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DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES GOTTESBEWEISES IN DER GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE* Die Frage nach dem Göttlichen hat das philosophische Den- ken beschäftigt, seit es mit den ersten Naturphilosophen im Grie- chenland des 6. Jh. v. Chr. seinen Anfang nahm. 1 Zu Beginn des 4. Jh. wird die Beschäftigung mit dieser Thematik durch ein neues Element erweitert: den philosophischen Gottesbeweis, der mit ra- tionalen Argumenten auf die (nun aufgekommene) Vorstellung antwortet, dass es die Götter, an die man bisher selbstverständlich geglaubt hatte, vielleicht gar nicht gab. 2 Das früheste Beispiel einer solchen philosophischen Argumentation für die Existenz der Götter findet sich in Xenophons Erinnerungen an Sokrates. 3 Da- nach sind insbesondere der Gottesbeweis im zehnten Buch von Platons Nomoi 4 und Aristoteles’ Überlegungen zum Göttlichen im System der Natur 5 von entscheidender Bedeutung für die weitere *) Nachfolgender Text ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Vor- trags ‚Diogenes of Apollonia and the Concept of Natural Theology in Greek Phil- osophy‘, den ich im Juli 2011 auf der 1st Graduate Conference of the Ancient Phil- osophy & Science Network (APSN) an der Humboldt-Universität zu Berlin ge- halten habe. Den Veranstaltern und Diskutanten sei herzlich gedankt. 1) Zum Verhältnis von Philosophie und Theologie in der frühen griechischen Philosophie vgl. allg. O. Gigon, Die Theologie der Vorsokratiker, in: H. J. Rose u. a. (Hrsg.), La notion du divin depuis Homère jusqu’à Platon. Sept exposés et discus- sions, Genf 1952, 127–166; G. Vlastos, Theology and Philosophy in Early Greek Thought, PhilosQ 2.7, 1952, 97–123; W.Jaeger, Die Theologie der frühen grie- chischen Denker, Stuttgart 1953; L.P.Gerson, God and Greek Philosophy. Studies in the Early History of Natural Theology, London 1994, 1–32; S. Broadie, Ratio- nale Theologie, in: A. A. Long (Hrsg.), Handbuch Frühe Griechische Philosophie, Stuttgart / Weimar 2001, 187–205; T. M. Robinson, Presocratic Theology, in: P. Curd / D. W. Graham (Hrsg.), The Oxford Handbook of Presocratic Philosophy, Oxford / New York 2008, 485–498. 2) Vgl. dazu allg. H.-J. Horn, Art. ‚Gottesbeweis‘, RAC XI (1981) 951–977, bes. 951–960. 3) Xen. Mem. 1,4; 4,3. 4) Plat. Nom. 888d–899d; 966c–967e. 5) Aristot. Met. Λ 7–10; fr. 838.947 f. Gigon; vgl. auch fr. 30 Gigon. RhM 156 (2013) 113–140

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Page 1: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES GOTTESBEWEISES IN DER GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE

Die Frage nach dem Goumlttlichen hat das philosophische Den-ken beschaumlftigt seit es mit den ersten Naturphilosophen im Grie-chenland des 6 Jh v Chr seinen Anfang nahm1 Zu Beginn des4 Jh wird die Beschaumlftigung mit dieser Thematik durch ein neuesElement erweitert den philosophischen Gottesbeweis der mit ra-tionalen Argumenten auf die (nun aufgekommene) Vorstellungantwortet dass es die Goumltter an die man bisher selbstverstaumlndlichgeglaubt hatte vielleicht gar nicht gab2 Das fruumlheste Beispiel einersolchen ph i losoph i schen Argumentation fuumlr die Existenz derGoumltter findet sich in Xenophons Erinnerungen an Sokrates3 Da-nach sind insbesondere der Gottesbeweis im zehnten Buch vonPlatons Nomoi4 und Aristotelesrsquo Uumlberlegungen zum Goumlttlichen imSystem der Natur5 von entscheidender Bedeutung fuumlr die weitere

) Nachfolgender Text ist eine uumlberarbeitete und erweiterte Fassung des Vor-trags sbquoDiogenes of Apollonia and the Concept of Natural Theology in Greek Phil -osophylsquo den ich im Juli 2011 auf der 1st Graduate Conference of the Ancient Phil -osophy amp Science Network (APSN) an der Humboldt-Universitaumlt zu Berlin ge-halten habe Den Veranstaltern und Diskutanten sei herzlich gedankt

1) Zum Verhaumlltnis von Philosophie und Theologie in der fruumlhen griechischenPhilosophie vgl allg O Gigon Die Theologie der Vorsokratiker in H J Rose u a(Hrsg) La notion du divin depuis Homegravere jusqursquoagrave Platon Sept exposeacutes et discus-sions Genf 1952 127ndash166 G Vlastos Theology and Philosophy in Early GreekThought PhilosQ 27 1952 97ndash123 W Jaeger Die Theologie der fruumlhen grie-chischen Denker Stuttgart 1953 L P Gerson God and Greek Philosophy Studiesin the Early History of Natural Theology London 1994 1ndash32 S Broadie Ratio-nale Theologie in A A Long (Hrsg) Handbuch Fruumlhe Griechische PhilosophieStuttgart Weimar 2001 187ndash205 T M Robinson Presocratic Theology inP Curd D W Graham (Hrsg) The Oxford Handbook of Presocratic PhilosophyOxford New York 2008 485ndash498

2) Vgl dazu allg H-J Horn Art sbquoGottesbeweislsquo RAC XI (1981) 951ndash977bes 951ndash960

3) Xen Mem 14 434) Plat Nom 888dndash899d 966cndash967e5) Aristot Met Λ 7ndash10 fr 838947 f Gigon vgl auch fr 30 Gigon

RhM 156 (2013) 113ndash140

Entwicklung des Konzepts Dabei zeigt sich dass die sbquosokratischeWendelsquo6 die das naturphilosophische Denken der Vorsokratiker inden Hintergrund treten lieszlig zwar eine Um- und Neuorientierungder Philosophie war jedoch kein grundlegender Bruch der Tradi-tion Auch bei Platon und Aristoteles finden sich ndash bei allen durch-aus wesentlichen Unterschieden ndash wichtige Kontinuitaumlten zu ihrenvorsokratischen Vorgaumlngern7 Schlieszliglich gehoumlrte deren Denkenzum vorhandenen sbquoMateriallsquo mit dem sie sich bei der Entwicklungihrer eigenen Philosophie auseinanderzusetzen hatten ndash ob sie die-se Konzepte nun uumlbernahmen weiterentwickelten oder zuruumlck-wiesen

Dieser Zusammenhang laumlsst sich exemplarisch am Konzeptdes philosophischen Gottesbeweises zeigen Ein wesentliches Ar-gument in diesem war dass das Dasein und das Wirken einer goumltt-lichen Kraft durch die vernuumlnftige Ordnung der natuumlrlichen Welthinlaumlnglich erwiesen sei Bei den vorsokratischen Philosophen fin-det sich zwar noch kein Gottesbeweis im eigentlichen Sinne dochsteht eine solche Argumentation wie sie spaumlter etwa Platon ent -wickelte erkennbar in der Tradition ihres Denkens Sie basierte aufdrei wesentlichen Postulaten deren Ursprung sich auf die vorso-kratische Tradition zuruumlckfuumlhren laumlsst die Vorstellung der natuumlr -lichen Welt als Kosmos als nach Maszligen geordnetes und rationalverstaumlndliches System die Vorstellung dass eine rationale Instanzein sbquoGeistlsquo fuumlr diese rationale Ordnung verantwortlich sein muss-te und die Bestimmung des Goumlttlichen als in erster Linie geistigerund rationaler Kraft in der Welt

Die geistesgeschichtlichen Kontinuitaumlten von den Vorsokra -tikern zu Platon Aristoteles und spaumlteren Philosophen sollen alsoim Folgenden am Beispiel des philosophischen Gottesbeweisesnachgezeichnet werden Diogenes von Apollonia ist dabei von be-sonderem Interesse dies allerdings weder als unmittelbare Quellespaumlterer Gottesbeweise noch als Urheber der philosophischenKonzepte auf denen eine solche Argumentation basierte Theo-

114 Jan Dreszlig le r

6) Vgl Cic Tusc 510 f Aristot Part An 942a28ndash317) Zu Platons Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern vgl T Irwin Pla-

to The Intellectual Background in R Kraut (Hrsg) The Cambridge Companionto Plato Cambridge u a 1992 51ndash89 hier 51ndash57 zu Aristoteles M Frede Aris -totlersquos Account of the Origins of Philosophy in P Curd D W Graham (Hrsg)The Oxford Handbook of Presocratic Philosophy Oxford New York 2008 501ndash529

phrast meinte gar Diogenes habe nur Gedanken aumllterer Vorsokra-tiker besonders von Anaxagoras und Leukipp sbquogesammeltlsquo und zueinem neuen System zusammengefuumlgt8 Er steht mithin am Endeeiner Kette9 doch macht ihn gerade dies zu einer unschaumltzbarenQuelle Konzepte die seit Laumlngerem zum vorsokratischen Denkengehoumlrten finden sich bei ihm in klarer und entwickelter Form ndashnicht zuletzt weil (im Unterschied zu vielen seiner Vorgaumlnger) laumlngere zusammenhaumlngende Fragmente seines Werkes uumlberliefertsind Die Fragmente des Diogenes zeigen welches konzeptuelleMaterial zu der Zeit vorhanden war in der die ersten philosophi-schen Gottesbeweise entstanden

Diese wiederum gingen dabei einen entscheidenden Schrittweiter als die vorsokratischen Konzepte auf denen sie aufbautenBisher hatten sich die Philosophen darauf konzentriert das sbquowah-relsquo Wesen der Goumltter aus philosophischer Sicht zu ergruumlnden Zwarsetzten sich auch die groszligen Philosophen der klassischen wie derhellenistischen Zeit weiterhin mit dieser Frage auseinander undenthaumllt auch der aufkommende Gottesbeweis zugleich Aussagenuumlber das Wesen der Goumltter Wesentlich ist aber nun dass man de-ren Existenz an sich fuumlr begruumlndungswuumlrdig hielt Wie es zu die-sem ideengeschichtlich bedeutsamen Schritt kam soll dann im letzten Teil des Artikels mit Blick auf den zeitgenoumlssischen intel-lektuellen Kontext beleuchtet werden Offensichtlich konnte derGlaube an die Goumltter zu Beginn des 4 Jhs keineswegs mehr alsselbstverstaumlndlich gelten Dabei wird sich zeigen dass nicht nur dasAufkommen des philosophischen Gottesbeweises sondern auchdiese Verunsicherung des traditionellen religioumlsen Denkens auf dieer antwortet mit der Entwicklung der Philosophie in engem Zu-sammenhang steht

115Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

8) DK 64 A 5 vgl J Kerschensteiner Kosmos Quellenkritische Untersu-chungen zu den Vorsokratikern Muumlnchen 1962 176 G S Kirk J E Raven M Schofield Die vorsokratischen Philosophen Einfuumlhrung Texte und Kommen-tare Stuttgart Weimar 2001 476 f Einschraumlnkend zu Diogenesrsquo sbquoEklektizismuslsquo allerdings A Laks Diogegravene drsquoApollonie Edition traduction et commentaire desfragments et teacutemoignages Deuxiegraveme eacutedition revue et augmenteacutee Sankt Augustin2008 28ndash31 ders Between Religion and Philosophy The Function of Allegory inthe Derveni Papyrus Phronesis 42 1997 121ndash142 hier 127

9) Vgl Laks 2008 (wie Anm 8) 21 bdquoDiogegravene constituait un aboutissementldquo

I Natuumlrliche Theologie und der philosophische Gottesbeweis

Natuumlrliche oder physische Theologie ndash mit diesen Begriffenbezeichnete der stoisch beeinflusste roumlmische Gelehrte Varro im1 Jh v Chr die Theologie der Philosophen10 Davon unterschieder die mythische und die politische Theologie also die Religionder das Volk anhing und die im oumlffentlichen Kult gepflegt wurdeFuumlr ihn standen nur die Ansichten der Philosophen im Einklangmit der Natur11 waumlhrend die politische Theologie in erster Liniedem sozialen Zusammenhalt und der Stabilitaumlt des Gemeinwesensdiente Varros Modell verweist dabei auf eine Entwicklung die mitder Philosophie selbst ihren Anfang nahm Die griechischen Philo-sophen verabschiedeten sich keineswegs von der Religion12 son-dern versuchten vielmehr mit neuen gleichsam rationalen Kon-zepten zu fassen was sbquodas Goumlttlichelsquo eigentlich war und es im Rahmen ihrer jeweiligen naturphilosophischen Systeme neu zu be-stimmen und zu verorten13 Ein Aspekt dieser Entwicklung ist dieAbgrenzung des neuen philosophischen vom alten Gottesbild desMythos Zugleich ist aber bei mehreren Denkern ein Bemuumlhen er-kennbar den Gegensatz zu uumlberbruumlcken indem man die gaumlngigenGoumlttererzaumlhlungen nun als mythischen Ausdruck einer sbquotieferenlsquophilosophisch zu erfassenden Wahrheit deutete14

116 Jan Dreszlig le r

10) Aug Civ 65 vgl Jaeger (wie Anm 1) 10ndash12 Gerson (wie Anm 1) 111) Vgl auch Aug Civ 43112) Vgl P A Meijer Philosophers Intellectuals and Religion in Hellas in

H S Versnel (Hrsg) Faith Hope and Worship Aspects of Religious Mentality inthe Ancient World Leiden u a 1981 216ndash262 hier 226ndash228

13) Vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) Jaeger (wie Anm 1) Dass dennochein deutlicher Kontrast zwischen dem traditionellen religioumlsen Denken und dem derPhilosophen bestand unterstreicht besonders Vlastos (wie Anm 1) bdquoThe divinityof the physiologoi has no direct connection with the public cult and is indeed so independent of it as to leave the very existence of the cult-gods in doubtldquo (104) vglauch 116 f und Gigon 1952 155 f

14) Vgl jetzt dazu O Primavesi Empedocles Physical and Mythical Divin -ity in P Curd D W Graham (Hrsg) The Oxford Handbook of Presocratic Phil -osophy Oxford 2008 250ndash283 Vgl auch Chaputhiers Frage (bei Gigon 1952 [wieAnm 1] 162) bdquoComment les philosophes ont-ils laisser subsister cocircte agrave cocircte drsquounepart le nom de dieu pour deacutesigner les principes de la nature et quelquefois un prin-cipe unique et de lrsquoautre ce mecircme nom pour deacutesigner les dieux de la religion tradi-tionnelle Crsquoest une antinomie qui se trouve un peu partout dans la philosophiegrecqueldquo Zum Begriff des sbquoGoumlttlichenlsquo bei Anaximander und dem Verhaumlltnis die-ses Konzepts zu den traditionellen Goumlttern vgl Jaeger (wie Anm 1) 42ndash45

Zu einem wichtigen Teilbereich einer solchen natuumlrlichen Theo-logie wurde der philosophische Gottesbeweis Er begegnet der zuBeginn des 4 Jhs vorstellbar gewordenen Hypothese dass die Goumlt-ter vielleicht gar nicht existierten oder ndash was fuumlr viele auf das Gleichehinauslief ndash zumindest keine aktive Rolle in der Welt spielten Dabeikonnten sowohl die Argumentationswege als auch die Argumenta -tionsziele durchaus variieren Zum einen sollten der Status und dieFunktion der Goumltter in der Welt geklaumlrt werden Eng damit verbun-den aber nicht identisch ist der Gottesbeweis im eigentlichen Sinnein dem nicht das Wesen sondern die Frage der Existenz der Goumltterim Vordergrund stand Und schlieszliglich kam im Zusammenhang mitdem sophistischen Kulturentstehungsdenken die Frage auf wie undwarum der Glaube an die Goumltter urspruumlnglich aufgekommen warTatsaumlchlich aber haumlngen all diese Fragen zumeist eng zusammen15

Zwar konnte die Suche nach den (menschlichen) Urspruumlngen desGoumltterglaubens auch dazu dienen diesen als Fiktion zu sbquoentlarvenlsquo16

Zumeist ist sie aber mit der Annahme verbunden dass die urspruumlng-liche Erkenntnis durchaus richtig war ndash und daher auch in der Ge-genwart noch guumlltig Genauso impliziert auch die Argumentationdass die Goumltter ihrem Wesen nach eine aktive Rolle in der Welt spielen zugleich den Nachweis ihrer Existenz Dabei zeigt sich auchim philosophischen Gottesbeweis das ambivalente Verhaumlltnis vonmythischer und philosophischer Theologie Einerseits verteidigte ermit Argumenten die dem philosophischen Denken entstammten ein spezifisch philosophisches Gottesbild Andererseits stuumltzte einesolche Argumentation ndash implizit oder explizit ndash auch den sbquoVolks-glaubenlsquo insofern dieser wenn er auch das sbquowahrelsquo Wesen der Goumlt-ter nur ungenuumlgend zum Ausdruck brachte doch zumindest demsbquoAtheismuslsquo entgegenstand den es zu bekaumlmpfen galt17

117Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

15) Vgl J Mansfeld Theology in K Algra et al (Hrsg) The CambridgeHistory of Hellenistic Philosophy Cambridge 1999 452ndash478 hier 471

16) Vgl in diesem Sinne das Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25) Nach einemZeugnis aus Philodems Schrift De Pietate stand auch hinter der Theorie des Prodi-kos die Vorstellung dass es die Goumltter an die die Menschen glaubten eigentlich garnicht gab (PHerc 1428 fr 19 Schober vgl A Henrichs Democritus and Prodicuson Religion HSPh 79 1975 93ndash123 hier 107 f) Zwar nennt der Papyrus Prodikosnicht explizit beim Namen doch steht der inhaltliche Bezug auf dessen Theorie auszliger Frage vgl Henrichs 108 f Vgl dazu jetzt auch R Mayhew Prodicus the Sophist Text Translation and Commentary New York 2011 183ndash185

17) So verweisen zwar die Argumente bei Xenophon und Platon eher auf einphilosophisches Gottesbild sind aber zugleich auch als Verteidigung der traditio-

Der Gottesbeweis entwickelte sich zu einem festen Bestand-teil des theologischen Denkens der griechischen Philosophen18

Dabei bildete sich eine Reihe gaumlngiger Argumente heraus die Sex-tus Empiricus im 2 Jh n Chr wiedergibt

Diejenigen also die glauben dass es Goumltter gibt versuchen dies auf vier Arten zu beweisen erstens anhand der Uumlbereinstimmung bei allenMenschen zweitens anhand der kosmischen Ordnung drittens anhandder absurden Folgen fuumlr die die das Goumlttliche in Frage stellen und vier-tens und letztens indem sie die gegnerischen Argumente widerlegen19

Im Folgenden wird vor allem das zweite Argument von Interessesein20 Diese Beweisfuumlhrung π τν ργων21 bzw ex operibus ar-beitet mit Konzepten aus der vorsokratischen Tradition der griechi -schen Philosophie Die Argumentation kann wie folgt zusammen-gefasst werden Da das Universum eine Ordnung hat muss Vernunftin ihm sein und diese gehoumlrt einer goumlttlichen Kraft deren Existenzalso durch die kosmische Ordnung hinreichend bewiesen ist

Argumente dieser Art sind zum ersten Mal im fruumlhen 4 Jhv Chr greifbar In den Memorabilien schreibt Xenophon dem So-krates an zwei Stellen eine Argumentation zu mit der er seinen Gespraumlchspartnern habe zeigen wollen dass ein Wirken der Goumlt-ter in der Welt evident sei22 Ihm geht es dabei nicht um einen Got-tesbeweis im eigentlichen Sinne sondern um die Zuruumlckweisung

118 Jan Dreszlig le r

nellen Religion zu verstehen (vgl etwa Xen Mem 142 432 Plat Nom 886endash887c)

18) Zu den Stoikern vgl Sext Emp 988ndash91101ndash104111ndash114 sowie die ent-sprechenden Stellen mit Kommentar bei A A Long D N Sedley Die hellenisti-schen Philosophen Texte und Kommentare Stuttgart Weimar 2006 385ndash396Zum Gottesbeweis bei den Stoikern vgl auch Horn (wie Anm 2) 956ndash958 Mans-feld (wie Anm 15) 454ndash461

19) Sext Emp Math 960 (eigene Uumlbersetzung) Ο τονυν θεος ξιοντεςεναι πειρνται τ προκεμενον κατασκευζειν κ τεσσρων τρπων νς μν τ$ςπαρ πampσιν νθρποις συμφωνας δευτρου δ τ$ς κοσμικ$ς διατξεως τρτου δτν κολουθοντων τπων τος ναιροσι τ θεον τετρτου δ κα0 τελευταουτ$ς τν ντιπιπτντων λγων 1πεξαιρσεως Vgl dazu den Uumlberblick uumlber die Ar-gumente fruumlherer Philosophen zu diesen vier Punkten den Sextus 961ndash190 gibtZum ersten Argument vgl auch Plat Nom 886a

20) Vgl dazu Sext Emp Math 975ndash12221) Vgl Henrichs (wie Anm 16) 105 f mit Anm 53 Jaeger (wie Anm 1)

192 f mit 293 Anm 8222) Zum Gottesbeweis in den Memorabilien vgl O Gigon Kommentar

zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien Basel 1953 122ndash146 Horn (wieAnm 2) 954 Ob Xenophon an dieser Stelle tatsaumlchlich die Gedanken des Sokrates

einer bestimmten ndash im 5 Jh greifbaren ndash Vorstellung von den Goumlt-tern als gleichsam uumlber den Dingen stehend und gaumlnzlich uninte-ressiert an allem Irdischen und Menschlichen23 Doch ergibt sichaus Sokratesrsquo Argumentation notwendig auch der Nachweis dassdie Goumltter tatsaumlchlich existieren24 Er ist uumlberzeugt dass alles in der Natur zum Wohle des Menschen angelegt sei ndash inklusive seinereigenen Natur25 Der Mensch sei mit allem ausgestattet was er zumLeben braucht Die Fruumlchte des Bodens ernaumlhren ihn26 ebenso dieTiere die ihm zudem bei seinen Arbeiten helfen27 die Sonne sorgtfuumlr Waumlrme und Licht ndash und das immer im richtigen Maszlig28 DerKoumlrper des Menschen erweise sich als im houmlchsten Maszlige funktio-nal29 Auszligerdem sei er ausgestattet mit Intelligenz30 und Sinnen31

um sich in der Welt zurechtzufinden und verfuumlge uumlber die Spra-che ohne die keine Gemeinschaften gebildet werden koumlnnten32

119Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

wiedergibt erscheint fraglich Zwar meint auch Platon Sokrates habe nach einemeinheitlichen Vernunftprinzip gesucht das allem in der Welt zugrunde liege (undsich deswegen fuumlr Anaxagoras interessiert) (Phaidr 99andashc) Zumindest der genauereGedankengang ist aber wohl Xenophon zuzuschreiben (so schon Sext Emp Math992 vgl auch Jaeger [wie Anm 1] 190 f)

23) Vgl Xen Mem 1411 So meinte etwa der Sophist Thrasymachos 2τι οθεο0 ο3χ 5ρσι τ νθρπινα ο3 γρ 7ν τ μγιστον τν ν νθρποις γαθν παρεδον τ8ν δικαιοσνην 5ρμεν γρ τος νθρπους τατ μ8 χρωμνους (DK85 B 8) Zur Sicht dass die Goumltter sich nicht um die Menschen kuumlmmern vgl auchEur fr 832 Plat Nom 885b899d ff (dort als eine der drei Formen des sbquoAtheismuslsquocharakterisiert)

24) Auch Sextus Empiricus versteht die Argumentation als λγον ες τ εναιθεος (Math 992) Umgekehrt ist die Vorstellung dass sich die Goumltter um die Menschen kuumlmmern aber keine notwendige Voraussetzung fuumlr die Annahme ihrerExistenz wie sich bei den Atomisten und den Epikureern zeigt

25) Vgl Xen Mem 14714 4338 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 153F Huumlffmeier Teleologische Weltbetrachtung bei Diogenes von Apollonia Philo-logus 107 1963 131ndash138 hier 134ndash136

26) Vgl Xen Mem 435 f27) Vgl Xen Mem 4310 aumlhnlich auch Aristot Pol 1256b15ndash22 Zur

Nutzbarmachung bzw Unterwerfung der Tiere als Teil der menschlichen Kultur-entwicklung vgl auch Anaxagoras DK 59 A 102 Aischyl Prom 461ndash466 SophAnt 334ndash352 Eur fr 27

28) Vgl Xen Mem 438 f29) Vgl Xen Mem 145 f aumlhnlich zum Beispiel Aristot Part An 658b14ndash

26 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 292 Anm 72) Protr fr 7354 Gigon30) Vgl Xen Mem 4311 vgl 14831) Vgl Xen Mem 145 431132) Vgl Xen Mem 4312 Zur Sprache als menschlichem Kulturmerkmal

und Grundlage der Gemeinschaftsbildung vgl auch Isok 35ndash9 (= 15253ndash257)448 Aristot Pol 1253a9 f14ndash18

Und durch seine religioumlsen Praktiken stehe er in privilegierter Ver-bindung zu den Goumlttern33 Die Argumentation greift dabei Ele-mente zeitgenoumlssischer Kulturentstehungstheorien auf34 und ver-knuumlpft sie mit der traditionellen Vorstellung wonach die olympi-schen Goumltter die Wohltaumlter der Menschen sind ndash solange diese sichentsprechend gottgefaumlllig verhalten35

Die natuumlrliche Welt so Sokrates erweise sich also dem den-kenden Betrachter als sinnvolles weil von der goumlttlichen Vernunftauf den Menschen ausgerichtetes Ganzes Dieser Gedanke der of-fenkundig an das vorsokratische Verstaumlndnis des Kosmos als regel-maumlszligig geordnetem System anknuumlpfen kann wird dabei von Sokra-tes auch und vor allem auf die Lebenswelt des Menschen bezogenDer Kosmos ist uumlberall identisch ndash im Kleinen wie im Groszligen36

Und wie der Mensch uumlber Vernunft verfuumlgt so zeige diese sichauch im Universum insgesamt Es sei klar dass bdquoder Geist in dirdeinen Koumlrper leitet wie es ihm beliebt Ebenso muss man alsoglauben dass auch die Einsicht im All saumlmtliche Dinge so anord-net wie es ihr Freude machtldquo37 Eben diese wirkende Vernunft seider Beleg fuumlr das Walten der Goumltter in der Welt ndash und damit auchfuumlr ihre Existenz Dem liegt die Vorstellung zugrunde dass dieGoumltter so erhaben sind dass sie sich der menschlichen Wahr -nehmung und Erkenntnis entziehen38 ndash eine Vorstellung die sichbereits bei mehreren vorsokratischen Denkern findet39 Anhand

120 Jan Dreszlig le r

33) Vgl Xen Mem 141315 f 431234) Vgl R Muumlller Die Entdeckung der Kultur Antike Theorien von Homer

bis Seneca Duumlsseldorf Zuumlrich 2003 204ndash21035) Vgl etwa Aischyl Prom 442ndash506 Eur Hik 201ndash218 Antiph 432

Xen Mem 223 Plat Prot 321dndash322d Polit 274cndashd36) Vgl J-P Vernant Les origines de la penseacutee grecque Paris 41981 101

W Kranz Kosmos als philosophischer Begriff fruumlhgriechischer Zeit Philologus 931938 430ndash448 hier 435 f438 f

37) Xen Mem 1417 (eigene Uumlbersetzung) 5 σς νος νltν τ σν σμα2πως βολεται μεταχειρζεται Οεσθαι ον χρ8 κα0 τ8ν ν τA παντ0 φρνησιν τπντα 2πως 7ν α3τB Cδ D οEτω τθεσθαι Wie ganz aumlhnlich Platon in Phlb 29andash30d bemuumlht auch Xenophon zugleich das argumentum e gradibus entium wonachdie goumlttliche Seele im Kosmos die menschliche an Vollkommenheit weit uumlbertreffe(vgl 14817 f) Nach Jaeger (wie Anm 1) 193 f geht die Analogie von menschli-cher und kosmischer Seele in beiden Texten auf Diogenes zuruumlck (vgl DK 64 B 45)

38) Vgl Xen Mem 1113 47639) Vgl Xenophanes DK 21 B 34 Empedokles DK 31 B 133 Melissos DK

30 A 1 Protagoras DK 80 A 1 Vgl auch Eur Hel 1137ndash1150 fr 795 AristophNub 250 f Plat Nom 821d

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 2: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Entwicklung des Konzepts Dabei zeigt sich dass die sbquosokratischeWendelsquo6 die das naturphilosophische Denken der Vorsokratiker inden Hintergrund treten lieszlig zwar eine Um- und Neuorientierungder Philosophie war jedoch kein grundlegender Bruch der Tradi-tion Auch bei Platon und Aristoteles finden sich ndash bei allen durch-aus wesentlichen Unterschieden ndash wichtige Kontinuitaumlten zu ihrenvorsokratischen Vorgaumlngern7 Schlieszliglich gehoumlrte deren Denkenzum vorhandenen sbquoMateriallsquo mit dem sie sich bei der Entwicklungihrer eigenen Philosophie auseinanderzusetzen hatten ndash ob sie die-se Konzepte nun uumlbernahmen weiterentwickelten oder zuruumlck-wiesen

Dieser Zusammenhang laumlsst sich exemplarisch am Konzeptdes philosophischen Gottesbeweises zeigen Ein wesentliches Ar-gument in diesem war dass das Dasein und das Wirken einer goumltt-lichen Kraft durch die vernuumlnftige Ordnung der natuumlrlichen Welthinlaumlnglich erwiesen sei Bei den vorsokratischen Philosophen fin-det sich zwar noch kein Gottesbeweis im eigentlichen Sinne dochsteht eine solche Argumentation wie sie spaumlter etwa Platon ent -wickelte erkennbar in der Tradition ihres Denkens Sie basierte aufdrei wesentlichen Postulaten deren Ursprung sich auf die vorso-kratische Tradition zuruumlckfuumlhren laumlsst die Vorstellung der natuumlr -lichen Welt als Kosmos als nach Maszligen geordnetes und rationalverstaumlndliches System die Vorstellung dass eine rationale Instanzein sbquoGeistlsquo fuumlr diese rationale Ordnung verantwortlich sein muss-te und die Bestimmung des Goumlttlichen als in erster Linie geistigerund rationaler Kraft in der Welt

Die geistesgeschichtlichen Kontinuitaumlten von den Vorsokra -tikern zu Platon Aristoteles und spaumlteren Philosophen sollen alsoim Folgenden am Beispiel des philosophischen Gottesbeweisesnachgezeichnet werden Diogenes von Apollonia ist dabei von be-sonderem Interesse dies allerdings weder als unmittelbare Quellespaumlterer Gottesbeweise noch als Urheber der philosophischenKonzepte auf denen eine solche Argumentation basierte Theo-

114 Jan Dreszlig le r

6) Vgl Cic Tusc 510 f Aristot Part An 942a28ndash317) Zu Platons Auseinandersetzung mit den Vorsokratikern vgl T Irwin Pla-

to The Intellectual Background in R Kraut (Hrsg) The Cambridge Companionto Plato Cambridge u a 1992 51ndash89 hier 51ndash57 zu Aristoteles M Frede Aris -totlersquos Account of the Origins of Philosophy in P Curd D W Graham (Hrsg)The Oxford Handbook of Presocratic Philosophy Oxford New York 2008 501ndash529

phrast meinte gar Diogenes habe nur Gedanken aumllterer Vorsokra-tiker besonders von Anaxagoras und Leukipp sbquogesammeltlsquo und zueinem neuen System zusammengefuumlgt8 Er steht mithin am Endeeiner Kette9 doch macht ihn gerade dies zu einer unschaumltzbarenQuelle Konzepte die seit Laumlngerem zum vorsokratischen Denkengehoumlrten finden sich bei ihm in klarer und entwickelter Form ndashnicht zuletzt weil (im Unterschied zu vielen seiner Vorgaumlnger) laumlngere zusammenhaumlngende Fragmente seines Werkes uumlberliefertsind Die Fragmente des Diogenes zeigen welches konzeptuelleMaterial zu der Zeit vorhanden war in der die ersten philosophi-schen Gottesbeweise entstanden

Diese wiederum gingen dabei einen entscheidenden Schrittweiter als die vorsokratischen Konzepte auf denen sie aufbautenBisher hatten sich die Philosophen darauf konzentriert das sbquowah-relsquo Wesen der Goumltter aus philosophischer Sicht zu ergruumlnden Zwarsetzten sich auch die groszligen Philosophen der klassischen wie derhellenistischen Zeit weiterhin mit dieser Frage auseinander undenthaumllt auch der aufkommende Gottesbeweis zugleich Aussagenuumlber das Wesen der Goumltter Wesentlich ist aber nun dass man de-ren Existenz an sich fuumlr begruumlndungswuumlrdig hielt Wie es zu die-sem ideengeschichtlich bedeutsamen Schritt kam soll dann im letzten Teil des Artikels mit Blick auf den zeitgenoumlssischen intel-lektuellen Kontext beleuchtet werden Offensichtlich konnte derGlaube an die Goumltter zu Beginn des 4 Jhs keineswegs mehr alsselbstverstaumlndlich gelten Dabei wird sich zeigen dass nicht nur dasAufkommen des philosophischen Gottesbeweises sondern auchdiese Verunsicherung des traditionellen religioumlsen Denkens auf dieer antwortet mit der Entwicklung der Philosophie in engem Zu-sammenhang steht

115Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

8) DK 64 A 5 vgl J Kerschensteiner Kosmos Quellenkritische Untersu-chungen zu den Vorsokratikern Muumlnchen 1962 176 G S Kirk J E Raven M Schofield Die vorsokratischen Philosophen Einfuumlhrung Texte und Kommen-tare Stuttgart Weimar 2001 476 f Einschraumlnkend zu Diogenesrsquo sbquoEklektizismuslsquo allerdings A Laks Diogegravene drsquoApollonie Edition traduction et commentaire desfragments et teacutemoignages Deuxiegraveme eacutedition revue et augmenteacutee Sankt Augustin2008 28ndash31 ders Between Religion and Philosophy The Function of Allegory inthe Derveni Papyrus Phronesis 42 1997 121ndash142 hier 127

9) Vgl Laks 2008 (wie Anm 8) 21 bdquoDiogegravene constituait un aboutissementldquo

I Natuumlrliche Theologie und der philosophische Gottesbeweis

Natuumlrliche oder physische Theologie ndash mit diesen Begriffenbezeichnete der stoisch beeinflusste roumlmische Gelehrte Varro im1 Jh v Chr die Theologie der Philosophen10 Davon unterschieder die mythische und die politische Theologie also die Religionder das Volk anhing und die im oumlffentlichen Kult gepflegt wurdeFuumlr ihn standen nur die Ansichten der Philosophen im Einklangmit der Natur11 waumlhrend die politische Theologie in erster Liniedem sozialen Zusammenhalt und der Stabilitaumlt des Gemeinwesensdiente Varros Modell verweist dabei auf eine Entwicklung die mitder Philosophie selbst ihren Anfang nahm Die griechischen Philo-sophen verabschiedeten sich keineswegs von der Religion12 son-dern versuchten vielmehr mit neuen gleichsam rationalen Kon-zepten zu fassen was sbquodas Goumlttlichelsquo eigentlich war und es im Rahmen ihrer jeweiligen naturphilosophischen Systeme neu zu be-stimmen und zu verorten13 Ein Aspekt dieser Entwicklung ist dieAbgrenzung des neuen philosophischen vom alten Gottesbild desMythos Zugleich ist aber bei mehreren Denkern ein Bemuumlhen er-kennbar den Gegensatz zu uumlberbruumlcken indem man die gaumlngigenGoumlttererzaumlhlungen nun als mythischen Ausdruck einer sbquotieferenlsquophilosophisch zu erfassenden Wahrheit deutete14

116 Jan Dreszlig le r

10) Aug Civ 65 vgl Jaeger (wie Anm 1) 10ndash12 Gerson (wie Anm 1) 111) Vgl auch Aug Civ 43112) Vgl P A Meijer Philosophers Intellectuals and Religion in Hellas in

H S Versnel (Hrsg) Faith Hope and Worship Aspects of Religious Mentality inthe Ancient World Leiden u a 1981 216ndash262 hier 226ndash228

13) Vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) Jaeger (wie Anm 1) Dass dennochein deutlicher Kontrast zwischen dem traditionellen religioumlsen Denken und dem derPhilosophen bestand unterstreicht besonders Vlastos (wie Anm 1) bdquoThe divinityof the physiologoi has no direct connection with the public cult and is indeed so independent of it as to leave the very existence of the cult-gods in doubtldquo (104) vglauch 116 f und Gigon 1952 155 f

14) Vgl jetzt dazu O Primavesi Empedocles Physical and Mythical Divin -ity in P Curd D W Graham (Hrsg) The Oxford Handbook of Presocratic Phil -osophy Oxford 2008 250ndash283 Vgl auch Chaputhiers Frage (bei Gigon 1952 [wieAnm 1] 162) bdquoComment les philosophes ont-ils laisser subsister cocircte agrave cocircte drsquounepart le nom de dieu pour deacutesigner les principes de la nature et quelquefois un prin-cipe unique et de lrsquoautre ce mecircme nom pour deacutesigner les dieux de la religion tradi-tionnelle Crsquoest une antinomie qui se trouve un peu partout dans la philosophiegrecqueldquo Zum Begriff des sbquoGoumlttlichenlsquo bei Anaximander und dem Verhaumlltnis die-ses Konzepts zu den traditionellen Goumlttern vgl Jaeger (wie Anm 1) 42ndash45

Zu einem wichtigen Teilbereich einer solchen natuumlrlichen Theo-logie wurde der philosophische Gottesbeweis Er begegnet der zuBeginn des 4 Jhs vorstellbar gewordenen Hypothese dass die Goumlt-ter vielleicht gar nicht existierten oder ndash was fuumlr viele auf das Gleichehinauslief ndash zumindest keine aktive Rolle in der Welt spielten Dabeikonnten sowohl die Argumentationswege als auch die Argumenta -tionsziele durchaus variieren Zum einen sollten der Status und dieFunktion der Goumltter in der Welt geklaumlrt werden Eng damit verbun-den aber nicht identisch ist der Gottesbeweis im eigentlichen Sinnein dem nicht das Wesen sondern die Frage der Existenz der Goumltterim Vordergrund stand Und schlieszliglich kam im Zusammenhang mitdem sophistischen Kulturentstehungsdenken die Frage auf wie undwarum der Glaube an die Goumltter urspruumlnglich aufgekommen warTatsaumlchlich aber haumlngen all diese Fragen zumeist eng zusammen15

Zwar konnte die Suche nach den (menschlichen) Urspruumlngen desGoumltterglaubens auch dazu dienen diesen als Fiktion zu sbquoentlarvenlsquo16

Zumeist ist sie aber mit der Annahme verbunden dass die urspruumlng-liche Erkenntnis durchaus richtig war ndash und daher auch in der Ge-genwart noch guumlltig Genauso impliziert auch die Argumentationdass die Goumltter ihrem Wesen nach eine aktive Rolle in der Welt spielen zugleich den Nachweis ihrer Existenz Dabei zeigt sich auchim philosophischen Gottesbeweis das ambivalente Verhaumlltnis vonmythischer und philosophischer Theologie Einerseits verteidigte ermit Argumenten die dem philosophischen Denken entstammten ein spezifisch philosophisches Gottesbild Andererseits stuumltzte einesolche Argumentation ndash implizit oder explizit ndash auch den sbquoVolks-glaubenlsquo insofern dieser wenn er auch das sbquowahrelsquo Wesen der Goumlt-ter nur ungenuumlgend zum Ausdruck brachte doch zumindest demsbquoAtheismuslsquo entgegenstand den es zu bekaumlmpfen galt17

117Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

15) Vgl J Mansfeld Theology in K Algra et al (Hrsg) The CambridgeHistory of Hellenistic Philosophy Cambridge 1999 452ndash478 hier 471

16) Vgl in diesem Sinne das Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25) Nach einemZeugnis aus Philodems Schrift De Pietate stand auch hinter der Theorie des Prodi-kos die Vorstellung dass es die Goumltter an die die Menschen glaubten eigentlich garnicht gab (PHerc 1428 fr 19 Schober vgl A Henrichs Democritus and Prodicuson Religion HSPh 79 1975 93ndash123 hier 107 f) Zwar nennt der Papyrus Prodikosnicht explizit beim Namen doch steht der inhaltliche Bezug auf dessen Theorie auszliger Frage vgl Henrichs 108 f Vgl dazu jetzt auch R Mayhew Prodicus the Sophist Text Translation and Commentary New York 2011 183ndash185

17) So verweisen zwar die Argumente bei Xenophon und Platon eher auf einphilosophisches Gottesbild sind aber zugleich auch als Verteidigung der traditio-

Der Gottesbeweis entwickelte sich zu einem festen Bestand-teil des theologischen Denkens der griechischen Philosophen18

Dabei bildete sich eine Reihe gaumlngiger Argumente heraus die Sex-tus Empiricus im 2 Jh n Chr wiedergibt

Diejenigen also die glauben dass es Goumltter gibt versuchen dies auf vier Arten zu beweisen erstens anhand der Uumlbereinstimmung bei allenMenschen zweitens anhand der kosmischen Ordnung drittens anhandder absurden Folgen fuumlr die die das Goumlttliche in Frage stellen und vier-tens und letztens indem sie die gegnerischen Argumente widerlegen19

Im Folgenden wird vor allem das zweite Argument von Interessesein20 Diese Beweisfuumlhrung π τν ργων21 bzw ex operibus ar-beitet mit Konzepten aus der vorsokratischen Tradition der griechi -schen Philosophie Die Argumentation kann wie folgt zusammen-gefasst werden Da das Universum eine Ordnung hat muss Vernunftin ihm sein und diese gehoumlrt einer goumlttlichen Kraft deren Existenzalso durch die kosmische Ordnung hinreichend bewiesen ist

Argumente dieser Art sind zum ersten Mal im fruumlhen 4 Jhv Chr greifbar In den Memorabilien schreibt Xenophon dem So-krates an zwei Stellen eine Argumentation zu mit der er seinen Gespraumlchspartnern habe zeigen wollen dass ein Wirken der Goumlt-ter in der Welt evident sei22 Ihm geht es dabei nicht um einen Got-tesbeweis im eigentlichen Sinne sondern um die Zuruumlckweisung

118 Jan Dreszlig le r

nellen Religion zu verstehen (vgl etwa Xen Mem 142 432 Plat Nom 886endash887c)

18) Zu den Stoikern vgl Sext Emp 988ndash91101ndash104111ndash114 sowie die ent-sprechenden Stellen mit Kommentar bei A A Long D N Sedley Die hellenisti-schen Philosophen Texte und Kommentare Stuttgart Weimar 2006 385ndash396Zum Gottesbeweis bei den Stoikern vgl auch Horn (wie Anm 2) 956ndash958 Mans-feld (wie Anm 15) 454ndash461

19) Sext Emp Math 960 (eigene Uumlbersetzung) Ο τονυν θεος ξιοντεςεναι πειρνται τ προκεμενον κατασκευζειν κ τεσσρων τρπων νς μν τ$ςπαρ πampσιν νθρποις συμφωνας δευτρου δ τ$ς κοσμικ$ς διατξεως τρτου δτν κολουθοντων τπων τος ναιροσι τ θεον τετρτου δ κα0 τελευταουτ$ς τν ντιπιπτντων λγων 1πεξαιρσεως Vgl dazu den Uumlberblick uumlber die Ar-gumente fruumlherer Philosophen zu diesen vier Punkten den Sextus 961ndash190 gibtZum ersten Argument vgl auch Plat Nom 886a

20) Vgl dazu Sext Emp Math 975ndash12221) Vgl Henrichs (wie Anm 16) 105 f mit Anm 53 Jaeger (wie Anm 1)

192 f mit 293 Anm 8222) Zum Gottesbeweis in den Memorabilien vgl O Gigon Kommentar

zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien Basel 1953 122ndash146 Horn (wieAnm 2) 954 Ob Xenophon an dieser Stelle tatsaumlchlich die Gedanken des Sokrates

einer bestimmten ndash im 5 Jh greifbaren ndash Vorstellung von den Goumlt-tern als gleichsam uumlber den Dingen stehend und gaumlnzlich uninte-ressiert an allem Irdischen und Menschlichen23 Doch ergibt sichaus Sokratesrsquo Argumentation notwendig auch der Nachweis dassdie Goumltter tatsaumlchlich existieren24 Er ist uumlberzeugt dass alles in der Natur zum Wohle des Menschen angelegt sei ndash inklusive seinereigenen Natur25 Der Mensch sei mit allem ausgestattet was er zumLeben braucht Die Fruumlchte des Bodens ernaumlhren ihn26 ebenso dieTiere die ihm zudem bei seinen Arbeiten helfen27 die Sonne sorgtfuumlr Waumlrme und Licht ndash und das immer im richtigen Maszlig28 DerKoumlrper des Menschen erweise sich als im houmlchsten Maszlige funktio-nal29 Auszligerdem sei er ausgestattet mit Intelligenz30 und Sinnen31

um sich in der Welt zurechtzufinden und verfuumlge uumlber die Spra-che ohne die keine Gemeinschaften gebildet werden koumlnnten32

119Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

wiedergibt erscheint fraglich Zwar meint auch Platon Sokrates habe nach einemeinheitlichen Vernunftprinzip gesucht das allem in der Welt zugrunde liege (undsich deswegen fuumlr Anaxagoras interessiert) (Phaidr 99andashc) Zumindest der genauereGedankengang ist aber wohl Xenophon zuzuschreiben (so schon Sext Emp Math992 vgl auch Jaeger [wie Anm 1] 190 f)

23) Vgl Xen Mem 1411 So meinte etwa der Sophist Thrasymachos 2τι οθεο0 ο3χ 5ρσι τ νθρπινα ο3 γρ 7ν τ μγιστον τν ν νθρποις γαθν παρεδον τ8ν δικαιοσνην 5ρμεν γρ τος νθρπους τατ μ8 χρωμνους (DK85 B 8) Zur Sicht dass die Goumltter sich nicht um die Menschen kuumlmmern vgl auchEur fr 832 Plat Nom 885b899d ff (dort als eine der drei Formen des sbquoAtheismuslsquocharakterisiert)

24) Auch Sextus Empiricus versteht die Argumentation als λγον ες τ εναιθεος (Math 992) Umgekehrt ist die Vorstellung dass sich die Goumltter um die Menschen kuumlmmern aber keine notwendige Voraussetzung fuumlr die Annahme ihrerExistenz wie sich bei den Atomisten und den Epikureern zeigt

25) Vgl Xen Mem 14714 4338 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 153F Huumlffmeier Teleologische Weltbetrachtung bei Diogenes von Apollonia Philo-logus 107 1963 131ndash138 hier 134ndash136

26) Vgl Xen Mem 435 f27) Vgl Xen Mem 4310 aumlhnlich auch Aristot Pol 1256b15ndash22 Zur

Nutzbarmachung bzw Unterwerfung der Tiere als Teil der menschlichen Kultur-entwicklung vgl auch Anaxagoras DK 59 A 102 Aischyl Prom 461ndash466 SophAnt 334ndash352 Eur fr 27

28) Vgl Xen Mem 438 f29) Vgl Xen Mem 145 f aumlhnlich zum Beispiel Aristot Part An 658b14ndash

26 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 292 Anm 72) Protr fr 7354 Gigon30) Vgl Xen Mem 4311 vgl 14831) Vgl Xen Mem 145 431132) Vgl Xen Mem 4312 Zur Sprache als menschlichem Kulturmerkmal

und Grundlage der Gemeinschaftsbildung vgl auch Isok 35ndash9 (= 15253ndash257)448 Aristot Pol 1253a9 f14ndash18

Und durch seine religioumlsen Praktiken stehe er in privilegierter Ver-bindung zu den Goumlttern33 Die Argumentation greift dabei Ele-mente zeitgenoumlssischer Kulturentstehungstheorien auf34 und ver-knuumlpft sie mit der traditionellen Vorstellung wonach die olympi-schen Goumltter die Wohltaumlter der Menschen sind ndash solange diese sichentsprechend gottgefaumlllig verhalten35

Die natuumlrliche Welt so Sokrates erweise sich also dem den-kenden Betrachter als sinnvolles weil von der goumlttlichen Vernunftauf den Menschen ausgerichtetes Ganzes Dieser Gedanke der of-fenkundig an das vorsokratische Verstaumlndnis des Kosmos als regel-maumlszligig geordnetem System anknuumlpfen kann wird dabei von Sokra-tes auch und vor allem auf die Lebenswelt des Menschen bezogenDer Kosmos ist uumlberall identisch ndash im Kleinen wie im Groszligen36

Und wie der Mensch uumlber Vernunft verfuumlgt so zeige diese sichauch im Universum insgesamt Es sei klar dass bdquoder Geist in dirdeinen Koumlrper leitet wie es ihm beliebt Ebenso muss man alsoglauben dass auch die Einsicht im All saumlmtliche Dinge so anord-net wie es ihr Freude machtldquo37 Eben diese wirkende Vernunft seider Beleg fuumlr das Walten der Goumltter in der Welt ndash und damit auchfuumlr ihre Existenz Dem liegt die Vorstellung zugrunde dass dieGoumltter so erhaben sind dass sie sich der menschlichen Wahr -nehmung und Erkenntnis entziehen38 ndash eine Vorstellung die sichbereits bei mehreren vorsokratischen Denkern findet39 Anhand

120 Jan Dreszlig le r

33) Vgl Xen Mem 141315 f 431234) Vgl R Muumlller Die Entdeckung der Kultur Antike Theorien von Homer

bis Seneca Duumlsseldorf Zuumlrich 2003 204ndash21035) Vgl etwa Aischyl Prom 442ndash506 Eur Hik 201ndash218 Antiph 432

Xen Mem 223 Plat Prot 321dndash322d Polit 274cndashd36) Vgl J-P Vernant Les origines de la penseacutee grecque Paris 41981 101

W Kranz Kosmos als philosophischer Begriff fruumlhgriechischer Zeit Philologus 931938 430ndash448 hier 435 f438 f

37) Xen Mem 1417 (eigene Uumlbersetzung) 5 σς νος νltν τ σν σμα2πως βολεται μεταχειρζεται Οεσθαι ον χρ8 κα0 τ8ν ν τA παντ0 φρνησιν τπντα 2πως 7ν α3τB Cδ D οEτω τθεσθαι Wie ganz aumlhnlich Platon in Phlb 29andash30d bemuumlht auch Xenophon zugleich das argumentum e gradibus entium wonachdie goumlttliche Seele im Kosmos die menschliche an Vollkommenheit weit uumlbertreffe(vgl 14817 f) Nach Jaeger (wie Anm 1) 193 f geht die Analogie von menschli-cher und kosmischer Seele in beiden Texten auf Diogenes zuruumlck (vgl DK 64 B 45)

38) Vgl Xen Mem 1113 47639) Vgl Xenophanes DK 21 B 34 Empedokles DK 31 B 133 Melissos DK

30 A 1 Protagoras DK 80 A 1 Vgl auch Eur Hel 1137ndash1150 fr 795 AristophNub 250 f Plat Nom 821d

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

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60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 3: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

phrast meinte gar Diogenes habe nur Gedanken aumllterer Vorsokra-tiker besonders von Anaxagoras und Leukipp sbquogesammeltlsquo und zueinem neuen System zusammengefuumlgt8 Er steht mithin am Endeeiner Kette9 doch macht ihn gerade dies zu einer unschaumltzbarenQuelle Konzepte die seit Laumlngerem zum vorsokratischen Denkengehoumlrten finden sich bei ihm in klarer und entwickelter Form ndashnicht zuletzt weil (im Unterschied zu vielen seiner Vorgaumlnger) laumlngere zusammenhaumlngende Fragmente seines Werkes uumlberliefertsind Die Fragmente des Diogenes zeigen welches konzeptuelleMaterial zu der Zeit vorhanden war in der die ersten philosophi-schen Gottesbeweise entstanden

Diese wiederum gingen dabei einen entscheidenden Schrittweiter als die vorsokratischen Konzepte auf denen sie aufbautenBisher hatten sich die Philosophen darauf konzentriert das sbquowah-relsquo Wesen der Goumltter aus philosophischer Sicht zu ergruumlnden Zwarsetzten sich auch die groszligen Philosophen der klassischen wie derhellenistischen Zeit weiterhin mit dieser Frage auseinander undenthaumllt auch der aufkommende Gottesbeweis zugleich Aussagenuumlber das Wesen der Goumltter Wesentlich ist aber nun dass man de-ren Existenz an sich fuumlr begruumlndungswuumlrdig hielt Wie es zu die-sem ideengeschichtlich bedeutsamen Schritt kam soll dann im letzten Teil des Artikels mit Blick auf den zeitgenoumlssischen intel-lektuellen Kontext beleuchtet werden Offensichtlich konnte derGlaube an die Goumltter zu Beginn des 4 Jhs keineswegs mehr alsselbstverstaumlndlich gelten Dabei wird sich zeigen dass nicht nur dasAufkommen des philosophischen Gottesbeweises sondern auchdiese Verunsicherung des traditionellen religioumlsen Denkens auf dieer antwortet mit der Entwicklung der Philosophie in engem Zu-sammenhang steht

115Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

8) DK 64 A 5 vgl J Kerschensteiner Kosmos Quellenkritische Untersu-chungen zu den Vorsokratikern Muumlnchen 1962 176 G S Kirk J E Raven M Schofield Die vorsokratischen Philosophen Einfuumlhrung Texte und Kommen-tare Stuttgart Weimar 2001 476 f Einschraumlnkend zu Diogenesrsquo sbquoEklektizismuslsquo allerdings A Laks Diogegravene drsquoApollonie Edition traduction et commentaire desfragments et teacutemoignages Deuxiegraveme eacutedition revue et augmenteacutee Sankt Augustin2008 28ndash31 ders Between Religion and Philosophy The Function of Allegory inthe Derveni Papyrus Phronesis 42 1997 121ndash142 hier 127

9) Vgl Laks 2008 (wie Anm 8) 21 bdquoDiogegravene constituait un aboutissementldquo

I Natuumlrliche Theologie und der philosophische Gottesbeweis

Natuumlrliche oder physische Theologie ndash mit diesen Begriffenbezeichnete der stoisch beeinflusste roumlmische Gelehrte Varro im1 Jh v Chr die Theologie der Philosophen10 Davon unterschieder die mythische und die politische Theologie also die Religionder das Volk anhing und die im oumlffentlichen Kult gepflegt wurdeFuumlr ihn standen nur die Ansichten der Philosophen im Einklangmit der Natur11 waumlhrend die politische Theologie in erster Liniedem sozialen Zusammenhalt und der Stabilitaumlt des Gemeinwesensdiente Varros Modell verweist dabei auf eine Entwicklung die mitder Philosophie selbst ihren Anfang nahm Die griechischen Philo-sophen verabschiedeten sich keineswegs von der Religion12 son-dern versuchten vielmehr mit neuen gleichsam rationalen Kon-zepten zu fassen was sbquodas Goumlttlichelsquo eigentlich war und es im Rahmen ihrer jeweiligen naturphilosophischen Systeme neu zu be-stimmen und zu verorten13 Ein Aspekt dieser Entwicklung ist dieAbgrenzung des neuen philosophischen vom alten Gottesbild desMythos Zugleich ist aber bei mehreren Denkern ein Bemuumlhen er-kennbar den Gegensatz zu uumlberbruumlcken indem man die gaumlngigenGoumlttererzaumlhlungen nun als mythischen Ausdruck einer sbquotieferenlsquophilosophisch zu erfassenden Wahrheit deutete14

116 Jan Dreszlig le r

10) Aug Civ 65 vgl Jaeger (wie Anm 1) 10ndash12 Gerson (wie Anm 1) 111) Vgl auch Aug Civ 43112) Vgl P A Meijer Philosophers Intellectuals and Religion in Hellas in

H S Versnel (Hrsg) Faith Hope and Worship Aspects of Religious Mentality inthe Ancient World Leiden u a 1981 216ndash262 hier 226ndash228

13) Vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) Jaeger (wie Anm 1) Dass dennochein deutlicher Kontrast zwischen dem traditionellen religioumlsen Denken und dem derPhilosophen bestand unterstreicht besonders Vlastos (wie Anm 1) bdquoThe divinityof the physiologoi has no direct connection with the public cult and is indeed so independent of it as to leave the very existence of the cult-gods in doubtldquo (104) vglauch 116 f und Gigon 1952 155 f

14) Vgl jetzt dazu O Primavesi Empedocles Physical and Mythical Divin -ity in P Curd D W Graham (Hrsg) The Oxford Handbook of Presocratic Phil -osophy Oxford 2008 250ndash283 Vgl auch Chaputhiers Frage (bei Gigon 1952 [wieAnm 1] 162) bdquoComment les philosophes ont-ils laisser subsister cocircte agrave cocircte drsquounepart le nom de dieu pour deacutesigner les principes de la nature et quelquefois un prin-cipe unique et de lrsquoautre ce mecircme nom pour deacutesigner les dieux de la religion tradi-tionnelle Crsquoest une antinomie qui se trouve un peu partout dans la philosophiegrecqueldquo Zum Begriff des sbquoGoumlttlichenlsquo bei Anaximander und dem Verhaumlltnis die-ses Konzepts zu den traditionellen Goumlttern vgl Jaeger (wie Anm 1) 42ndash45

Zu einem wichtigen Teilbereich einer solchen natuumlrlichen Theo-logie wurde der philosophische Gottesbeweis Er begegnet der zuBeginn des 4 Jhs vorstellbar gewordenen Hypothese dass die Goumlt-ter vielleicht gar nicht existierten oder ndash was fuumlr viele auf das Gleichehinauslief ndash zumindest keine aktive Rolle in der Welt spielten Dabeikonnten sowohl die Argumentationswege als auch die Argumenta -tionsziele durchaus variieren Zum einen sollten der Status und dieFunktion der Goumltter in der Welt geklaumlrt werden Eng damit verbun-den aber nicht identisch ist der Gottesbeweis im eigentlichen Sinnein dem nicht das Wesen sondern die Frage der Existenz der Goumltterim Vordergrund stand Und schlieszliglich kam im Zusammenhang mitdem sophistischen Kulturentstehungsdenken die Frage auf wie undwarum der Glaube an die Goumltter urspruumlnglich aufgekommen warTatsaumlchlich aber haumlngen all diese Fragen zumeist eng zusammen15

Zwar konnte die Suche nach den (menschlichen) Urspruumlngen desGoumltterglaubens auch dazu dienen diesen als Fiktion zu sbquoentlarvenlsquo16

Zumeist ist sie aber mit der Annahme verbunden dass die urspruumlng-liche Erkenntnis durchaus richtig war ndash und daher auch in der Ge-genwart noch guumlltig Genauso impliziert auch die Argumentationdass die Goumltter ihrem Wesen nach eine aktive Rolle in der Welt spielen zugleich den Nachweis ihrer Existenz Dabei zeigt sich auchim philosophischen Gottesbeweis das ambivalente Verhaumlltnis vonmythischer und philosophischer Theologie Einerseits verteidigte ermit Argumenten die dem philosophischen Denken entstammten ein spezifisch philosophisches Gottesbild Andererseits stuumltzte einesolche Argumentation ndash implizit oder explizit ndash auch den sbquoVolks-glaubenlsquo insofern dieser wenn er auch das sbquowahrelsquo Wesen der Goumlt-ter nur ungenuumlgend zum Ausdruck brachte doch zumindest demsbquoAtheismuslsquo entgegenstand den es zu bekaumlmpfen galt17

117Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

15) Vgl J Mansfeld Theology in K Algra et al (Hrsg) The CambridgeHistory of Hellenistic Philosophy Cambridge 1999 452ndash478 hier 471

16) Vgl in diesem Sinne das Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25) Nach einemZeugnis aus Philodems Schrift De Pietate stand auch hinter der Theorie des Prodi-kos die Vorstellung dass es die Goumltter an die die Menschen glaubten eigentlich garnicht gab (PHerc 1428 fr 19 Schober vgl A Henrichs Democritus and Prodicuson Religion HSPh 79 1975 93ndash123 hier 107 f) Zwar nennt der Papyrus Prodikosnicht explizit beim Namen doch steht der inhaltliche Bezug auf dessen Theorie auszliger Frage vgl Henrichs 108 f Vgl dazu jetzt auch R Mayhew Prodicus the Sophist Text Translation and Commentary New York 2011 183ndash185

17) So verweisen zwar die Argumente bei Xenophon und Platon eher auf einphilosophisches Gottesbild sind aber zugleich auch als Verteidigung der traditio-

Der Gottesbeweis entwickelte sich zu einem festen Bestand-teil des theologischen Denkens der griechischen Philosophen18

Dabei bildete sich eine Reihe gaumlngiger Argumente heraus die Sex-tus Empiricus im 2 Jh n Chr wiedergibt

Diejenigen also die glauben dass es Goumltter gibt versuchen dies auf vier Arten zu beweisen erstens anhand der Uumlbereinstimmung bei allenMenschen zweitens anhand der kosmischen Ordnung drittens anhandder absurden Folgen fuumlr die die das Goumlttliche in Frage stellen und vier-tens und letztens indem sie die gegnerischen Argumente widerlegen19

Im Folgenden wird vor allem das zweite Argument von Interessesein20 Diese Beweisfuumlhrung π τν ργων21 bzw ex operibus ar-beitet mit Konzepten aus der vorsokratischen Tradition der griechi -schen Philosophie Die Argumentation kann wie folgt zusammen-gefasst werden Da das Universum eine Ordnung hat muss Vernunftin ihm sein und diese gehoumlrt einer goumlttlichen Kraft deren Existenzalso durch die kosmische Ordnung hinreichend bewiesen ist

Argumente dieser Art sind zum ersten Mal im fruumlhen 4 Jhv Chr greifbar In den Memorabilien schreibt Xenophon dem So-krates an zwei Stellen eine Argumentation zu mit der er seinen Gespraumlchspartnern habe zeigen wollen dass ein Wirken der Goumlt-ter in der Welt evident sei22 Ihm geht es dabei nicht um einen Got-tesbeweis im eigentlichen Sinne sondern um die Zuruumlckweisung

118 Jan Dreszlig le r

nellen Religion zu verstehen (vgl etwa Xen Mem 142 432 Plat Nom 886endash887c)

18) Zu den Stoikern vgl Sext Emp 988ndash91101ndash104111ndash114 sowie die ent-sprechenden Stellen mit Kommentar bei A A Long D N Sedley Die hellenisti-schen Philosophen Texte und Kommentare Stuttgart Weimar 2006 385ndash396Zum Gottesbeweis bei den Stoikern vgl auch Horn (wie Anm 2) 956ndash958 Mans-feld (wie Anm 15) 454ndash461

19) Sext Emp Math 960 (eigene Uumlbersetzung) Ο τονυν θεος ξιοντεςεναι πειρνται τ προκεμενον κατασκευζειν κ τεσσρων τρπων νς μν τ$ςπαρ πampσιν νθρποις συμφωνας δευτρου δ τ$ς κοσμικ$ς διατξεως τρτου δτν κολουθοντων τπων τος ναιροσι τ θεον τετρτου δ κα0 τελευταουτ$ς τν ντιπιπτντων λγων 1πεξαιρσεως Vgl dazu den Uumlberblick uumlber die Ar-gumente fruumlherer Philosophen zu diesen vier Punkten den Sextus 961ndash190 gibtZum ersten Argument vgl auch Plat Nom 886a

20) Vgl dazu Sext Emp Math 975ndash12221) Vgl Henrichs (wie Anm 16) 105 f mit Anm 53 Jaeger (wie Anm 1)

192 f mit 293 Anm 8222) Zum Gottesbeweis in den Memorabilien vgl O Gigon Kommentar

zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien Basel 1953 122ndash146 Horn (wieAnm 2) 954 Ob Xenophon an dieser Stelle tatsaumlchlich die Gedanken des Sokrates

einer bestimmten ndash im 5 Jh greifbaren ndash Vorstellung von den Goumlt-tern als gleichsam uumlber den Dingen stehend und gaumlnzlich uninte-ressiert an allem Irdischen und Menschlichen23 Doch ergibt sichaus Sokratesrsquo Argumentation notwendig auch der Nachweis dassdie Goumltter tatsaumlchlich existieren24 Er ist uumlberzeugt dass alles in der Natur zum Wohle des Menschen angelegt sei ndash inklusive seinereigenen Natur25 Der Mensch sei mit allem ausgestattet was er zumLeben braucht Die Fruumlchte des Bodens ernaumlhren ihn26 ebenso dieTiere die ihm zudem bei seinen Arbeiten helfen27 die Sonne sorgtfuumlr Waumlrme und Licht ndash und das immer im richtigen Maszlig28 DerKoumlrper des Menschen erweise sich als im houmlchsten Maszlige funktio-nal29 Auszligerdem sei er ausgestattet mit Intelligenz30 und Sinnen31

um sich in der Welt zurechtzufinden und verfuumlge uumlber die Spra-che ohne die keine Gemeinschaften gebildet werden koumlnnten32

119Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

wiedergibt erscheint fraglich Zwar meint auch Platon Sokrates habe nach einemeinheitlichen Vernunftprinzip gesucht das allem in der Welt zugrunde liege (undsich deswegen fuumlr Anaxagoras interessiert) (Phaidr 99andashc) Zumindest der genauereGedankengang ist aber wohl Xenophon zuzuschreiben (so schon Sext Emp Math992 vgl auch Jaeger [wie Anm 1] 190 f)

23) Vgl Xen Mem 1411 So meinte etwa der Sophist Thrasymachos 2τι οθεο0 ο3χ 5ρσι τ νθρπινα ο3 γρ 7ν τ μγιστον τν ν νθρποις γαθν παρεδον τ8ν δικαιοσνην 5ρμεν γρ τος νθρπους τατ μ8 χρωμνους (DK85 B 8) Zur Sicht dass die Goumltter sich nicht um die Menschen kuumlmmern vgl auchEur fr 832 Plat Nom 885b899d ff (dort als eine der drei Formen des sbquoAtheismuslsquocharakterisiert)

24) Auch Sextus Empiricus versteht die Argumentation als λγον ες τ εναιθεος (Math 992) Umgekehrt ist die Vorstellung dass sich die Goumltter um die Menschen kuumlmmern aber keine notwendige Voraussetzung fuumlr die Annahme ihrerExistenz wie sich bei den Atomisten und den Epikureern zeigt

25) Vgl Xen Mem 14714 4338 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 153F Huumlffmeier Teleologische Weltbetrachtung bei Diogenes von Apollonia Philo-logus 107 1963 131ndash138 hier 134ndash136

26) Vgl Xen Mem 435 f27) Vgl Xen Mem 4310 aumlhnlich auch Aristot Pol 1256b15ndash22 Zur

Nutzbarmachung bzw Unterwerfung der Tiere als Teil der menschlichen Kultur-entwicklung vgl auch Anaxagoras DK 59 A 102 Aischyl Prom 461ndash466 SophAnt 334ndash352 Eur fr 27

28) Vgl Xen Mem 438 f29) Vgl Xen Mem 145 f aumlhnlich zum Beispiel Aristot Part An 658b14ndash

26 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 292 Anm 72) Protr fr 7354 Gigon30) Vgl Xen Mem 4311 vgl 14831) Vgl Xen Mem 145 431132) Vgl Xen Mem 4312 Zur Sprache als menschlichem Kulturmerkmal

und Grundlage der Gemeinschaftsbildung vgl auch Isok 35ndash9 (= 15253ndash257)448 Aristot Pol 1253a9 f14ndash18

Und durch seine religioumlsen Praktiken stehe er in privilegierter Ver-bindung zu den Goumlttern33 Die Argumentation greift dabei Ele-mente zeitgenoumlssischer Kulturentstehungstheorien auf34 und ver-knuumlpft sie mit der traditionellen Vorstellung wonach die olympi-schen Goumltter die Wohltaumlter der Menschen sind ndash solange diese sichentsprechend gottgefaumlllig verhalten35

Die natuumlrliche Welt so Sokrates erweise sich also dem den-kenden Betrachter als sinnvolles weil von der goumlttlichen Vernunftauf den Menschen ausgerichtetes Ganzes Dieser Gedanke der of-fenkundig an das vorsokratische Verstaumlndnis des Kosmos als regel-maumlszligig geordnetem System anknuumlpfen kann wird dabei von Sokra-tes auch und vor allem auf die Lebenswelt des Menschen bezogenDer Kosmos ist uumlberall identisch ndash im Kleinen wie im Groszligen36

Und wie der Mensch uumlber Vernunft verfuumlgt so zeige diese sichauch im Universum insgesamt Es sei klar dass bdquoder Geist in dirdeinen Koumlrper leitet wie es ihm beliebt Ebenso muss man alsoglauben dass auch die Einsicht im All saumlmtliche Dinge so anord-net wie es ihr Freude machtldquo37 Eben diese wirkende Vernunft seider Beleg fuumlr das Walten der Goumltter in der Welt ndash und damit auchfuumlr ihre Existenz Dem liegt die Vorstellung zugrunde dass dieGoumltter so erhaben sind dass sie sich der menschlichen Wahr -nehmung und Erkenntnis entziehen38 ndash eine Vorstellung die sichbereits bei mehreren vorsokratischen Denkern findet39 Anhand

120 Jan Dreszlig le r

33) Vgl Xen Mem 141315 f 431234) Vgl R Muumlller Die Entdeckung der Kultur Antike Theorien von Homer

bis Seneca Duumlsseldorf Zuumlrich 2003 204ndash21035) Vgl etwa Aischyl Prom 442ndash506 Eur Hik 201ndash218 Antiph 432

Xen Mem 223 Plat Prot 321dndash322d Polit 274cndashd36) Vgl J-P Vernant Les origines de la penseacutee grecque Paris 41981 101

W Kranz Kosmos als philosophischer Begriff fruumlhgriechischer Zeit Philologus 931938 430ndash448 hier 435 f438 f

37) Xen Mem 1417 (eigene Uumlbersetzung) 5 σς νος νltν τ σν σμα2πως βολεται μεταχειρζεται Οεσθαι ον χρ8 κα0 τ8ν ν τA παντ0 φρνησιν τπντα 2πως 7ν α3τB Cδ D οEτω τθεσθαι Wie ganz aumlhnlich Platon in Phlb 29andash30d bemuumlht auch Xenophon zugleich das argumentum e gradibus entium wonachdie goumlttliche Seele im Kosmos die menschliche an Vollkommenheit weit uumlbertreffe(vgl 14817 f) Nach Jaeger (wie Anm 1) 193 f geht die Analogie von menschli-cher und kosmischer Seele in beiden Texten auf Diogenes zuruumlck (vgl DK 64 B 45)

38) Vgl Xen Mem 1113 47639) Vgl Xenophanes DK 21 B 34 Empedokles DK 31 B 133 Melissos DK

30 A 1 Protagoras DK 80 A 1 Vgl auch Eur Hel 1137ndash1150 fr 795 AristophNub 250 f Plat Nom 821d

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 4: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

I Natuumlrliche Theologie und der philosophische Gottesbeweis

Natuumlrliche oder physische Theologie ndash mit diesen Begriffenbezeichnete der stoisch beeinflusste roumlmische Gelehrte Varro im1 Jh v Chr die Theologie der Philosophen10 Davon unterschieder die mythische und die politische Theologie also die Religionder das Volk anhing und die im oumlffentlichen Kult gepflegt wurdeFuumlr ihn standen nur die Ansichten der Philosophen im Einklangmit der Natur11 waumlhrend die politische Theologie in erster Liniedem sozialen Zusammenhalt und der Stabilitaumlt des Gemeinwesensdiente Varros Modell verweist dabei auf eine Entwicklung die mitder Philosophie selbst ihren Anfang nahm Die griechischen Philo-sophen verabschiedeten sich keineswegs von der Religion12 son-dern versuchten vielmehr mit neuen gleichsam rationalen Kon-zepten zu fassen was sbquodas Goumlttlichelsquo eigentlich war und es im Rahmen ihrer jeweiligen naturphilosophischen Systeme neu zu be-stimmen und zu verorten13 Ein Aspekt dieser Entwicklung ist dieAbgrenzung des neuen philosophischen vom alten Gottesbild desMythos Zugleich ist aber bei mehreren Denkern ein Bemuumlhen er-kennbar den Gegensatz zu uumlberbruumlcken indem man die gaumlngigenGoumlttererzaumlhlungen nun als mythischen Ausdruck einer sbquotieferenlsquophilosophisch zu erfassenden Wahrheit deutete14

116 Jan Dreszlig le r

10) Aug Civ 65 vgl Jaeger (wie Anm 1) 10ndash12 Gerson (wie Anm 1) 111) Vgl auch Aug Civ 43112) Vgl P A Meijer Philosophers Intellectuals and Religion in Hellas in

H S Versnel (Hrsg) Faith Hope and Worship Aspects of Religious Mentality inthe Ancient World Leiden u a 1981 216ndash262 hier 226ndash228

13) Vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) Jaeger (wie Anm 1) Dass dennochein deutlicher Kontrast zwischen dem traditionellen religioumlsen Denken und dem derPhilosophen bestand unterstreicht besonders Vlastos (wie Anm 1) bdquoThe divinityof the physiologoi has no direct connection with the public cult and is indeed so independent of it as to leave the very existence of the cult-gods in doubtldquo (104) vglauch 116 f und Gigon 1952 155 f

14) Vgl jetzt dazu O Primavesi Empedocles Physical and Mythical Divin -ity in P Curd D W Graham (Hrsg) The Oxford Handbook of Presocratic Phil -osophy Oxford 2008 250ndash283 Vgl auch Chaputhiers Frage (bei Gigon 1952 [wieAnm 1] 162) bdquoComment les philosophes ont-ils laisser subsister cocircte agrave cocircte drsquounepart le nom de dieu pour deacutesigner les principes de la nature et quelquefois un prin-cipe unique et de lrsquoautre ce mecircme nom pour deacutesigner les dieux de la religion tradi-tionnelle Crsquoest une antinomie qui se trouve un peu partout dans la philosophiegrecqueldquo Zum Begriff des sbquoGoumlttlichenlsquo bei Anaximander und dem Verhaumlltnis die-ses Konzepts zu den traditionellen Goumlttern vgl Jaeger (wie Anm 1) 42ndash45

Zu einem wichtigen Teilbereich einer solchen natuumlrlichen Theo-logie wurde der philosophische Gottesbeweis Er begegnet der zuBeginn des 4 Jhs vorstellbar gewordenen Hypothese dass die Goumlt-ter vielleicht gar nicht existierten oder ndash was fuumlr viele auf das Gleichehinauslief ndash zumindest keine aktive Rolle in der Welt spielten Dabeikonnten sowohl die Argumentationswege als auch die Argumenta -tionsziele durchaus variieren Zum einen sollten der Status und dieFunktion der Goumltter in der Welt geklaumlrt werden Eng damit verbun-den aber nicht identisch ist der Gottesbeweis im eigentlichen Sinnein dem nicht das Wesen sondern die Frage der Existenz der Goumltterim Vordergrund stand Und schlieszliglich kam im Zusammenhang mitdem sophistischen Kulturentstehungsdenken die Frage auf wie undwarum der Glaube an die Goumltter urspruumlnglich aufgekommen warTatsaumlchlich aber haumlngen all diese Fragen zumeist eng zusammen15

Zwar konnte die Suche nach den (menschlichen) Urspruumlngen desGoumltterglaubens auch dazu dienen diesen als Fiktion zu sbquoentlarvenlsquo16

Zumeist ist sie aber mit der Annahme verbunden dass die urspruumlng-liche Erkenntnis durchaus richtig war ndash und daher auch in der Ge-genwart noch guumlltig Genauso impliziert auch die Argumentationdass die Goumltter ihrem Wesen nach eine aktive Rolle in der Welt spielen zugleich den Nachweis ihrer Existenz Dabei zeigt sich auchim philosophischen Gottesbeweis das ambivalente Verhaumlltnis vonmythischer und philosophischer Theologie Einerseits verteidigte ermit Argumenten die dem philosophischen Denken entstammten ein spezifisch philosophisches Gottesbild Andererseits stuumltzte einesolche Argumentation ndash implizit oder explizit ndash auch den sbquoVolks-glaubenlsquo insofern dieser wenn er auch das sbquowahrelsquo Wesen der Goumlt-ter nur ungenuumlgend zum Ausdruck brachte doch zumindest demsbquoAtheismuslsquo entgegenstand den es zu bekaumlmpfen galt17

117Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

15) Vgl J Mansfeld Theology in K Algra et al (Hrsg) The CambridgeHistory of Hellenistic Philosophy Cambridge 1999 452ndash478 hier 471

16) Vgl in diesem Sinne das Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25) Nach einemZeugnis aus Philodems Schrift De Pietate stand auch hinter der Theorie des Prodi-kos die Vorstellung dass es die Goumltter an die die Menschen glaubten eigentlich garnicht gab (PHerc 1428 fr 19 Schober vgl A Henrichs Democritus and Prodicuson Religion HSPh 79 1975 93ndash123 hier 107 f) Zwar nennt der Papyrus Prodikosnicht explizit beim Namen doch steht der inhaltliche Bezug auf dessen Theorie auszliger Frage vgl Henrichs 108 f Vgl dazu jetzt auch R Mayhew Prodicus the Sophist Text Translation and Commentary New York 2011 183ndash185

17) So verweisen zwar die Argumente bei Xenophon und Platon eher auf einphilosophisches Gottesbild sind aber zugleich auch als Verteidigung der traditio-

Der Gottesbeweis entwickelte sich zu einem festen Bestand-teil des theologischen Denkens der griechischen Philosophen18

Dabei bildete sich eine Reihe gaumlngiger Argumente heraus die Sex-tus Empiricus im 2 Jh n Chr wiedergibt

Diejenigen also die glauben dass es Goumltter gibt versuchen dies auf vier Arten zu beweisen erstens anhand der Uumlbereinstimmung bei allenMenschen zweitens anhand der kosmischen Ordnung drittens anhandder absurden Folgen fuumlr die die das Goumlttliche in Frage stellen und vier-tens und letztens indem sie die gegnerischen Argumente widerlegen19

Im Folgenden wird vor allem das zweite Argument von Interessesein20 Diese Beweisfuumlhrung π τν ργων21 bzw ex operibus ar-beitet mit Konzepten aus der vorsokratischen Tradition der griechi -schen Philosophie Die Argumentation kann wie folgt zusammen-gefasst werden Da das Universum eine Ordnung hat muss Vernunftin ihm sein und diese gehoumlrt einer goumlttlichen Kraft deren Existenzalso durch die kosmische Ordnung hinreichend bewiesen ist

Argumente dieser Art sind zum ersten Mal im fruumlhen 4 Jhv Chr greifbar In den Memorabilien schreibt Xenophon dem So-krates an zwei Stellen eine Argumentation zu mit der er seinen Gespraumlchspartnern habe zeigen wollen dass ein Wirken der Goumlt-ter in der Welt evident sei22 Ihm geht es dabei nicht um einen Got-tesbeweis im eigentlichen Sinne sondern um die Zuruumlckweisung

118 Jan Dreszlig le r

nellen Religion zu verstehen (vgl etwa Xen Mem 142 432 Plat Nom 886endash887c)

18) Zu den Stoikern vgl Sext Emp 988ndash91101ndash104111ndash114 sowie die ent-sprechenden Stellen mit Kommentar bei A A Long D N Sedley Die hellenisti-schen Philosophen Texte und Kommentare Stuttgart Weimar 2006 385ndash396Zum Gottesbeweis bei den Stoikern vgl auch Horn (wie Anm 2) 956ndash958 Mans-feld (wie Anm 15) 454ndash461

19) Sext Emp Math 960 (eigene Uumlbersetzung) Ο τονυν θεος ξιοντεςεναι πειρνται τ προκεμενον κατασκευζειν κ τεσσρων τρπων νς μν τ$ςπαρ πampσιν νθρποις συμφωνας δευτρου δ τ$ς κοσμικ$ς διατξεως τρτου δτν κολουθοντων τπων τος ναιροσι τ θεον τετρτου δ κα0 τελευταουτ$ς τν ντιπιπτντων λγων 1πεξαιρσεως Vgl dazu den Uumlberblick uumlber die Ar-gumente fruumlherer Philosophen zu diesen vier Punkten den Sextus 961ndash190 gibtZum ersten Argument vgl auch Plat Nom 886a

20) Vgl dazu Sext Emp Math 975ndash12221) Vgl Henrichs (wie Anm 16) 105 f mit Anm 53 Jaeger (wie Anm 1)

192 f mit 293 Anm 8222) Zum Gottesbeweis in den Memorabilien vgl O Gigon Kommentar

zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien Basel 1953 122ndash146 Horn (wieAnm 2) 954 Ob Xenophon an dieser Stelle tatsaumlchlich die Gedanken des Sokrates

einer bestimmten ndash im 5 Jh greifbaren ndash Vorstellung von den Goumlt-tern als gleichsam uumlber den Dingen stehend und gaumlnzlich uninte-ressiert an allem Irdischen und Menschlichen23 Doch ergibt sichaus Sokratesrsquo Argumentation notwendig auch der Nachweis dassdie Goumltter tatsaumlchlich existieren24 Er ist uumlberzeugt dass alles in der Natur zum Wohle des Menschen angelegt sei ndash inklusive seinereigenen Natur25 Der Mensch sei mit allem ausgestattet was er zumLeben braucht Die Fruumlchte des Bodens ernaumlhren ihn26 ebenso dieTiere die ihm zudem bei seinen Arbeiten helfen27 die Sonne sorgtfuumlr Waumlrme und Licht ndash und das immer im richtigen Maszlig28 DerKoumlrper des Menschen erweise sich als im houmlchsten Maszlige funktio-nal29 Auszligerdem sei er ausgestattet mit Intelligenz30 und Sinnen31

um sich in der Welt zurechtzufinden und verfuumlge uumlber die Spra-che ohne die keine Gemeinschaften gebildet werden koumlnnten32

119Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

wiedergibt erscheint fraglich Zwar meint auch Platon Sokrates habe nach einemeinheitlichen Vernunftprinzip gesucht das allem in der Welt zugrunde liege (undsich deswegen fuumlr Anaxagoras interessiert) (Phaidr 99andashc) Zumindest der genauereGedankengang ist aber wohl Xenophon zuzuschreiben (so schon Sext Emp Math992 vgl auch Jaeger [wie Anm 1] 190 f)

23) Vgl Xen Mem 1411 So meinte etwa der Sophist Thrasymachos 2τι οθεο0 ο3χ 5ρσι τ νθρπινα ο3 γρ 7ν τ μγιστον τν ν νθρποις γαθν παρεδον τ8ν δικαιοσνην 5ρμεν γρ τος νθρπους τατ μ8 χρωμνους (DK85 B 8) Zur Sicht dass die Goumltter sich nicht um die Menschen kuumlmmern vgl auchEur fr 832 Plat Nom 885b899d ff (dort als eine der drei Formen des sbquoAtheismuslsquocharakterisiert)

24) Auch Sextus Empiricus versteht die Argumentation als λγον ες τ εναιθεος (Math 992) Umgekehrt ist die Vorstellung dass sich die Goumltter um die Menschen kuumlmmern aber keine notwendige Voraussetzung fuumlr die Annahme ihrerExistenz wie sich bei den Atomisten und den Epikureern zeigt

25) Vgl Xen Mem 14714 4338 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 153F Huumlffmeier Teleologische Weltbetrachtung bei Diogenes von Apollonia Philo-logus 107 1963 131ndash138 hier 134ndash136

26) Vgl Xen Mem 435 f27) Vgl Xen Mem 4310 aumlhnlich auch Aristot Pol 1256b15ndash22 Zur

Nutzbarmachung bzw Unterwerfung der Tiere als Teil der menschlichen Kultur-entwicklung vgl auch Anaxagoras DK 59 A 102 Aischyl Prom 461ndash466 SophAnt 334ndash352 Eur fr 27

28) Vgl Xen Mem 438 f29) Vgl Xen Mem 145 f aumlhnlich zum Beispiel Aristot Part An 658b14ndash

26 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 292 Anm 72) Protr fr 7354 Gigon30) Vgl Xen Mem 4311 vgl 14831) Vgl Xen Mem 145 431132) Vgl Xen Mem 4312 Zur Sprache als menschlichem Kulturmerkmal

und Grundlage der Gemeinschaftsbildung vgl auch Isok 35ndash9 (= 15253ndash257)448 Aristot Pol 1253a9 f14ndash18

Und durch seine religioumlsen Praktiken stehe er in privilegierter Ver-bindung zu den Goumlttern33 Die Argumentation greift dabei Ele-mente zeitgenoumlssischer Kulturentstehungstheorien auf34 und ver-knuumlpft sie mit der traditionellen Vorstellung wonach die olympi-schen Goumltter die Wohltaumlter der Menschen sind ndash solange diese sichentsprechend gottgefaumlllig verhalten35

Die natuumlrliche Welt so Sokrates erweise sich also dem den-kenden Betrachter als sinnvolles weil von der goumlttlichen Vernunftauf den Menschen ausgerichtetes Ganzes Dieser Gedanke der of-fenkundig an das vorsokratische Verstaumlndnis des Kosmos als regel-maumlszligig geordnetem System anknuumlpfen kann wird dabei von Sokra-tes auch und vor allem auf die Lebenswelt des Menschen bezogenDer Kosmos ist uumlberall identisch ndash im Kleinen wie im Groszligen36

Und wie der Mensch uumlber Vernunft verfuumlgt so zeige diese sichauch im Universum insgesamt Es sei klar dass bdquoder Geist in dirdeinen Koumlrper leitet wie es ihm beliebt Ebenso muss man alsoglauben dass auch die Einsicht im All saumlmtliche Dinge so anord-net wie es ihr Freude machtldquo37 Eben diese wirkende Vernunft seider Beleg fuumlr das Walten der Goumltter in der Welt ndash und damit auchfuumlr ihre Existenz Dem liegt die Vorstellung zugrunde dass dieGoumltter so erhaben sind dass sie sich der menschlichen Wahr -nehmung und Erkenntnis entziehen38 ndash eine Vorstellung die sichbereits bei mehreren vorsokratischen Denkern findet39 Anhand

120 Jan Dreszlig le r

33) Vgl Xen Mem 141315 f 431234) Vgl R Muumlller Die Entdeckung der Kultur Antike Theorien von Homer

bis Seneca Duumlsseldorf Zuumlrich 2003 204ndash21035) Vgl etwa Aischyl Prom 442ndash506 Eur Hik 201ndash218 Antiph 432

Xen Mem 223 Plat Prot 321dndash322d Polit 274cndashd36) Vgl J-P Vernant Les origines de la penseacutee grecque Paris 41981 101

W Kranz Kosmos als philosophischer Begriff fruumlhgriechischer Zeit Philologus 931938 430ndash448 hier 435 f438 f

37) Xen Mem 1417 (eigene Uumlbersetzung) 5 σς νος νltν τ σν σμα2πως βολεται μεταχειρζεται Οεσθαι ον χρ8 κα0 τ8ν ν τA παντ0 φρνησιν τπντα 2πως 7ν α3τB Cδ D οEτω τθεσθαι Wie ganz aumlhnlich Platon in Phlb 29andash30d bemuumlht auch Xenophon zugleich das argumentum e gradibus entium wonachdie goumlttliche Seele im Kosmos die menschliche an Vollkommenheit weit uumlbertreffe(vgl 14817 f) Nach Jaeger (wie Anm 1) 193 f geht die Analogie von menschli-cher und kosmischer Seele in beiden Texten auf Diogenes zuruumlck (vgl DK 64 B 45)

38) Vgl Xen Mem 1113 47639) Vgl Xenophanes DK 21 B 34 Empedokles DK 31 B 133 Melissos DK

30 A 1 Protagoras DK 80 A 1 Vgl auch Eur Hel 1137ndash1150 fr 795 AristophNub 250 f Plat Nom 821d

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

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77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

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91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

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103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 5: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Zu einem wichtigen Teilbereich einer solchen natuumlrlichen Theo-logie wurde der philosophische Gottesbeweis Er begegnet der zuBeginn des 4 Jhs vorstellbar gewordenen Hypothese dass die Goumlt-ter vielleicht gar nicht existierten oder ndash was fuumlr viele auf das Gleichehinauslief ndash zumindest keine aktive Rolle in der Welt spielten Dabeikonnten sowohl die Argumentationswege als auch die Argumenta -tionsziele durchaus variieren Zum einen sollten der Status und dieFunktion der Goumltter in der Welt geklaumlrt werden Eng damit verbun-den aber nicht identisch ist der Gottesbeweis im eigentlichen Sinnein dem nicht das Wesen sondern die Frage der Existenz der Goumltterim Vordergrund stand Und schlieszliglich kam im Zusammenhang mitdem sophistischen Kulturentstehungsdenken die Frage auf wie undwarum der Glaube an die Goumltter urspruumlnglich aufgekommen warTatsaumlchlich aber haumlngen all diese Fragen zumeist eng zusammen15

Zwar konnte die Suche nach den (menschlichen) Urspruumlngen desGoumltterglaubens auch dazu dienen diesen als Fiktion zu sbquoentlarvenlsquo16

Zumeist ist sie aber mit der Annahme verbunden dass die urspruumlng-liche Erkenntnis durchaus richtig war ndash und daher auch in der Ge-genwart noch guumlltig Genauso impliziert auch die Argumentationdass die Goumltter ihrem Wesen nach eine aktive Rolle in der Welt spielen zugleich den Nachweis ihrer Existenz Dabei zeigt sich auchim philosophischen Gottesbeweis das ambivalente Verhaumlltnis vonmythischer und philosophischer Theologie Einerseits verteidigte ermit Argumenten die dem philosophischen Denken entstammten ein spezifisch philosophisches Gottesbild Andererseits stuumltzte einesolche Argumentation ndash implizit oder explizit ndash auch den sbquoVolks-glaubenlsquo insofern dieser wenn er auch das sbquowahrelsquo Wesen der Goumlt-ter nur ungenuumlgend zum Ausdruck brachte doch zumindest demsbquoAtheismuslsquo entgegenstand den es zu bekaumlmpfen galt17

117Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

15) Vgl J Mansfeld Theology in K Algra et al (Hrsg) The CambridgeHistory of Hellenistic Philosophy Cambridge 1999 452ndash478 hier 471

16) Vgl in diesem Sinne das Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25) Nach einemZeugnis aus Philodems Schrift De Pietate stand auch hinter der Theorie des Prodi-kos die Vorstellung dass es die Goumltter an die die Menschen glaubten eigentlich garnicht gab (PHerc 1428 fr 19 Schober vgl A Henrichs Democritus and Prodicuson Religion HSPh 79 1975 93ndash123 hier 107 f) Zwar nennt der Papyrus Prodikosnicht explizit beim Namen doch steht der inhaltliche Bezug auf dessen Theorie auszliger Frage vgl Henrichs 108 f Vgl dazu jetzt auch R Mayhew Prodicus the Sophist Text Translation and Commentary New York 2011 183ndash185

17) So verweisen zwar die Argumente bei Xenophon und Platon eher auf einphilosophisches Gottesbild sind aber zugleich auch als Verteidigung der traditio-

Der Gottesbeweis entwickelte sich zu einem festen Bestand-teil des theologischen Denkens der griechischen Philosophen18

Dabei bildete sich eine Reihe gaumlngiger Argumente heraus die Sex-tus Empiricus im 2 Jh n Chr wiedergibt

Diejenigen also die glauben dass es Goumltter gibt versuchen dies auf vier Arten zu beweisen erstens anhand der Uumlbereinstimmung bei allenMenschen zweitens anhand der kosmischen Ordnung drittens anhandder absurden Folgen fuumlr die die das Goumlttliche in Frage stellen und vier-tens und letztens indem sie die gegnerischen Argumente widerlegen19

Im Folgenden wird vor allem das zweite Argument von Interessesein20 Diese Beweisfuumlhrung π τν ργων21 bzw ex operibus ar-beitet mit Konzepten aus der vorsokratischen Tradition der griechi -schen Philosophie Die Argumentation kann wie folgt zusammen-gefasst werden Da das Universum eine Ordnung hat muss Vernunftin ihm sein und diese gehoumlrt einer goumlttlichen Kraft deren Existenzalso durch die kosmische Ordnung hinreichend bewiesen ist

Argumente dieser Art sind zum ersten Mal im fruumlhen 4 Jhv Chr greifbar In den Memorabilien schreibt Xenophon dem So-krates an zwei Stellen eine Argumentation zu mit der er seinen Gespraumlchspartnern habe zeigen wollen dass ein Wirken der Goumlt-ter in der Welt evident sei22 Ihm geht es dabei nicht um einen Got-tesbeweis im eigentlichen Sinne sondern um die Zuruumlckweisung

118 Jan Dreszlig le r

nellen Religion zu verstehen (vgl etwa Xen Mem 142 432 Plat Nom 886endash887c)

18) Zu den Stoikern vgl Sext Emp 988ndash91101ndash104111ndash114 sowie die ent-sprechenden Stellen mit Kommentar bei A A Long D N Sedley Die hellenisti-schen Philosophen Texte und Kommentare Stuttgart Weimar 2006 385ndash396Zum Gottesbeweis bei den Stoikern vgl auch Horn (wie Anm 2) 956ndash958 Mans-feld (wie Anm 15) 454ndash461

19) Sext Emp Math 960 (eigene Uumlbersetzung) Ο τονυν θεος ξιοντεςεναι πειρνται τ προκεμενον κατασκευζειν κ τεσσρων τρπων νς μν τ$ςπαρ πampσιν νθρποις συμφωνας δευτρου δ τ$ς κοσμικ$ς διατξεως τρτου δτν κολουθοντων τπων τος ναιροσι τ θεον τετρτου δ κα0 τελευταουτ$ς τν ντιπιπτντων λγων 1πεξαιρσεως Vgl dazu den Uumlberblick uumlber die Ar-gumente fruumlherer Philosophen zu diesen vier Punkten den Sextus 961ndash190 gibtZum ersten Argument vgl auch Plat Nom 886a

20) Vgl dazu Sext Emp Math 975ndash12221) Vgl Henrichs (wie Anm 16) 105 f mit Anm 53 Jaeger (wie Anm 1)

192 f mit 293 Anm 8222) Zum Gottesbeweis in den Memorabilien vgl O Gigon Kommentar

zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien Basel 1953 122ndash146 Horn (wieAnm 2) 954 Ob Xenophon an dieser Stelle tatsaumlchlich die Gedanken des Sokrates

einer bestimmten ndash im 5 Jh greifbaren ndash Vorstellung von den Goumlt-tern als gleichsam uumlber den Dingen stehend und gaumlnzlich uninte-ressiert an allem Irdischen und Menschlichen23 Doch ergibt sichaus Sokratesrsquo Argumentation notwendig auch der Nachweis dassdie Goumltter tatsaumlchlich existieren24 Er ist uumlberzeugt dass alles in der Natur zum Wohle des Menschen angelegt sei ndash inklusive seinereigenen Natur25 Der Mensch sei mit allem ausgestattet was er zumLeben braucht Die Fruumlchte des Bodens ernaumlhren ihn26 ebenso dieTiere die ihm zudem bei seinen Arbeiten helfen27 die Sonne sorgtfuumlr Waumlrme und Licht ndash und das immer im richtigen Maszlig28 DerKoumlrper des Menschen erweise sich als im houmlchsten Maszlige funktio-nal29 Auszligerdem sei er ausgestattet mit Intelligenz30 und Sinnen31

um sich in der Welt zurechtzufinden und verfuumlge uumlber die Spra-che ohne die keine Gemeinschaften gebildet werden koumlnnten32

119Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

wiedergibt erscheint fraglich Zwar meint auch Platon Sokrates habe nach einemeinheitlichen Vernunftprinzip gesucht das allem in der Welt zugrunde liege (undsich deswegen fuumlr Anaxagoras interessiert) (Phaidr 99andashc) Zumindest der genauereGedankengang ist aber wohl Xenophon zuzuschreiben (so schon Sext Emp Math992 vgl auch Jaeger [wie Anm 1] 190 f)

23) Vgl Xen Mem 1411 So meinte etwa der Sophist Thrasymachos 2τι οθεο0 ο3χ 5ρσι τ νθρπινα ο3 γρ 7ν τ μγιστον τν ν νθρποις γαθν παρεδον τ8ν δικαιοσνην 5ρμεν γρ τος νθρπους τατ μ8 χρωμνους (DK85 B 8) Zur Sicht dass die Goumltter sich nicht um die Menschen kuumlmmern vgl auchEur fr 832 Plat Nom 885b899d ff (dort als eine der drei Formen des sbquoAtheismuslsquocharakterisiert)

24) Auch Sextus Empiricus versteht die Argumentation als λγον ες τ εναιθεος (Math 992) Umgekehrt ist die Vorstellung dass sich die Goumltter um die Menschen kuumlmmern aber keine notwendige Voraussetzung fuumlr die Annahme ihrerExistenz wie sich bei den Atomisten und den Epikureern zeigt

25) Vgl Xen Mem 14714 4338 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 153F Huumlffmeier Teleologische Weltbetrachtung bei Diogenes von Apollonia Philo-logus 107 1963 131ndash138 hier 134ndash136

26) Vgl Xen Mem 435 f27) Vgl Xen Mem 4310 aumlhnlich auch Aristot Pol 1256b15ndash22 Zur

Nutzbarmachung bzw Unterwerfung der Tiere als Teil der menschlichen Kultur-entwicklung vgl auch Anaxagoras DK 59 A 102 Aischyl Prom 461ndash466 SophAnt 334ndash352 Eur fr 27

28) Vgl Xen Mem 438 f29) Vgl Xen Mem 145 f aumlhnlich zum Beispiel Aristot Part An 658b14ndash

26 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 292 Anm 72) Protr fr 7354 Gigon30) Vgl Xen Mem 4311 vgl 14831) Vgl Xen Mem 145 431132) Vgl Xen Mem 4312 Zur Sprache als menschlichem Kulturmerkmal

und Grundlage der Gemeinschaftsbildung vgl auch Isok 35ndash9 (= 15253ndash257)448 Aristot Pol 1253a9 f14ndash18

Und durch seine religioumlsen Praktiken stehe er in privilegierter Ver-bindung zu den Goumlttern33 Die Argumentation greift dabei Ele-mente zeitgenoumlssischer Kulturentstehungstheorien auf34 und ver-knuumlpft sie mit der traditionellen Vorstellung wonach die olympi-schen Goumltter die Wohltaumlter der Menschen sind ndash solange diese sichentsprechend gottgefaumlllig verhalten35

Die natuumlrliche Welt so Sokrates erweise sich also dem den-kenden Betrachter als sinnvolles weil von der goumlttlichen Vernunftauf den Menschen ausgerichtetes Ganzes Dieser Gedanke der of-fenkundig an das vorsokratische Verstaumlndnis des Kosmos als regel-maumlszligig geordnetem System anknuumlpfen kann wird dabei von Sokra-tes auch und vor allem auf die Lebenswelt des Menschen bezogenDer Kosmos ist uumlberall identisch ndash im Kleinen wie im Groszligen36

Und wie der Mensch uumlber Vernunft verfuumlgt so zeige diese sichauch im Universum insgesamt Es sei klar dass bdquoder Geist in dirdeinen Koumlrper leitet wie es ihm beliebt Ebenso muss man alsoglauben dass auch die Einsicht im All saumlmtliche Dinge so anord-net wie es ihr Freude machtldquo37 Eben diese wirkende Vernunft seider Beleg fuumlr das Walten der Goumltter in der Welt ndash und damit auchfuumlr ihre Existenz Dem liegt die Vorstellung zugrunde dass dieGoumltter so erhaben sind dass sie sich der menschlichen Wahr -nehmung und Erkenntnis entziehen38 ndash eine Vorstellung die sichbereits bei mehreren vorsokratischen Denkern findet39 Anhand

120 Jan Dreszlig le r

33) Vgl Xen Mem 141315 f 431234) Vgl R Muumlller Die Entdeckung der Kultur Antike Theorien von Homer

bis Seneca Duumlsseldorf Zuumlrich 2003 204ndash21035) Vgl etwa Aischyl Prom 442ndash506 Eur Hik 201ndash218 Antiph 432

Xen Mem 223 Plat Prot 321dndash322d Polit 274cndashd36) Vgl J-P Vernant Les origines de la penseacutee grecque Paris 41981 101

W Kranz Kosmos als philosophischer Begriff fruumlhgriechischer Zeit Philologus 931938 430ndash448 hier 435 f438 f

37) Xen Mem 1417 (eigene Uumlbersetzung) 5 σς νος νltν τ σν σμα2πως βολεται μεταχειρζεται Οεσθαι ον χρ8 κα0 τ8ν ν τA παντ0 φρνησιν τπντα 2πως 7ν α3τB Cδ D οEτω τθεσθαι Wie ganz aumlhnlich Platon in Phlb 29andash30d bemuumlht auch Xenophon zugleich das argumentum e gradibus entium wonachdie goumlttliche Seele im Kosmos die menschliche an Vollkommenheit weit uumlbertreffe(vgl 14817 f) Nach Jaeger (wie Anm 1) 193 f geht die Analogie von menschli-cher und kosmischer Seele in beiden Texten auf Diogenes zuruumlck (vgl DK 64 B 45)

38) Vgl Xen Mem 1113 47639) Vgl Xenophanes DK 21 B 34 Empedokles DK 31 B 133 Melissos DK

30 A 1 Protagoras DK 80 A 1 Vgl auch Eur Hel 1137ndash1150 fr 795 AristophNub 250 f Plat Nom 821d

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 6: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Der Gottesbeweis entwickelte sich zu einem festen Bestand-teil des theologischen Denkens der griechischen Philosophen18

Dabei bildete sich eine Reihe gaumlngiger Argumente heraus die Sex-tus Empiricus im 2 Jh n Chr wiedergibt

Diejenigen also die glauben dass es Goumltter gibt versuchen dies auf vier Arten zu beweisen erstens anhand der Uumlbereinstimmung bei allenMenschen zweitens anhand der kosmischen Ordnung drittens anhandder absurden Folgen fuumlr die die das Goumlttliche in Frage stellen und vier-tens und letztens indem sie die gegnerischen Argumente widerlegen19

Im Folgenden wird vor allem das zweite Argument von Interessesein20 Diese Beweisfuumlhrung π τν ργων21 bzw ex operibus ar-beitet mit Konzepten aus der vorsokratischen Tradition der griechi -schen Philosophie Die Argumentation kann wie folgt zusammen-gefasst werden Da das Universum eine Ordnung hat muss Vernunftin ihm sein und diese gehoumlrt einer goumlttlichen Kraft deren Existenzalso durch die kosmische Ordnung hinreichend bewiesen ist

Argumente dieser Art sind zum ersten Mal im fruumlhen 4 Jhv Chr greifbar In den Memorabilien schreibt Xenophon dem So-krates an zwei Stellen eine Argumentation zu mit der er seinen Gespraumlchspartnern habe zeigen wollen dass ein Wirken der Goumlt-ter in der Welt evident sei22 Ihm geht es dabei nicht um einen Got-tesbeweis im eigentlichen Sinne sondern um die Zuruumlckweisung

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nellen Religion zu verstehen (vgl etwa Xen Mem 142 432 Plat Nom 886endash887c)

18) Zu den Stoikern vgl Sext Emp 988ndash91101ndash104111ndash114 sowie die ent-sprechenden Stellen mit Kommentar bei A A Long D N Sedley Die hellenisti-schen Philosophen Texte und Kommentare Stuttgart Weimar 2006 385ndash396Zum Gottesbeweis bei den Stoikern vgl auch Horn (wie Anm 2) 956ndash958 Mans-feld (wie Anm 15) 454ndash461

19) Sext Emp Math 960 (eigene Uumlbersetzung) Ο τονυν θεος ξιοντεςεναι πειρνται τ προκεμενον κατασκευζειν κ τεσσρων τρπων νς μν τ$ςπαρ πampσιν νθρποις συμφωνας δευτρου δ τ$ς κοσμικ$ς διατξεως τρτου δτν κολουθοντων τπων τος ναιροσι τ θεον τετρτου δ κα0 τελευταουτ$ς τν ντιπιπτντων λγων 1πεξαιρσεως Vgl dazu den Uumlberblick uumlber die Ar-gumente fruumlherer Philosophen zu diesen vier Punkten den Sextus 961ndash190 gibtZum ersten Argument vgl auch Plat Nom 886a

20) Vgl dazu Sext Emp Math 975ndash12221) Vgl Henrichs (wie Anm 16) 105 f mit Anm 53 Jaeger (wie Anm 1)

192 f mit 293 Anm 8222) Zum Gottesbeweis in den Memorabilien vgl O Gigon Kommentar

zum ersten Buch von Xenophons Memorabilien Basel 1953 122ndash146 Horn (wieAnm 2) 954 Ob Xenophon an dieser Stelle tatsaumlchlich die Gedanken des Sokrates

einer bestimmten ndash im 5 Jh greifbaren ndash Vorstellung von den Goumlt-tern als gleichsam uumlber den Dingen stehend und gaumlnzlich uninte-ressiert an allem Irdischen und Menschlichen23 Doch ergibt sichaus Sokratesrsquo Argumentation notwendig auch der Nachweis dassdie Goumltter tatsaumlchlich existieren24 Er ist uumlberzeugt dass alles in der Natur zum Wohle des Menschen angelegt sei ndash inklusive seinereigenen Natur25 Der Mensch sei mit allem ausgestattet was er zumLeben braucht Die Fruumlchte des Bodens ernaumlhren ihn26 ebenso dieTiere die ihm zudem bei seinen Arbeiten helfen27 die Sonne sorgtfuumlr Waumlrme und Licht ndash und das immer im richtigen Maszlig28 DerKoumlrper des Menschen erweise sich als im houmlchsten Maszlige funktio-nal29 Auszligerdem sei er ausgestattet mit Intelligenz30 und Sinnen31

um sich in der Welt zurechtzufinden und verfuumlge uumlber die Spra-che ohne die keine Gemeinschaften gebildet werden koumlnnten32

119Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

wiedergibt erscheint fraglich Zwar meint auch Platon Sokrates habe nach einemeinheitlichen Vernunftprinzip gesucht das allem in der Welt zugrunde liege (undsich deswegen fuumlr Anaxagoras interessiert) (Phaidr 99andashc) Zumindest der genauereGedankengang ist aber wohl Xenophon zuzuschreiben (so schon Sext Emp Math992 vgl auch Jaeger [wie Anm 1] 190 f)

23) Vgl Xen Mem 1411 So meinte etwa der Sophist Thrasymachos 2τι οθεο0 ο3χ 5ρσι τ νθρπινα ο3 γρ 7ν τ μγιστον τν ν νθρποις γαθν παρεδον τ8ν δικαιοσνην 5ρμεν γρ τος νθρπους τατ μ8 χρωμνους (DK85 B 8) Zur Sicht dass die Goumltter sich nicht um die Menschen kuumlmmern vgl auchEur fr 832 Plat Nom 885b899d ff (dort als eine der drei Formen des sbquoAtheismuslsquocharakterisiert)

24) Auch Sextus Empiricus versteht die Argumentation als λγον ες τ εναιθεος (Math 992) Umgekehrt ist die Vorstellung dass sich die Goumltter um die Menschen kuumlmmern aber keine notwendige Voraussetzung fuumlr die Annahme ihrerExistenz wie sich bei den Atomisten und den Epikureern zeigt

25) Vgl Xen Mem 14714 4338 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 153F Huumlffmeier Teleologische Weltbetrachtung bei Diogenes von Apollonia Philo-logus 107 1963 131ndash138 hier 134ndash136

26) Vgl Xen Mem 435 f27) Vgl Xen Mem 4310 aumlhnlich auch Aristot Pol 1256b15ndash22 Zur

Nutzbarmachung bzw Unterwerfung der Tiere als Teil der menschlichen Kultur-entwicklung vgl auch Anaxagoras DK 59 A 102 Aischyl Prom 461ndash466 SophAnt 334ndash352 Eur fr 27

28) Vgl Xen Mem 438 f29) Vgl Xen Mem 145 f aumlhnlich zum Beispiel Aristot Part An 658b14ndash

26 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 292 Anm 72) Protr fr 7354 Gigon30) Vgl Xen Mem 4311 vgl 14831) Vgl Xen Mem 145 431132) Vgl Xen Mem 4312 Zur Sprache als menschlichem Kulturmerkmal

und Grundlage der Gemeinschaftsbildung vgl auch Isok 35ndash9 (= 15253ndash257)448 Aristot Pol 1253a9 f14ndash18

Und durch seine religioumlsen Praktiken stehe er in privilegierter Ver-bindung zu den Goumlttern33 Die Argumentation greift dabei Ele-mente zeitgenoumlssischer Kulturentstehungstheorien auf34 und ver-knuumlpft sie mit der traditionellen Vorstellung wonach die olympi-schen Goumltter die Wohltaumlter der Menschen sind ndash solange diese sichentsprechend gottgefaumlllig verhalten35

Die natuumlrliche Welt so Sokrates erweise sich also dem den-kenden Betrachter als sinnvolles weil von der goumlttlichen Vernunftauf den Menschen ausgerichtetes Ganzes Dieser Gedanke der of-fenkundig an das vorsokratische Verstaumlndnis des Kosmos als regel-maumlszligig geordnetem System anknuumlpfen kann wird dabei von Sokra-tes auch und vor allem auf die Lebenswelt des Menschen bezogenDer Kosmos ist uumlberall identisch ndash im Kleinen wie im Groszligen36

Und wie der Mensch uumlber Vernunft verfuumlgt so zeige diese sichauch im Universum insgesamt Es sei klar dass bdquoder Geist in dirdeinen Koumlrper leitet wie es ihm beliebt Ebenso muss man alsoglauben dass auch die Einsicht im All saumlmtliche Dinge so anord-net wie es ihr Freude machtldquo37 Eben diese wirkende Vernunft seider Beleg fuumlr das Walten der Goumltter in der Welt ndash und damit auchfuumlr ihre Existenz Dem liegt die Vorstellung zugrunde dass dieGoumltter so erhaben sind dass sie sich der menschlichen Wahr -nehmung und Erkenntnis entziehen38 ndash eine Vorstellung die sichbereits bei mehreren vorsokratischen Denkern findet39 Anhand

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33) Vgl Xen Mem 141315 f 431234) Vgl R Muumlller Die Entdeckung der Kultur Antike Theorien von Homer

bis Seneca Duumlsseldorf Zuumlrich 2003 204ndash21035) Vgl etwa Aischyl Prom 442ndash506 Eur Hik 201ndash218 Antiph 432

Xen Mem 223 Plat Prot 321dndash322d Polit 274cndashd36) Vgl J-P Vernant Les origines de la penseacutee grecque Paris 41981 101

W Kranz Kosmos als philosophischer Begriff fruumlhgriechischer Zeit Philologus 931938 430ndash448 hier 435 f438 f

37) Xen Mem 1417 (eigene Uumlbersetzung) 5 σς νος νltν τ σν σμα2πως βολεται μεταχειρζεται Οεσθαι ον χρ8 κα0 τ8ν ν τA παντ0 φρνησιν τπντα 2πως 7ν α3τB Cδ D οEτω τθεσθαι Wie ganz aumlhnlich Platon in Phlb 29andash30d bemuumlht auch Xenophon zugleich das argumentum e gradibus entium wonachdie goumlttliche Seele im Kosmos die menschliche an Vollkommenheit weit uumlbertreffe(vgl 14817 f) Nach Jaeger (wie Anm 1) 193 f geht die Analogie von menschli-cher und kosmischer Seele in beiden Texten auf Diogenes zuruumlck (vgl DK 64 B 45)

38) Vgl Xen Mem 1113 47639) Vgl Xenophanes DK 21 B 34 Empedokles DK 31 B 133 Melissos DK

30 A 1 Protagoras DK 80 A 1 Vgl auch Eur Hel 1137ndash1150 fr 795 AristophNub 250 f Plat Nom 821d

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

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46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

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60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 7: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

einer bestimmten ndash im 5 Jh greifbaren ndash Vorstellung von den Goumlt-tern als gleichsam uumlber den Dingen stehend und gaumlnzlich uninte-ressiert an allem Irdischen und Menschlichen23 Doch ergibt sichaus Sokratesrsquo Argumentation notwendig auch der Nachweis dassdie Goumltter tatsaumlchlich existieren24 Er ist uumlberzeugt dass alles in der Natur zum Wohle des Menschen angelegt sei ndash inklusive seinereigenen Natur25 Der Mensch sei mit allem ausgestattet was er zumLeben braucht Die Fruumlchte des Bodens ernaumlhren ihn26 ebenso dieTiere die ihm zudem bei seinen Arbeiten helfen27 die Sonne sorgtfuumlr Waumlrme und Licht ndash und das immer im richtigen Maszlig28 DerKoumlrper des Menschen erweise sich als im houmlchsten Maszlige funktio-nal29 Auszligerdem sei er ausgestattet mit Intelligenz30 und Sinnen31

um sich in der Welt zurechtzufinden und verfuumlge uumlber die Spra-che ohne die keine Gemeinschaften gebildet werden koumlnnten32

119Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

wiedergibt erscheint fraglich Zwar meint auch Platon Sokrates habe nach einemeinheitlichen Vernunftprinzip gesucht das allem in der Welt zugrunde liege (undsich deswegen fuumlr Anaxagoras interessiert) (Phaidr 99andashc) Zumindest der genauereGedankengang ist aber wohl Xenophon zuzuschreiben (so schon Sext Emp Math992 vgl auch Jaeger [wie Anm 1] 190 f)

23) Vgl Xen Mem 1411 So meinte etwa der Sophist Thrasymachos 2τι οθεο0 ο3χ 5ρσι τ νθρπινα ο3 γρ 7ν τ μγιστον τν ν νθρποις γαθν παρεδον τ8ν δικαιοσνην 5ρμεν γρ τος νθρπους τατ μ8 χρωμνους (DK85 B 8) Zur Sicht dass die Goumltter sich nicht um die Menschen kuumlmmern vgl auchEur fr 832 Plat Nom 885b899d ff (dort als eine der drei Formen des sbquoAtheismuslsquocharakterisiert)

24) Auch Sextus Empiricus versteht die Argumentation als λγον ες τ εναιθεος (Math 992) Umgekehrt ist die Vorstellung dass sich die Goumltter um die Menschen kuumlmmern aber keine notwendige Voraussetzung fuumlr die Annahme ihrerExistenz wie sich bei den Atomisten und den Epikureern zeigt

25) Vgl Xen Mem 14714 4338 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 153F Huumlffmeier Teleologische Weltbetrachtung bei Diogenes von Apollonia Philo-logus 107 1963 131ndash138 hier 134ndash136

26) Vgl Xen Mem 435 f27) Vgl Xen Mem 4310 aumlhnlich auch Aristot Pol 1256b15ndash22 Zur

Nutzbarmachung bzw Unterwerfung der Tiere als Teil der menschlichen Kultur-entwicklung vgl auch Anaxagoras DK 59 A 102 Aischyl Prom 461ndash466 SophAnt 334ndash352 Eur fr 27

28) Vgl Xen Mem 438 f29) Vgl Xen Mem 145 f aumlhnlich zum Beispiel Aristot Part An 658b14ndash

26 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 292 Anm 72) Protr fr 7354 Gigon30) Vgl Xen Mem 4311 vgl 14831) Vgl Xen Mem 145 431132) Vgl Xen Mem 4312 Zur Sprache als menschlichem Kulturmerkmal

und Grundlage der Gemeinschaftsbildung vgl auch Isok 35ndash9 (= 15253ndash257)448 Aristot Pol 1253a9 f14ndash18

Und durch seine religioumlsen Praktiken stehe er in privilegierter Ver-bindung zu den Goumlttern33 Die Argumentation greift dabei Ele-mente zeitgenoumlssischer Kulturentstehungstheorien auf34 und ver-knuumlpft sie mit der traditionellen Vorstellung wonach die olympi-schen Goumltter die Wohltaumlter der Menschen sind ndash solange diese sichentsprechend gottgefaumlllig verhalten35

Die natuumlrliche Welt so Sokrates erweise sich also dem den-kenden Betrachter als sinnvolles weil von der goumlttlichen Vernunftauf den Menschen ausgerichtetes Ganzes Dieser Gedanke der of-fenkundig an das vorsokratische Verstaumlndnis des Kosmos als regel-maumlszligig geordnetem System anknuumlpfen kann wird dabei von Sokra-tes auch und vor allem auf die Lebenswelt des Menschen bezogenDer Kosmos ist uumlberall identisch ndash im Kleinen wie im Groszligen36

Und wie der Mensch uumlber Vernunft verfuumlgt so zeige diese sichauch im Universum insgesamt Es sei klar dass bdquoder Geist in dirdeinen Koumlrper leitet wie es ihm beliebt Ebenso muss man alsoglauben dass auch die Einsicht im All saumlmtliche Dinge so anord-net wie es ihr Freude machtldquo37 Eben diese wirkende Vernunft seider Beleg fuumlr das Walten der Goumltter in der Welt ndash und damit auchfuumlr ihre Existenz Dem liegt die Vorstellung zugrunde dass dieGoumltter so erhaben sind dass sie sich der menschlichen Wahr -nehmung und Erkenntnis entziehen38 ndash eine Vorstellung die sichbereits bei mehreren vorsokratischen Denkern findet39 Anhand

120 Jan Dreszlig le r

33) Vgl Xen Mem 141315 f 431234) Vgl R Muumlller Die Entdeckung der Kultur Antike Theorien von Homer

bis Seneca Duumlsseldorf Zuumlrich 2003 204ndash21035) Vgl etwa Aischyl Prom 442ndash506 Eur Hik 201ndash218 Antiph 432

Xen Mem 223 Plat Prot 321dndash322d Polit 274cndashd36) Vgl J-P Vernant Les origines de la penseacutee grecque Paris 41981 101

W Kranz Kosmos als philosophischer Begriff fruumlhgriechischer Zeit Philologus 931938 430ndash448 hier 435 f438 f

37) Xen Mem 1417 (eigene Uumlbersetzung) 5 σς νος νltν τ σν σμα2πως βολεται μεταχειρζεται Οεσθαι ον χρ8 κα0 τ8ν ν τA παντ0 φρνησιν τπντα 2πως 7ν α3τB Cδ D οEτω τθεσθαι Wie ganz aumlhnlich Platon in Phlb 29andash30d bemuumlht auch Xenophon zugleich das argumentum e gradibus entium wonachdie goumlttliche Seele im Kosmos die menschliche an Vollkommenheit weit uumlbertreffe(vgl 14817 f) Nach Jaeger (wie Anm 1) 193 f geht die Analogie von menschli-cher und kosmischer Seele in beiden Texten auf Diogenes zuruumlck (vgl DK 64 B 45)

38) Vgl Xen Mem 1113 47639) Vgl Xenophanes DK 21 B 34 Empedokles DK 31 B 133 Melissos DK

30 A 1 Protagoras DK 80 A 1 Vgl auch Eur Hel 1137ndash1150 fr 795 AristophNub 250 f Plat Nom 821d

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

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77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

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91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

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103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 8: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Und durch seine religioumlsen Praktiken stehe er in privilegierter Ver-bindung zu den Goumlttern33 Die Argumentation greift dabei Ele-mente zeitgenoumlssischer Kulturentstehungstheorien auf34 und ver-knuumlpft sie mit der traditionellen Vorstellung wonach die olympi-schen Goumltter die Wohltaumlter der Menschen sind ndash solange diese sichentsprechend gottgefaumlllig verhalten35

Die natuumlrliche Welt so Sokrates erweise sich also dem den-kenden Betrachter als sinnvolles weil von der goumlttlichen Vernunftauf den Menschen ausgerichtetes Ganzes Dieser Gedanke der of-fenkundig an das vorsokratische Verstaumlndnis des Kosmos als regel-maumlszligig geordnetem System anknuumlpfen kann wird dabei von Sokra-tes auch und vor allem auf die Lebenswelt des Menschen bezogenDer Kosmos ist uumlberall identisch ndash im Kleinen wie im Groszligen36

Und wie der Mensch uumlber Vernunft verfuumlgt so zeige diese sichauch im Universum insgesamt Es sei klar dass bdquoder Geist in dirdeinen Koumlrper leitet wie es ihm beliebt Ebenso muss man alsoglauben dass auch die Einsicht im All saumlmtliche Dinge so anord-net wie es ihr Freude machtldquo37 Eben diese wirkende Vernunft seider Beleg fuumlr das Walten der Goumltter in der Welt ndash und damit auchfuumlr ihre Existenz Dem liegt die Vorstellung zugrunde dass dieGoumltter so erhaben sind dass sie sich der menschlichen Wahr -nehmung und Erkenntnis entziehen38 ndash eine Vorstellung die sichbereits bei mehreren vorsokratischen Denkern findet39 Anhand

120 Jan Dreszlig le r

33) Vgl Xen Mem 141315 f 431234) Vgl R Muumlller Die Entdeckung der Kultur Antike Theorien von Homer

bis Seneca Duumlsseldorf Zuumlrich 2003 204ndash21035) Vgl etwa Aischyl Prom 442ndash506 Eur Hik 201ndash218 Antiph 432

Xen Mem 223 Plat Prot 321dndash322d Polit 274cndashd36) Vgl J-P Vernant Les origines de la penseacutee grecque Paris 41981 101

W Kranz Kosmos als philosophischer Begriff fruumlhgriechischer Zeit Philologus 931938 430ndash448 hier 435 f438 f

37) Xen Mem 1417 (eigene Uumlbersetzung) 5 σς νος νltν τ σν σμα2πως βολεται μεταχειρζεται Οεσθαι ον χρ8 κα0 τ8ν ν τA παντ0 φρνησιν τπντα 2πως 7ν α3τB Cδ D οEτω τθεσθαι Wie ganz aumlhnlich Platon in Phlb 29andash30d bemuumlht auch Xenophon zugleich das argumentum e gradibus entium wonachdie goumlttliche Seele im Kosmos die menschliche an Vollkommenheit weit uumlbertreffe(vgl 14817 f) Nach Jaeger (wie Anm 1) 193 f geht die Analogie von menschli-cher und kosmischer Seele in beiden Texten auf Diogenes zuruumlck (vgl DK 64 B 45)

38) Vgl Xen Mem 1113 47639) Vgl Xenophanes DK 21 B 34 Empedokles DK 31 B 133 Melissos DK

30 A 1 Protagoras DK 80 A 1 Vgl auch Eur Hel 1137ndash1150 fr 795 AristophNub 250 f Plat Nom 821d

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

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60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 9: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

ihres Wirkens koumlnne man sie jedoch erkennen ndash Fψις γρ τνδHλων τ φαινμενα wie es Anaxagoras formuliert haben soll40

Und so meint auch Sokrates bdquoDass ich die Wahrheit sage wirstauch du erkennen wenn du nicht wartest bis du die Goumltter in ihrerGestalt siehst sondern es dir genuumlgt angesichts ihrer Werke dieGoumltter zu achten und zu verehrenldquo41

Fuumlr diesen Nachweis des goumlttlichen Wirkens in der Welt sindalso drei Gedanken zentral Die Welt erweist sich dem (intelligen-ten) Betrachter als sinnvoll gestaltetes Ganzes ndash sowohl im Mikro-als auch im Makrokosmos Daraus folgt die Annahme einer all -wirkenden Vernunft die dafuumlr verantwortlich sein muss Und die-se wiederum wird verstanden als goumlttliche Kraft an deren Waltensich so Sokratesrsquo spezifisches Argument zeige dass sich der Gottbzw die Goumltter42 um die Menschen kuumlmmern ndash und daher auch zuverehren seien43 Die Natur dieser ndash deutlich an Xenophanes erin-nernden ndash Gottheit sei es dabei bdquoalles zu sehen alles zu houmlren unduumlberall praumlsent zu sein und sich zugleich um alles (oder alle) zukuumlmmernldquo44

Platon geht es dagegen im zehnten Buch der Gesetze explizitdarum die Frage nach der Ex i s t enz der Goumltter positiv zu beant-worten und die Position der sbquoAtheistenlsquo zu widerlegen45 Diese wa-ren nach Platon der Meinung dass alles Geschehen in der natuumlrli-

121Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

40) DK 59 B 21a zur Stelle vgl L Gemelli Marciano Die Vorsokratiker IIIMannheim 2010 174 Vgl auch Eur fr 574881 und zum gleichen Prinzip in derMedizin [Hippokr] VM 223 Vict 1111

41) Xen Mem 4313 (eigene Uumlbersetzung) Iτι δ γε ληθ$ λγω κα0 σγνσ 7ν μ8 ναμνς Jως 7ν τς μορφς τν θεν δς λλK ξαρκB σοι τ ργαα3τν 5ρντι σβεσθαι κα0 τιμampν τος θεος Vgl 149 4313ndash15 dazu Jaeger(wie Anm 1) 193

42) Im Text ist wahlweise von 5 θες (141317 vgl 4313 5 τν 2λον κσμονσυντττων τε κα0 συνχων) ο θεο (141113 f18 433913ndash17) τ θεον (14184314) oder τ δαιμνιον (1410 4314 f) die Rede vgl W Theiler Zur Geschich-te der teleologischen Naturbetrachtung bis auf Aristoteles Berlin 21965 16 Es gehtalso allgemein um den Nachweis einer goumlttlichen Kraft im Universum deren ge-naues Wesen zu bestimmen jedoch der menschlichen Erkenntnis Grenzen gesetztsind

43) Vgl Xen Mem 14211 4316 f44) Xen Mem 1418 (eigene Uumlbersetzung) πντα 5ρampν κα0 πντα κοειν

κα0 πανταχο παρεναι κα0 Lμα πντων πιμελεσθαι aumlhnlich 1119 Vgl dazu Xe-nophanes DK 21 B 23ndash26 vgl unten S 125 f

45) Zum Gottesbeweis in Plat Nom X vgl Horn (wie Anm 2) 953 f

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 10: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

chen Welt aus sich selbst und dem Zufall heraus zu erklaumlren sei46

Dem stellt er nun die folgende Argumentation entgegen Die Seelesei der Grund der Bewegung in allen Koumlrpern und der Welt insge-samt47 Diese Seele koumlnne sich mit Vernunft (νος) oder Unver-nunft (Mνοια) verbinden48 handele es sich aber um eine regelmaumlszligi-ge und vernunftgemaumlszlige Bewegung so muumlsse eine vernuumlnftige See-le dafuumlr verantwortlich sein49 Da sich nun der Lauf der Himmels-koumlrper als regelmaumlszligig und vollkommen erweise sei klar dass sie jeweils von einer vollkommenen und vernuumlnftigen Seele geleitetwerden Und diese bdquomit jeglicher Vollkommenheit ausgestatteteSeeleldquo50 koumlnne nichts anderes als eine Gottheit sein51 Anders alsSokrates Xenophon bezieht Platon seine Argumentation also we-niger auf die Lebenswelt des Menschen als auf die Himmelsphaumlno-mene die traditionell in engem Zusammenhang mit den Goumltterngesehen wurden52 Doch ist die grundsaumltzliche Argumentation diegleiche Die Ordnung in der Welt verweise auf eine allwirkendeVernunft und diese sei goumlttlich

Ganz aumlhnlich meinte nach Sextus Empiricus auch Aristoteles

aus zwei Quellen haumltten die Menschen eine Gottesgewissheit aus be-stimmten seelischen Vorgaumlngen und aus den Himmelserscheinungen [zu den Himmelserscheinungen] Betrachtet man naumlmlich bei Tage dieSonne in ihrem Umlauf und nachts die wohlgeordnete Bewegung deranderen Gestirne dann hat sich der Glaube an ein goumlttliches Wesen alsUrsache einer derartigen Bewegung und Ordnung herausgebildet53

122 Jan Dreszlig le r

46) Vgl Plat Nom 888endash889c Im Philebos formuliert er die Frage wie folgtΠτερον τ σμπαντα κα0 τδε τ καλομενον 2λον πιτροπεειν φμεν τ8ν τολγου κα0 εκB δναμιν κα0 τ 2π τυχεν O τναντα νον κα0 φρνησν τιναθαυμαστ8ν συντττουσαν διακυβερνampν (28d5ndash9 vgl Soph 265cndashe und XenMem 144)

47) Vgl Plat Nom 892a896andashb Phaidr 245c48) Vgl Plat Nom 897b49) Vgl Plat Nom 897bndash898c50) Plat Nom 898c8 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) πampσαν ρετ8ν

χουσαν ψυχHν51) Vgl Plat Nom 897b899andashb Dies ergibt sich schon aus dem in der Poli-

teia aufgestellten Grundsatz dass γαθς 2 γε θες τA Fντι (379b1) und dass τν μνγαθν ο3δνα Mλλον ατιατον (379c5ndash6) Zur goumlttlichen Seele vgl allg 896dndash899a

52) Vgl M P Nilsson The Origin of the Belief Among the Greeks in the Div inity of the Heavenly Bodies HThR 331 1940 1ndash8 hier 2ndash5 (zu den Nomoi 4)Fuumlr den regelmaumlszligigen Lauf der Natur verweist er daneben auch auf Mond Sterneund Jahreszeiten (Plat Nom 899b)

53) Aristot fr 947 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) Pριστοτέλης δ π δυονρχν ννοιαν θεν λεγε γεγονέναι ν τος νθρώποις πό τε τν περ0 τ8ν ψυχ8ν

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 11: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Aristoteles geht es dabei nicht um einen Gottesbeweis Er will viel-mehr erklaumlren wie die Menschen urspruumlnglich zum Glauben an dieGoumltter gelangt sind ndash eine Frage die dem Kontext der zeitgenoumls -sischen Kulturentstehungstheorien entstammt54 Doch anders alsmanche Denker in diesem Bereich55 geht er davon aus dass dieserGlaube in seinem Kern keine menschliche Erfindung oder Fiktionsondern in der Realitaumlt begruumlndet ist56 Die regelmaumlszligige und ge-ordnete Bewegung der Himmelskoumlrper sei ohne das Wirken eines ndashoffensichtlich vernunftbegabten57 ndash goumlttlichen Wesens nicht zu erklaumlren und so seien die Menschen also zu der Uumlberzeugung gelangt dass es die Goumltter gibt Ebenso bezeichnet Aristoteles inBuch Λ der Metaphysik den sbquoErsten Bewegerlsquo der in letzter Instanzfuumlr alles Geschehen in der Welt und damit fuumlr deren vernuumlnftigeOrdnung verantwortlich ist als Gott58 der fuumlr ihn nichts anderesals eine allwaltende Vernunft ist59 Und in der verlorenen SchriftUumlber die Philosophie soll er (nach Simplikios) bereits einen Be-weisgang entwickelt haben den man spaumlter als argumentum e gra-dibus entium bezeichnete bdquoDa nun unter den seienden Dingen das

123Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

συμβαινόντων κα0 π τν μετεώρων [ ] λλ δ8 κα0 π τν μετεώρωνmiddot θεασά-μενοι γρ μεθrsquo Cμέραν μν Uλιον περιπολοντα νύκτωρ δ τ8ν εWτακτον τν Mλλωνστέρων κίνησιν νόμισαν εναί τινα θεν τν τ$ς τοιαύτης κινήσεως κα0 ε3ταξίαςατιον Dazu Nilsson (wie Anm 52) 5 f vgl auch fr 838948 Gigon Die Stelleknuumlpft an Plat Nom 966dndashe an

54) Zur Religionsentstehungstheorie des Prodikos vgl DK 84 B 5 (vgl Muumll-ler [wie Anm 34] 93ndash97) zu der Demokrits DK 68 A 75 (vgl Muumlller 181 f Gemelli2010 [wie Anm 40] 520 f) Waumlhrend nach Prodikos πντα τ Zφλοντα τν βονCμν ο παλαιο0 θεος νμισαν (DK 84 B 5) ging Demokrit davon aus dass es die Furcht vor maumlchtigen Naturphaumlnomenen war die die Menschen urspruumlnglichzum Glauben an die Goumltter gefuumlhrt hatte Das Sisyphos-Fragment kombiniert Ele-mente aus beiden Theorien (DK 88 B 25 vgl Muumlller 97ndash102 J Dreszligler Philosophievs Religion Die Asebie-Verfahren gegen Anaxagoras Protagoras und Sokrates imAthen des fuumlnften Jahrhunderts v Chr Norderstedt 2010 38ndash40) Zur Einfuumlhrungdes Goumltterkults als Teil der menschlichen Kulturentwicklung vgl auch Eur fr 928aPlat Prot 322a Xen Mem 1413

55) Siehe oben Anm 1656) Dies gilt auch fuumlr die ganz aumlhnliche Stelle bei Platon (Nom 966dndashe)

Vgl auch Aristot Met 1074a38ndashb10 mit Plat Krat 397cndashd und zur Kritik am An-thropomorphismus des gaumlngigen Gottesbildes die Aristoteles dort aumluszligert Met997b10 f NE 1178b8ndash22 Pol 1252b26 f mit Xenophanes DK 21 B 1415

57) Zur Vernunft als Ursache aller Ordnung in der Natur vgl auch AristotMet 984b15ndash17 Phys 198a10ndash13

58) Aristot Met 1071b3ndash73a13 vgl Horn (wie Anm 2) 955 f59) Vgl bes Aristot Met 1072b14ndash30

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 12: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

eine besser ist als das andere muss es ein Bestes geben das dann dasGoumlttliche sein duumlrfteldquo60

Der Uumlberblick hat gezeigt dass die auch spaumlter wesentlichenArgumente des philosophischen Gottesbeweises bereits im 4 Jh vor-handen waren61 Uumlber die via analogiae wird gezeigt dass es wie imMenschen auch im Kosmos eine Seele geben muss Die via eminen-tiae fuumlhrt zu der Einsicht dass die Vollkommenheit im Kosmos nurder Vollkommenheit Gottes zuzuschreiben sein kann Damit engverbunden ist das von Aristoteles bemuumlhte argumentum e gradibusentium Das zentrale und am meisten verwendete Argument ist al-lerdings das ex operibus dem letztlich abgesehen vom dritten auchdie anderen Beweiswege untergeordnet sind Dass es naumlmlich analogzum Menschen eine goumlttliche Seele im Kosmos geben und diese voll-kommen sein muss wird in der Hauptsache am wahrnehmbarenWirken dieser goumlttlichen Kraft in der natuumlrlichen Welt gezeigt

II Das konzeptuelle Material die Vorsokratiker Diogenes von Apollonia

Die vorsokratische Tradition

Das konzeptuelle Material das im philosophischen Gottesbe-weis des 4 Jhs zusammengeflossen ist entstammt dem vorsokrati-schen Denken Genaugenommen sind es drei wesentliche Konzep-te der vorsokratischen Philosophen ohne die eine solche Argu-mentation nicht denkbar ist 1 die Vorstellung der natuumlrlichen Weltals Kosmos Sie bildet die Grundlage des spaumlteren argumentum exoperibus 2 die Vorstellung Gottes als in erster Linie und in houmlchs-tem Maszlige rationales Wesen fuumlr die besonders Xenophanes stehtAn sie konnte sowohl die via eminentiae als auch das argumentume gradibus entium anknuumlpfen 3 die Vorstellung eines im Univer-sum wirkenden Geistes wie sie sich etwa bei Anaxagoras und Diogenes von Apollonia findet Sie enthaumllt bereits die Analogie vonMensch und Kosmos die spaumlter auch dem Gottesbeweis diente

124 Jan Dreszlig le r

60) Aristot fr 30 Gigon (Uumlbersetzung Flashar) πε0 ον στ0ν ν τος οσινMλλο Mλλου βέλτιον στιν Mρα τι κα0 Mριστον 2περ εη 7ν τ θεον

61) Vgl dazu die Uumlbersicht zum Gottesbeweis in der hellenistischen Philo-sophie bei Mansfeld (wie Anm 15) 454ndash461

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 13: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Von den Vorsokratikern stammt die Vorstellung dass demLauf der natuumlrlichen Welt insbesondere im Bereich der Himmels -phaumlnomene Regelmaumlszligigkeiten und Gesetze unterliegen dass alsoder ganze natuumlrliche Kosmos nach rationalen Prinzipien funktio-niere62 Und da der Mensch zu rationalem Denken faumlhig ist (odersein sollte) ist er in der Lage diese Regelmaumlszligigkeiten und Gesetzezu erkennen Die theoretischen Konstruktionen die diese festge-stellten Gesetzmaumlszligigkeiten jeweils erklaumlren sollten waren natuumlr-lich sehr unterschiedlich Doch findet sich der grundlegende Ge-danke in aumlhnlicher Form bei einer ganzen Reihe vorsokratischerPhilosophen63 Am deutlichsten sprechen ihn schlieszliglich die Ato-misten aus So wird Leukipp der Ausspruch zugeschrieben bdquoKeinDing entsteht aufs Geratewohl sondern alles aus einem erklaumlrba-ren Grund (κ λγου) und infolge eines Zwanges (1πK νγκης)ldquo64

Es laumlsst sich darin durchaus ein Vorlaumlufer spaumlterer physikalischerNaturgesetz-Vorstellungen erkennen

Seit Xenophanes ist das Bild Gottes im philosophischen Den-ken mehr und mehr durch dessen uumlberlegene geistige Kraft be-stimmt Nach ihm gibt es einen bdquoGott [der] weder an Koumlrperden Sterblichen gleich[t] noch an Einsichtldquo65 Und bdquoohne Muumlhe er-schuumlttert er alles mit der Einsicht seines Verstandesldquo66 Xenopha-nes wendet sich damit explizit gegen das gaumlngige anthropomorpheGottesbild67 und insbesondere gegen die traditionellen Vorstellun-

125Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

62) So schon Anaximander DK 12 A 9 (dazu Jaeger [wie Anm 1] 46ndash48 Ger-son [wie Anm 1] 15 f) Vgl allg Vlastos (wie Anm 1) 114 f Vernant (wie Anm 36)100ndash117 G E R Lloyd Magic Reason and Experience Studies in the Origin andDevelopment of Greek Science Cambridge u a 1979 32ndash3749 ff Zum Kosmos-begriff bei den Vorsokratikern vgl auszligerdem Kranz (wie Anm 36) Kerschenstei-ner (wie Anm 8)

63) Vgl etwa zu den μτρα im κσμος Heraklit DK B 303194 Philolaos DK44 A 16 Diogenes von Apollonia DK 64 B 3

64) DK 67 B 2 (Uumlbersetzung Gemelli) Ο3δν χρ$μα μτην γνεται λλπντα κ λγου τε κα0 1πK νγκης zur Stelle Kerschensteiner (wie Anm 8) 155 fVgl auch Demokrit DK 68 A 13866 und zur Kraft der νγκη im Kosmos etwaauch schon Parmenides DK 28 B 10

65) DK 21 B 23 (Uumlbersetzung Gemelli) ε[ς θες [ ] οWτι δμας θνητοσιν5μοιος ο3δ νημα

66) DK 21 B 25 (Uumlbersetzung Gemelli) πνευθε πνοιο νου φρεν0πντα κραδανει vgl B 24 Der Gedanke wird aufgegriffen von Empedokles DK31 B 134

67) Vgl DK 21 B 14ndash16 aufgegriffen von Empedokles DK 31 B 134 (dazuKerschensteiner [wie Anm 8] 130ndash133)

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

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77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 14: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

gen uumlber die Goumltter bei Homer und Hesiod68 Fuumlr die Heraus -bildung einer rationalen philosophischen Theologie war er dahervon groszliger Bedeutung69 Er bestimmt die Gottheit als einheitlicheuniverselle und rein geistige Wesenheit Die spaumlter entwickelte Vor-stellung dass ein solches Wesen fuumlr die einheitliche Rationalitaumlt desUniversums verantwortlich ist kann offensichtlich daran anknuumlp-fen

Drittens findet sich bei Anaxagoras das Konzept eines uni-versellen Geistes (νος) im Kosmos Dieser

besitzt von jedem jede Erkenntnis und hat die groumlszligte Kraft und alleswas Lebenskraft hat das Groumlszligere wie das Kleinere beherrscht dernous Auch die gesamte Kreisbewegung hat der nous so beherrschtdass sie am Anfang begonnen hat Und wie es werden sollte und wiees war was jetzt nicht ist und was jetzt ist und wie es sein wird das alles hat der nous geordnet70

Durch das Wirken dieses universellen Geistes laumlsst sich also erklauml-ren wie und warum sich die verschiedenen Formen der natuumlrlichenWelt aus den zugrunde liegenden stofflichen Elementen gebildethaben Ohne den νος waumlre die physische Welt gestaltlos sie haumlttekeine Struktur Die Ordnung der Materie durch den Geist ist dabeieine durchaus neue Vorstellung im vorsokratischen Denken71 dievon Diogenes von Apollonia aufgegriffen wurde Die Atomisten

126 Jan Dreszlig le r

68) Vgl DK 21 B 11 dazu Gigon 1952 (wie Anm 1) 129 Gerson (wieAnm 1) 17 f L Gemelli Marciano Xenophanes Antike Interpretation und kul -tureller Kontext Die Kritik an den Dichtern und der sogenannte sbquoMonismuslsquo inG Rechenauer (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 118ndash134 hier121ndash125

69) Zu Xenophanes vgl allg Gigon 1952 (wie Anm 1) 141ndash144 Jaeger (wieAnm 1) 50ndash68 Meijer (wie Anm 12) 221 f Gerson (wie Anm 1) 15ndash20 Broadie(wie Anm 1) 190ndash194 D Lanza Xenophanes Eine Theologie in G Rechenauer(Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 102ndash117 Gemelli 2005 (wieAnm 68) 125ndash134 Robinson (wie Anm 1) 487ndash489

70) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) γνμην γε περ0 παντς πampσαν σχεικα0 σχει μγιστον κα0 2σα γε ψυχ8ν χει κα0 τ μεζω κα0 τ λσσω πντωννος κρατε κα0 5ποα μελλεν σεσθαι κα0 5ποα ν Lσσα νν μ8 στι κα0 2σανν στι κα0 5ποα σται πντα διεκσμησε νος

71) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 147 f Auch Aristoteles erkennt andass aus der Perspektive seines teleologischen Denkens (Met 984b8ndash22 vgl Thei-ler [wie Anm 42] 2ndash4 Kerschensteiner 148) und seines Konzepts eines (goumlttlichen)sbquoErsten Bewegerslsquo (Phys 256b20ndash27) Anaxagorasrsquo νος-Konzept zumindest einSchritt in die richtige Richtung jedoch noch nicht weit genug war

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 15: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

vertraten bekanntlich die entgegengesetzte Sicht72 Dabei rechnetauch Anaxagoras mit mechanischen Faktoren Doch meint er imUnterschied zu den Atomisten dass die urspruumlngliche (kreis foumlr -mige) Bewegung am Anfang der Kosmogonie nur durch das Wir-ken des Geistes uumlberhaupt in Gang gekommen sei Ohne den νοςgaumlbe es also auch keine Mechanik73 Doch obwohl der Geist dieBildung des Kosmos anstoumlszligt gibt er diesem nur einen Impuls aberkein Ziel oder Zweck In aristotelischer Begrifflichkeit ist er eineWirk- jedoch keine Finalursache74 Anaxagoras ist also kein teleo-logischer Denker und Platon hat ihn spaumlter dafuumlr kritisiert75 Auchbezeichnet er den νος (zumindest in den uumlberlieferten Fragmen-ten) an keiner Stelle als Gott ndash auch wenn moderne Forscher dieszuweilen annehmen76 Andere nach ihm haben hingegen einen derartigen universellen Geist durchaus mit Gott gleichgesetzt zumBeispiel Diogenes von Apollonia

127Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

72) Vgl Kerschensteiner (wie Anm 8) 155159 f (zu Leukipp) 162 f (zu De-mokrit) Fuumlr die Atomisten lieszlig sich alles Geschehen Werden und Vergehen in derWelt auf die Bewegung der Atome zuruumlckfuumlhren (vgl Diog Laert 931 f) die wie-derum nur von deren rein physischen Eigenschaften abhing (vgl allg Kirk Raven Schofield [wie Anm 8] 451ndash466 mit den entsprechenden Stellen und Kommentar)Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 150 Jaeger (wie Anm 1) 205 f Robinson (wieAnm 1) 496 f

73) Vgl DK 59 B 13 Kirk Raven Schofield (wie Anm 8) 39974) Zum Schema der vier Ursachen bei Aristoteles vgl Phys 194b16ndash

195b3075) Plat Phaid 97bndash99c vgl auch Aristot Met 985a18ndash2176) Dazu Jaeger (wie Anm 1) 184 f bdquoin den erhaltenen Fragmenten wird

nirgendwo direkt ausgesprochen daszlig er den Geist als das Goumlttliche praumldiziert haumlt-te Daszlig dies trotzdem seine Lehre gewesen sein muszlig wird nun durch die hymni-sche Form der von dem Nous ausgesagten Praumldikationen zur Gewiszligheit Es wirdaber auch durch den Inhalt dieser Aussagen bestaumltigt Die Praumldikate unbegrenztselbstherrlich ungemischt und selbststaumlndig fuumlr sich rechtfertigen durchaus die er-habene Sprache in der der Philosoph von diesem houmlchsten Prinzip redetldquo AumlhnlichGerson (wie Anm 1) 31 bdquonous which is fittingly called sbquogodlsquo even if there is no ex-tant fragment which does soldquo Doch ist dies ja eben die Frage Ob die Instanz diefuumlr den Philosophen die Stelle einnimmt die bisher die Goumltter bekleidet hatten(und deshalb auch in hymnischem Stil angeredet wird) noch als goumlttlich gilt oder ob es sich beim νος um ein Konzept handelt das die Vorstellung des Goumlttlichennicht neu in te rpre t i e r t sondern er se tz t Aus den uumlberlieferten Fragmenten istdiese Frage m E nicht zu beantworten jedenfalls sollte man die Tatsache dass Anax agoras den νος eben nicht als Gott oder goumlttlich bezeichnet nicht in ihr Ge-genteil verkehren Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 166 Vlastos (wie Anm 1) 113mit Anm 76 Kerschensteiner (wie Anm 8) 145 mit Anm 6 Meijer (wie Anm 12)226

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 16: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Diogenes von Apollonia

Fuumlr unsere Fragestellung ist Diogenes von Apollonia vor al-lem deshalb von Interesse weil wir bei ihm alle drei Konzepte desvorsokratischen Denkens die sich spaumlter zu einem philosophi-schen Gottesbeweis fuumlgen vereint finden Er ist der Ansicht dassdas Universum eine Ordnung hat Er glaubt dass ein maumlchtigerGeist hinter dieser Ordnung steht Und er glaubt dass dieser Geistgoumlttlich ist

Diogenes ist ein Monist77 Fuumlr ihn ist das Grundelement dieLuft und alles was existiert eine modifizierte Form der Luft78

Darin folgte er im Wesentlichen Anaximenes79 Doch ist die Luftfuumlr Diogenes nicht nur der Grundstoff von allem sondern auchgoumlttlich bdquo[I]ch bin der Meinung dass was Denkkraft besitzt dasist was die Menschen Luft nennen und dass von ihr auch alle Menschen gesteuert werden und sie alles beherrscht denn ebendies scheint mir ist Gott und gelangt zu allem und ordnet alles undist in allemldquo80 Der doxographischen Tradition zufolge war er auchin der Bezeichnung der Luft als goumlttlich von Anaximenes abhaumln-gig81 Wie andere Vorsokratiker vor ihm gibt er dem Goumlttlichenalso einen neuen Platz innerhalb der natuumlrlichen Welt indem er esmit dem von ihm identifizierten Prinzip aller Dinge der Luftgleichsetzt Und da die Luft nicht nur das Universum insgesamtbeherrscht sondern auch das Element ist das der Mensch brauchtum zu leben und zu denken82 ist bdquoein kleiner Teil des Gottesldquo auch

128 Jan Dreszlig le r

77) Vgl D W Graham Explaining the Cosmos The Ionian Tradition ofScientific Philosophy Princeton Oxford 2006 277ndash293 der ihn als bdquothe only fi-gure to whom we can confidently ascribe Material Monismrdquo (280) sieht und ihmdeshalb ndash gegenuumlber der in der Forschung verbreiteten Geringschaumltzung des sbquoEklek-tikerslsquo Diogenes (278) ndash eine wichtige Rolle fuumlr die Entwicklung der griechischenPhilosophie zuschreibt (bes 290ndash293) Zu Diogenes allg vgl auch Theiler (wieAnm 42) 6ndash14 Kerschensteiner (wie Anm 8) 176ndash180 Kirk Raven Schofield(wie Anm 8) 473ndash492 Laks 2008 (wie Anm 8)

78) Vgl DK 64 B 2 A 579) Vgl DK 13 A 457 dazu Kerschensteiner (wie Anm 8) 17780) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) κα μοι δοκε τ τ8ν νησιν χον εναι

5 8ρ καλομενος 1π τν νθρπων κα0 1π τοτου πντας κα0 κυβερνampσθαι κα0πντων κρατεν α3τ γρ μοι τοτο θες δοκε εναι κα0 π0 πampν φχθαι κα0 πνταδιατιθναι κα0 ν παντ0 νεναι

81) Vgl DK 13 A 12 und DK 64 A 8bndashd vgl auch Graham (wie Anm77) 281f82) Vgl DK 64 B 45 Aufgegriffen wird dieser Gedanke auch im Hippokra-

tischen Corpus vgl etwa Flat 15 Morb Sacr 16

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 17: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

in uns (wie es Theophrast formuliert)83 Der Hauptgrund fuumlr dieVergoumlttlichung der Luft scheint dabei zu sein dass Diogenes ihr inetwa die gleichen Eigenschaften zuschreibt die traditionell zu denGoumlttern gehoumlrten So meint er dass bdquosie alles beherrschtldquo84 dass siebdquogroszlig und maumlchtig und ewig und unsterblich ist und viel weiszligldquo85

In dieser Hinsicht aumlhnelt sie dem νος des Anaxagoras der eben-falls ewig sein86 und bdquovon jedem jede Erkenntnis und die groumlszligteKraftldquo haben soll87

Nun stellt sich die Frage Wenn die Luft ein Gott ist ndash was fuumlr ein Gott ist das Handelt es sich hier um eine r a t iona l e reVers ion dessen was man bisher Zeus genannt hatte88 oder umeine Al te r na t iv e dazu In Aristophanesrsquo PhilosophenkomoumldieDie Wolken wird den Naturphilosophen vorgeworfen dass sie mitder Religion ihrer Mitbuumlrger nichts mehr zu schaffen haben89 Undin einigen Faumlllen war dieser Vorwurf wohl auch berechtigt Den-noch gab es Moumlglichkeiten traditionelle religioumlse Ansichten unddas neue philosophische Denken in Einklang zu bringen ndash zumBeispiel durch Allegorese Und eben einen solchen Ansatz findenwir bei Diogenes Nach Philodem bdquolobt [er] Homer weil diesernicht auf mythische Weise sondern wahrhaftig uumlber das Goumlttlichegesprochen habe Denn er sagt Homer glaube die Luft sei Zeusldquo90

129Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

83) DK 64 A 19 5 ντς 8ρ μικρν ]ν μριον το θεο (eigene Uumlber -setzung) Der Gedanke dass der Geist in uns das Element ist das dem Goumlttlichenam naumlchsten steht ist zwar dezidiert aristotelisch (vgl Aristot NE 1177a13ndash16Protr fr 7347 Gigon) doch scheint Theophrasts Interpretation Diogenesrsquo Denkendennoch durchaus zu entsprechen (vgl DK 64 B 45) Der Gedanke dass der Geistdes Menschen am goumlttlichen Geist teilhat der das ganze Universum durchwaltetfindet sich spaumlter auch bei den Stoikern vgl etwa Diog Laert 7142 f

84) DK 64 B 585) DK 64 B 8 (Uumlbersetzung Gemelli) μγα κα0 σχυρν κα0 διν τε κα0

θνατον κα0 πολλ εδς στι vgl auch B 786) Vgl DK 59 B 1487) DK 59 B 1288) Vgl in diesem Sinne den beruumlhmten (wenn auch etwas sbquodunklenlsquo) Aus-

spruch des Heraklit ^ν τ σοφν μονον λγεσθαι ο3κ θλει κα0 θλει Ζηνς Fνομα (DK 22 B 32)

89) Vgl bes Aristoph Nub 247 f365ndash407 auszligerdem J V Muir Religionand the New Education The Challenge of the Sophists in P E Easterling (Hrsg)Greek Religion and Society Cambridge 1985 191ndash218 hier 211ndash213

90) DK 64 A 8 (Uumlbersetzung Gemelli) Διογνης παινε τν Iμηρον aς ο3μυθικς λλK ληθς 1πρ το θεου διειλεγμνον τν ρα γρ α3τν Δανομζειν φησν

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 18: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Ebenso werden im Papyrus von Derveni diesem seltsamen undfragmentarischen Amalgam von Naturphilosophie und Orphik indem sich auch der Einfluss von Diogenesrsquo Denken feststellen laumlsstdie Mythen allegorisch gelesen und so mit naturphilosophischenKonzepten in Einklang gebracht91 Auch hier wird Zeus mit derLuft gleichgesetzt92 Das Bemuumlhen physikalische und mythischeTheorie in Einklang zu bringen hat Primavesi juumlngst auch fuumlr Em-pedokles wahrscheinlich gemacht93 Spaumlter findet sich eine allego-rische Auslegung der Mythen im Sinne der eigenen Philosophieebenso bei den Stoikern94

Eine wichtige Eigenschaft der vergoumlttlichten Luft bei Dioge-nes ist ihre Befaumlhigung zu rationalem Denken νησις95 Eben die-se Faumlhigkeit so laumlsst sich schlieszligen versetzt die Luft in die LagebdquoMacht uumlber alle Dingeldquo zu haben und bdquoalle Dinge zu ordnenldquoWie Anaxagoras stellt sich Diogenes also einen maumlchtigen Geistvor der der natuumlrlichen Welt eine Ordnung gibt Doch anders alsAnaxagoras sieht er diesen Geist nicht als eigenstaumlndig und abge-trennt sondern stellt vielmehr ausdruumlcklich fest dass Einsicht(νησις) bdquoin allemldquo ist und es bdquokein einziges Ding [gibt] das darannicht teilhatldquo96 Fuumlr Anaxagoras dagegen ist der Geist bdquomit keinemDing vermischt sondern allein und fuumlr sichldquo97 Wie Andreacute Laksfeststellt folgt daraus auch die unterschiedliche Terminologie beiDiogenes und Anaxagoras Waumlhrend νος den Geist bdquoan und fuumlrsichldquo bezeichnet ist νησις als Taumltigkeit als sbquodas Denkenlsquo zu ver-stehen98 Νησις ist mithin die wirkende Akt iv i t auml t durch die die

130 Jan Dreszlig le r

91) Vgl allg Laks 1997 (wie Anm 8) R Janko The Derveni Papyrus (Diago-ras of Melos Apopyrgizontes Logoi) A New Translation CPh 96 2001 1ndash32 hier1ndash6 Zur Rezeption des Diogenes durch den Derveni-Autor (der sich jedoch auch mitanderen Philosophen auseinandergesetzt und letztendlich einen eigenen Ansatz ent-wickelt hat) vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 130ndash132 und 2008 (wie Anm 8) 269ndash274

92) Col XVII vgl Laks 1997 (wie Anm 8) 129 f93) Vgl Primavesi (wie Anm 14)94) Vgl Mansfeld (wie Anm 15) 461 f Platon zeigt sich allerdings skeptisch

gegenuumlber einer allegorischen Interpretation der Mythen (vgl Pol 378andashe Phaidr229cndash230a)

95) Vgl DK 64 B 596) DK 64 B 5 (Uumlbersetzung Gemelli) ν παντ0 νεναι κα0 στιν ο3δ ^ν 2

τι μ8 μετχει τούτου97) DK 59 B 12 (Uumlbersetzung Gemelli) μμεικται ο3δεν0 χρHματι λλ

μνος α3τς πK ωυτο στιν98) Laks 1997 (wie Anm 8) 131 und 2008 (wie Anm 8) 35 f

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 19: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Luft das Universum beherrscht und ordnet Fuumlr das grundlegendeArgument ndash dass es einen Geist im Universum gibt ndash macht es je-doch keinen Unterschied ob dieser Geist von auszligen oder von in-nen uumlber die natuumlrliche Welt herrscht99

Um zu zeigen dass ein solcher Geist im Universum tatsaumlch-lich existieren muss entwickelt Diogenes das folgende Argument

[D]enn es waumlre ohne Denkkraft unmoumlglich so sagt er dass es [d h diezugrunde liegende Substanz die Luft] so aufgeteilt waumlre dass es fuumlr alles festgesetzte Maszlige gaumlbe fuumlr Winter und Sommer fuumlr Nacht undTag fuumlr Regenguumlsse Winde und schoumlnes Wetter man koumlnnte findenwenn man nur daruumlber nachdenken will dass auch das Uumlbrige so aufdie schoumlnstmoumlgliche Weise festgesetzt ist100

Das heiszligt vermittels der ihr gegebenen Einsicht arrangiert dieLuft als Grundstoff der Welt s i c h s e lbs t in geordneter und re-gelmaumlszligiger Weise ndash und bildet dadurch die Welt in der der Menschlebt Nach Diogenes zeigt sich also bei allen Erscheinungen in dernatuumlrlichen Welt eine Ordnung die ohne eine universell wirksameVernunft nicht zu erklaumlren ist Und diese Vernunft ist wie Frag-ment 5 verraumlt von goumlttlicher Natur sie ist die Einsicht des Gottesdes Urstoffs der Luft

Interessant dabei ist dass obwohl grundsaumltzlich alle Dinge vonder Einsicht der Luft beherrscht werden Diogenes seine Beispielegerade aus den Erscheinungen waumlhlt die traditionell mit den Goumlt-tern in Verbindung gebracht wurden ndash der Ablauf der Jahreszeitensowie von Tag und Nacht und die Wetterphaumlnomene Spaumlter sind esinsbesondere die (von Diogenes in dem Fragment nicht erwaumlhnten)regelmaumlszligigen Bewegungen der Himmelskoumlrper die als wichtigsterBeleg fuumlr das Wirken der Goumltter in der Welt gelten101 Doch auch die Beispiele die Diogenes anfuumlhrt werden gelegentlich genannt102

131Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

99) Vgl Gigon 1953 (wie Anm 22) 133 So war zum Beispiel auch fuumlr dieStoiker ndash im Unterschied zu Platon und Aristoteles ndash der goumlttliche λγος der phy-sischen Welt immanent vgl etwa (zu Chrysipp) Cic Nat Deor 139

100) DK 64 B 3 (Uumlbersetzung nach Gemelli) ο3 γρ Mν φησίν ο[όν τε νοEτω δεδάσθαι Mνευ νοήσιος cστε πάντων μέτρα χειν χειμνός τε κα0 θέρους κα0νυκτς κα0 Cμέρας κα0 1ετν κα0 νέμων κα0 ε3δινmiddot κα0 τ Mλλα ε τις βούλεταιννοεσθαι ε1ρίσκοι 7ν οEτω διακείμενα aς νυστν κάλλιστα Zur Stelle vglHuumlffmeier (wie Anm 25) 134 Laks 2008 (wie Anm 8) 73ndash76

101) Vgl etwa Xen Mem 4313 f Plat Nom 896dndash899b966dndash967d Aris-tot fr 838947 f Gigon

102) Vgl Xen Mem 438 f14 Plat Nom 885endash886a899b Aristot fr 838Gigon

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 20: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

All diesen (und aumlhnlichen) Argumenten ist gemeinsam dass sie aufregelmaumlszligige Vorgaumlnge in der physischen Welt verweisen Dioge-nesrsquo Ziel ist dabei jedoch (noch) nicht der Nachweis dass die Goumlt-ter existieren sondern dass sich in allen Dingen Einsicht feststellenlaumlsst und dass diese dem Grundstoff der Luft zuzurechnen ist103

Auch sagt er uns nicht warum diese Einsicht den Kosmos eben inder Weise beherrscht wie sie es tut Nach Diogenes unterliegt demUniversum eine Ordnung doch nennt er kein τλος kein Ziel oderZweck dem diese Ordnung dient Wenn man jedoch seine Argu-mentation gleichsam vom Kopf auf die Fuumlszlige stellt bekommt maneben die Art von theologischem Argument das spaumlter gaumlngig wur-de Da die Ordnung des Universums auf einen (all)maumlchtigen Geistverweist und dieser Geist goumlttlich ist muss (irgendeine Art von)Gott folglich existieren

Diogenesrsquo Relevanz

Damit soll nicht gesagt werden dass der gaumlngige philosophi-sche Gottesbeweis letztlich auf Diogenes von Apollonia zuruumlck-geht Dass Platon sich diesbezuumlglich bei Diogenes bedient hat wirdmeines Wissens auch von niemandem behauptet104 Die besondersvon Theiler vertretene Ansicht dass die Argumentation die Xe-nophon dem Sokrates in Memorabilien 14 zuschreibt in wesent -lichen Punkten von Diogenes abhaumlngt hat dagegen in der For-schung viele Anhaumlnger gefunden105 Dabei sollen Parallelen und(moumlgliche) Einfluumlsse im Einzelnen gar nicht geleugnet werden106

Doch findet sich bei Diogenes eben noch kein Gottesbeweis Undanders als Theiler annimmt ist auch die Art von teleologischer

132 Jan Dreszlig le r

103) Vgl Graham (wie Anm 77) 286 f104) Diogenes wird von Platon auch nirgends (explizit) erwaumlhnt Zu moumlg -

lichen Spuren einer Beschaumlftigung Platons mit Diogenes vgl aber Theiler (wieAnm 42) 76 f

105) Vgl Theiler (wie Anm 42) 13ndash36 aufgegriffen etwa von Jaeger (wieAnm 1) 188ndash195 Horn (wie Anm 2) 952954 Muumlller (wie Anm 34) 210 f Robin-son bezeichnet Diogenes als bdquoimmediate precursor of Socratic Platonic teleologic -al explanation in natural philosophy theologyrdquo (wie Anm 1 S 496) aumlhnlich Ker-schensteiner (wie Anm 8) 180

106) Eine kritische Uumlberpruumlfung der von Theiler angefuumlhrten Parallelen imEinzelnen findet sich bei Huumlffmeier (wie Anm 25) 134ndash138 Laks 2008 (wieAnm 8) 275ndash280

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 21: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

Argumentation die eine wesentliche Stuumltze des xenophontischenBeweises bildet fuumlr Diogenes keineswegs sicher belegt107 In denMemorabilien ist Sokratesrsquo Hauptargument dass die Goumltter wiejeder sehen koumlnne alles in der Welt zu einem sinnvollen Zwecknaumlmlich zum Wohl des Menschen angelegt haumltten108 Diogenessagt dagegen keineswegs dass sich die Luft in besonderer Weise umdie Menschen kuumlmmert oder dass die Struktur die sie der Welt ge-geben hat um der Menschen willen da ist

Auch das beruumlhmte Fragment 3 bietet m E keine hinreichen-de Grundlage um die tatsaumlchlich erst bei Xenophon zu greifendeteleologische Weltsicht schon Diogenes zuzuschreiben109 Heiszligt esdort dass bdquoalles auf die schoumlnstmoumlgliche Weise (νυστν κλλι-στα) disponiertldquo sei so bedeutet das in diesem Kontext erst einmalnur dass der Grundstoff die Luft bdquofuumlr alle Dinge Maszlige hatldquo(πντων μτρα χειν) Dies an sich ist jedoch kein teleologischesArgument Tatsaumlchlich teleologisch ist etwa Platons Sicht dass sich im Lauf der Natur insbesondere der Gestirne bdquodie planendenAbsichten eines Willens [zeigen] der auf die Verwirklichung desGuten aus istldquo110 oder die Position des Aristoteles dass bdquodie Na-tur des Alls das Gute und das Beste enthaumlltldquo111 Dass bdquoalles auf dieschoumlnstmoumlgliche Weise disponiertldquo ist d h nach festen bdquoMaszligenldquobedeutet dagegen nicht mehr als dass allem eine vollkommeneOrdnung zugrunde liegt ndash aumlhnlich wie man etwa die Kreisbewe-

133Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

107) Skeptisch gegenuumlber der Annahme eines entwickelten teleologischenDenkens bei Diogenes sind auch Huumlffmeier (wie Anm 25) und Laks 2008 (wieAnm 8) 27 f275ndash280282ndash285 Vgl auch Gigon 1952 (wie Anm 1) 151 Graham(wie Anm 77) 278 f287

108) Vgl oben S 119109) Theiler stuumltzt sich im Wesentlichen auf DK 64 B 3 wenn er das teleo -

logische Material das er bei spaumlteren Autoren findet fuumlr Diogenes in Anspruchnimmt Dabei waumlre allerdings zu unterscheiden gewesen zwischen den Gedankendie (moumlglicherweise) von Diogenes uumlbernommen wurden und der Argumentationzu der diese dann verwendet wurden und die keineswegs auf Diogenes zuruumlckge-hen muss Vgl dazu Laks 2008 (wie Anm 8) 278 bdquoSi Diogegravene est utiliseacute lrsquoempruntpeut parfaitement se combiner avec une repreacutesentation qui lui est eacutetrangegravere en lrsquooc-currence la teacuteleacuteologie eacutelaboreacutee dans sa composante anthropocentriqueldquo

110) Plat Nom 967a4ndash5 (Uumlbersetzung Schoumlpsdau Muumlller) διανοαιςβουλHσεως γαθν πρι τελουμνων Vgl Phaid 97bndash99c (dort gleichzeitig Kritikvon Anaxagorasrsquo νος-Konzept das die Ausrichtung der Vernunft auf das sbquoGutelsquonicht genug erfasst habe)

111) Aristot Met 1075a11 f (Uumlbersetzung Bonitz Seidl) χει C το 2λουφύσις τ γαθν κα0 τ Mριστον vgl 1075a11ndash25

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

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112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 22: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

gung fuumlr die schoumlnste und vollkommenste Bewegung hielt112 Diesimpliziert jedoch nicht (notwendig) dass diese Ordnung irgend -einem houmlheren Gut oder τλος dient ndash weder dem Guten fuumlr dieMenschheit noch irgendeiner anderen Form des Guten113 Dioge-nes war also houmlchstwahrscheinlich nicht die Gruumlnderfigur der teleologischen Weltsicht als die er manchmal gesehen wird

Dennoch enthalten die uumlberlieferten Fragmente seines Werkesdas konzeptuelle Material aus dem sich der gaumlngige auf die ratio-nale Ordnung des Universums gestuumltzte Gottesbeweis der klassi-schen und hellenistischen Philosophie (und daruumlber hinaus) kon-struieren lieszlig Wie wir gesehen haben finden sich bei Diogenes diedrei Konzepte die man fuumlr eine solche Argumentation benoumltigteErstens sieht er als Erbe der aumllteren Vorsokratiker das Universumals geordnetes System mit festen Maszligen Zweitens meint er aumlhn-lich wie Anaxagoras dass ein allmaumlchtiger Geist hinter dieser Ord-nung steht Und drittens identifiziert er diesen Geist anders alswahrscheinlich Anaxagoras mit (seiner Grundsubstanz der Luftund diese mit) Gott All das dient bei Diogenes nicht als Gottes -beweis doch muumlssen wir seine Konzepte gleichsam nur neu zu-sammensetzen und erhalten eben die Art von philosophischemGottesbeweis den wir etwa bei Platon finden Dabei kann Dioge-nes wie wir gesehen haben keineswegs als Urheber dieser Kon-zepte gelten Daher gibt es auch keinen Grund fuumlr die Annahmedass die theologischen Argumentationen bei spaumlteren Denkern aufihn zuruumlckgehen Diogenes uumlbernimmt Vorstellungen die bereitsvor ihm zum vorsokratischen Denken gehoumlrt haben und ist ebendeshalb eine unschaumltzbare Quelle Er zeigt uns in kompakter entwickelter und verhaumlltnismaumlszligig gut uumlberlieferter Form welcheskonzeptuelle Material in dem sich naturphilosophisches und theo-logisches Denken verbindet zu Beginn des 4 Jhs vorhanden warPlaton Aristoteles und andere haben dieses Material der vorsokra-tischen Philosophie aufgegriffen

134 Jan Dreszlig le r

112) Zu dieser Vorstellung vgl etwa Plat Nom 898c Tim 34a113) Vgl Huumlffmeier (wie Anm 25) 134 bdquoEs soll nicht bestritten werden daszlig

aus dem bei Heraklit und Diogenes vorhandenen Material einem vernuumlnftigenPrinzip und einer sinnvollen Ordnung der Welt eine Teleologie gemacht werdenkoumlnnte aber ebenso wenig kann bestritten werden daszlig Diogenes an dieser Stelleeine andere Frage beantwortet [naumlmlich dass die Ursubstanz uumlber Verstand verfuuml-gen muss] Es steht einfach nicht im Text daszlig die Ordnung der Welt die ατα οdJνεκα der Kosmogonie waumlreldquo

III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

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III Warum ein philosophischer Gottesbeweis

Diogenes hat also wie viele vorsokratische Denker vor ihmdas Wesen Gottes neu bestimmt den Nachweis seiner Existenzaber offenkundig noch nicht fuumlr noumltig gehalten Was brachte alsoandere Denker nur wenig spaumlter dazu mit Argumenten die sich inaumlhnlicher Form auch bei ihm finden einen solchen Gottesbeweiszu entwickeln Platon richtet seine Argumentation in den Nomoidirekt gegen die Position dass die Goumltter nicht existieren undweist darauf hin dass diese Sicht zu seiner Zeit durchaus verbrei-tet war114 Doch warum glaubten einige Leute nicht mehr an dietraditionellen Goumltter Die Antwort auf diese Frage verweist unszuruumlck auf die Entwicklung des philosophischen Denkens Zwarhaben weder die aumllteren Naturphilosophen noch die meisten So-phisten je offensiv gegen die Annahme Stellung bezogen dass esGoumltter gibt Zumeist nahmen sie diese entweder fuumlr selbstver-staumlndlich ndash ohne sich uumlber deren ontologischen Status weiter Ge-danken zu machen ndash oder bemuumlhten sich die religioumlsen Vorstel-lungen ihrer Umwelt in veraumlnderter (sbquogereinigterlsquo sublimierter)Form in ihr Denken zu integrieren115 Dennoch trugen sie wohlnolens volens zur Erosion des traditionellen Goumltterglaubens bei116

Angefangen mit Xenophanes finden wir bei vielen Philoso-phen eine gewisse Skepsis gegenuumlber den etablierten religioumlsen An-sichten117 Wie alles andere wurden auch diese rationaler Pruumlfungund Kritik unterworfen ndash der sie nicht immer standhalten konnten

135Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

114) Plat Nom 891b890a vgl Meijer (wie Anm 12) 217 f115) Vgl dazu auch bei Gigon 1952 (wie Anm 1) die Diskussionsbeitraumlge

von Verdenius (158 f) und Reverding (163) Selbst Demokrit in dessen Weltsystemweder die Goumltter noch das Goumlttliche eine tragende Rolle spielten verwirft ihre Existenz keineswegs Dazu Meijer (wie Anm 12) 226 bdquoIf anyone opened the wayto atheistic thinking he did so with the doctrine of atoms Nevertheless he acceptedthe existence of superbeings who were actually in contradiction with the doctrineof atoms or could hardly be reconciled with it and he accepted those objections intothe bargain rather than give up the idea of sbquogodlsquo altogetherldquo Zu Demokrits reli -gioumlsem Denken vgl die Zeugnisse unter DK 68a74ndash5 und allgemein Jaeger (wieAnm 1) 206 Broadie (wie Anm 1) 201ndash203 D McGibbon The Religious Thoughtof Democritus Hermes 93 1965 385ndash397 G Rechenauer Goumltter und Atome beiDemokrit in ders (Hrsg) Fruumlhgriechisches Denken Goumlttingen 2005 384ndash406Gemelli 2010 (wie Anm 40) 518ndash525

116) Vgl Nilsson (wie Anm 52) 1 f7117) Vgl Muir (wie Anm 89) 196ndash199 Dreszligler (wie Anm 54) 23ndash27

Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

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Bei Xenophanes fuumlhrte die Zuruumlckweisung der religioumlsen Traditionbekanntlich zur Postulierung eines neuen einheitlichen und ratio-naleren Gottesbildes Doch laumlsst sich auch Protagorasrsquo beruumlhmterAusspruch er koumlnne nicht sagen ob es die Goumltter gibt oder nicht118

als Ausdruck eben einer solchen Skepsis gegenuumlber den etabliertenMeinungen sehen Das was seine Mitmenschen von den Goumlttern zu wissen meinten hatte fuumlr ihn keinerlei Wahrheitswert mehr119 ndashwobei er dem im Gegensatz zu Xenophanes auch keine neueWahrheit entgegenzusetzen hatte Einige der Sophisten untermi-nierten den traditionellen Goumltterglauben weiter indem sie daraufhinwiesen dass es doch offensichtlich keine Gerechtigkeit in derWelt gaumlbe Wo also waren die Goumltter die doch angeblich als obers-te Walter der Gerechtigkeit fungierten120 Die wichtigste Debattedrehte sich allerdings um die Erklaumlrung der Naturphaumlnomene121

Traditionell ging man davon aus dass die Goumltter hinter diesen Er-scheinungen standen ndash so dass sich etwa Blitze als deutliches Zei-chen von Zeusrsquo Wirken in der Welt verstehen lieszligen Die Natur -philosophen angefangen mit den Ioniern fuumlhrten sie jedoch auf natuumlrliche Ursachen zuruumlck die man auf rationale Weise verstehenkonnte122 Dies warf wiederum die Frage auf Wenn die Goumltter nichthinter Blitzen Donner und Aumlhnlichem standen was machten siedann uumlberhaupt und warum sollte man glauben dass es sie gibt123

Die Existenz der Goumltter wurde damit zum Gegenstand derDiskussion die Moumlglichkeit dass es keine Goumltter gab wurdedenkbar und auch von philosophischer Seite verschiedentlich auf-

136 Jan Dreszlig le r

118) DK 80 B 4 vgl Dreszligler (wie Anm 54) 33ndash35 Schon aufgrund dieses ndashoffen ausgesprochenen ndash Zweifels galt Protagoras vielen als Mθεος vgl die entspre-chenden Zeugnisse bei M Winiarczyk Wer galt im Altertum als Atheist Philo -logus 128 1984 157ndash183 hier 177 f und zum Asebie-Verfahren gegen ihn Dreszligler89ndash99

119) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 215120) Vgl etwa Thrasymachos DK 85 B 8 Eur El 583 f fr 286832900 dazu

Muir (wie Anm 89) 210 W Fahr Θεος νομζειν Zum Problem der Anfaumlnge desAtheismus bei den Griechen Hildesheim New York 1969 65 f Zur traditionellenSicht der Goumltter als Stuumltzen der Gerechtigkeit vgl etwa Hes Erg 212ndash284 HomOd 24351 f Sol fr 13 West Eur Hik 731 f Bacch 1325 f fr 5771131 AristophNub 397 Thesm 668ndash674 Der Gedanke steht letztlich auch hinter dem ansonstenso sbquoatheistischenlsquo Sisyphos-Fragment (DK 88 B 25)

121) Vgl dazu allg Dreszligler (wie Anm 54) 57ndash6076ndash81122) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 134ndash140123) Vgl exemplarisch Aristoph Nub 365ndash407 Plat Nom 966dndash967c

Plut Nik 233

geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

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136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

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geworfen124 Der philosophische Gottesbeweis antwortet also zu-gleich auf die Verunsicherung des Volksglaubens und auf die Pro-blematisierung des Goumltterglaubens im philosophischen DiskursDie Existenz der Goumltter und die aktive Rolle die sie in der Weltspielten sollte (und musste) mit rationalen Argumenten bewiesenwerden Dass etwa Platons Gottesvorstellung dabei eine ganz an-dere war als die die er zu verteidigen vorgab dass naumlmlich die goumltt-liche Seele die nach ihm hinter allem Geschehen im Kosmos standwenig mit Zeus oder anderen olympischen Gottheiten gemein hat-te scheint dabei fuumlr ihn selbst kein Problem gewesen zu sein125

Ihm ging es darum dass es eine goumlttliche Kraft im Universum gabalso nicht Zufall und vernunftlose Ursachen fuumlr alles verantwort-lich waren (wie es die Auffassung der Naturphilosophen sein soll-te)126 und insofern sah er sich auch nicht im Gegensatz zur klassi-schen Religion seiner Mitbuumlrger ndash solange diese den Goumlttern nichtunmoralische allzu menschliche Eigenschaften und Geschichtenandichteten127 Die Ironie daran ist allerdings dass die Positionder sich Platon und andere Philosophen nun entgegenstellten ndashdass es keine Goumltter gibt ndash zumindest zum Teil ebenso auf die phi-losophische Tradition zuruumlckgefuumlhrt werden konnte die auch denphilosophischen Verteidigern der Goumltter ihre Argumente lieferte

137Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

124) Dass es im 5 und 4 Jh vor s t e l lba r geworden war dass die Goumltternicht existieren geht aus mehreren Quellen hervor (vgl etwa Aristoph Nub 367[ο3δf στι Ζεύς] Eur fr 286912b DK 80 B 4 [Protagoras] DK 88 B 25 [Sisyphos-Fragment] Plat Apol 26cndashe und Xen Mem 115 [als Vorwurf gegenuumlber Sokra-tes] Plat Nom 885b ff Aristot An Post 89b31ndash5) Vgl dazu allg Fahr (wieAnm 120) 2ndash431ndash122 Horn (wie Anm 2) 951 f Mansfeld (wie Anm 15) 453 fSchwieriger ist es allerdings einen bestimmten Philosophen (oder sonst jemanden)auszumachen der eine solche Position tatsaumlchlich vertreten haumltte Prodikos soll dieExistenz zumindest der Kult-Goumltter bestritten haben (vgl Anm 16) Protagoraskonnte sich nicht entscheiden ob die Goumltter existieren oder nicht (DK 80 B 4) Diagoras von Melos hatte wohl sbquonurlsquo die Eleusinischen Mysterien veraumlchtlich ge-macht (vgl Dreszligler [wie Anm 54] 107ndash111 mit weiterer Literatur) auch wenn erdem spaumlteren Altertum allgemein als Mθεος galt (vgl die Belege bei Winiarczyk [wieAnm 118] 164ndash166) Ein tatsaumlchlicher Atheist im modernen Sinne war aber wahr-scheinlich Theodoros von Kyrene (vgl die Belege bei Winiarczyk 179ndash181)

125) Vgl M L Morgan Plato and Greek Religion in R Kraut (Hrsg) TheCambridge Companion to Plato Cambridge u a 1992 227ndash247 hier 240 bdquoPlatofigures in a tradition that criticizes the Olympian gods and seeks to rethink the no-tion of divinity in terms of our understanding of the cosmos and especially of soullife and motionldquo

126) Plat Nom 888endash889c127) Vgl Plat Pol 377b ff

Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

Berlin Jan Dreszlig le r

140 Jan Dreszlig le r

136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

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Eine Stelle aus Xenophons Symposion moumlge dies illustrierenSokrates wird von einem Mann aus Syrakus vorgeworfen bdquoDugiltst als Denker uumlber die Himmelsphaumlnomene (τν μετερων)ldquo128

Die Stelle spielt auf das Sokrates-Bild der aristophanischen Wolkenan129 und damit auf die Unterstellung dass ein solcher Denker mitseinem Studium des Himmels notwendig die Annahme verbindedass die Goumltter deren Walten man sonst eben in diesem Bereich erkennen wollte gar nicht existierten Doch Sokrates erwidertbdquoKennst du also irgendetwas das himmlischer (μετεωρτερντι) ist als die Goumltterldquo130 Er meinte also da die Goumltter doch hinterdiesen Erscheinungen standen beschaumlftigte sich jeder der sie un-tersuchte notwendig auch mit den Goumlttern ndash Sokrates war alsoganz und gar kein sbquogottloser Himmelsguckerlsquo wie ihm oft unter-stellt wurde Die gleiche Ambiguitaumlt zwischen sbquogottloserlsquo undsbquofrommerlsquo Naturphilosophie verdeutlicht auch ein Fragment desEuripides bdquoWer ist so [gottverlassen und vom Ungluumlck getrof-fen] dessen Seele die Betrachtung dieser Dinge nicht lehrt anGott zu glauben und die verdrehten Luumlgen der Himmelsforschernicht weit von sich wirft deren freche Zungen sich auslassen uumlberdie verborgenen Dinge von denen sie kein Wissen habenldquo131 Werdie Himmelsphaumlnomene auf die richtige Weise betrachte werdedas Wirken der Goumltter in ihnen erkennen die Schau des Himmelsist also keineswegs an sich sbquogottloslsquo132 Doch wird den Naturphilo-

138 Jan Dreszlig le r

128) Xen Symp 66 (eigene Uumlbersetzung) δόκεις τν μετεώρων φροντι-στ8ς εναι

129) Vgl auch Xen Symp 68 mit Aristoph Nub 144ndash152130) Xen Symp 67 (eigene Uumlbersetzung) οσθα ον μετεωρότερόν τι

τν θεν131) Eur fr 913 (eigene Uumlbersetzung) τίς []οθεος [κ]α0 []ραδαμω [ν]

kς τάδε λεύσ[σ]ων ο3 προδι[δ] σκει ψυχ8ν [α1]το θεν C[γε]σθαι μετεωρολόγων δrsquo κς ρριψεν σκολις πάτας mν τολμηρ γλσσrsquoεκοβολε περ0 τν φανν ο3δν γνώμης μετέχουσα Da der Text in der ersten Zeile leider korrupt ist laumlsst sich nur erahnen wie jemand der die Lehren derMeteorologen nicht sbquoweit von sich geworfenlsquo hat dort genau charakterisiert wirdDiels Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker III Berlin 6195212) rekonstruie-ren τς τιμθεος κα0 παραδαμω ν () wobei das sonst nicht belegte παραδαμω νwohl soviel wie βαρυδαμω ν bedeute Auf deren Text stuumltzt sich auch die hypothe-tische Uumlbersetzung der Stelle bei Ch Collard und M Cropp (Euripides FragmentsII Cambridge Mass London 2008) bdquoWho (is the) god-(forsaken) and (heavy)-fortuned man ldquo

132) Vgl auch die durchaus positive Bewertung der Naturbetrachtung inEur fr 910

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

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133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

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136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

Page 27: DIOGENES VON APOLLONIA UND DIE ENTSTEHUNG DES ... · tare, Stuttgart / Weimar 2001, 476f. Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘ Einschränkend zu Diogenes’ ‚Eklektizismus‘

sophen unterstellt dass ihr sbquoverdrehterlsquo Blick ndash die Annahme die-se Erscheinungen auf natuumlrliche Weise und ohne die Goumltter erklauml-ren zu koumlnnen ndash sie blind fuumlr deren wahres Wesen mache Statt-dessen treten sie mit haltlosen Theorien auf uumlber Dinge die zudurchschauen den Menschen nicht gegeben sei (τ φαν$)133

Einerseits hielten manche die Naturphilosophen also fuumlrsbquogottloslsquo und unterstellten ihnen Verachtung fuumlr die Goumltter bis hinzu offenem Atheismus134 Andererseits wurden Argumente ebenaus dieser Denktradition ndash die Vorstellung einer natuumlrlichen Welt-ordnung und des Goumlttlichen als in ihr wirkender Kraft ndash von Phi-losophen dazu benutzt das Vorhandensein einer goumlttlichen Kraftim Universum zu beweisen135 Diejenigen also die die Himmels -phaumlnomene unter den richtigen Voraussetzungen betrachtetenwuumlrden auch erkennen dass die Goumltter dafuumlr verantwortlich wa-ren Dies war natuumlrlich ndash wie Sokratesrsquo Austausch mit dem Syra-kusaner zeigt ndash gleichzeitig ein gutes Argument um die Betrach-tung der Natur gegen den gaumlngigen Vorwurf der Asebie zu vertei-digen

Zusammenfassung

Im fruumlhen 4 Jh v Chr entwickelten Philosophen erstmals einen Gottesbeweis der sich auf die natuumlrliche Ordnung des Uni-versums stuumltzte Diese gleichsam rationale Argumentation fuumlr dieExistenz der Goumltter spielte auch in der spaumlteren griechischen Phi-losophie eine bedeutende Rolle ndash und erscheint manchem auchheute noch uumlberzeugend Es laumlsst sich nicht mit Sicherheit sagenwer einen solchen Gottesbeweis als erster formuliert hat Das kon-zeptuelle Material dafuumlr stammt jedoch von den Vorsokratikernund verweist damit auf die Kontinuitaumlten zwischen vor- und nach-

139Diogenes von Apollonia und die Entstehung des Gottesbeweises

133) Vgl Anm 38 und 39134) Vgl den Wortwechsel bei Aristoph Nub 225 f Sok περιφρον τν

Uλιον ndash Str τος θεος 1περφρονες Περιφρονεν kann sowohl sbquodurch unddurch bedenkenlsquo als auch sbquoverachtenlsquo bedeuten Indem Strepsiades daraus 1περφρο-νεν macht legt er also Sokrates seine Himmelsschau als Verachtung der Goumltter aus

135) Vgl Gigon 1952 (wie Anm 1) 154 auszligerdem Vlastos (wie Anm 1)116 f bdquoTo present the deity as wholly immanent in the order of nature and there-fore absolutely law-abiding was the peculiar and distinctive religious contributionof the Pre-Socraticsldquo

sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

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136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103

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sokratischer Philosophie Die entscheidenden Konzepte ndash die Weltals Ordnung eine universelle Vernunft als Traumlger dieser Ordnungderen Identifizierung mit dem Goumlttlichen ndash finden wir saumlmtlich beiDiogenes von Apollonia Das macht ihn nicht notwendig zu einerwichtigen Gestalt in dieser intellektuellen Entwicklung offen-sichtlich stuumltzt er sich zum groumlszligeren Teil auf bereits vorhandenesMaterial Dennoch sind seine Fragmente von groszligem Interesse Siezeigen uns welche philosophischen Konzepte vorhanden und (zurWeiterentwicklung) verfuumlgbar waren eben zu der Zeit da ein phi-losophischer Gottesbeweis erstmals in Angriff genommen wurdeGleichzeitig wurde jedoch auch fuumlr die fortschreitende Erosion desGoumltterglaubens der Philosophen wie Platon entgegentreten woll-ten von vielen ndash und nicht ohne Grund ndash ebenso die Entwicklungdes philosophischen Denkens verantwortlich gemacht Was die einen unsicher gemacht hatten suchten die anderen wieder aufzu-richten136

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136) Vgl Jaeger (wie Anm 1) 216 E R Dodds Die Griechen und das Irra-tionale Darmstadt 1970 93ndash103