje). Er findet erstmals am 13. Dezember 1917 in Voronež zusammen und tagt u.a. in der Wohnung von Jablonskis. Der Rat wird im Februar 1918 verhaftet und im April vom Volkskommissar für Nationalitätenfragen Josif Stalin de jure aufge-löst. Die Inhaftierten kommen im März wieder frei. Nachdem Ja-blonskis über Jahre auch die Terminologie verschiedener Einzelwissen-

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79 In Russland in der Oblast’ Smolensk in der Mitte des Dreiecks Velikie Luki – Vi-tebsk – Smolensk gelegen, ca. 390 km Luftlinie westlich von Vilnius.

80 In Nordostlitauen an der lettischen Grenze, auf der Höhe von Daugavpils gelegen. 81 In Russland gelegen, ca. 460 km Luftlinie südlich von Moskau. 82 Vargo mokykla, 2 Tle., Petrapilis 1916. Später ergänzt mit: Mūsų Žodynelis; „Vargo

Mokyklos“ priedėlis [Unser Wörterbüchlein; Zugabe zur „Notschule“], Voronež 1918.

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schaften mitentwickelt hat, widmet er sich in Voronež der Terminologie der Mathematik83. 1918 erscheint zudem in Vilnius eine neue, umfang-reiche Grammatik84, die über ihre Zeit Bestand haben wird. Am 16. Ju-ni 1918 kehrt die gesamte Schule (ca. 1.200–1.300 Schüler) nach Vilni-us, in dem vier Monate zuvor die Unabhängigkeit Litauens verkündet worden war, zurück.

Sowjetrussland kündigt am Ende des Jahres 1918 den Vertrag von Brest-Litowsk und startet eine Offensive: Vilnius wird sowjetisch; die unabhängige litauische Regierung flieht nach Kaunas. Jablonskis arbeitet in Vilnius als Berater im Bildungsministerium, als der er u. a. die mini-sterialen Veröffentlichungen sprachlich überarbeitet. Von der Sowjetre-gierung erhält er zudem eine Pension. Außerdem will sie die Veröffentli-chung verschiedener Bücher von ihm veranlassen. Deshalb wird er von unabhängiger Seite angegriffen, er würde mit den Bolschewiken gemein-same Sache machen85. Doch die Frontverläufe ändern sich mehrmals. Schließlich besetzt der polnische General Lucjan Želigowski (1856–1946) Wilno am 19. Oktober 1920 in einem Handstreich, wo er den Staat „Mittellitauen“ (Litwa Środkowa) errichtet, der 1923 der Republik Polen eingegliedert wird. Doch Jablonskis war bereits im Juli/August 1919 nach Kaunas umgezogen. Dort unterrichtet er wieder in verschie-denen Schulklassen. Von 1922 bis 1926 ist er dann Professor an der neu gegründeten Universität Kaunas. Er veröffentlicht weiterhin Artikel, insbesondere auch zu Bildungsfragen, und ständig werden Bücher von ihm wiederaufgelegt (z. T. in umgearbeiteter Form), die jetzt vor allem als Lehrmaterialien dienen sollen. Seine letzte neue Monographie ist das

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83 In Petrograd erscheint 1917 als Resultat dieser Arbeiten das Buch „Arithmetik. Eine Einführung in die Wissenschaft nebst Termini Technici“ (Aritmetika. Mokslo pradžia ir terminai).

84 P. Kriaušaičio ir Rygiškių Jono Lietuvių kalbos gramatika. Etimologija. Pirmosioms mūsų aukštesniosioms mokslo įstaigoms [P. Kriaušaitis’ und Jonas aus Rygiškiais Grammatik der Litauischen Sprache. Etymologie. Für unsere ersten höheren Bil-dungseinrichtungen]. Die zweite Auflage erschien 1922. Mit „Etymologie“ sind Pho-nologie und Morphologie gemeint.

85 In: Lietuva 129 (18. Juni 1919).

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Buch „Kasus und Präpositionen“86. 1928 erhält er den Drei-Sterne-Orden der Republik Lettland, 1929 den Ehrendoktor der Lettischen Universität. Jablonskis stirbt am 23. Februar 1930, nachdem er in den letzten Lebensjahren von Krankheiten gezeichnet war.

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86 Linksniai ir prielinksniai, Kaunas 1928.