diogenes magazin nr. 5

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D Diogenes Magazin Wir gratulieren Ingrid Noll zum 75. Geburtstag Der letzte Sommer Eine neue Erzählung von Bernhard Schlink Mythisches Gestein: Rolf Dobelli und Donna Leon über den neuen und alten Gotthardtunnel Ein Leben wie ein Roman: Paulo Coelho Nr.5 Herbst 2010 9 783257 850055 www.diogenes.ch 4 Euro / 7 Franken

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Wir gratulieren Ingrid Noll zum 75. Geburtstag - Der letzte Sommer: Eine neue Erzählung von Bernhard Schlink - Mythisches Gestein: Rolf Dobelli und Donna Leon über den neuen und alten Gotthardtunnel - Ein Leben wie ein Roman: Paulo Coelho.

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DDiogenesMagazin

Wir gratulieren Ingrid Noll zum 75. Geburtstag

Der letzte Sommer Eine neue Erzählung von Bernhard Schlink

Mythisches Gestein:Rolf Dobelli und Donna Leonüber den neuen und alten Gotthardtunnel

Ein Leben wie ein Roman:Paulo Coelho

Nr.5Herbst 2010

9 7 8 3 2 5 7 8 5 0 0 5 5

www.diogenes.ch4 Euro/7 Franken

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244 Hörbücher mit Hörprobe:

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Schonen Sie Ihre Augen!Lassen Sie andere lesen:

Otto Sander und Ulrich Matthes lesen Anton ¢echov

Heikko Deutschmann und Daniel Brühl lesen Martin Suter

Hans Korte liest Bernhard Schlink

Anna Thalbach liest F. Scott Fitzgerald

Burghart Klaußner liest Ian McEwan

Mario Adorf, Senta Berger und andere lesen Joseph Roth

Helmut Qualtinger liest H.D. Thoreau

Rufus Beck liest Der kleine Nick

Roger Willemsen liest Die kleine Alice

DiogenesHörbuch

Gelesen vonOtto Sander

»Die Virtuosität deseinfachen Erzählens –

darin liegt SandersMeisterschaft, eine

Meisterschaft derpräzisen Beiläufigkeitund des vielsagenden

Zwischenraums.« Die Welt, Berlin

1 CD

Anton ČechovDie Dame

mit dem Hündchen

Erzählung

Anton ČechovEin Duell

Kleiner Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonUlrich Matthes

»Wie kaum ein ande rer hat Anton

◊echov auf den Pulsschlag des

modernen Lebens gehorcht, sein lite -rarisches Werk ist

für das 20. Jahr -hundert wegweisend

geworden.« Neue Zürcher Zeitung

4 CD

DiogenesHörbuch

Gelesen vonHeikko

Deutschmann

»Eine ausgesprochenunterhaltsame,

kurzweilige undletztlich auch mora-

lische Geschichte.« ndr Kultur, Hamburg

6 CD

Martin SuterDer Koch

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonDaniel Brühl

»Eine Liebesge-schichte und Satire

rund ums Buch –brillant.«

Focus

»Mit dem Plot von Lila, Lila istMartin Suter ein

raffiniertes Kunst-stück gelungen.«

Neue Zürcher Zeitung

5 CD

Martin SuterLila, Lila

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonHans Korte

»Bernhard Schlinkist einer der

erfolgreichsten undeiner der viel-

seitigsten deutschen Schriftsteller der

Gegenwart.« Volker Hage/

Der Spiegel

7 CD

BernhardSchlink

Sommerlügen

DiogenesHörbuch

Gelesen vonAnna

Thalbach

»Der erste Roman, der das ›System Hollywood‹ er-

forschte und be-schrieb. Inklusiveeiner schmetter-

lingszarten Liebes-geschichte von

perfekter Schönheit.«Barbara Rett /

Die Presse, Wien

4 CD

F. ScottFitzgeraldDie Liebe

des letztenTycoon

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonBurghartKlaußner

»Ian McEwan wagt das schwie-rige Kunst stück,

Wissenschaft undPolitik mit deftiger

Komödie zu ver- binden. Und es

ge lingt ihm großartig.«

Nick Cohen /The Guardian,

London

8 CD

Ian McEwanSolar

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonMario Adorf

»Joseph Roths letzteLebensphase mussrauschhaft in jeder

Hinsicht gewesensein. Die Legende

vom heiligen Trinkerliest sich wie die

Versöhnung mit demeigenen Schicksal.«

Süddeutsche Zeitung

1 CD

Joseph RothDie Legendevom heiligen

TrinkerErzählung

DiogenesHörbuch

Gelesen vonHelmut

Qualtinger

»Ein glänzender, umwerfend komi-

scher Kabarettist.« Alfred Polgar

»Das Pointen feuer-werk des Spotts lässt

die Gesellschaft inihrer ganzen Lächer-

lichkeit erstrahlen.« Frankfurter

Allgemeine Zeitung

1 CD

Das HelmutQualtinger

Hörbuch

Von Kaiser Franz Joseph zu Herrn Karl

Weltgeschichte in Pantoffeln

DiogenesHörbuch

Gelesen vonRufus Beck

»Nick ist ein Freund, wie man ihn sich

nur wünschen kann. Ein Freund

fürs Leben. Alt werden? Stillhal-ten? Ohne uns.«

Frankfurter Allgemeine

Sonntagszeitung

1 CD

Goscinny Sempé

Der kleine

im Zirkus

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DiogenesHörbuch

Gelesen vonRoger

Willemsen

Eine der berühmtes-ten Kindergeschich-

ten der Welt, vomAutor selbst für die

Kleinsten der Kleinenneu erzählt: »Jetzt istes mein Ehrgeiz, von

Kindern gelesen zuwerden, die zwischen

null und fünf Jahrealt sind.«

(Lewis Carroll)

1 CD

LewisCarrollDie

kleineAlice

Diogenes

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Datum/Unterschrift

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Serie

Tatjana Hauptmann

Im nächsten Magazin:

Schauspieler Bruno Ganz

Schauspielerin Catherine Deneuve

Klassik Mozart, Sinfonie Nr. 38, die »Prager«

Lieblingsessen (nichtsüß)Gefüllte Tomaten und Paprika

Roman Stendhal, Die Kartause von Parma

Erzählung Edgar Allan Poe, Der Untergang des Hauses Usher

Sachbuch Mark Mazower, Salonica, City of Ghosts

Lyrik Die Gedichte von Konstantinos Kavafis

Theaterstück Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame

Zeitung Süddeutsche Zeitung

Zeitschrift Lettre International

TV-Sender Um Gottes willen, keinen!

Radiosender France Culture

Film Luis Buñuel, Le charme discret de la bourgeoisie

Lieblingsessen (süß)Ekmek Kadayif

Lieblingsgetränk (nichtalkoholisch) Kaffee

Lieblingsgetränk (alkoholisch)Whisky, Wein und Raki

Technisches Gerät iPod

Kleidungsstück Jeans, Hemd und Pullover

Lebensretter Meine Tochter

Gesprächspartner Mo Grimeh, der ehemalige Geschäftsführer der Bank Lehman Brothers

Streitpartner Samis Gavriilidis, mein griechischer Verleger

Joker-Artikel: Was würden Sienoch mitnehmen? Auf eine Insel?Eine Angel mit Zubehör, was sonst?

Petros Markarisauf der einsamen Insel

Jeder kennt die Frage: »Welches Buch würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?« Wir haben Petros Markaris gefragt. Und um es ein wenig spannender (und bequemer) zu machen, durfte er mehr als nur ein Buch auf die Insel mitnehmen.

Der griechische Schriftsteller ist mit seinen Kriminalromanen um den Ermittler Kostas Charitos bekannt geworden. Gerade ist als Diogenes Taschenbuch sein Roman Die Kinderfrau erschienen, Kostas Charitos’ fünfter Fall.

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1Diogenes Magazin D

Amuse-Bouche

Sławomir Mrozek

Der NobelpreisSławomir Mrozek, der im Juni dieses Jahres seinen 80. Geburtstag feierte, war immer wiederals Kandidat für den Literatur-Nobelpreis im Gespräch. Der Literatur-Nobelpreis 2010 wird imOktober bekanntgegeben, zur Einstimmung hier eine Nobelpreis-Geschichte von Mrozek.

Ein Dichter, ein Nobelpreisträger,kam zu uns zu einer Begegnung

mit dem Publikum. Das war einegroße Ehre, weil es ein berühmterDichter war und wir eine kleine Stadtsind. Also gab es zahlreiche Anspra-chen und ein Orchester für den Emp-fang und danach ein Festessen im blu-mengeschmückten Saal.

Während des Festessens spürte derDichter das Bedürfnis, auf die Toilettezu gehen, und ging hinaus. Irgendwiekam er lange nicht zurück. Schließlichging der Bürgermeister persönlichhinaus, um nachzusehen, ob ihm nichtetwa übel geworden wäre.

Im Toilettenvorraum fand er dieKlosettfrau und den Nobelpreisträ-ger.

»Ich lasse ihn nicht rein!«, rief dieKlosettfrau dem Bürgermeister zu.»Er hat kein Kleingeld.«

»Aber gute Frau, er hat den Nobel-preis!«

Diogenes Taschenbuchdetebe 24014, 192 Seiten

Auch als Diogenes Hörbuch

Buchtipps

384 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06581-7

S¥awomirMro‡ek

Das Lebenfür Anfänger

Ein zeitloses ABCmit Zeichnungen von Chaval

Diogenes

S¥awomirMro‡ek

BalthasarAutobiographie

Diogenes

»Das hat er mir eben selber gesagt.Ich würde ihn ja sogar ohne Bezah-lung reinlassen, ein alter Mann, dahabe ich Mitleid. Aber nachdem er ge-standen hat, dass er diese Krankheithat, lass ich ihn niemals rein! Wasdenn, dass er mir die anderen Kundenansteckt? Wenn er den Nobel hat,dann soll er zum Arzt gehen und nichtin anständige Toiletten kommen.«

Es war nichts zu machen, und derNobelpreisträger musste in die Bü-sche gehen. Er sagte zwar, es macheihm nichts aus, aber er war wohl dochbeleidigt.

Als er abgereist war, kündigte mander Frau die Stellung. Jetzt arbeitet einjunger, gebildeter Mann mit Universi-tätsabschluss Kultur dort, belesen, erweiß, was Nobelpreis bedeutet.

Nur ist ungewiss, ob noch einmalirgendein Nobelpreisträger zu unskommen wird.•Aus dem Polnischen von Christa Vogel

S¥awomir Mro‡eks Stücke wie Tango und Stripteasewerden rund um den Globusgespielt, kein anderer Thea -terautor nach Samuel Beckettwurde so berühmt. Nunschrieb der Dramatiker vonWeltrang ein Buch über sein Leben. »Die Autobiographie eines der letzten wirklichen Huma-nis ten in der europäischen Literatur bietet Vergnügenund Lebensschule zugleich.« Hajo Steinert /Die Welt, Berlin

»Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst«,

so Goethe – wirklich hilf-reich ist das jedoch nicht.

S¥awomir Mro‡ek lässt uns dagegen nicht im Stich.

In diesem Buch werden allelebenswichtigen Themen

abgehandelt, von A wie Abwechslung, Anarchie und

Angst über Fortschritt,Frauen, Freiheit, Rente undRevolution bis Tod, Touris-mus und Wahrheit. Mro‡ek

weiß immer Rat.

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Editorial

2 Diogenes MagazinD

Ersatz für das leidige

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Diesmal eine Bildergeschichte von Olaf Gul bransson:

Der Dichter und die Kritiker.

Paulo Coelho 38Seit dem Erscheinen des Alchimistenist er einer der meistgelesenen Auto-ren der Welt – doch wer ist Paulo Coelho? Jetzt ist die erste große Biographie des Brasilianers erschie-nen, aus der ersichtlich wird: PauloCoelhos Leben ist wie ein Roman.

Die Schachspieler 36Eine Erzählung aus dem NachlassFriedrich Dürrenmatt

Der letzte Sommer 56Eine Erzählung von Bernhard Schlink. Mit Bildern von Anna Keel.

Amuse-Bouche 1Schaufenster 12Impressum / Vorschaufenster 86

Zum Lesen

Schweiz

Tunnelgeschichten 16Rolf Dobelli erzählt vom längs ten Bahntunnel der Welt, der seit 1999 in der Schweiz entsteht, und von seinem neuen Roman Massimo Marini.Und: Immer wenn Donna Leon durch den Gotthardtunnel fährt, regt sich ihre kriminellePhantasie.

Spannende Schweiz 28Drei legendäre SchweizerKommissäre: ihre Steckbriefe.

Konolfingen 31In Dürrenmatts Geburtsort gibt es seit 2008 ein Kirchen - fenster nach einer Dürrenmatt- Zeich nung. Charlotte Kerr Dürrenmatt erzählt, wie es dazu kam.

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3Diogenes Magazin D

InhaltDiogenes Magazin Nr. 5

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Lesefrüchtchen 15

Literarisches Kochen 44Mit Ian McEwan

Top 10 51Deutsche Wörter von Joey Goebel

Owl’s Eye 85Wenn der Liebste keine Bücher liebt

Denken mit H. D. Thoreau 80

Wer schreibt hier? 87Gewinnspiel

Mag ich – Mag ich nicht 88John Irving

Die einsame Insel 89Petros Markaris

Ingrid Noll 4

Rolf Dobelli 16

Jürgen Carl 49Chef-Concierge des Frankfurter Hofs und leidenschaftlicher Leser

Bernhard Schlink 52

Anne Goscinny 72René Goscinnys Tochter über die Kinoverfilmung Der kleine NickJean-Jacques Sempé 76über den kleinen Nick

Arnon Grünberg 79

Hansjörg Schneider 26Hansjörg Schneider über Kriminalro-mane und seinen Kommissär Hunkeler.

Martin Suter 82Martin Suter erhielt den Swift-Preisfür Wirtschaftssatire 2010. Hoch verdient – die Dankesrede, die Sutergenial in eine Business Class-Kolumne verwandelte, beweist es.

Hotel Frankfurter Hof 46Eine legendäre literarische Adresse – nicht nur während der Frankfurter Buchmesse

Bernhard Schlink 52Ein Interview mit Tilman Krause zumErscheinen von Bernhard Schlinks Erzählband Sommerlügen. Dazu dieErzählung Der letzte Sommer.

Ingrid Noll 4Sie ist eine der erfolgreichsten deut-schen Erzählerinnen – und zudemeine sympathische Gesprächs part-nerin, wie dieses Interview zeigt.

Interviews

Rubriken

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5Diogenes Magazin D

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Titelgeschichte

Ein Interview mit Ingrid Noll

Ich werde mich bemühen, wenigs tens schlappe hundert zu werden

Das schönste Geschenk zu ihrem 75. Geburtstag Ende September hat Ingrid Noll ihren Fansgemacht: Soeben ist ihr neuer Roman ›Ehrenwort‹ erschienen, eine bitterböse Familien- undKriminalkomödie über drei Generationen unter einem Dach. Über ihre eigene Familie, Problemeim Alter und ihre späte Karriere als Schriftstellerin spricht Ingrid Noll in diesem Interview.

Diogenes Magazin: Sie haben erstmit 54 Ihren ersten Roman geschrie-ben, warum so spät?Ingrid Noll: Leider hatte ich mich vor-her nicht getraut, wollte mich nicht lächerlich machen. Abgesehen davonhabe ich jahrelang in der Arztpraxismeines Mannes mitgearbeitet, dreiKinder aufgezogen, gekocht, den Gar-ten bearbeitet, im Chor gesungen,mich im Elternbeirat engagiert undähnliche Beschäftigungen – nicht un-gern – ausgeübt. Ich hatte nur wenigZeit und Ruhe zum Lesen und Schrei-ben, vor allem kein eigenes Zimmer.Wie haben Ihr Mann und Ihre Kin-der damals darauf reagiert?Verblüfft.Erinnern Sie sich noch daran, wie derRoman den Weg zum Diogenes Ver-lag gefunden hat?

schreiben und wahnsinnig viel Portoausgeben? Ich beschloss, es erst ein-mal bei meinem Lieblingsverlag zuversuchen und bei Rücksendung nachund nach bei der Konkurrenz anzu-klopfen. Das Klinkenputzen konnte

So etwas vergisst man nicht. Als ah-nungsloses Greenhorn schrieb ich mirbeim Buchhändler zehn Verlagsadres-sen heraus. Zu Hause wurde ich aller-dings etwas mutlos. Zehnmal das Manuskript kopieren, zehn Briefe

ich mir zum Glück ersparen, denn derDiogenes Verlag reagierte prompt undpositiv.Wie war der erste Besuch im Verlag,das erste Treffen (oder Telefonat) mitdem Diogenes Verleger Daniel Keel?Beim ersten Telefongespräch hatte ichkeine Ahnung, wer dieser Herr Keelüberhaupt war. Er erklärte es mir sehrcharmant und geduldig, dann plauder-ten wir fast eine Stunde lang. AmEnde wussten wir das Wichtigste von-einander, und ich hoffe sehr, dassmeine Sympathie ein wenig erwidertwird. Was haben Sie sich beim Beruf desSchriftstellers ganz anders vorge-stellt?Nie hätte ich gedacht, dass Autoreneinem Wanderzirkus angehören undtingeln gehen wie Straßenmusikanten.

Nie hätte ich gedacht,dass Autoren einem

Wanderzirkus angehörenund tingeln gehen wieStraßenmusikanten.

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6 Diogenes MagazinD

In den Gästebüchern vieler Hotelsentdeckt man mit schöner Regelmä-ßigkeit die Geistesblitze der Kollegen.Ebenso hätte ich nicht so viel Büro-und Pressearbeit erwartet. Sie haben bis heute unglaublich vieleLesungen in Buchhandlungen undBibliotheken gemacht, warum? Wel-ches waren die schönsten, welches dieanstrengendsten Lesungen?Schreiben ist ein einsames Geschäft,der Kontakt mit meinen Lesern ist mirdaher wichtig. Schön ist es immer,wenn das Publikum an den richtigenStellen lacht oder überrascht reagiert.Anstrengend wird es, wenn in der ers -ten Reihe ein schläfriger Zuhörer sitzt,den man selbst mit der Peitsche nichtaufwecken kann. Allerdings gibt esMenschen, die von Geburt an einemissmutige Physiognomie haben, sichaber trotzdem amüsieren.Welche Frage hat man Ihnen in In-terviews am häufigsten gestellt? Ob mein Mann noch lebt …Welche Frage sonderbarerweise nie?Welche Mordversuche er bereits un-ternommen hat.

Der Begleitbrief zum Manuskript von ›Der Hahn ist tot‹

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7Diogenes Magazin D

Wie sieht Ihr Alltag aus?Sehr normal. Ich stehe meistens frühauf, lese im Morgenrock die Zeitungund trinke dabei Kaffee. Ab neun Uhrsitze ich oft am Schreibtisch, um elftrifft man mich vielleicht im Super-markt, von eins bis zwei in der Waage-rechten, ab drei wieder im Arbeits-zimmer. Am späten Nachmittag wirdgekocht und gegessen, danach spielenmein Mann und ich gern eine PartieScrabble. Allerdings werden diese Gewohnheiten ständig über Bord ge-worfen, wenn zum Beispiel Besuchkommt. Ein Nachmittag pro Wochegehört meinen Enkelkindern. In derFreizeit lese ich natürlich gern. Neben-her koche ich, bügle, fülle Wasch- undSpülmaschine, lasse dabei den Kopfleerlaufen und fühle mich durch pro-fane Arbeit wieder geerdet.Welche Schreibrituale haben Sie?Ich brauche viel Licht, einen bequemenStuhl, einen tadellosen Bildschirmund nicht zu viele Unterbrechungen.Aber ich bin keine Zwangsneurotike-rin, die scheitert, wenn nicht alle Blei-stifte gespitzt und nach Größe geord-net parat liegen.Wer in Ihrer Familie liest Ihre Bü-cher als Erster?Mein Mann.Hat Ihre Mutter Ihre Bücher gele-sen?

Meine Mutter konnte nur meine bei-den letzten Bücher nicht mehr lesen.Ihre Kommentare waren die einerstolzen Mama: »Sehr niedlich!«Welche Leserrückmeldung hat Siebesonders gefreut, welche besondersirritiert?Es freut mich, wenn Leser behaupten,dass ihnen meine erfundenen Protago-nisten leibhaftig über den Weg gelau-fen sind. Ein altes Tantchen kränktemich mit den Worten: »Pfui, wiekannst du nur so etwas Abscheulichesschreiben!«Woher nehmen Sie die Inspirationfür Ihre Geschichten, Ihre Roman -figuren?Im Laufe meines Lebens habe ich vieleMenschen kennengelernt, und dieserProzess ist noch längst nicht abge-schlossen. Ich beobachte mit Leiden-schaft, ich phantasiere gern und musszuweilen nur eine halbe Stunde ineiner Hotelhalle sitzen, um mir einenneuen Typ aus arglosen Passanten zu-sammenbasteln zu können. Ihre Mutter ist 106 Jahre alt gewor-den, Sie haben sie 16 Jahre lang zuHause gepflegt. Wie kam es dazu?Sind Ihre Erfahrungen in Ihrenneuen Roman eingeflossen?Nun, ich musste meine Mutter an-fangs überhaupt nicht pflegen. Als siemit 90 Jahren zu uns zog, war sie noch

Ingrid Noll mit ihrer Mutter GertrudFoto: © Isolde Ohlbaum

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8 Diogenes MagazinD

und abends eine Altenpflegerin zumWaschen, Baden, Windeln, An- undAusziehen. Wie sah der Alltag aus?Morgens brachte ich ihr Frühstückund Zahnprothese ans Bett. Gegenneun war sie damit fertig und studiertedie Börsennachrichten, dann kam diePflegerin. Gewaschen und im Fleece-Anzug saß meine Mutter schließlichim Sessel und löste Kreuzworträtsel.Zum Mittagessen servierte ich ihr das

Tablett am Tisch. Am Ende ihres Le-bens musste ich sie allerdings oft füt-tern. Nach dem Essen brachten wir siewieder zu Bett, wo sie bis drei UhrSiesta hielt. Danach bekam sie Kaffeeund etwas Süßes, um sechs ein Butter-brot, ein Glas Milch und Obst.Schließlich erschien wieder eine Pfle-gerin und machte sie bettfertig. Wirlegten ihr die Fernbedienung und dieKopfhörer in Reichweite und ließensie allein. Bevor ich selbst ins Bettging, sah ich noch einmal nach meinerMutter. Meistens schlief sie bei laufen-dem Fernseher, so dass ich ihr denKopfhörer abnahm und das Gerät aus-schaltete. Alle sechs Wochen schnittich ihr die Haare.

Gern teilten wir ihr mit, was esNeues in der Familie gab, schriebenihr die Namen der Urenkel auf undzeigten Fotos. Notgedrungen beant-worteten wir auch die Anfragen derKrankenkasse und andere Post. Gele-gentlich konnte ich ihr auch von mei-nen Reisen etwas Interessantes erzäh-len: Zum Beispiel hatte ich einmal eineLesung im Geburtsort meiner Mutterund wohnte im Haus ihrer Eltern, wo sie ihre ersten Lebensjahre verbrachthatte. Sie freute sich sehr, dass dieschöne Jugendstilvilla, 1900 von mei-nen Großeltern erbaut, jetzt im Besitzeiner sympathischen Familie ist. Alleswurde erhalten und behutsam restau-riert und modernisiert.Welche Probleme gab es?Immer wenn ich unterwegs war, hatmein Mann für meine Mutter gesorgt,und zwar vorbildlich und sehr liebe-voll. Aber wir konnten das Haus nichtallzu lange gemeinsam verlassen; derUrlaub musste langfristig geplant wer-den, damit eines meiner Geschwisterins Haus kam und sich um unsereMutter kümmerte. Spontanes Weg-fahren war nicht möglich. Insofernwaren wir in der eigenen Freiheitstark beschnitten.Worin besteht der Unterschied zwi-schen dem Aufziehen eines Klein-kindes und der Pflege eines betagtenMenschen?Ein Kleinkind macht ständig Fort-schritte, bei sehr alten Menschen ist

Meiner Mutter habe ichmit der Pudding-Kur das Leben gerettet.

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in bester Verfassung, arbeitete im Gar-ten, fuhr mit dem Bus zur Bank,strickte und las viel. Sie verlor erst ihreSelbständigkeit, als sie sich das Beinbrach, operiert wurde und nur nochwenige Schritte – mit Hilfe – laufenkonnte. Natürlich habe ich den Ver-lust ihrer Vitalität aus nächster Nähemiterlebt und konnte daher authen -tische Erfahrungen in meinen Romaneinflechten. Wie war Ihr Verhältnis zu IhrerMutter, bevor Sie sie zu sich nachHause genommen haben und wäh-rend dieser 16 Jahre?Im Grunde war meine Mutter eineLady der alten Schule, die sich nichtgehenließ, ein »standhafter Zinnsol-dat«, wie ihre Enkel sagten. Als Kindhätte ich mir vielleicht etwas mehrherzliche Zuwendung gewünscht, aberals Erwachsene wusste ich ihre klugeZurückhaltung und Diskretion sehrzu schätzen. Natürlich hat sich unserVerhältnis geändert, als sie immerhilfsbedürftiger wurde. Aber meinRespekt, wie sie sich ohne Jammern inihr Schicksal fügte, ist riesengroß. Undmeine Dankbarkeit und Zuneigungebenso.Wie haben Sie sich um sie geküm-mert? Hatten Sie Hilfe von Pfle-gern?Meine Mutter hat selbst entschieden,dass sie die peinlichen Angelegenhei-ten nicht den nächsten Angehörigenzumuten wollte. Also kam morgens

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9Diogenes Magazin D

das Gegenteil der Fall. Bei einem Er-wachsenen neigt man eher dazu, un-geduldig oder gar vorwurfsvoll zu rea-gieren, wenn etwas partout nicht mehrklappen will. Wenn zum Beispiel dasBett schon wieder neu bezogen wer-den muss und so weiter.In Ihrem Roman heißt es einmal:»Nach über fünfzig Ehejahrenschweigen sich Paare sowieso die meis te Zeit an, immerhin besser alsStreit.« Sie sind über fünfzig Jahreverheiratet, was ist das GeheimnisIhrer glücklichen Ehe?Wir schweigen uns eben nicht an, son-dern reden oder diskutieren viel mit-einander. Wichtig ist, dass wir Platz imHaus haben und uns nicht 24 Stundentäglich auf die Nerven gehen müssen.Sie haben Germanistik und Kunst-geschichte studiert, das Studiumaber abgebrochen, um eine Familiezu gründen. War das im Rückblickdie richtige Entscheidung?Es war natürlich Drückebergerei undnicht empfehlenswert. Eine der Figuren in Ihrem Romanist Buchhändlerin und mit einemIngenieur verheiratet, hat aber eineAffäre mit einem literaturinteres-sierten Lehrer. Sind gemeinsame In-teressen für eine Beziehung wichtig?Ganz ohne gemeinsame Interessenwird eine Beziehung schal. Aber na-türlich muss jeder auch eigene Schwer-punkte setzen. Wenn der Mann Fuß-ballfan ist und die Frau gern in dieOper geht, dann sollten sich beideüber die Eigenständigkeit des Partnersfreuen und nicht missionarisch auf ihneinwirken.Im Roman wirft der Großvater mitlateinischen Sprichwörtern um sichund irritiert damit seine Umwelt.Haben Sie Latein gelernt?Ich habe zwar das große Latinum (nolens volens), war aber faul undschlecht in diesem Fach.Sie beschreiben in Ihrem Roman sehrergreifend (und witzig) das soge-nannte Durchgangssyndrom. HabenSie das bei einem Verwandten erlebt?Bei meiner eigenen Mutter kam es ge-legentlich zu Halluzinationen. DieVerwirrung alter Menschen kann ko-

misch sein, aber auch erschütterndund tragisch. Man sollte nicht versu-chen, ihnen die bedrohlichen Wahnvor-stellungen einfach auszureden, dennsie sind für den Kranken absolut reell.Aber man kann trösten und versichern,dass sie beschützt werden und ihnennichts Schlimmes passieren wird. Im Roman ist Max »der Wunschgleichaltriger Kommilitonen, mög-lichst früh aus dem elterlichen Hausauszuziehen« fremd. Wie war das beiIhren Kindern?Unsere Söhne sind früh zu ihren älte-ren Freundinnen übergelaufen, kamenaber als Asylanten zurück, wenn dieLiebe erloschen war. Auch die Tochterging zum Studieren nach Berlin.Glücklicherweise waren alle drei keineNesthocker, sonst hätte ich immernoch kein eigenes Zimmer.Wir oft sehen Sie Ihre Kinder, IhreEnkelkinder?Ein- bis zweimal pro Woche.Max pflegt seinen Großvater nachdessen Sturz mit Pudding gesund –ist das ein geheimes Familienrezept?Meiner Mutter, die nach dem Kran-kenhausaufenthalt das Essen verwei-gerte, habe ich wohl mit der Pudding-Kur das Leben gerettet.Andersherum versuchen die Elternvon Max, den Großvater mit rabia-ten Methoden loszuwerden, zumBeispiel mit der Stolpermethode.Wie kamen Sie auf die Idee?Liegt doch auf der Hand: Hinfälligkommt von hinfallen.Wie können Sie sich erklären, dassalte Leute von überfordertem Heim-personal gequält oder sogar umge-bracht werden?Nicht jeder ist für diesen Beruf geeig-net. Es gehört viel Geduld, Empathieund menschliche Größe dazu; eigeneBedürfnisse müssen oft zurückgestelltwerden. Lassen sich Frauen leichter betreuenals Männer?Es ist möglich, dass Frauen besser mitdem demütigenden Verlust der Selbst-bestimmtheit fertigwerden. Könnten Sie sich vorstellen, IhrenLebensabend in einem Altenheim zuverbringen?

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Angeblich existieren Gnadenhöfe fürZirkuspferde; in Wien gibt es zumBeispiel ein Heim für alte Künstler. Soetwas könnte doch ganz lustig sein.Ihre Mutter ist 106 Jahre alt gewor-den, Ihre Großmutter 105, Sie wer-den am 29. September 75 …Leider bin ich – als notorische Schreib-tischtäterin – längst nicht so fit, wie esmeine schlanke, asketische Mutterwar. Aber ich werde mich bemühen,wenigstens schlappe hundert zu wer-den.Welche Kriminalromane mögen Sie?Als ich vor vielen Jahren PatriciaHighsmith entdeckte, war ich sofortbegeistert. Unter meinen deutschspra-chigen Kollegen und Kolleginnenhabe ich ebenfalls Favoriten, neuer-dings auch Hansjörg Schneider mitseinen kauzigen Hunkeler-Romanen. In Ihrem neuen Roman gibt es weni-ger Tote als in den früheren, warum?Zuweilen bin ich des Mordens müde,man wirft mir bereits Altersmilde vor.Doch der Tod gehört zum Leben. ImÜbrigen sind die Leichen nicht dieHauptsache in meinen Büchern, son-

dern eher eine surreale Ausschmü -ckung. Oder ein Gedankenspiel: Waswäre, wenn böse Gedanken in Tatenumgesetzt würden?Sie sind mit einem Arzt verheiratet,und auch Ihr Vater war Arzt –waren Krankheit und Tod zu Hauseimmer schon ein Thema?Mein Vater sprach zuweilen beim Mit-tagessen über den Verlauf einer Ope-ration, mein Mann konnte auchabends die Sorgen um seine Patientennicht immer ausblenden. Wie viele Ideen zu weiteren Roma-nen haben Sie noch?Im Vorratsschrank liegt noch ein vol-ler Sack. Es geht mir ja um mensch -liche Verhaltensformen, und da gibt esunendlich viele Variationen und Mög-lichkeiten.Welchen Traum möchten Sie sichnoch unbedingt erfüllen?Anlässlich unserer Goldenen Hoch-zeit hatten wir unsere Kinder undEnkel zu einem Urlaub nach Apulieneingeladen. Es war traumhaft schönund seltsamerweise absolut harmo-nisch, so dass ich es in ähnlicher Form

gern wiederholen möchte. Wenn mankleinen Kindern beim selbstvergesse-nen, kreativen Spiel zuschaut, ist eseine wunderbare Therapie gegen dasAltwerden.•kam

336 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06760-6

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Schaufenster

Als vor zwei Jahren der TV-VierteilerKrieg und Frieden in Deutschlandzum Quotenhit wurde, stieg die Nach-frage nach der litera rischen Vorlage,und auch die Diogenes Ausgabe vonTolstois Opus magnum verkaufte sichstärker als sonst.

Ob auch alle die 2122 Seiten gele-sen haben? Die Freundin einer Dio-genes Lektorin jedenfalls bekannteganz freimütig, die langen Beschrei-bungen der Kriegsszenen übersprun-gen zu haben. Was ihr gutes Recht ist,denn laut Daniel Pennac gehört zuden unantastbaren Rechten des Lesersunter anderem das Recht, Seiten zuüberblättern. Die Leserin, die die Schlacht szenen übersprang, hat genaugenommen nicht Tolstois Krieg undFrieden gelesen, sondern den RomanFrieden.

Jetzt gibt es einen neuen Grund,Tolstoi vollständig zu lesen – mit oderohne Schlachten: Am 20. Novemberwird Tolstois 100. Todestag begangen.

Übrigens kann man den feinen Un-terschied zwischen amerikanischemund britischem Humor gut an einemWitz erkennen, der mit Tolstois Kriegund Frieden zu tun hat.

Sehr bekannt ist Woody AllensScherz: »Ich habe einen Schnelllese-kurs gemacht und danach Krieg undFrieden in zwanzig Minuten gelesen.Es spielt in Russland.«

Und kennen Sie die Variante desbritischen Comedians Tim Vine? »Ich

Eine alte Traditon im Diogenes Verlagist die Verleihung der Goldenen Dio-genes Eule an Autoren, die entwederüber 1 Million Bücher verkauft habenoder ihr 25-jähriges Verlagsjubiläumfeiern. Vor kurzem wurden so Hart-mut Lange (links) und Ian McEwanausgezeichnet – in beiden Fällen über-

gab Winfried Stephan(Mitglied der Geschäfts-leitung / Programm) imNamen der DiogenesVerleger Daniel Keel und

Rudolf C. Bettschart die Auszeich-nung, die nach einer Zeichnung vonTomi Ungerer gestaltet ist.

Daniel Keel, Karikatur von

Federico Fellini

Diogenes Gründer und Verleger Da-niel Keel wurde in Anerkennung sei-ner verlegerischen Arbeit zum›Schweizer Buchmenschen des Jahres2010‹ gewählt. Die FachzeitschriftSchweizer Buchhandel vergab denPreis in Zusammenarbeit mit demSchweizerischen Buchhändler- undVerlegerverband (SBVV) und dem Schweizer Buchzentrum (BZ) zum ersten Mal. Diogenes Autor Urs Widmer hielt die Laudatio, die im nächsten Diogenes Magazin zu lesen sein wird.

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Verleger des Jahres

Krieg und Frieden

habe Schnelllesen gelernt. Ich kannKrieg und Frieden in zwei Sekundenlesen. Es sind zwar nur drei Wörter,aber immerhin.«

Tim Vine stellte übrigens 2004 denGuinness-Rekord für die meistenWitze auf, die ein Mensch in einerStunde erzählen kann: 499 waren esan der Zahl. Leider hielt Tim VinesRekord nur bis Mai 2005, als der Aus tralier Anthony »Lehmo« Leh-mann ganze 549 erzählte.

Goldene Eulen

Vier Bände in Kassettedetebe 21970, 2122 Seiten

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Wissen Sie, welche Straßen in Paris alserste asphaltiert wurden? Die Straßenim Quartier Latin, dem Studenten-viertel um die Sorbonne. Nach den68er-Unruhen wollte man rund umdie Universität keineStraßen mit Pflas ter -steinen mehr (wahr-scheinlich fehlten diemeisten sowieso).

Als es 1968 nochhieß: Pflasterstein in dereinen Hand, Buch inder anderen, gehörteneben Mao und Marxbesonders ein Buch zurPflichtausrüstung derJugend: H. D. ThoreausÜber die Pflicht zumUngehorsam gegen denStaat. Und das, obwohlThoreaus Essay bereits1849 geschrieben wurde.

Doch die Kernfragender Demokratie, dieThoreau darin stellte,sind bis heute aktuell:Darf eine Mehrheit überRecht und Unrecht, ja sogar über Gewis-sensfragen entscheiden?Darf der Bürger auchnur für einen Augen-blick und im gerings ten

Grad sein Gewissen dem Gesetzgeberüberlassen?

Kühn reklamierte Thoreau, ebenerst dreißig geworden, ein individuel-les Gewissensrecht gegen ungerechte

Mehr heitsentscheidun-gen: »Wenn das Gesetzdich zum Arm des Unrechts macht, dann,sage ich, brich das Ge-setz.« Oder: »Wir soll-ten erst Menschen sein,und danach Unterta-nen.«

»Mahatma Ghandiverteilte die Schrift wieein Lehrbuch unterseine Schüler; Anhän-ger der amerikanischenBürgerrechtsbewegungtrugen sie im Marschge-päck», so Der Spiegel.

Jetzt ist das bahn -brechende Brevier füralle Unangepassten undVerweigerer endlichwieder lieferbar, als»kleines weißes« Dio-genes Taschenbuch undauch als Diogenes Hör-buch – gelesen vom le-gendären Helmut Qual-tinger.

Noch nicht mal zwei Jahre alt undschon einen Preis gewonnen. Das Dio-genes Magazin wurde mit dem ›Bestof Corporate Publishing Award 2010‹in der Kategorie Business to ClientRubrik Kultur mit Silber ausgezeich-net.

Mit über 600 eingereichten Publi-kationen ist der BCP Europas größterWettbewerb für Unternehmenspubli-kationen.

»Eigentlich sollte ich mich freuen – Drittbester im Brummen –

aber trotzdem …«

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Diogenes Taschenbuchdetebe 20063, 96 Seiten

Auch als Hörbuch

H.D.ThoreauÜber die

Pflicht zum Ungehorsam

gegen den Staat

und andere Essays

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Die Phantasie an die Macht! In eigener Sache

Helmut Qualtinger,Karikatur von Friedrich

Dürrenmatt

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Auch Bücher haben ihre Geheimnisse,wie dieser Leserbrief zeigt:

Etwas Merkwürdiges ist mir pas-siert, und ich möchte Ihnen kurz dar-über berichten. Im Buch Kurz undbündig las ich auf Seite 17 Kurt Tu-cholskys Kurzgeschichte Der Floh,die mit dem Satz endet: »Als der Briefankam, war einer drin.«

Unter diesem Satz sah man linksam Seitenrand einen kleinen längli-chen Punkt, der sich mit der Lupe be-trachtet als winzig kleiner Floh her-ausstellte, es war zumindest ein Insektmit sechs Beinen. Ich erzählte meinerFrau kurz die Geschichte und zeigteihr den kleinen gedruck-ten Punkt, den auch siemit der Lupe als Flohidentifizierte.Einige Stunden später –ich hatte inzwischen indem Buch weitergele-sen – wollte ich mir den Floh mit einer stär-keren Lupe noch malgenauer ansehen undkonnte meinen Augennicht trauen: Der Flohwar weg. Nicht mehr zusehen, auch mit der star-ken Lupe nicht!

War das alles eine Sinnestäuschung?Oder ist das ein in das Buch eingear-beiteter Trick?

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich aufklären könnten.

Mit freundlichen GrüßenRudolf SchwanNeuenstadt am Kocher (D)

Leider konnten wir das Räts el auch nicht lösen.Ein Trick war es jeden-falls nicht, und da das Corpus Delictinicht mehr vorhanden war, kann auchnicht überprüft werden, ob es sich viel-leicht um einen Bestimmungsfehlerhandelte und der vermeintliche Flohnicht gar eine Loriot-Steinlaus war.

Zum Verständnis hier Kurt Tuchols kysGeschichte Der Floh aus dem Dioge-nes Taschenbuch Kurz und bündig.Die schnellsten Geschichten der Welt.

Im Département du Gard – ganz rich-tig, da, wo Nîmes liegt und der Pontdu Gard: im südlichen Frankreich –,da saß in einem Postbüro ein älteresFräulein als Beamtin, die hatte eineböse Angewohnheit: Sie machte einbisschen die Briefe auf und las sie. Das wusste alle Welt. Aber wie das soin Frankreich geht: Concierge, Tele-fon und Post, das sind geheiligte Insti-tutionen, und daran kann man schon

rühren, aber daran darfman nicht rühren, undso tut es denn auch kei-ner.

Das Fräulein also lasdie Briefe und bereitetemit ihren Indiskretio-nen den Leuten man-chen Kummer.

Im Départementwohnte auf einem schö-nen Schlosse ein klugerGraf. Grafen sindmanchmal klug, inFrankreich. Und dieserGraf tat eines Tages

Folgendes: Er bestellte sich einen Ge-richtsvollzieher auf das Schloss undschrieb in seiner Gegenwart an einenFreund:Lieber Freund!Da ich weiß, dass das PostfräuleinEmilie Dupont dauernd unsre Briefe

öffnet und sie liest, weilsie vor lauter Neugierplatzt, so sende ich Dirinliegend, um ihr ein-mal das Handwerk zulegen, einen lebendigenFloh.

Mit vielen schönen Grüßen, Graf KoksUnd diesen Brief verschloss er in Ge-genwart des Gerichtsvollziehers. Erlegte aber keinen Floh hinein.Als der Brief ankam, war einer drin.

Buchgeschichte

Kurz undbündigDie schnellsten

Geschichten der Weltvon Anton ¢echov, Franz Kafka,

Robert Walser, F. Scott Fitzgerald, W. Somerset Maugham, Bertolt Brecht,Kurt Tucholsky, Loriot, Doris Dörrie,

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Diogenes Taschenbuchdetebe 23680, 224 Seiten

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Doppelheft 736 / 737September / Oktober 2010€ 21,90 / sFr 34,90 / € 22,60 (A)ISBN 978-3-608-97128-6

Erscheint Mitte September

SONDERHEFT MERKURDEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR EUROPÄISCHES DENKEN

HERAUSGEGEBEN VON KARL HEINZ BOHRER UND KURT SCHEEL

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DIE GRENZEN DER WIRKSAMKEITDES STAATS

Über Freiheit und Paternalismus

zu bestimmen«

»Ideen zu einem Versuch

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Und warum braucht der deutsche Mensch besonders viel?

Wo liegen im Widerstreit von Freiheit und Paternalismus, mit Wilhelm von Humboldt gesprochen, „Die Grenzen der Wirksamkeit des Staats“?

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wieder fast das volle Menü, das neueBuch eines Kollegen nehme ich nichtaus der Mappe, ich komme nicht dazuund weiß Stunden lang nicht, was tun,bis früher oder später (meistens überLabrador) eine Hostess kommt undsich ein Autogramm von FriedrichDürrenmatt wünscht.«Max Frisch, ›Entwürfe zu einem drittenTagebuch‹. Herausgegeben von Petervon Matt, Suhrkamp Verlag

»Abmachungen mit sich selbst sind Wi-derspiegelungen der Erwartungen, diedie Umgebung an einen hat.«Aus: Connie Palmen, ›Luzifer‹(Diogenes Taschenbuch 24015)Eingeschickt von Jörg Reinhardt, Berlin

»War es Unkenntnis oder Unschuld,dass er sich einbildete, das immer ra-schere Pochen ihres Herzens an seinemArm sei Erregung, die weitaufgerisse-nen Augen, die winzigen Schweißper-len auf ihrer Oberlippe, die Schwierig-keiten, die sie hatte, ihre Zunge zubewegen, um ihre Worte zu wiederho-len – das alles gelte ihm? Er neigte sichnäher zu ihr. Sie wisperte im denkbarleisesten Flüsterton. Ihre Lippen streif-ten sein Ohr, die Silben klangen pelzig.Er schüttelte den Kopf. Er hörte, wiesich ihre Zunge löste und es noch ein-

Schicken Sie uns bitte Ihre Lieblingssätze aus einem Diogenes Buch,

eine Auswahl veröffentlichen wir im nächsten

Diogenes Magazin. Bitte mailen an:

[email protected] oder auf einer Postkarte an:

Diogenes Magazin Sprecherstr. 8

8032 Zürich, Schweiz

mal versuchte. Endlich hörte er sie sagen:›Da ist jemand im Schrank.‹«Aus: Ian McEwan, ›Unschuldige‹(Diogenes Taschenbuch 22579)Eingeschickt von Manfred Röllinghoff,Aschaffenburg

»Wenn Egon erzählt, drückt einem,während man wiehert vor Vergnügen,zuweilen eine kalte nasse Hand innendas Herz zusammen. Ich glaube, er sel-ber will sich immer wieder als ein heite-rer oberflächlicher Egon sehen, umnicht von seiner eigenen Lava verschlun-gen zu werden. Er bückt sich beim Wan-dern, um eine Raupe in Sicherheit zubringen. Aber stell einen Lastwagen mitNitroglyzerin vor die Tür, und er balgtsich darum, ihn über Schottwerwege indie Berge fahren zu dürfen.«Aus: Urs Widmer, ›Liebesnacht‹ (Diogenes Taschenbuch 21171)Eingeschickt von Bärbel Lieb

»Travel, trouble, music, art /A kiss, a frock, a rhyme – /I never said they feed my heart, /But still they pass my time.«Dorothy Parker

»Aufgabe des Menschen: Steuermannseines Narrenschiffes zu sein.«Egon Friedell, ›Steinbruch‹

»Das Leben ist ein Labyrinth, in demwir den falschen Weg einschlagen,bevor wir laufen gelernt haben.«Palinurus, ›Das ruhelose Grab‹

»Einen Satz, den ich nie wieder hörenmöchte: ›Und so ernenne ich euch zuMann und Frau.‹« Meir Shalev in einem Fragebogen im›Tagesspiegel‹, Berlin

»Wenn man mir die Kamera wegnimmt,dann habe ich noch immer einen Blei-stift. Und wenn man mir das Papierwegnimmt, dann schreibe ich eine Ge-schichte auf diese Tischdecke.« Doris Dörrie in einem Interview mitdem Magazin ›Neon‹

»Ich fand es schon als Kind einzigartig:Man schreibt etwas, und jemand ande-res kann es deuten. Zauberhaft.«Ingrid Noll in einem Interview mit der›Zeit‹

»Die meisten lesen gern über das, wassie schon kennen, und es gibt sogar einPublikum für das Wetter von gestern.«Nancy Mitford

»Nach der Pass-Kontrolle und derDurchleuchtung (ich zeige die beidenDunhill-Dosen im Voraus und werdenur selten nach Waffen abgetastet) dasWarten in den Kunstledersesseln. End-lich ist es so weit, FASTEN YOUR SEATBELT, es kommt die Zeit für Leit-artikel, dazu das Bedürfnis nach einemWhiskey, aber wir stehen noch auf derPiste, das Abheben von unserer Erde istseit Jahrzehnten keine Sensation mehr,und ich lese dabei. Wie oft im Jahr wirdmir die gelbe Schwimmweste vorge-führt? Wider alle Vorsätze verfuttere ich

»Wenn du vieles überflogen hast, nimm dir täglich ein

Wort heraus. Ich tue das auch. Aus dem, was ich lese,

greife ich mir einen Spruch heraus.« Seneca

Lesefrüchtchen

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Diogenes Magazin: Die HauptfigurIhres neuen Romans Massimo Ma-rini ist, wie man in der Schweiz sagt,ein Secondo. Was ist das?Rolf Dobelli: Das sind Kinder vonEinwanderern, die hier geboren undaufgewachsen sind. In meiner Jugendwaren dies vorwiegend Kinder italie-nischer Eltern – wie Massimo Marini.Der Begriff ist in der Schweiz durch-aus positiv besetzt – auch von den Se-condos selbst. Sie fühlen sich nichtverloren im Niemandsland zwischenden Kulturen, wie man ja annehmenkönnte, sondern beiden Kulturen zu-gehörig. Zu Hause sind sie ganz Italie-ner; dort wird italienisch gesprochen,gegessen, gebetet. In der Schule undim Alltag sind sie Schweizer. WirSchweizer Kinder haben die Secondosdarum – auch wenn wir das nicht zu-geben wollten – stets ein bisschen be-neidet. Sie waren für uns der ersteKontakt mit einer anderen Welt. Siewaren Underdogs, aber sie hatten

Emmenbrücke, ein Vorort von Lu-zern, ist meine Heimat. Dort bin ichaufgewachsen. Manche sprechen vonder »Bronx der Schweiz«. Es ist dieSchweizer Gemeinde mit dem höchs -ten Ausländeranteil. Unsere Schulewar voller Secondos. Auf den Straßenhörte man Italienisch, Spanisch, Por-tugiesisch und viel Schweizerdeutschmit stark italienischem Einschlag. Erstrückblickend wurde mir klar, welcheinzigartiges Biotop dieses Emmen-brücke war – und noch immer ist.Was hat der Gotthardtunnel damitzu tun, um den es in Ihrem Romanauch geht?Der Gotthard ist das Schweizer Urge-stein schlechthin – und der Tunnel, alsSüd-Nord-Verbindung, Sinnbild fürdie geographische und kulturelle Be-wegung der Gastarbeiter.

Wie ich auf das Thema gestoßenbin, kann ich Ihnen aber nicht sagen.Als Schriftsteller probiert man einDutzend Geschichten aus, und plötz-

Der Held in Rolf Dobellis neuem Roman ›Massimo Marini‹ ist ein Mann, dessen Aufstieg vomGastarbeiterkind zum Bauunternehmer phänomenal ist. Umso tiefer ist der Fall. Im Mittelpunktdes Romans steht der Gotthard-Basistunnel, mit 57 Kilometern der längste Tunnel der Welt. Für Mitte Oktober ist der finale Durchstich geplant, ein Jahrtausendbauwerk.

Ein Interview mit Rolf Dobelli

Der Gotthardtunnel ist das Schweizer Urgestein

kann. »Secondo« hat mit Gastarbei-tern oder Flüchtlingen zu tun, mitSchichten, aus denen manchmal einkometenhafter Aufstieg gelang – wiejener von Massimo Marini.Wie sind Sie auf dieses Thema ge -stoßen?

diese natürliche Grandezza – expres-sive Gestik, Italianità. Und unter derrauhen Schale ein riesiges Herz.

Ich denke nicht, dass man die Kin-der eines amerikanischen oder deut-schen Ehepaars, die in der Schweiz ge-boren sind, als Secondos bezeichnen

Der Gotthardtunnel als Süd-Nord-Verbindung

ist Sinnbild für diegeo graphische und kulturelle Bewegung

der Gastarbeiter.

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lich merkt man, dass eine zieht. Es istein bisschen wie Angeln. Wo es zieht,da schreibt man weiter und lässt dieanderen Entwürfe liegen. Wie dasgenau funktioniert, bleibt ein Rätsel.Waren die Italiener nach dem Zwei-ten Weltkrieg die Einwanderungs-gruppe Nummer eins in der Schweiz,sind es seit einigen Jahren die Deut-schen. Gibt es hier ähnliche Kon-flikte wie damals? Nach den Italienern kamen die Spanier,die Portugiesen, die Tamilen, dann dieTürken, die Ex-Jugoslawen, heute dieDeutschen – und alle produzieren an-dere Geschichten. Es ist wie in derChemie: Je nachdem, was man zusam-mengießt, passiert etwas anderes. Im Roman baut Massimo Marinimit seinem Bauunternehmen amJahrhundertbauwerk des Gotthard-Basistunnels mit. Haben Sie vor Ortrecherchiert?Ich war zwei Mal drin im Stollen. Daserste Mal 2005, das zweite Mal 2009.Ein guter Freund ist Besitzer und Ge-schäftsführer einer der größten Bau-firmen der Schweiz. Er ermöglichtemir die beiden Besuche bis hin an dieStollenbrust, also dort, wo seine Mi-neure bohren und sprengen. Ein ein-maliges Erlebnis. Ich schlüpfte ineinen orangefarbenen Overall. Manverpasste mir einen Helm mit Stirn-lampe, Gummistiefel und einen soge-nannten Selbstretter. Das ist eine ArtSchutzmaske für den Notfall. VomBergdorf Sedrun ging es einen halbenKilometer horizontal in den Berg hin-ein. Dann riss uns ein Lift fast einenKilometer in die Tiefe. Das war die ei-gentliche Tunnelröhre. Und von dortaus nahm uns ein Transportzug sechsKilometer bis an die Stollenbrust mit.Es ist gespenstisch dort unten – trotzder Beleuchtung. Was mich am meis -ten beeindruckte: Der Berg ist nichtfest. Er fließt. Er drückt den Tunnelwieder ein Stück zusammen. Die Mi-neure spannen deshalb gleich nach der Bohrung Eisenbögen, um demBergdruck entgegenzuwirken. Und esscheint zu funktionieren. Man stellesich das vor: Eisenbögen gegen Millio-nen von Tonnen Fels! Ich komme ins

Schwärmen, wenn ich an diese Meis -terleistung denke. Überhaupt kommeich ins Schwärmen angesichts diesesJahrhundertbauwerks. Es freut michsehr, dass der Tunneldurchstich zeit-gleich mit der Publikation des Romanserfolgt.Was für Menschen bauen diesenTunnel? Was hat Sie beeindruckt?Bei früheren Tunnelbauten in derSchweiz waren dies hauptsächlich Ita-liener. Heute sind es vorwiegendÖsterreicher und Deutsche im Altervon fünfundzwanzig bis fünfunddrei-ßig Jahren. Der Job des Mineurs istanspruchsvoll, technisch knifflig undgefährlich. Kein einziger Mineur, mitdem ich gesprochen habe, möchte miteinem Bauarbeiter auf der Erdoberflä-che tauschen. Die sind alle so stolz,Mineur zu sein. Es ist eine verschwo-rene Truppe – wie eine Kompanie, dieschon einige Kriege hinter sich hat. Was bedeutet dieser Tunnel für dieSchweiz, für Europa?Zuerst einmal ist es ein Weltrekord.Mit 57 Kilometern Länge ist der Gott-hard-Basistunnel der längste Tunnelder Welt. Für Europa bedeutet er ein Jahrhundert-, wenn nicht ein Jahr-tausendbauwerk. Zürich wird zumVorort von Mailand oder umgekehrt.Und er ist ein Quantensprung für denSchienenverkehr. Es wird nun zum ers - ten Mal wirtschaftlich sinnvoll sein,Güter auf der Nord-Süd-Achse perZug statt per LKW zu transportieren –mit allen Vorteilen in puncto Ökologie.Am Anfang Ihres Romans stehtMassimo Marini auf dem Höhe-punkt seines beruflichen und priva-ten Erfolgs, danach kommt ein stei-ler Fall. Hat Ihnen das Beschreibennicht weh getan? Doch, natürlich. Wenn man sich sosehr mit einer Person identifiziert, wiees beim Schreiben der Fall ist, wennman sich monatelang in seinem Zim-mer einschließt, um eine solche Per-son zu erfinden und auszufeilen, er-lebt man den Aufstieg und denNiedergang seines Protagonisten ameigenen Leib. Die Aufgabe liegt darin,diese Empfindungen auf den Leser zuübertragen. Fo

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384 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06754-5

Es ist der Höhepunkt in der Karriere eines Mannes, als am

17. Oktober 2007 der erste große Durchstich des längsten

Tunnels der Welt, des Gotthard-Basistunnels, gefeiert wird. Aberdieser Tag ist zugleich ihr Ende.

Ein packender Gesellschafts- und Entwicklungsroman.

Buchtipp

In seinen 21 Punkten zu den Physi-kern hat Dürrenmatt postuliert:»Eine Geschichte ist dann zu Endegedacht, wenn sie ihre schlimmst-mögliche Wendung genommen hat.«Hat Sie das beim Schreiben IhresRomans beeinflusst?Eine Geschichte ohne dramatischeWendungen ist langweilig. Ich magkeine langweiligen Geschichten. Inso-fern haben mich seine 21 Punkteschon beeinflusst. Das heißt nicht,dass man als Schriftsteller unbedingtbis an die Dürrenmatt’sche Schall- mauer gehen muss. Plot-Akrobatikum ihrer selbst willen taugt nichts.Der Schluss, auch wenn es derschlimmstmögliche ist, muss sich auseiner inneren Notwendigkeit herausergeben. Das darf man nicht überdre-hen. Eine Geschichte, besonders einRoman, muss glaubhaft bleiben. Neh-men Sie ◊echov. Seine Geschichtensind dramatisch, ohne penetrant akro-batisch zu wirken.Massimos Vater zwingt ihn, Archi-tektur zu studieren, er schreibt sichan der philosophischen Fakultät ein.Was haben Sie studiert? Was hättenSie gerne studiert?Studiert habe ich Betriebswirtschaft inSt. Gallen. Wenn es ein Studium gibt,das die Welt nicht braucht, dann ist esBWL. Kaum eine Studienrichtung, diemehr Worthülsen und weniger Sub-stanz produziert. Diese Überheblich-keit. Diese furchtbare Blasiertheit! Ichhabe nie verstanden, warum St. Gallendieses Eliteimage besitzt. Was ichwährend der vier Jahre dort gelernthabe, hätte ich in vier Wochen bequemund einfacher zu Hause aus Bücherngelernt. Warum ich nicht ausgestiegenbin? Was man angefangen hat, bringtman zu Ende – so meine damaligeÜberzeugung. In dieser Hinsicht binich reifer geworden.

Wenn ich heute nochmals studierenwürde, dann ganz klar Biologie. Esgibt keine spannendere Frage als die:»Was ist Leben, und wie funktioniertes?«Bekämpfen eigentlich die Söhneimmer erst ihre Väter, um danndoch so zu werden wie sie?

Der Vater als Vorbild und Gegenbild,als Ziel und Antipol, als Gott undHassobjekt. Eine furchtbar kompli-zierte Phase, die Adoleszenz. Wie frohich bin, dass ich die hinter mir habe!Ich beobachte das oft, besonders beiUnternehmersöhnen: Sie wählen dannbewusst eine andere Karriere als derVater. Sie studieren Philosophie,Kunstgeschichte oder Literaturwis-senschaften, verbringen einige Zeit beiGreenpeace oder trotten um die Welt,

um schon nach wenigen Jahren selbsterfolgreicher Unternehmer zu werden.Massimo Marini ist keine Ausnahme.Was schreiben Sie als Nächstes?Das ist noch offen. Ich bin noch amAngeln.•kam

Als Schriftsteller probiert man ein Dutzend

Geschichten aus, undplötzlich merkt man, dass eine zieht. Es ist

wie Angeln.

Rolf DobelliMassimo

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Roman · Diogenes

»Die Welt wird entweder untergehenoder verschweizern.«

Friedrich Dürrenmatt, ›Justiz‹

Das Magazin für den überforderten Intellektuellen · Nr. 34

Friedrich Dürrenmatt · Martin SuterPatricia Highsmith · Hugo Loetscher · Peter von Matt

Donna Leon · Tim Krohn u.a.

Wann tritt Europa der Schweiz bei?

WilhelmTell, neu dramatisiert von Urs Widmer

Peter von Matt über die Spannungenzwischen Hochdeutsch und Dialekt

Mit Zeichnungen von Tomi Ungerer · H.U. StegerTatjana Hauptmann · Friedrich Dürrenmatt u.a.

Alle reden immer nur davon, ob die Schweiz es sich leisten kann,

nicht der EU beizutreten. Warum fragt niemand umgekehrt:Wann tritt die EU der Schweiz bei? Denn die Schweiz ist, besonders

in Krisenzeiten, das Sehnsuchts landvieler und heute sogar Auswande-

rungsland Nr.1 der Deutschen. Das neue ›Tintenfass‹ bietet

ein literarisches Potpourri über die Insel des Wohlstands und des

Glücks mitten in Europa.

»Einiges spricht dafür,dass der liebe Gott ein Schweizer seinkönnte – weit weg und nur zuschauen,

das ist ebenso göttlichwie schweizerisch.«

Hugo Loetscher

Diogenes Taschenbuch, detebe 22034 400 Seiten, nur € 8.– / sFr 15.– (empf. LP) / € (A) 8.30

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21Diogenes Magazin D

Essay

Regelmäßig besucht Donna Leon ihren Verlag in Zürich, die meiste Zeit kommt sie aus Venedigmit dem Zug. Hier eine kleine Hommage an die Bahnfahrt zwischen Venedig und Zürich durchden Gotthardtunnel, der Donna Leon immer wieder zu kriminellen Phantasien inspiriert.

Donna Leon

Kriminelle Phantasienim Gotthardtunnel

Mit Zeichnungen von Paul Flora

und mich unauffällig verdrücke. Undes gibt keinen Füller, kein Notizbuchin den Regalen der Schreibwaren-handlung Testolini, die ich nicht schonheimlich stibitzt hätte.

Doch ich begnüge mich nicht alleinmit Ladendiebstahl: Vielmehr habe ichschon so manche Geldbörse aus acht-los vor dem Katzenfutterregal bei

nicht, in wie vielen ModeboutiquenVenedigs ich schon mit dem Plan ge-liebäugelt habe, beim Anprobierenmehrere Kaschmirpullis übereinanderzu ziehen, bevor ich die Preisschilderentferne, in meinen Blazer schlüpfe

Die Bahnreise von Venedig nach Zürich und zurück ist etwas,

worauf ich mich immerwieder freue.

Eine gewisse déformation professio-nelle droht wahrscheinlich in

jedem Metier. Ich zum Beispiel bin,seit ich angefangen habe, Kriminalro-mane zu schreiben, auf Verbrechen fi-xiert. So unaufhaltsam, wie eine Pur-purwinde dem Licht zustrebt odereine Kürbisranke über den Kompost-haufen emporklettert, kreist meinDenken beharrlich um dieses eineThema. Das geht sogar so weit, dassmeine Phantasie selbst die harmloses-ten Situationen kriminalisiert und Ver-brechen ersinnt, die daraus entstehenkönnten, wenn ein habgieriger odergewalttätiger Mensch sie sich zunutzemachte.

Wann immer ich bei einem Wein-händler ein paar Flaschen Proseccokaufe, lasse ich in meiner Vorstellungstets auch einige Flaschen Tignanellooder Gaja mitgehen, die ich, in Stiefel-schäften oder Jackenärmeln versteckt,aus dem Laden schmuggele. Ich weiß

Billa geparkten Einkaufswägen ent-wendet oder mich auf überfüllten Va-poretti als Taschendiebin versucht.Und es ist erst wenige Wochen her,dass ich in London, in der St. George’sChurch am Hanover Square, wie ge-bannt auf jenes Portemonnaie starrte,das neben mir auf der Kirchenbankaus einer offenen Handtasche lugte,während die leichtsinnige Besitzerinam Abendmahl teilnahm.

Bei so viel krimineller Phantasie kön-nen Sie sich vielleicht vorstellen, wasmir alles in den Sinn kommt, sobaldmein Zug sich, mal von Norden, malvon Süden her, dem Gotthardtunnelnähert. Auf dem Weg in die Schweizhaben wir die Zollkontrolle da schonhinter uns, weshalb ich die eleganteDame im Auge behalten muss, die inComo zugestiegen ist und deren Kof-fer sicher nicht bloß Kleidung zumWechseln enthält. Ganz zu schweigenFo

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von dem Typen mit dem schlechtenHaarschnitt: garantiert ein Kurier, dergrößere Mengen Drogen, Diamantenoder Plastiksprengstoff, am Körperfestgeklebt, außer Landes schmuggelt.Und warum haben die Beamten sichnicht den Pass des Mannes zeigen las-sen, der zunehmend nervös wurde, alsdie Grenze näher kam?

Auf der Rückreise nach Italien füh-ren alle übrigen Passagiere natürlichhaufenweise Bargeld mit, auch wennich mir nicht vorstellen kann, wofürder ganze Zaster bestimmt ist. ZumAnkauf von Waffen? Mädchen? Politi-kern?

Meine Schmuggelware, zu der ichmich freimütig bekenne, beschränktsich auf Parmigiano aus Italien undSchokolade aus der Schweiz. ZweiProdukte, mit denen ich, sollte derZug je im Gotthardtunnel steckenbleiben, gute Chancen hätte, zurneuen besten Freundin allmeiner Abteilgenossen zuavancieren, habe ich doch jeweils genug Proviant dabei,um die ganze Siebte Flottemindestens eine Woche langzu verköstigen.

Die Bahnreise von Vene-dig nach Zürich und zurückist etwas, worauf ich michimmer wieder freue. Dennsie beschert mir jeweils achtStunden ohne Telefon, Faxoder E-Mail. Acht Stundenreiner Lesezeit, unterbro-chen von nichts als meiner Phantasie.

Die funkt allerdings kräftig dazwi-schen. Als ausgesprochener Kinomuf-fel kenne ich Katastrophenfilme zwarnicht aus eigener Anschauung, aberich habe immerhin so viel darüber ge-lesen, dass die brennenden Gebäudeund sinkenden Schiffe mir ebenso ge-läufig sind wie jene Riesenkrabben,die sich nach irgendeinem atomarenDesaster die Erde untertan machenwerden. Aus der Lektüre einschlägigerBücher kenne ich überdies die Formel:Wann immer sich eine Katastrophezusammenbraut, bricht sie auch aus.Irgendein Unheil lauert immer vor derHaustür. Oder im Tunnel.

sich weder heldenmütig noch feigeoder schurkenhaft, sondern bleibenruhig auf ihren Plätzen, lesen, plau-dern, schlafen und ahnen nichts vondem packenden Schicksal, das ichihnen auf den Leib schreibe.

Etwa auf halber Strecke des Tunnelsmuss ich mich leider jedes Mal vonmeinen abenteuerlichen Phantasienverabschieden. Denn in den fünfzehnJahren, die ich nun schon zwischenVenedig und Zürich unterwegs bin, istes noch nie vorgekommen, dass einZug seine Fahrt im Tunnel auch nurverlangsamt hätte. So viel zu den Rie-senkrabben.

Die eine oder andere Reise bleibtgleichwohl durch irgendeinen beson-deren Vorfall in Erinnerung. So dienach Zürich vor ein paar Jahren anFerragosto, dem Feiertag, der für dieItaliener den Start in die Sommerfe-rien bedeutet und an dem der große

Exodus aus den Städten be-ginnt. Im Radio hatte manschon seit Tagen vor derBlechlawine gewarnt, diesich an diesem Wochenendein Gang setzen würde. Daich als Bahnreisende nichtdavon betroffen war, hatteich mir nicht gemerkt, aufwie viele Zehntausende vonAutos sich die Schätzungenbeliefen. Aber als ich dannim Zug saß und ein paar Ki-lometer vor dem Tunnel bei-läufig nach rechts blickte, wo

die Autostrada parallel zu den Gleisenverläuft, da bot sich mir vor dem Fenster eine Szene wie aus einem jener Katastrophenfilme: Kilometer-weit war der Verkehr vollständig zumErliegen gekommen. Die Insaßen tigerten um ihre Fahrzeuge herum,etliche hatten die Motorhaube hoch-geklappt, bei manchen drang Dampfaus dem Kühler. STAU! Fehlte nurnoch die Riesenkrabbe, die aus derSchlucht emporklettert und die krei-schenden Autofahrer über die Bö-schung stürzt.

An jenem Abend erfuhr ich, dasssich die Schlange vor dem Tunnel al-lein auf italienischer Seite über vier-

Überlegung, die mich zwangsläufig zuden Wasservorräten führt: In den vier-zig Jahren, die ich nun schon auf demeuropäischen Schienennetz unterwegsbin, habe ich mich immer wieder ge-fragt, ob das acqua wirklich non pota-bile ist. Wie lange werden die Kräckerund die Panini im Bordbistro reichen?Wird die Beleuchtung ausfallen?Könnte ich mich dazu überwinden,eine Cola zu trinken? Werden wir von meinem Parmigiano nicht alleschrecklichen Durst bekommen?

Da ich im Tunnel ungern lese, be-halte ich die Protagonisten des Dra-mas im Auge, das ich gerade so eifrigzusammenbastle. Doch die gebärden

Folglich beginne ich schon zehnKilometer vor Airolo, die Mitreisen-den zu mustern und abzuschätzen,wie sie sich wohl verhalten werden,wenn das Unvermeidliche geschieht:Der Zug fährt in den langen Tunnelein, und dann, genau in der Mitte,kommt es zu einem Störfall, der dieGleise in beide Richtungen blockiert.Wer wird den Helden geben, wer denFeigling und wer den Schurken? Wielange werden wir festsitzen? Eine

Meine Schmuggelwarebeschränkt sich auf

Parmigiano aus Italien und Schokolade aus der Schweiz.

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zehn Kilometer erstreckt hatte. Wirdagegen waren glatt durchgekommenund pünktlich ans Ziel gelangt.

Ein besonderes Vergnügen – das derBahnreisende vornehmlich auf derNordroute genießt, wenn sich die ita-lienischen Passagiere vom heimischenHerd entfernen – ist die gemeinsameMahlzeit. Das Land Italien mag sichoffiziell zum katholischen Glaubenbekennen, doch seine wahre Religionist das Essen. Sicher hängt es mit demEinfluss der Hl. Kommunion zusam-men, dass Italiener sich geradezu mo-ralisch verpflichtet fühlen, ihre Mahl-zeiten mit allen Anwesenden zu teilen.Ich jedenfalls bin noch nie mit Italie-nern im selben Coupé gereist, ohnedass man mir nicht etwas angebotenhätte. Lehne ich dankend ab, so beste-hen sie darauf, dass ich mich nichtziere und ein Stück, eine Handvolloder die Hälfte von Was-auch-immer annehme. Min-destens aber eine Kost-probe – »eigens von meinerMutter zubereitet!« Was dieEinladung tatsächlich in dieNähe eines Sakramentsrückt.

Seit ich sicher weiß, dasssolche Angebote nicht ausbloßer Höflichkeit gemachtwerden, nehme ich sie meis-tens an und komme so aufmeinen Reisen in den Ge-nuss von allerlei Obst,Sandwichhälften, riesigen Käsewür-feln. Nicht selten begleitet von einemGlas Wein oder frischgepresstem Saftaus Trentiner Äpfeln. Umgekehrt ver-steht es sich natürlich von selbst, dassich, als ich mich einmal auf demHeimweg in einem Abteil mit fünf Ita-lienern wiederfand, meine Pralinen-schachtel Cru Sauvage anbrach undherumreichte.

Ein eigenartiges Phänomen, das ichauf Bahnfahrten wahrnehme, istmeine eigene Unsichtbarkeit. Diedaher rührt, dass ich eine Frau im ge-wissen Alter bin, die weiße Haare hatund liest. Deshalb gehen die Zollbe-amten an meinem Abteil vorbei und

trollen, Warten aufs Gepäck, Zugfahrtin die Stadt, endlich Ankunft. DieZeitersparnis beträgt nur wenigeStunden, und überdies lässt der Stak-katorhythmus einer Flugreise dieRuhe und Beschaulichkeit vermissen,die man zum Lesen benötigt.

Hinzu kommen emotionale und äs-thetische Erwägungen. Flugpassagieresind in der Regel mürrisch und inEile – Bahnreisende dagegen geduldigund gesprächsbereit. Flughäfen sind –seien wir doch einmal ehrlich – ver-kappte Shopping-Center, in denenvon der Sonnenbrille bis zur Baby-windel alles sehr viel teurer verkauftwird als außerhalb des Airports. Undauch wenn mancher davon schwärmt,wie wunderbar es sei, ein Flugzeugabheben zu sehen, leuchtet mir nichtein, was daran schöner sein soll als aneinem Zug, der aus dem Bahnhof rollt.

Apropos Schönheit: Wolken sind –Wolken, was sonst? Und aufdie Landstriche unten erha-sche ich, da ich im Flieger nieeinen Fensterplatz belege, nurhie und da einen flüchtigenBlick. Gut, zugegeben, derAnflug auf Venedig (sofernman rechts vom Gang sitzt,einen Fensterplatz und einenklaren Tag erwischt hat) istatemberaubend. Doch das giltebenso für die Bahnreise inder Gegenrichtung, und zwarbeiderseits der Strecke, sobaldder Zug Como verlassen hat

und die herrliche Alpenlandschaftdurchquert. Seen, Kühe, Schafe, nochmehr Seen, schäumende Wasserfälle;und wenn man Glück hat, wölbt sichüber den schneebedeckten Gipfelnjener durchdringend klare Berghim-mel, dessen Bläue mit keinem anderenBlau der Welt zu vergleichen ist.

Vor uns aber, vor uns gähnt derEingang des Tunnels, der mich, auchwenn ich ihn all die Jahre ohne Zwi-schenfall passiert habe, immer nochauf den Beginn eines Abenteuers hof-fen lässt.•Aus dem Amerikanischen von Christa E. Seibicke

bewusst, tröste mich aber mit demGedanken an den Parmigiano und dieSchokolade.

Die Bahn ist, ich gebe es unum-wunden zu, mein bevorzugtes Ver-kehrsmittel. Man geht zum Bahnhof,besteigt den Zug, setzt sich ins Abteil,liest während der Fahrt, steigt wiederaus und ist am Ziel. Wer stattdessenvon Venedig aus fliegen will, muss erstmit dem Boot zum Piazzale Roma,dann weiter mit dem Bus zum Flugha-fen, dort einchecken, Zoll- und Sicher-heitskontrolle passieren und bis zumAbflug nicht selten längere Wartezei-ten oder Verspätungen erdulden. Nachder Landung folgen neuerliche Kon-

übersehen mich ganz einfach. Sie ach-ten auf junge Frauen, junge Männer,bemerken jeden, der wie ein Nicht-Europäer aussieht oder einen beson-ders großen Koffer mitführt. Aber siehaben kein Auge für weißhaarigeFrauen, die bloß dasitzen und lesen.Dadurch, dass ich mir meine Unsicht-barkeit an der Grenze nicht zunutzemache, verspiele ich womöglich dieChance auf eine interessante Verbre-cherkarriere. Ich bin mir dessen wohl

Vor uns gähnt der Eingang des Tunnels, der mich immer noch auf den Beginn eines

Abenteuers hoffen lässt.

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Diogenes Magazin: Wie kamen Sieauf diese inzwischen berühmte Figurdes Kommissärs Hunkeler?Hansjörg Schneider: Etwa 1990 las ichin der Zeitung von einem Kanalarbei-ter, der in der Kanalisation gestohleneDiamanten gefunden hatte. Ich dachtemir, das wäre doch ein Stoff für einenFernsehkrimi. Ich habe dann einDrehbuch für die Fernsehserie Euro-cops geschrieben, mit den zwei vorge-gebenen Ermittlerfiguren. Bei der Ver-filmung wurde an dem Drehbuchnatürlich noch viel gekürzt und geän-dert. Da habe ich mir gesagt: Ichsperre die Geschichte zwischen zweiBuchdeckel, dann kann keiner mehrran. Und dabei entstand die Figur vonPeter Hunkeler.Gibt es Parallelen zwischen Hunke-ler und Ihnen?Ich habe ihm natürlich viel von mirgegeben, auch einige biographischeStationen, doch vor allem haben wir

einen ähnlichen Blick auf die Welt.Und es ist praktisch, so einen Doppel-gänger zu haben, den man schickenkann, wohin man gerade Lust hast.Zum Beispiel in das Haus im Elsass,das ich nicht mehr besitze – das hat ervon mir geerbt.Kennt man bei der Basler PolizeiIhre Bücher?Ja klar, die lesen das alle. Ich lassejeden neuen Roman zudem vom Spre-cher der Staatsanwaltschaft Basel ge-genlesen. Aber ich nehme mir auchmeine Freiheiten. Ich schreibe überdas Kriminalkommissariat Basel so,wie Karl May über den Wilden Wes -ten schrieb.In Ihrem neuen Roman wird Hun-keler pensioniert. Will er sich dennwirklich zur Ruhe setzen?Mal abwarten. Ich nehme an, der mel-det sich schon wieder. Bei jedem Hun-keler-Roman, den ich schreibe, denkeich: Das ist jetzt der letzte. Aber schon

bald packt mich dann wieder die Lust.Es ist auch einfach schön, einen Hun-keler zu schreiben, es ist wie heim-kommen. Mit Hunkeler kann ich ein-fach eine Geschichte erzählen, ohnegroße Literatur machen zu müssen.Und der neue Roman zum Beispiel,Hunkeler und die Augen des Ödipus,der im Theater-Milieu spielt: Ichwüsste gar nicht, wie ich diese Ge-schichte ohne Hunkeler erzählenkönnte, wie ich ohne ihn einen Zu-gang in diese Welt finden würde.… die für Sie aber nicht ganz fremdist.Nein, nein. Wie Hunkeler habe auchich als junger Mann am Theater Baselgearbeitet, das war ’68, in der ÄraDüggelin. Ich habe da sozusagen allesgemacht – ich war Regieassistent,Komparse, sogar die Hauptrolle ineinem Weihnachtsmärchen habe ichgespielt. Und meine ersten literari-schen Erfolge hatte ich ja auch als

Hansjörg Schneider über seinen Kommissär

HunkelerDiesen Herbst erscheint bei Diogenes Hansjörg Schneiders Roman ›Hunkeler und die Augen desÖdipus‹, der neue Fall für den Kommissär Peter Hunkeler vom Kriminalkommissariat Basel.Grund genug, den Autor über seine literarische Figur zu befragen.

Interview

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Mathias Gnädinger als Kommissär Hunkeler in der Verfilmung des Schweizer Fernsehens

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240 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06761-3

Der neue Fall des Kult-Kommissärs aus Basel:

Ein havariertes Hausboot auf dem Rhein. Ein Theaterskandal.Und ein paar alte Rechnungen.

Buchtipp

Dramatiker. Das Theater bleibt einealte Liebe von mir.Sie haben zwölf Romane geschrieben(darunter acht Hunkeler-Romane),zahlreiche Theaterstücke, dazu Er-zählungen, Essays, Reportagen, au-tobiographische Texte. Wie warenIhre Anfänge als Schriftsteller?Seit ich 18 war, schrieb ich Gedichte,traurige Liebesgedichte vor allem.Doch ich sagte niemandem etwasdavon, außer meiner damaligen Freun-din und meinem besten Freund. Ichhatte immer davon geträumt, Schrift-steller zu werden, aber nie daran ge-glaubt. Im Aargau, wo ich aufgewach-sen bin, hätte sich das niemandvorstellen können, es fehlten die Vor-bilder, wir kannten keine Autoren –abgesehen von Erika Burkart. DerWunsch, Schriftsteller zu sein, warauch der Wunsch, eine Revolution zumachen: gegen das Leben damals, dieDressur der 50er-Jahre, die Erstarrungim Kalten Krieg. Ich habe dann zu-nächst Literatur studiert, und nachdem Doktorat war der Zeitpunkt ge-kommen, wo ich nicht mehr sagenkonnte: Eigentlich möchte ich schrei-ben. Ich musste mich entscheiden.Und so fing ich an.•mdw

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Hansjörg Schneider im Großen Saal des TheaterBasel, wo er selbst als junger Mann gearbeitet hat

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Kommissär BärlachBerner Polizei

Name: Hans Bärlach

Alter: kurz vor der Pensionierung

Wohnort: Altenberg an der Aare in Bern, Altenbergstrasse, schließt seine Haustür nie ab.

Laufbahn: War in Istanbul, dann in Deutschland ein bekannter Kriminalist, bis er 1933 in die Schweizzurückkehrte, und zwar wegen einer Ohrfeige, die er »einem hohen Beamten der damaligen neuen deutschen Regierung gegeben hatte«.

Methode: Er setzt auf seinen Instinkt, auf Menschen-kenntnis, misstraut neuen, wissenschaftlichen Vorgehensweisen. Für Bärlach ist das Prinzip Zufall die Chance des Detektivs. Zuweilen überschreitet er die Grenzen des Legalen in seinen Ermittlungen.

Isst: gern und liebt gutes Essen, er ist Gourmet undGourmand. Bittere Ironie: Er hat Magenkrebs und nur noch ein Jahr zu leben.

Trinkt: Wein

Raucht: Brissago

Marotten: Liebt Ärzte noch weniger als die moderneKriminalistik. Liebt Protokolle noch weniger als Tote. Spielt gerne mit dem Feuer, trägt nur selten eineWaffe bei sich.

Besondere Kennzeichen: Ist konservativ, aber ein unbestechlicher Idealist. Er besitzt eine große Haus-bibliothek und liest gerne.

Kommissär Bärlach ermittelt in zwei Romanen von Friedrich Dürrenmatt.

HansjörgSchneider

Hunkeler unddie Augen

des ÖdipusRoman · Diogenes

DürrenmattDer Richter

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Roman · Diogenes

FriedrichGlauser

WachtmeisterStuder

Roman · Diogenes

Drei legendäreSchweizer

Kommissäre»Kommen die besten deutschsprachigen Kriminal-romane aus der Schweiz? Man könnte es manch-mal fast glauben: Friedrich Glauser, der Begründerdes modernen deutschsprachigen Krimis, war zumBeispiel Schweizer. Friedrich Dürrenmatt, der Vaterdes literarischen Kriminalromans, ebenfalls. Dermit dem Glauser-Preis ausgezeichnete Autor Mar-tin Suter ist auch Schweizer. Und Hansjörg Schnei-der, der Basler Autor und Dramatiker, gewanndiesen wichtigen Krimipreis ebenfalls – so dassman mit Fug und Recht sagen kann: Die Schweizist krimimäßig zwar klein, aber oho!«Ulrich Noller/Deutsche Welle, Bonn

Hier stellen wir Ihnen die drei wohl bekanntestenSchweizer Kommissäre vor.

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Diogenes Taschenbuchdetebe 22535, 192 Seiten

Auch als Diogenes Hörbuch

Diogenes Taschenbuchdetebe 21733, 256 Seiten

240 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06761-3

Martin Ritt als KommissärBärlach

Page 31: Diogenes Magazin Nr. 5

Kommissär Hunkeler

Kriminalkommissariat Basel

Name: Peter Hunkeler

Alter: In Hunkeler und die Augen des Ödipus steht er sechs

Wochen vor der Pensionierung.

Zivilstand: »gewesener Familienvater, jetzt geschieden«.

Eine Tochter, Isabelle, mit der er kaum Kontakt hat. Hat

eine Freundin, Hedwig, die Kindergärtnerin ist.

Wohnort: in der Mittleren Strasse, Basel.

Besitzt ein Haus im Elsass.

Aussehen: Hat einen leichten Bauchansatz.

Laufbahn: Stammt aus dem Kanton Aargau, ist in Basel ein

Zugezogener. Hat Literatur und Jura studiert (beide Studien

abgebrochen) und beim Theater gearbeitet. Als seine Tochter

geboren wurde, ging er zur Polizei. Manchmal hat er als

Alt-68er das Gefühl, auf der falschen Seite zu stehen.

Methode: »Hunkeler interessierten nicht Fingerabdrücke und

Schmauchspuren, sondern Menschen.« Hält sich nicht immer

an die Dienstvorschriften. Steht deswegen im Dauerkonflikt

mit seinem Kollegen, Detektiv-Wachtmeister Madörin.

Isst: währschafte Küche. Seine Stammkneipen: Sommereck

(mit Wirt Edi befreundet), Kunsthalle, Rio Bar, Milchhüüsli,

Pizzeria Schiff am Rheinhafen. Im Elsass: Jeck in Folgensbourg,

Scholler in Knoeringue.

Trinkt: Bier, Wein (Schnaps verträgt er nicht) – und kann auch

mal einen über den Durst trinken.

Raucht: Zigaretten

Marotten: Liebt es, im Sommer frühmorgens im

Rheinbad St. Johann zu schwimmen.

Besondere Kennzeichen: Neigt zu Wutanfällen, ein angry

old man. Starker Gerechtigkeitssinn, aber kein Glauben an

die staatliche Justiz.

Kommissär Hunkeler ermittelt in acht Romanen von

Hansjörg Schneider. Der neueste Fall ›Hunkeler und die

Augen des Ödipus‹ erscheint im September.

Wachtmeister StuderBerner Kantonspolizei

Name: Jakob Studer

Alter: kurz vor der Pensionierung

Zivilstand: verheiratet mit Hedwig, die er Hedy nennt,eine Tochter

Aussehen: massig, dick, knorrig, mit Schnurrbart,»schwer und hart wie einer jener Felsblöcke, die man auf Alpwiesen sieht«

Laufbahn: Früher Kommissär, wurde wegen einer un-durchsichtigen Geschichte zum Wachtmeister degradiert.

Methode: »Ich brauche weniger die Tatsachen als dieLuft, in der die Leute gelebt haben.«

Trinkt: Kaffee Kirsch

Raucht: Brissago

Marotten: »Hocked ab« (Setzen Sie sich), sagt er zu den Verdächtigen, bevor er seine langen Verhöre beginnt.

Besondere Kennzeichen: Er ist eigentlich grund gut - mütig, nimmt Partei für die kleinen Leute, hegt Sympathie für Außenseiter. Oppositionsbereitschaft gegenüber jeder Obrigkeit.Ist nur im Geheimen ein wenig abergläubisch.

Wachtmeister Studer ermittelt in fünf Romanen von Friedrich Glauser.

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Heinrich Gretlerals WachtmeisterStuder

Mathias Gnädingerals Kommissär Hunkeler

Page 32: Diogenes Magazin Nr. 5

Mit Ihnen im Lesefieber.Jede Woche von Neuem. Mit den Literatursendungen auf DRS 1:Montag 14.05 Uhr HörSpiel – Hörgeschichten für das Kino im Kopf.

Dienstag 14.05 Uhr Schwiiz und quer – Für Liebhaber von Mundart und Brauchtum.

Mittwoch 14.05 Uhr HörBar – Literatur fürs Ohr.

Donnerstag 14.05 Uhr WortOrt – Orte und ihre Geschichten.

21.05 Uhr Schnabelweid – Die Schweiz und ihre Mundarten.

Freitag 14.05 Uhr BuchZeichen – Weckt die Lust am Lesen.

www.drs1.ch

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Bericht

Charlotte Kerr Dürrenmatt

DürrenmattsApokalypse in Glas

Irgendwann im Februar 1991 fahreich ins Emmental, nach Konolfin-

gen. In Konolfingen ist Friedrich Dür-renmatt geboren, im Pfarrhaus. In derKirche gegenüber war sein Vater Pas -tor. Am Pfarrhaus eine Gedenktafel:Hier wurde Friedrich Dürrenmatt ge-boren, am 5.1.1921. Der Platz darunterist leer. Ich bin dankbar, dass sie dasSterbedatum nicht eingraviert haben:14.12.1990, vor drei Monaten.

Ich gehe in die Kirche, ein sachli-cher Längsschiffbau, an der Seiten-wand zwei schöne Jugendstilfenster,die anderen Fenster aus blassblaurosa-gelben graphischen Elementen ohneAussage. »Wie schön wäre hier einFenster nach einer Federzeichnungvon F.D., Der Engel mit der Posaunedes Jüngsten Gerichts, eine der vierFederzeichnungen Apokalypse I–IV,der letzten, schönsten Federzeichnun-gen von F.D.«

Der Gedanke verscheucht meineTraurigkeit. Ich gehe über den kleinenFriedhof, Namensschilder von Toten,im Werk von F.D. lebendig. Zwischenden Grabsteinen hat Fritz mit seinerSchwester Vreni gespielt, erste Ein-drücke von Labyrinth.

Alltag bricht ein. Letzter Versuch, dieabsurde Aufführung von Herkulesund der Stall des Augias zur 700-Jahr-

feier der Schweiz im Parlament zu ver-hindern, Dürrenmatt wollte sie nicht.Der Versuch scheitert.

Die Aufführung wird zum Jahr-hundertflop. Vor dem Bundeshaus de monstrieren die Intellektuellen imRegen gegen die Ausschaffung vonFlüchtlingen, ich bin mit ihnen. Dür-renmatts Stimme schallt durch dieLautsprecher über den Bundesplatz:»Die Schweiz ein Gefängnis …«, Aus-züge aus der berühmten Havel-Rede,Dürrenmatts Testament an die Schweiz.

Es folgt der Kampf um den Bau desCentre Dürrenmatt von Mario Botta,acht Jahre lang, zwei Jahre Bauzeit,kreative Zeit, dann steht es, neuerKampf um die Inhalte, Kampf umMidas – Prozesse –.

Ich vergesse das Kirchenfenster.

2007, im April, fällt es mir plötzlichwieder ein. Ich verabrede mich mitPfarrer B. in Konolfingen. ZwischenKirche und Friedhof eine Doppelga-rage, ein breites Wellblechdach wölbtsich über Fahrradständer.

»Der Friedhof wird eingeebnet. Ichkämpfe noch darum, dass es ein Ra-senplatz bleibt, mit einem Gedenk-stein«, sagt Pfarrer B.

Wir gehen in die Kirche. Ich habeeine Photographie vom Engel mit derPosaune mitgebracht. Pfarrer B. ge-

In der Kirche von Konolfingen, dem Geburtsort von Friedrich Dürrenmatt, kann man heute ein Glasfenster besichtigen, das nach Dürrenmatts Zeichnung ›Apokalypse II‹ gestaltet wurde.Charlotte Kerr Dürrenmatt über die Entstehungsgeschichte dieses Fensters.

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fällt die Idee. Wir sind uns einig: Dasmittlere der sieben Fenster an der Sei-tenwand wäre das richtige.

Am Nachmittag fährt mich PfarrerB. zu den Plätzen aus F.D.s autobio-graphischen Erzählungen in den Stof-fen: das Genist der Bauernhöfe, wo sieauf den Tennen im Heu spielten, dieMohammedaner-Mission, die Milch-siederei, die Schule, das kleine Kirch-lein hoch über den Wäldern. PfarrerDürrenmatt predigte den Bergbauernnoch in der Wohnstube. Auf demHinweg, an der Hand den kleinenFritz, dachte er über die Predigt nach,auf dem Rückweg durch den dunklenTann erzählte er von Minotaurus unddem Labyrinth, von Theseus, vonPrometheus, von Herkules und seinenTaten, am Sternenhimmel verewigt.»Stoffe« werden lebendig.

Zwei Tage später ruft Pfarrer B.mich an: »Ich sitze immer wieder inmeiner Kirche und denke, wie schönder Engel da aussehen wird …« AberPfarrer B. kann nichts entscheiden. Ermuss das Projekt der Gemeinde unddem Kirchenrat vorlegen.

Ich bin wohlgemut. Wer sollte sichüber so ein Geschenk nicht freuen.

Ich rufe Moscatelli an, den Glaskünst-ler in Neuchâtel. »Ich entwerfe nur,der Beste dafür ist in Lausanne: HerrWeyhe.«

Ich fahre mit dem Engel mit derPosaune unter dem Arm nach Lau-sanne, ins Glasstudio von HerrnWeyhe. Er fotografiert den Engel,wird eine erste maßstabgerechte Über-tragung machen.

Dann höre ich wochenlang nichts.Eines Tages ruft Frau G. an, Mit-

glied des Kirchenrats der Reformier-ten Kirchgemeinde Konolfingen.

»Es gibt lange Diskussionen – sollman in der Kirche an den Tod erin-nern? An das Jüngste Gericht –«

»Wo sonst, wenn nicht in der Kir-che, soll man an den Tod erinnern?«

»Das war auch mein Argument«,sagt Frau G.

»Was sind die anderen Argumente?«»Man fragt sich, ob denn Dürren-

matt ein guter Schweizer gewesen sei,schließlich war er sehr kritisch gegen-über der Schweiz, außerdem habe erKonolfingen ein Kaff genannt – ob derEngel in Schwarzweiß nicht zu düs tersei für ein Kirchenfenster – ich habealle Argumente widerlegt, und derKirchenrat hat mehrheitlich für dasFenster gestimmt.«

Ich bedanke mich bei Frau G., bittesie, die interessante Diskussion aufzu-schreiben.

Herr Weyhe braucht die genauenMaße des Kirchenfensters, Lichtein-fall, Umfeld. Wir fahren zusammennach Konolfingen, an einem schönenSonntag Anfang August.

Pfarrer B. erwartet uns vor der Kir-che, neben ihm die Frau Kirchenrä-tin G., Juristin.

Die Fensterseite der Kirche liegtnach Südost. »Der starke Lichteinfall

ist gerade für dunkle Töne gefährlich,das Glas springt, man darf nicht zugroße Felder machen …«, Herr Weyhemisst das Fenster genau aus, dann ladeich alle zum Sonntagsschmaus ein.

»Wenn es Ihnen recht ist, darf ichSie ins Pfarrhaus einladen, ich habeetwas vorbereitet.«

Liebevoll gedeckter Tisch, kalteVorspeisen, Pfarrer B. bindet die Koch-schürze um, brutzelt in der Pfanne Pu-tenbrüstchen, während Weyhe fünf-zehn Glasproben, die er mitgebrachthat, mit Tesafilm ans Fenster klebt –lauter verschiedene Töne von Grau,mit Blau-Grün-Rosaschimmer, hell-,dunkelanthrazitgrau, mundgeblasen.Und später wird mit der Hand schraf-fiert, mit einem Glasgriffel, wie Dür-renmatt seine Federzeichnungen mitdem Skalpell schraffierte, um dieWeißtöne herauszuholen.

Die Bedenken der Frau Kirchen-rätin gegen Schwarzweiß sind ausge-räumt.

Glücklich setzen wir uns zu Tisch.»Auf unseren Engel der Kirche vonKonolfingen, auf Dürrenmatt.«

Verlegenes Schweigen. Frau Kir-chenrätin G. bricht es: »Wir brauchenaber doch noch eine Kirchenratssit-zung …« – »Ich denke, der Kirchenrathat mehrheitlich zugestimmt?« – »Ja,aber eigentlich wollen wir Einstim-migkeit …«

»Und ich möchte doch meine Gemeinde mitnehmen auf diesemWeg …«, wendet Herr Pfarrer B. ein.

»Dazu hatten Sie zwei Monate Zeit,ich dachte, das wäre beschlossen?«

»Im Emmental dauert das länger.Wir brauchen mindestens noch eineKirchenratssitzung und eine öffentli-che Gemeindesitzung …«

»Und wie lange dauert das?«

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»Die nächste Kirchen-ratssitzung ist am 9. Au-gust, die Gemeindesit-zung einzuberufen dauertmindestens drei Wochen,wir müssen den Aushangmachen …«

»Also gut – ich gebeihnen Zeit bis zum 2. Sep-tember, über einen Monat,dann verlange ich eineEntscheidung.«

»Ich schätze sehr, dassSie so klar Ihre Meinungsagen«, bemerkt FrauKirchenrätin G.

»Das können Sie immervon mir haben.«

Am 18. August be-sucht eine sechsköpfigeDelegation des Kirchen-rats von KonolfingenHerrn Weyhe in seinemAtelier in Lausanne. DerBesuch am Tatort über-zeugt.

Am 5. September be-komme ich einen Briefvom Präsidenten des Kir-chenrats: freudige Zustimmung undDank. Ein- und Ausbau bezahlt dieGemeinde.

Die Kalkulation für das Fenster istin meinem Stiftungsrat genehmigt,alle lieben die Idee des Engels derApokalypse von F.D. als Fenster in derPfarrkirche seines Heimatorts. Ich er-teile den Auftrag.

Am 9. Oktober 2007 fährt Herr Wey-he nach Waldsassen im Fichtelgebirge.In Waldsassen ist eine der größtenletzten Glashütten Europas. Pfarrer B.begleitet ihn, aus Interesse undFreude. Ich werde die beiden, aus

München kommend, in Waldsassentreffen. Waldsassen liegt etwa am Endeder Welt. Ich fahre ab Nürnberg mitdem Taxi. Durchs Land der unendli-chen Wälder, mit ihrem Holzreichtumdie Basis für die Glashütten, und dertausend Seen, alle voll Karpfen. Zur-zeit ist Karpfenfestival, es wird abge-fischt. Vor jedem Restaurant steht einbunter Karpfen aus Pappmachee, amaufgesperrten Maul hängt die Einla-dung: »Mr. Fisch bittet zu Tisch.«Hauptgericht ist der Gastgeber.

Dialog beim Warten auf den KarpfenWeyhe: Die Zeichnung von Dür-

renmatt hat nicht dasgleiche Format wie dasKonolfinger Kirchenfens -ter. Sie ist in der Relationbreiter. Wenn wir sie 1:1übersetzen, bleibt obenund unten viel Raum, da-durch verliert der Engelan Kraft.

Ch.K.: Wie viel Raumbleibt?

Weyhe: Oben derBogen, da sollten wir diegleichen Schraffierungs-technik fortsetzen wieauf der Zeichnung, untenmindestens ein halberMeter.

Pfarrer B.: Da wäredoch vielleicht ein Bibel-zitat schön – wir habendas unterwegs bespro-chen …

Ch.K: Versuchen Sienicht, durch die Hinter-tür – oder das Fenster –Dürrenmatt in die Kirchezurückzuholen. Er warAtheist.

Pfarrer B.: Das würde ich niewagen, dazu respektiere ich ihn viel zusehr. Aber so ein kurzes Bibelzitat –eines, das auch erklärt – vielleicht ausder Johannes-Apokalypse. Apoka-lypse heißt Offenbarung …

Ch.K: Dürrenmatts Engel derApokalypse offenbart sich von selbst.

Pfarrer B.: Aber es besteht dochkein Zweifel, dass Dürrenmatt sichsein Leben lang mit Glauben, mit Reli-gion, mit Gott auseinandergesetzt hat.

Ch.K: Sicher. Sehr ernsthaft, be-sonders mit Barth. Mit dem Fazit, dasser am Ende seines Lebens sagte: »Ichkann mir keinen Gott mehr vorstel-

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len, und was ich mir nicht vorstellenkann, kann ich nicht glauben.« Undvergessen Sie nicht: Die vier Feder-zeichnungen Apokalypse I– IV gehö-ren ausdrücklich zum Durcheinander-tal. Es sind Dürrenmatts letzteZeichnungen, Durcheinandertal istsein letzter Roman: Zum Schluss gehtalles in Flammen auf, das ganzeDurcheinandertal verbrennt.

Pfarrer B.: Aber Elsi überlebt.(Pfarrer B. kennt seinen Dürrenmatt,er zitiert:) »Und Elsi schaute mitleuchtenden Augen ins Feuer, lächelteund flüsterte: ›Weihnachten.‹ Und dasKind hüpft vor Freude in ihremBauch.« Das ist ein biblisches Zitat.Eine Anspielung auf die Geburt desMessias. Ein Kind! Zukunft! Mittenim Untergang. Schließlich war dererste Titel von DurcheinandertalWeihnacht II.

Ch.K: Ich denke, Sie kennen Weih-nacht I, Dürrenmatts erste literarischeVeröffentlichung? »… Das Christkindliegt im Schnee. Es ist eiskalt. Ich hebees auf. Ich esse den Heiligenschein. Erschmeckt wie altes Brot. Ich habeHunger. Ich beiße den Kopf ab. Ver-trocknetes Marzipan …«, Durchein-andertal ist der bessere Titel: Dürren-matts literarische Apokalypse.

Der Karpfen kommt. Ich habeHunger. Ich schneide den Kopf ab.

11. Oktober, 7.30 Uhr früh. Ein rie-siges Areal, Lager, Büros und die Fa-brikationshalle, ein Bau aus dem In-dustriezeitalter, schwarz verrußt, nurdurch die bunten bleiverglasten Fens -

ter hoch oben zwischenden Eisenverstrebungendringt geheimnisvollesLicht.

Rotglühende Lohe inSchmelzöfen, alle zehnMinuten läutet eineGlocke, dann kommendrei Männer quer durchdie Halle gerannt, einerträgt eine große Kellemit rotglühender Glas-masse, zwei stützen dieKelle mit einer Trage anlangen Holzstangen, sietragen sie im Laufschritt

die Rampe hinauf, kippen die glü-hende Glasmasse auf das vorbereiteteEisenblech, sie wird in das Maul desSchmelzofens geschoben, das schließtsich bis auf wenige Zentimeter Luft-einlass.

An einem anderen Schmelzofenzieht ein Meister eine glühende Glas-kugel an einem langen Eisenrohr auseinem Herdschlund, beginnt dieStange mit großer Geschwindigkeit zudrehen, während er mit vollen Ba ckenin das Rohr bläst wie ein Trompeterzum Fortissimo, die rotglühendeKugel bläht sich auf, er taucht sie imSekundentakt in ein Kühlbecken, setztwieder an, dreht, bläst, schiebt sie zu-rück in den Feuerschlund, das allesmit größter Geschwindigkeit, das glü-hende Glas lässt sich nur bei einerTemperatur von ca. 1000 Grad aufbla-sen, ausbreiten, verflüssigen, gießen,formen, die Koordination zwischenMensch und Maschine läuft hier abwie ein sorgfältig choreographiertesBallett von äußerster Perfektion. Wirgehen ins Produktionsbüro. Regaleüber Regale mit quadratischen Glas-mustern in allen nur denkbaren Far-ben in allen nur erdenkbaren Nuan-cen, nummeriert, klassifiziert …

Herr Weyhe sucht die in Fragekommenden Grautöne aus, hell, dun-kel, Anthrazit mit Blau-Rosa-Grün-schimmer, dann gehen wir ins Lager,da hängen in endlosen Reihen dieGlasplatten, nach Mustern numme-riert, klassifiziert, Herr Weyhe ziehtGlasplatte um Glasplatte heraus, hält

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direkter und fesselnder.

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Gelesen vonCharlotte Kerr

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»Eine bis in Detailsdurchkomponierte

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»Wärmstens zu empfehlen…«

Library Journal

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FriedrichDürrenmattDer Auftrag

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sie prüfend gegen das Licht, wählt aus,stellt zurück, langsam füllt sich derWagen.

Am 12. geht der Transport mit demkostbaren Glas für unseren Engelnach Lausanne. Die Arbeit kann be-ginnen, sie wird fünf Monate dauern.

Die drei Meister der Glaskunst Wer-ner Weyhe, Pascal Moret und AlineDold schneiden, malen, schraffieren,behandeln mit Säuren, decken ab,brennen, setzen zusammen, bleiver-glasen, Feld für Feld, ein unendlichlangwieriger, kunstvoller Arbeitspro-zess.

Ein neues, eigenständiges Kunst-werk entsteht.

Am 18. Mai 2008 wird das Fenster ein geweiht. Ein pfingstliches Fenster.•

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Ein junger Staatsanwalt geht zur Beerdigung seines Vorgängers,

eines alten Staatsanwalts, und lernt beidieser Gelegenheit einen Richternäher kennen, welcher der Freund desverstorbenen Staatsanwalts gewesenist. Während die beiden im Leichen-zug dahinschreiten, erzählt der Rich-ter, er habe jeden Monat einmal mitdem Verstorbenen Schach gespielt.Der Staatsanwalt meint (sie nähernsich schon dem Krematorium), aucher sei ein Liebhaber des Schachspiels.Die beiden nehmen an der Trauerfeierteil, dann schreiten sie nicht weit hin-ter dem Sarg dem ausgehobenen Grabentgegen. Der alte Richter fragt denjungen Staatsanwalt, ob er ihn nichtauch zu einer Schachpartie einladenkönne, der Staatsanwalt nimmt dieEinladung an, sie verabreden sich aufden nächsten Sonnabend, des Staats-anwalts junge Frau ist ebenfalls einge-laden; zwar ist der alte Richter Witwer,doch führt dessen Tochter den Haus-halt. Am nächsten Sonnabend trifftgegen sieben Uhr der junge Staatsan-walt mit seiner Frau beim alten Rich-ter ein, der in einer stillen Villa wohnt,umgeben von einem großen Park mitriesigen Tannen, alles in einer Vorstadtgelegen, wo nur die Reichen wohnen,im sogenannten »englischen Viertel«.Von den Tannen und Bäumen hernoch Vogelgezwitscher, ferner letzteSonnenstrahlen. Das Mahl ist ausge-zeichnet, die Weine erlesen.

Nach dem Essen führt die Tochterdes Richters die Frau des Staatsanwaltsin den Salon; die Herren ziehen sich indas Arbeitszimmer zurück. DasSchachspiel steht schon bereit. Deralte Richter serviert Kognak, die bei-den sitzen sich gegenüber, doch bevordas Spiel beginnt, äußert der alte Rich-ter, er habe dem Staatsanwalt ein Ge-ständnis zu machen. Es sei zwanzigJahre her, dass er den eben verstorbe-nen Staatsanwalt kennengelernt habe,und zwar anlässlich der Beerdigungdes Richters, dessen Nachfolger er ge-worden ist. Während dieser Beerdi-gung sei er mit dem eben verstorbenenStaatsanwalt aufs Schachspiel zu spre-chen gekommen, denn auch der eben

Friedrich Dürrenmatt

Die Schach-spieler

Eine Erzählungaus dem Nachlass

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verstorbene Staatsanwalt habe mitdem vor zwanzig Jahren verstorbenenRichter monatlich ein Schachspieldurchgeführt, und zwar ein ganz be-sonderes Schachspiel: Die Schachfigu-ren nämlich bedeuten bestimmte Per-sonen, die ein Spieler für sein Spielselber bestimmen konnte, die Damehatte die Person zu sein, die dem Spie-ler am nächsten stand; für den Staats-anwalt war es dessen Schwester, dieihm nach dem Tode seiner Frau denHaushalt führte, für den Richter seineFrau. Von beiden Spielern würden dieLäufer mit befreundeten Pastorenoder Lehrern, die Springer mitRechtsanwälten oder Offizieren, dieTürme mit Industriellen oder Politi-kern gleichgesetzt, die Bauern stellteneinfache Bürger dar, auch das eigeneDienstmädchen oder den Milchmann.

Die Regel des Schachspiels bestandnun darin, dass jeder Spieler, verlor ereine Figur, den Menschen, der durch

diese Figur dargestellt wurde, tötenmusste. Das Spiel konnte erst wieder-aufgenommen werden, wenn derMord ausgeführt worden war. Wer je-doch schachmatt gesetzt wurde,musste sich das Leben nehmen, wasdazu führte, dass ein Spiel Jahrzehntedauerte, jeder Zug wurde oft monate-lang überdacht. So hatte der alteStaatsanwalt mit dem Vorgänger desalten Richters fünfzehn Jahre lang

gespielt, bis er diesen mattsetzenkonnte, hatte allerdings vorher – wieauch sein Gegner – seine Frau ermor-den müssen. Wer das Spiel erfunden,war nicht auszumachen – auch derVorgänger des Richters habe es mit

dem Vorgänger des eben verstorbe-nen Staatsanwalts gespielt, der

es ebenfalls vom Vorgängerdes Vorgängers des alten

Richters übernommenhätte, immer hätten

wohl in dieserStadt der Richterund der Staatsan-walt dieses ge-heime Spiel ge-führt.

Das sei die Er-klärung des altenStaatsanwalts ge-wesen, die dieserihm, dem Richter,abgegeben habe,und dieser Erklä-rung sei eineBeichte der Mordeerfolgt, die deralte Staatsanwaltmit dem ver-

storbenen Rich-ter begangen hätte.

Seine erste Reaktion,fährt der alte Richterfort, sei gewesen, denVorgänger des jetzi-

gen Staatsanwalts sofort zu verhaften,doch dann habe er der Versuchungnicht widerstehen können, mit demStaatsanwalt ein neues Spiel zu begin-nen: Der Staatsanwalt hätte als Dameseine älteste Tochter, die ihm denHaushalt führte – da seine Frau ausSchachspielgründen hatte das Zeitli-che segnen müssen – , und er seinejunge Frau eingesetzt. Das Lebenhätte von nun an für ihn einen anderenSinn bekommen: Durch das Schach-spiel hätten sie über bestimmte Perso-nen die Macht von Göttern bekom-men, wie Ahriman und Ormuzd seiener und der alte Staatsanwalt einandergegenübergesessen.

Zwanzig Jahre hätten sie so mitein-ander gespielt, er hätte um jede Figurgerungen, es sei entsetzlich, abergleichzeitig gewaltig gewesen, wennman eine Figur hätte opfern müssen,und nie vergesse er den Tag, wo er – umsich vor dem Schachmatt zu retten –seine eigene Gattin hätte hergebenmüssen – bis sich endlich vor einerWoche der alte Staatsanwalt hätte dasLeben nehmen müssen, weil er selberschachmatt gesetzt worden sei. Es seivielleicht erstaunlich, dass die Morde,die sie im Verlauf dieser zwanzig Jahrehätten begehen müssen, nie entdecktworden wären, doch – abgesehendavon, dass sie sehr sorgfältig ausge-führt worden seien, was der Richtermit einigen Beispielen belegt – habeder Grund auch darin gelegen, dassniemand hinter den Morden ein soausgefallenes Motiv wie ein Schach-spiel hätte vermuten können. Derjunge Staatsanwalt hörte sich dieBeichte des alten Richters mit Entset-zen an. Der Richter lehnt sich zurück,aus dem Nebenzimmer ist das mun-tere Gespräch der beiden Frauen zuhören. »So, Sie können mich verhaf-ten«, sagt der alte Richter. Der jungeStaatsanwalt greift dann nachdenklichzu den Figuren, die neben dem Spiel-brett stehen, und stellt die Dame aufihren Platz. »Ich setze meine Frau«,sagt er. Der alte Richter entgegnet:»Ich setze meine Tochter«, und stelltseine Dame aufs Spielbrett.•

Zwanzig Jahre hätten sie so miteinander

gespielt, er hätte um jede Figur gerungen…

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Die Biographie desPaulo Coelho

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Fernando Morais

Ein Leben wie ein Roman: Paulo Coelho

Seit Erscheinen des ›Alchimisten‹ ist Paulo Coelho einer der meistgelesenen Autoren der Welt,doch wer IST Paulo Coelho? Fernando Morais hat die erste große Biographie eines der be-kanntesten und zugleich rätselhaftesten Menschen unserer Zeit geschrieben. Hier einige Aus-züge mit Fotos aus Coelhos privatem Fotoalbum.

Paulo Coelho war ein rebellischer,verstockter Schüler, Sohn eines

unerbittlich strengen Vaters, der ihndreimal in eine psychiatrische Anstalt einweisen liess, wo er brutalen Elek-troschockbehandlungen unterzogenwurde.

Hatte Paulo in seiner Jugend großeSchwierigkeiten im Umgang mitFrauen, so entwickelte er sich als Er-wachsener zu einem wahren Sammleramouröser Eroberungen – und von somanchen bekamen auch die MedienWind. Seine ganz eigene Art in derBeziehung zu Frauen war und ist je-doch kein Hinderungsgrund, seit 28Jahren eine stabile Ehe mit der bilden-den Künstlerin Christina Oiticica zuführen, und wie er versichert, kannihn nichts und niemand auf der Weltdazu bringen, sich von ihr zu trennen.Der Mann, der vor mehr als dreißigJahren dem Kokain abgeschworen hatund seit vielen Jahren auch nicht mehrkifft, hatte einst, und zwar ziemlichlange, tief in der Drogenwelt gesteckt

und auch hier praktisch nichts ausge-lassen. Seine Abneigung gegen forma-les Lernen, weshalb er in der Schuleständig versagte, hat Paulo nicht darangehindert, zu einem echten Bücher-wurm zu werden. Die wahllose Lek-türe von sowohl unanfechtbaren Klas-sikern als auch wahrer Schundliteraturbahnte ihm den Weg in die Welt, vonder er träumte. Dieser Weg begannzunächst mit kleinen, unvergütetenRollen im Kindertheater, mit der Zeitwagte er sich dann ans Schreiben undproduzierte und inszenierte kleinereTheaterstücke. Parallel dazu beganner zu reisen und übernahm Jobs in deralternativen Presse – als Redakteureiner Undergroundzeitschrift suchteihn schließlich ein Mann auf, der seinLeben prägen sollte: der heute legen-däre Rockmusiker Raul Seixas, mitdem er dann als Songtexter sechs Jahreund Dutzende von Songs lang zusam-menarbeitete. Damit kam er zu mehrRuhm, Geld und Macht, als er sich jehatte träumen lassen – doch bei wei-

tem noch nicht so viel, wie es späterwerden sollte.

Vor und noch während seiner Part-nerschaft mit Raul Seixas führtenseine ständige Neugier auf neue Erfah-rungen einerseits und andererseitsseine Neigung, Bücher regelrecht zuverschlingen, zu erschreckenden Ab-stürzen. So liebäugelte er in seiner Ju-gend mit Selbstmord, schnitt aberdann doch lieber einem Haustier dieKehle durch, damit der »Todesengel«statt seiner eigenen wenigstens eineandere Seele mitnehmen konnte.

Mit seiner Überschreitung derGrenzen zum mysteriösen Reich derFinsternis geriet er in gefährliche Ex-tremsituationen und ließ sich auf gera-dezu unglaubliche Dinge ein. SeineKarriere bei den Satanisten endetenach einem haarsträubenden, grauen-haften, sich zwölf Stunden hinziehen-den Experiment, das Paulo als seineBegegnung mit dem Satan beschreibt.Die entsetzliche Vision, die seineFreundin ebenfalls erlebte, war der

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Paulo Coelho nach der Verhaftung durch die Politische Polizei (DOPS) im Häftlings-Overall, als »Aufrührer« eingestuft

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Beginn seiner Rückkehr zum christli-chen Glauben, den ihm die strengenJesuitenpater in der Schule eingetrich-tert hatten.

Obwohl er als Jugendlicher undjunger Erwachsener überhaupt keinInteresse an Politik hatte, wurde erunter der Militärdiktatur zweimal ver-haftet und einmal vom GeheimdienstDOI-Codi, dem brutalsten Repressi-onsinstrument der Diktatur, ent-führt – was ihn tief geprägt und seinenschon vorher vorhandenen Verfol-gungswahn noch verstärkt hat. Eineandere Art von Verfolgung, die brasi-lianische Kritik, die bis auf ganz wenige Ausnahmen seine Bücher ver-achtet und ihn als minderwertigenSchreiberling behandelt, scheint ihnnicht zu tangieren. Empört reagiert ernur, wenn die Vorbehalte seiner Ar-beit gegenüber Verachtung für jeneimplizieren, die er hingebungsvoll undmit orientalischer Geduld pflegt: seineLeser. Der Verachtung der brasiliani-schen Kritik zum Ausgleich hat Pauloeine Menge vorzuweisen. Und damitist nicht die Aufnahme in die Acade-mia Brasileira de Letras gemeint, auchnicht die Auszeichnungen, die ihm imAusland verliehen wurden, wie etwader fraglos ehrenvolle Orden der fran-zösischen Légion d’Honneur, sondernzahlreiche, nicht versiegende Loblie-der seitens Kritikern aus Dutzendenvon Ländern, darunter auch die des hochangesehenen italienischenSchriftstellers und Semiologen Um-berto Eco.

Diese Fakten aus Paulos Lebensind nur eine bescheidene Kostprobeder außergewöhnlichen Karriereeines Brasilianers, dessen internatio-naler Erfolg sich nur mit dem vonPelé vergleichen lässt. Um ein Haarwäre jedoch das alles gar nicht mög-lich gewesen, denn Paulo kam tot zurWelt.

Paulo Coelhos Geburt

Paulo Coelho de Souza kam in derregnerischen Nacht zum 24. August1947, dem Tag des heiligen Bartholo-mäus, in dem Mittelschichtsviertel

len bestanden hatte, ließ sich auch mitseinem Lesehunger erklären. Seit ervier Jahre zuvor begonnen hatte, sichsystematisch Notizen zu seinen Lek-türen zu machen, hatte er über drei-hundert Bücher gelesen, mithin 75 proJahr, eine astronomische Zahl, wennman bedenkt, dass seine Landsleutedamals im Schnitt ein einziges Buchim Jahr lasen.

Paulo war ein Viel- und Allesleser:von Cervantes bis zu Kafka, von JorgeAmado bis zu F. Scott Fitzgerald, vonAischylos bis zu Aldous Huxley. Erlas sowjetische Dissidenten wie Alex-ander Solschenizyn und den respekt-losen brasilianischen Humoristen Sta-nislaw Ponte Preta. Er las, schriebeinen kurzen Kommentar zu jedemWerk und verteilte nach GutdünkenSterne, genau wie die Kritiker es spä-ter beim ihm tun sollten. Vier Sterne,die höchste Auszeichnung, erhieltennur wenige Auserwählte wie HenryMiller, Borges und Hemingway, wäh-rend Der Alptraum (Norman Mailer),Revolution in der Revolution (RégisDebray) und die beiden brasiliani-schen Klassiker Krieg im Sertão (Eu-clides da Cunha) und História Econô-mica do Brasil (Caio Prado Jr.) nullSterne bekamen.

Okkultismus, Hexerei, Satanismus

In diesem bunten Salat von Themen,Zeiten und Autoren wandte sich Pau-los Interesse allmählich einem be-stimmten Genre zu: Büchern, die sichmit Okkultismus, Hexerei und Sata-nismus beschäftigten. Seit ihm dasschmale Buch Alquimia Secreta de losHombres des spanischen Gurus JoséRamón Molinero in die Hände gefal-len war, verschlang er alles, was mitÜbersinnlichem zu tun hatte. Nach-dem er den Weltbestseller des magi-schen Realismus Aufbruch ins dritteJahrtausend von dem Belgier LouisPauwels und dem Franko-UkrainerJacques Bergier gelesen hatte, betrach-tete er sich selbst bereits als Mitglieddieser neuen Gesellschaft. »Ich bin einMagier, der sich zum Aufbruch rüs -tet«, schrieb er in sein Tagebuch.

Humaitá in Rio de Janeiro in der Kli-nik São José zur Welt. Als Totgeburt.

In Tränen aufgelöst baten die El-tern, jemanden zu holen, der das Tot-geborene mit der letzten Ölung verse-hen konnte. In Ermangelung einesPriesters kam eine in der Klinik arbei-tende Nonne, doch dann mischte sichin die Schluchzer der Eltern ein Wim-mern: Das Kind war keineswegs tot.Es lag in tiefem Koma, aber es lebte.Die Geburt war die erste Bewäh-rungsprobe, die das Schicksal demkleinen Jungen auferlegte – und erhatte sie bestanden.

Paulo Coelho und der Traum, Schrift steller zu werden

Sein Vater hätte ihn gerne in seinenFußstapfen als Ingenieur gesehen,doch Paulo wusste schon sehr früh,

dass er schreiben wollte.

Mit dreizehn weiß Paulo Coelho, waser später werden will: Schriftsteller.Seine Mutter will ihm den Traum aus-reden: »Mein lieber Sohn, es hat kei-nen Sinn, diese Phantasie zu nähren,du könntest Schriftsteller werden. Esist sehr schön, dass du all diese Sachenschreibst, aber das Leben ist anders.Überleg nur: Brasilien hat siebzig Millionen Einwohner, Tausende davonsind Schriftsteller, aber nur JorgeAmado kann von seinen Büchernleben. Und einen Jorge Amado gibt esnur einmal.«

JugendlektürenMit sieben Jahren kam Paulo

in die Jesuitenschule San Inácio in Rio de Janeiro, in der er unter

anderem in einem Lyrikwettbewerbden ersten Platz belegte. Doch

die wahre Schule für Paulo Coelhowaren seine Lektüren.

Am Ende des Jahres 1970 bekam PauloCoelho die Zulassung zu drei ver-schiedenen Studiengängen in Rio:Jura, Theaterregie und Kommunikati-onswissenschaften. Dass Paulo seineSchullaufbahn in einer Schule ohneQualitätstradition beendet, aber dieAufnahmeprüfung an drei Hochschu-

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Paulo Coelho als SongwriterZwischen 1974 und 1976 schrieb

Paulo zusammen mit Raul Seixas Dutzende von Rocksongs, die in Brasilien sehr populär wurden –und für die Militärdiktatur eine

Provokation darstellten. 1974 wurden beide deswegen für

kurze Zeit verhaftet.

Abgesehen davon, dass sie sich beidefür fliegende Untertassen interessier-ten und miserable Schüler gewesenwaren, hatten Raul Seixas und PauloCoelho wenig gemeinsam. Der Erstearbeitete als Musikproduzent für dieinternationale Plattenfirma CBS, hatteeinen ordentlichen Haarschnitt undtrug immer Jackett, Schlips, in derHand ein Diplomatenköfferchen. Erhatte noch nie Drogen genommen,nicht einmal einen Zug von einemJoint. Der andere hatte ungekämmtesHaar bis auf die Schultern und trugHüfthosen, Riemensandalen, Hals-ketten, eine achteckige Brille mit lilaGläsern – und war meistens high.Raul hatte eine feste Adresse, war ver-heiratet und Vater der zweijährigen Simone, Paulo dagegen lebte in Grup-pen, deren Mitglieder wie die Jahres-zeiten wechselten. Seit ein paar Mona-ten bestand seine Familie nur noch ausGisa und Stella Paula, einem bildhüb-schen Hippiemädchen aus Ipanema,das vom Okkultismus und allem Jen-seitigen genauso fasziniert war wie er.

Mit der Erfahrung eines Musikers,der in so kurzer Zeit über achtzigStücke geschrieben hatte, besaß Rauldas notwendige Geschick, die Vorur-teile auszuräumen, die Paulo immernoch gegen jede Form von Dichtunghegte. »Wer sich ernsthaft mit anderenMenschen unterhalten will, muss sichnicht kompliziert ausdrücken«, sagteRaul während ihrer endlosen Gesprä-che immer wieder. »Im Gegenteil, jeeinfacher du bist, umso ernster kannstdu sein.« Fast lehrerhaft erklärte er, es gehe nicht um ein Wunderwerk:»Musik machen heißt, in zwanzig Zei-len eine Geschichte erzählen, die manzehn Mal hören kann, ohne dass sie

Paulo Coelho als Zehnjähriger in derGrundschule Nossa Senhora das Vitórias(erste Reihe, Zweiter von links)

Raul Seixas und Paulo Coelho

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Bei den Pyramiden, die PauloCoelho zur Schluss szene seines Romans ›Der Alchimist‹inspirierten

Im Buckingham Palace, 2006,mit dem brasilianischen Staats-präsidenten Lula, in der Mitte

die brasilianische First Lady Marisa Letícia und Christina

In Budapest währendseiner Europatour, 1982

Paulo Coelho mit seiner Ehefrau Christina auf ihrer

Reise durch die Mojave-Wüste in den USA

einem auf die Nerven geht. Wenn dudas hinkriegst, hast du einen großenSprung getan, ein Kunstwerk geschaf-fen, das alle verstehen.«

Der Orden R.A.M.Auf einer Reise durch Europa be-suchte Coelho mit seiner Freundinund späteren Frau Christina unter anderem das KonzentrationslagerDachau, wo er eine entscheidende Vision hatte. Es erschien ihm ein

Mann, den er zwei Monate später ineinem Café in Amsterdam zufälligund real traf. Dieser forderte Paulo

später auf, den Pilgerweg nach Santiago de Compostela zu gehen.

Die menschliche Gestalt, die er inDachau »gesehen« hatte, saß, zuFleisch und Blut geworden, am Ne-bentisch und trank Tee. Paulo er-schrak zuerst maßlos. Er hatte vonGesellschaften gehört, die, um ihreGeheimnisse zu wahren, Abtrünnigeverfolgten, ja sogar töteten. Verfolgteihn jemand aus der Welt der schwar-zen Magie und des Satanismus? Wäh-rend ihn die Angst in Wellen über-kam, erinnerte er sich einmal mehr aneine der Lektionen des Sportunter-richts in der Fortaleza de São João:Die beste Art, weniger zu leiden, war,sich der Angst zu stellen. Er schauteden Fremden an – einen etwa vierzig-jährigen, europäisch aussehendenMann in Jackett und mit Krawatte – ,nahm allen Mut zusammen undsprach ihn dann unfreundlich aufEnglisch an: »Ich habe Sie vor zweiMonaten in Dachau gesehen undmöchte eines klarstellen: Ich habekeine Verbindungen mehr zum Ok-kultismus, zu Sekten oder Orden undwill auch keine haben. Wenn Sie des-wegen hier sind, war Ihre Reise verge-bens.«

Paulo entspannte sich, als der Mannsich schließlich vorstellte. Er sei Fran-zose jüdischer Herkunft, arbeite alsManager des niederländischen Phi-lips-Konzerns und gehöre einem jahr-hundertealten geheimnisvollen katho-lischen Orden an mit dem NamenR.A.M. – Regnum Agnus Mundi O

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(Lamm des Reiches der Welt) oder aberRigor, Amor et Misericordia (Strenge,Liebe, Barmherzigkeit). Seinen wah-ren Namen – es könnte »Chaim«,»Jayme« oder »Jacques« sein –, gibtPaulo nie preis, er wird ihn in der Öf-fentlichkeit nur »den Meis ter«, »Jean«oder einfach nur »J.« nennen.

Mit ruhiger Stimme sagte Jean, erwisse wohl, dass der Brasilianer einenWeg der schwarzen Magie begonnen,diesen aber abgebrochen habe. Er seibereit, ihm zu helfen. »Wenn Sie denWeg der Magie wieder aufnehmen undSie es innerhalb unseres Ordens ma-chen wollen, kann ich Sie führen.Aber wenn Sie sich einmal dafür ent-schieden haben, müssen Sie alles, wasich Ihnen sage, widerspruchslos befol-gen.«

Autogeschichten Während der gleichen Europatourkaufte Paulo Coelho einen alten

Mercedes.

Nach einer Übernachtung in Buda-pest fuhren Paulo Coelho und Chris -tina weiter in Richtung Belgrad, derHauptstadt des damaligen Jugosla-wien, wo sie drei Tage bleiben wollten.Nicht dass sie Belgrad besonders reiz-voll fanden, vielmehr trauten sie sichkaum mehr, wieder in den kalten, un-bequemen Citroën zu steigen, den siefür die Reise gemietet hatten und densie nun zu gern wieder loswerdenwollten. Mit Hilfe des Geschäftsfüh-rers ihres Hotels gelang ihnen einSchnäppchen: Die Botschaft von In-dien bot einen hellblauen Mercedes-Benz zum Verkauf an, neun Jahre alt,aber in gutem Zustand, zum Spott-preis von tausend Dollar. Das Autohatte zwar schon etliche Kilometerzurückgelegt, besaß aber einen 110-PS-Motor und eine ordentliche Hei-zung. Der Autokauf sollte die einzigegroße Ausgabe auf der ganzen Reisesein. Für alles andere – Hotels, Re-staurants und Sehenswürdigkeiten –richteten sie sich nach dem bekanntenReiseführer Europe on 20 Dollars aDay, der aber immer noch um einigesanspruchsvoller war als die Bibel der

Hippies: Europe on 5 Dollars a Day.Ganz richtig: Im Jahr 1982 konnteman tatsächlich in jedem europäischenLand für bescheidene fünf Dollar amTag essen und übernachten.

In Südfrankreich, wo Paulo Coelho inder Nähe von Tarbes eine alte Mühleerwarb und zum Wohnhaus umbaute,fuhr er später einen einfachen, ge-leasten Renault Scénic. Sein sichtbaresDesinteresse an Konsumgütern, zudem eine gewisse Knauserigkeit hin-zukommt, haben dazu geführt, dasser, obwohl er sehr reich ist, erst imJahr 2006 seinen ersten Luxuswagenbekam, und selbst den bei einer ArtTauschgeschäft. Der deutsche Auto-hersteller Audi hatte bei ihm einenText von sechstausend Zeichen bestellt– das entspricht zwei Schreibmaschi-nenseiten – als Begleittext der jährli-chen Bilanz, die die Firma ihren Ak-tionären schickt. Coelho wurdegefragt, was er für die Arbeit habenwolle, und er hatte gescherzt: »EinAuto!«

Er schrieb den Text und schickteihn per E-Mail. Wenige Tage späterlud ein aus Deutschland gekommenerLastwagen einen glänzenden, schwar-zen Combi vor seiner Tür ab, einennagelneuen Audi Avant. Eine brasilia-nische Journalistin rechnete, nachdemsie erfahren hatte, dass der Wagenbeim Autohändler etwa 100 000 Eurokostet, nach und schrieb dazu, dassder Autor sechzehn Euro pro ge-schriebenen Buchstaben bekommenhatte. »Das ist sehr gut«, war seineReaktion, als er den Artikel las, »dennmir wurde gesagt, dass Hemingwayfünf Dollar pro Wort bekommen hat.«

Die Inspiration zum AlchimistenVon der ersten Auflage des ›Alchimis -

ten‹ wurden nur 900 Exemplare verkauft. Erst im zweiten Anlauf in

einem anderen Verlag wurde dasBuch, das eigentlich als Theaterstück

geplant war, ein Erfolg.

Der Alchimist ist ursprünglich alsEinmannstück geplant gewesen, nichtals Prosa: »Menescal und [der Schau-

spieler] Perry [Salles] haben mich an-gerufen und gebeten, ein Stück füreinen Mann allein auf der Bühne zuschreiben. Ich sah zufällig gerade dasVideo von Duell [Steven Spielberg,1971], einen Film über einen Mann,der allein unterwegs ist. Da hatte ichfolgende Idee: ein großes Laborato-rium, darin ein alter Mann, ein Alchi-mist, auf der Suche nach dem Stein derWeisen. Er möchte genau wissen, wasein Mensch durch Inspiration errei-chen kann. Der Alchimist (wäre viel-leicht ein guter Titel) würde Texte vonShakespeare und Chico Anysio dekla-mieren. Er würde Musik machen undSelbstgespräche führen, mehrere Per-sonen spielen. Es könnte ein Alchi-mist oder ein Vampir sein. Ich weißaus eigener Erfahrung, dass Vampiredie Phantasie der Menschen außeror-dentlich anregen, und Humor undHorror habe ich lange nicht zugleichauf der Bühne gesehen.

Aber genau wie Faust begreift auchder Alchimist, dass die Weisheit nichtin den Büchern, sondern in den Men-schen zu finden ist, und die Menschensitzen im Publikum.«

Das Stück gelangte nie auf dieBühne, doch diese kleine Skizze fürein Theaterstück wurde so lange bear-beitet und verändert, bis daraus erzäh-lende Prosa geworden war. Paulo waram Ende so innig mit dieser Geschichtevertraut, dass er kaum mehr als zweiWochen brauchte, um die zweihun-dert Seiten zu schreiben, die darauseinen Roman entstehen ließen.•

720 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06752-1

Die erste Biographie eines der bekanntesten und zugleich rätsel-haftesten Menschen unserer Zeit:

Paulo Coelho. Eine ebenso faszinierende wie auch strecken-

weise schockierende Lektüre.

Buchtipp

Fernando Morais Der Magier

Page 46: Diogenes Magazin Nr. 5

44 Diogenes MagazinD

Er schüttet die restlichen Muscheln ins große Sieb und schrubbt sie unter ¬ießendem Wasser mit der Gemüse -bürste ab. Die blassgrünen Venusmuscheln sehen sauberund lecker aus, weshalb er sie nur abspült. Einer der Rochen krümmt den Rücken, als wollte er aus dem kochen-den Wasser ¬iehen. (…)

Aus dem Kühlschrank nimmt er eine angebrocheneFlasche Weißwein, das letzte Viertel von einem Sancerre,und gießt ihn über den Tomatenmix. Den Seeteufel legt er auf einem breiteren, dickeren Hackbrett zurecht,schneidet ihn in Stücke und füllt ihn in eine große weißeSchüssel. Dann wäscht er das Eis von den Riesengarnelenund gibt sie gleichfalls dazu. Die Venus- und Miesmu-scheln kommen in eine zweite Schüssel. Mit Tellern ab -gedeckt, stellt er beide Schüsseln in den Kühlschrank. (…)

Er putzt die Küche, wischt den Dreck von der Küchen-insel in einen großen Mülleimer und bürstet die Schneid-bretter unter ¬ießendem Wasser. Dann ist es Zeit, den kochenden Rochen-und-Muschel-Sud in die Kasserolle zu gießen. Er schätzt, er hat jetzt um die zweieinhalb Liter hellorange Fischbrühe, die weitere fünf Minuten ein kochen soll. Kurz vor dem Essen wird sie dann noch einmal aufgewärmt, um mit den Venusmuscheln, dem Seeteufel, den Miesmuscheln und Garnelen erneut zehnMinuten zu köcheln. Zum Stew gibt es Vollkornbrot, Salat und Rotwein.•Aus dem Englischen von Bernhard Robben

Literarisches Kochen

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Er beginnt drei Zwiebeln zu schälen und kleinzu ha cken.Er hat keine Geduld mit der papiernen Außenhaut,

macht einen tiefen Einschnitt, drückt das Messer mit demDaumen durch vier Schichten und reißt sie herunter, verschwendet ein Drittel der Knolle. Den Rest schneidet erzügig klein und schüttet ihn in eine Kasserolle mit jederMenge Olivenöl. Die relative Ungenauigkeit und der Man-gel an Disziplin gefallen ihm am Kochen – eine Erholungvon den Anforderungen im Operationssaal. Sollte man inder Küche versagen, sind die Folgen nicht allzu schlimm:Enttäuschung, vielleicht ein An¬ug von selten geäußerterUnzufriedenheit. Niemand stirbt daran.

Er schält und zerkleinert acht dicke Knoblauchzehenund gibt sie zu den Zwiebeln. Was Rezepte angeht, hält ersich nur an die allgemeinsten Richtlinien. Er mag Koch-buchautoren, die von einer »Handvoll« reden, einer »Prise«,davon, dieses oder jenes »großzügig unterzumengen«. Siegeben alternative Zutaten an und ermuntern zu Experi-menten. Henry hat sich damit abgefunden, dass er nie einordentlicher Koch sein wird, dass er »nach Gefühl« kocht,wie Rosalind es nennt. Aus einem Becher schüttet er sich mehrere getrocknete rote Chilischoten in die Hand, zerdrückt sie und gibt die Schalenstücke mitsamt den Samenkörnern auf die Zwiebeln und den Knoblauch. (…)

Auf die glasigen Zwiebeln und den Knoblauch kommeneine Prise Safran, ein paar Lorbeerblätter, geriebene Orangenschalen, Oregano, fünf Sardellen⁄lets und zweiDosen geschälte Tomaten. (…)

Die Überreste der drei Rochen gibt er in einen Suppen-topf. Die Köpfe sind ganz, die Lippen mädchenha∫ voll.Sobald die Augen aber mit dem kochenden Wasser in Berührung kommen, werden sie trübe. (…)

Henry nimmt gut ein Dutzend Muscheln aus dem grünen Einkaufsnetz und kippt sie zu den Rochen. Falls sie noch leben und Schmerz spüren, weiß er nichtsdavon. (…)

Der Sa∫ der Tomaten köchelt mit den Zwiebeln und dem Rest vor sich hin und wird vom Safran orange-rot gefärbt. (…)

Aus dem RomanSaturday

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Banana Yoshimoto

Henry Perownes Fisch-Stew aus Ian McEwans Roman SaturdayVom Autor durchgesehen, deutsch von Werner Schmitz. Hinweis: Wo Mengenangaben fehlen, folgen Sie Ihrem Instinktoder Appetit.

Legen Sie die Knochen von drei Rochen (oder anderen Knochenfischen) inklusive der vollständigen Köpfe in einenSuppentopf mit kochendem Wasser (mindestens ein Liter).Wenn Ihr Fischhändler damit nicht dienen kann, nehmen Sie ein gutes Pfund Weißfisch. Geben Sie ein Dutzend Mies -muscheln in den Topf. Zwanzig Minuten lang kö-cheln lassen. Unterdessen schälen und hacken Sie drei Zwiebeln und acht große Knoblauchzehen.

Bei wenig Hitze mit viel Olivenöl ineiner Kasserolle anschwitzen. Wenn alles weich genug ist, fügen Siehinzu: zwei zerstoßene Chilischoten, eine Prise Safran, ein paar Lorbeerblätter,geriebene Orangenschale, Oregano, fünf Sardellenfilets, zwei Dosen geschälteTomaten.

Wenn sich in der Hitze alles gut vermischthat, geben Sie eine Viertelflasche Weißweinhinzu. Suppe abseihen und in die Kasserollegeben. Die Mischung zwanzig Minuten langköcheln lassen.

Die Venusmuscheln und die restlichen Mies-muscheln spülen und/oder abbürsten und ineine Schüssel legen.Die Seeteufelschwänze grob zerteilen und ineine zweite Schüssel legen.Die Riesengarnelen waschen und zu den See-teufeln legen.Beide Schüsseln in den Kühlschrank stellen.Vor dem Servieren die Kasserolle noch einmalaufkochen. Venus- und Miesmuscheln, See -teufel und Garnelen zehn Minuten lang in derKasserolle köcheln lassen.

Zu dem Eintopf passen Vollkornbrot, Salat undein kräftiger Rotwein.

Zutaten

– 3 Rochenknochen (oder anderer Knochenfisch) oder ein gutes Pfund Weißfisch

– ein gutes Dutzend Miesmuscheln

– 3 Zwiebeln– 8 große Knoblauchzehen– Olivenöl– 2 Chilischoten– 1 Prise Safran– Lorbeerblätter– 1 Orange– Oregano– 5 Sardellenfilets– 2 Dosen geschälte

Tomaten– 1/4 Flasche Weißwein

Nach Belieben:– Venusmuscheln– Miesmuscheln– Seeteufelschwänze– Riesengarnelen

Als Beilage:– Vollkornbrot– Salat– kräftiger Rotwein

Diogenes Taschenbuchdetebe 23627, 400 Seiten

Henry Perowne, 48, ist ein zufriedener Mann: erfolgreich

als Neurochirurg, glücklich verheiratet, zwei begabte Kinder.

Das Einzige, was ihn leicht beunruhigt, ist der Zustand der

Welt. Es ist Samstag, und er freutsich auf sein Squashspiel. Doch an

diesem speziellen Samstag, dem15. Februar 2003, ist nicht nur die

größte Friedensdemonstrationaller Zeiten in London. Perownehat unversehens eine Begegnung,

die ihm jeden Frieden raubt …

Buchtipp

Im nächsten Magazin:

Ian McEwanSaturday

Roman · Diogenes

Fish-Stewà la Ian McEwan

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46 Diogenes MagazinD

Der Frankfurter HofEinmal im Jahr, während der Buchmesse, ist Frankfurt die Bücher-Hauptstadt der Welt. Die Messe -hallen mit Hunderttausenden von Besuchern stehen zwar offiziell im Zentrum des Geschehens,aber der eigentliche Nukleus ist das Steigenberger Hotel Frankfurter Hof. Eine Woche langmachen die Literati und Glitterati im legendären Hotel die Nacht zum Tag.

Zimmer findet oder des nötigen Klein-geldes entbehrt, für den gibt es nochdie ehrwürdige Halle, die diversen Sa-lons und Restaurants, die Zigarrenbar,die Terrasse am Kaiserplatz und natür-lich die berühmte Autorenbar. Überallwird geredet, verhandelt, gekauft undverkauft, geplaudert, geplappert, ge-gessen, getrunken, gefeiert und undund … »Lesen Sie, um zu leben«, rietGustave Flaubert. Während derMesse, so scheint es, liest im Frank-furter Hof niemand, umso mehr wirdhier gelebt.

Wenn sich abends die Tore derMessehallen schließen, wird aus derFrankfurter Buchmesse die Frankfur-ter Hofmesse und das SteigenbergerGrandhotel zum Schauplatz eines wil-den Treibens, das bis in die Morgen-stunden geht.

Die Geschichten über wilde Partysin den Salons oder Zimmern sind so

Hof die erste öffentliche Fernsprech-stelle Frankfurts, und ein Jahr spätererhellten elektrische Glühbirnen dieZimmer und Hallen. Bei so viel Luxusverwundert es kaum, dass im gleichenJahr Hotellegende César Ritz ausParis lui-même das Hotel pachtete.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blie-ben vom Luxus leider nur die Fassa-den übrig, Bomben hatten im März1944 das Gebäude komplett zerstört.Doch Albert Steigenberger, der dasHotel 1940 gekauft hatte, gab nichtauf, und 1953 wurde das Hotel präch-tiger denn je wiedereröffnet. 1961 warder Frankfurter Hof nach diversen Er-weiterungen mit 700 Betten sogar dasdamals größte Hotel Deutschlands.

Heute sind es immer noch 229 Zim-mer und 33 Suiten, die natürlich alleausgebucht sind, wenn zur Frankfur-ter Buchmesse die Büchermenschendas Hotel überfallen. Und wer kein

Was ein wirkliches Grand Hotelist, habe ich erst wieder in

Frankfurt gesehen, im FrankfurterHof. Da weiß man doch, wofür manzahlt, und tut’s mit einer Art Freudig-keit«, schrieb Thomas Mann seinemBruder Heinrich im Mai 1907. Unddas Hotel gefiel Thomas Mann so gut,dass er sich revanchierte und denFrankfurter Hof literarisch adelte: DerRoman Die Bekenntnisse des Hoch-staplers Felix Krull entstand und spieltzu Teilen im Frankfurter Hof.

Der imposante Bau im Stil derHochrenaissance wurde 1876 einge-weiht: mit 250 Zimmern, 20 Salons,einem Speisesaal für 800 Personen,und schon damals mit Aufzügen und einer Dampfheizung. Für denKomfort der Gäste wurden jeglichetechnische Neuerungen bemüht: 1880 wurde der erste Telefonanschlussgelegt, 1891 besaß der Frankfurter

Legendäre literarische Orte

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Daniel Keel, Willy Brandt,Friedrich Dürrenmatt beieinem Abendessen im Frank-furter Hof 1985, an dem auch Rudolf C. Bettschart, Muriel Spark und Joan Aiken teilnahmen

Die berühmte (und während der Buchmesse berüchtigte) Autorenbar des Frankfurter Hofs

versuchen, den hohen Erwartungenvom Vorjahr nicht nur zu entspre-chen, sondern diese möglichst noch zuübertreffen. Vor allen Dingen freuenwir uns aber auch darauf, viele unsererlangjährigen Stammgäste und promi-nente Personen aus der literarischenWelt wieder bei uns begrüßen undverwöhnen zu dürfen.«

Natürlich gib es auch eine enge Ver-bindung zwischen dem FrankfurterHof und dem Diogenes Verlag: VieleDiogenes Autoren haben während derBuchmesse im Frankfurter Hof ge-wohnt, Friedrich Dürrenmatt, John Irving, Paulo Coelho oder Leon deWinter – um nur einige zu nennen.Viele Abendessen und Empfänge hatder Verlag in den Festsälen oder imRestaurant Français ausgerichtet, zumBeispiel das Treffen von Dürrenmattund Willy Brandt und das Abend -essen mit Federico Fellini, RudolfAugstein und Alice Schwarzer oderim Jahr 2002 den Empfang zum 50. Verlagsjubiläum. Viele Jahre langfand im Großen Ballsaal der DiogenesCocktail am Messe-Donnerstag statt.

sich’s versah, zapfte er die halbe Nachtlang Bier für die durstigen und drän-gelnden Gäste. An dem Abend sollder junge Autor mehr Geld einge-nommen haben als mit seinem erstenRoman.

Auf die wilde Messe und das bunteTreiben freuen sich nicht nur dieGäste, sondern auch die vielen Helferhinter den Kulissen. Und auch derChef höchstpersönlich. Was für einenVerlag der Verleger, der dem Haus dieHandschrift gibt, ist in einem Hotelder Direktor. Seit September 2008kümmert sich Spiridon Sarantopoulosum das Wohl seiner Gäste: »DieBuchmesse ist für den SteigenbergerFrankfurter Hof und seine Mitarbei-ter ein ganz besonderes Ereignis imJahr, für das bereits lange im Vorfeldviele Vorbereitungen getroffen wer-den. Wir sehen dieser Woche immerwieder gespannt entgegen, sie ist eineHerausforderung, auf die wir unsjedes Jahr freuen und bei der wir stets

geheimnisumrankt wie skurril: DieAutorenbar soll in einer Woche mehrUmsatz machen als manche Hotelbarin einem vergleichbaren Haus ineinem ganzen Jahr. Viele Kennerschwören, dass nach jeder Buchmessealle Teppiche im Foyer herausgerissenund ersetzt werden müssen. Es heißt,die besten Mitarbeiter aus allen Stei-genberger Hotels Deutschlands wer-den für die Woche der Buchmessenach Frankfurt verlegt, um dem An-sturm Herr zu werden. Andere mo-derne Legenden: Ein englischerKunstbuchverleger, der sich kein Zim-mer leisten kann, soll seit Jahren wäh-rend der ganzen Messe jede Nacht inder Bar in einem Sessel schlafen.Oder: Vor Jahrzehnten, im dichtestenGedränge, soll sich ein junger Autorhinter eine Bar gestellt haben, dienicht besetzt war, um sich ein Bier zuzapfen. Sofort wurde er von den Um-stehenden aufgefordert, auch für sieGetränke herauszugeben, und ehe erFo

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Ömer, wie ihn alle nennen, ist dieBuchmesse eine Art Marathon. Wäh-rend der Messe, bis jetzt hat er 37 hin-ter sich, ist die Autorenbar bis zurletzten Bestellung geöffnet, die vierMitarbeiter des Normalbetriebs wer-den von acht weiteren unterstützt; zu-sätzlich richtet man in der Empfangs-halle und im Flur einige weitere Barsein. Trotzdem ist alles ständig zumBersten voll, nicht nur die Barhockersind besetzt, sondern auch alle Trep-penstufen. Ömer Gezer ist der Mann,der gelassen auch noch im Morgen-grauen seinen Mantel wieder ablegtund den Gästen ein »letztes« und »al-lerletztes« und »allerallerletztes« Glasnachschenkt.

Während der Messe ist Ömermanchmal im 24-Stunden-Einsatz,völlig übermüdet, aber immer gedul-dig und freundlich. Er ist der Bar-mann, dem weltweit wohl am meis tenBücher gewidmet wurden. Nicht we-nige Male half er einem Gast, dem dasGedränge zum Hindernis wurde, sichauf Schleichwegen und durch geheime

Herrn Carl ist kein Hotel.« Wenn sichein neuer Autor anmeldet, drucktHerr Carl schon mal ein Porträtbildaus, reichert es mit wichtigen Datenzu Leben und Werk an und verteilt dieInformationen unter dem Hotelperso-nal, damit der Gast entsprechend be-grüßt werden kann. Viele Schriftstellerund Verleger kennt er seit Jahrzehntenund führt die letztjährigen Gesprächemit den Stammgästen fort wie mitalten Bekannten.

»Während der Buchmesse weht einganz besonderes Flair bei uns durchsganze Haus«, so Hoteldirektor Spiri-don Sarantopoulos. »Genau dieserBezug zwischen dem Frankfurter Hofund der Buchmesse liegt dem NamenAutorenbar zugrunde. Die Bar heißtseit 1988 so und etablierte sich sofortbei Gästen wie Mitarbeitern. Was wäh-rend der Buchmesse in der Autoren barlos ist, ist einfach legendär«, erzähltstolz der Hoteldirektor.

Hinter dem Tresen der Autorenbarsteht Barchef Ömer Gezer, oder sollteman lieber sagen: läuft? Denn für

Über 20 Empfänge und 30 Dinerswerden im Hotel währen der Buch-messe veranstaltet, im Bankettbereichwerden für ca. 2000 Gäste Menüs,Buffets und Snacks zubereitet. Wieviele Liter Champagner und anderesPerlendes oder Hochprozentiges denDurst der Gäste löschen, darüberschweigt Hoteldirektor Spiridon Sa-rantopoulos galant. Aber bei solcheinem Betrieb wird deutlich: »Egalwie exklusiv und überzeugend einHotel ist, das wichtigste Kapital sindseine Mitarbeiter.«

Und Sarantopoulos kann sich aufviele langjährige Mitarbeiter stützen.Für den Chef-Concierge Jürgen Carl ist die diesjährige Buchmesse die44. im Frankfurter Hof. Herr Carlkennt alle Geheimnisse der Buch-messe. Er ist selber belesener Buch-liebhaber und umgekehrt wohl der beliebteste Concierge der Buchwelt.Elke Heidenreich schrieb über ihn:»Seine Seele ist riesengroß und wärmtuns alle.« Diogenes Verleger DanielKeel meint schlicht: »Ein Hotel ohne

Fortsetzung auf S. 50

Bei ihm bleiben die Gläser nie leer:Ömer Gezer, derChef der Autorenbar

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Diogenes Verleger Daniel Keel am Empfang zum 50. Verlagsjubiläum im Oktober 2002 im Frankfurter Hof.Neben ihm seine Frau Anna Keel, in Hintergrund Doris Dörrie, AliceSchwarzer und Rudolf C. Bettschart.

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Der Bücher-ConciergeFür Jürgen Carl ist die Buchmesse der Höhepunkt des Jahres im Frankfurter Hof, denn dannkann der Chef-Concierge zwei Leidenschaften verbinden: den Gästen jeden Wunsch erfüllenund seine Liebe zu Büchern leben. Ein Gespräch über Bücher und Büchermenschen mit dem»Magier des Hotels«, wie ihn Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész genannt hat.

Interview

Muss – nimmt viel Zeit vom Bücherle-sen. Bücher lese ich zu Hause am Tagund in der Nacht. 15 Stunden in derWoche kommen da schon zusammen. Was ist Ihr liebstes Diogenes Buch?Diese Frage ist schwer zu beantwor-ten bei den vielen Diogenes Büchern in meiner Bibliothek. Ich leiste imGeiste Abbitte bei denen, die ich nichtnenne und »liebe«. Am Tag lese ichCarson McCullers und in der NachtBarbara Vine – und beide oben ge-nannten Damen mögen mir verzeihen,dass ich trotz meiner Liebe zu ihnenoft »fremdgehe«. Haben Sie ein Lebensmotto?Im Feuilleton der Frankfurter Allge-meinen Zeitung schrieb vor kurzem Felicitas von Lovenberg unter demTitel »Das Leben ist lesenswert« überden neusten Roman Solar von Ian Mc Ewan. »Das Leben ist lesenswert«käme durchaus als Lebensmotto fürmich in Frage. Ansonsten: »Nimmdich nicht so wichtig, den nächstenTag dafür umso mehr.«•kam /msc

Was ist schöner, lesen oder schreiben?Lesen ist das größte Glück.Was bringt Sie aus der Ruhe? Nicht der Trubel während der Buch-messe. Sehr unruhig werde ich aber,wenn der Stapel ungelesener Bücherimmer kleiner wird.Sind Autoren und Verleger schwie-rige Gäste?»Liebe macht blind«, sagt man. Da ichAutoren und Verleger liebe und ver-ehre, denn sie schenken mir die glück-lichsten Stunden im Leben, habe ichkeine Schwierigkeiten mit ihnen. »Bü-chermenschen« sind eine ganz beson-dere, liebenswerte Spezies.Wie hat sich die Buchmesse im Laufder Jahre verändert?Wo sind heute die »Verlagspatriarchenund -gründer«, die lange Jahre dasBild der Buchmesse durch ihre Per-sönlichkeit geprägt haben? Die wun-derbare Atmosphäre der Buchmesseist aber trotzdem geblieben.Haben Sie genug Zeit zum Lesen?Leider, leider nein. Das Zeitunglesen –und das ist für den Concierge ein

Diogenes Magazin: Wie haben SieIhre Liebe zu Büchern entdeckt?Jürgen Carl: Im sehr, sehr armen Kin-derheim, in das ich nach dem ZweitenWeltkrieg kam, gab es keine Bücher,mit einer Ausnahme: die Bibel. Diehabe ich von A bis Z gelesen, und ihrInhalt hat mein Leben bis heute ge-prägt. Darum freue ich mich auch,dass der Diogenes Verlag Meister Eck-hart und andere geistliche Literatur imProgramm hat. Das »Buch der Bü-cher« hat meine Liebe zur Literaturgeweckt.Sie sind über 70, warum arbeiten Sienoch immer?Da gibt es mehrere Gründe. Einerdavon ist sicherlich die Buchmesseund die Begegnung mit »Bücherma-chern«. Das möchte ich auf keinenFall missen.Im Oktober erscheint Ihr Buch VomGlück, für andere da zu sein im Lübbe-Verlag. Hatten Sie den Wunsch, einBuch zu schreiben? Der Wunsch bestand nicht – manmusste mich »überreden«.

Page 52: Diogenes Magazin Nr. 5

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Wandkalender mit 61 BlattFormat 24 x 28 cm

€ (D) 19.90 / € (A) 19.90 / sFr 30.50 ISBN 978-3-0347-6011-9

Arche Literatur Kalender 2011Orte & Landschaften

»Manche Dinge fallen nie aus derZeit. Nach mehr als 25 Jahren ist

er längst zum modernen Klassikeravanciert.« Spiegel Online

Wandkalender mit 26 BlattFormat 23,9 × 29,6 cm

€ (D) 18.– / € (A) 18.– / sFr 32.90 ISBN 978-3-538-03013-8

Artemis & WinklerKünstler und ihre Katzen 2011

26 Katzendarstellungen mit Zitatennamhafter Autoren, begleitenden

Texten und Wissenswertem rund umdie Katze – fast eine kleine Katzen-

kulturgeschichte.

Wandkalender mit 53 BlattFormat 24,2 × 29,6 cm

€ (D) 19.95 / € (A) 19.95 / sFr 36.50 ISBN 978-3-538-03011-4

Artemis & Winkler Literaturkalender 2011

Der literarische Begleiter durch die Wochen des Jahres 2011 bringt Literatur

und Kunst auf überraschende, intelli-gente, oft witzige Weise zusammen.

Gänge auf sein Zimmer zurückzu-ziehen. Ömer macht das Unmögli-che möglich und lässt schon malum fünf in der Früh ein Katerfrüh-stück in der eigentlich geschlosse-nen Küche servieren. Als ein run-der Geburtstag von Jakob Arjounivor einigen Jahren mitten in dieBuchmesse fiel und Freunde ihmeinen selbstgebackenen Geburts-tagskuchen in einer Weinstube inHaidhausen überreichten, gestat-tete der Wirt nicht, dass der Kuchen in seinem Restaurant an -geschnitten würde. Die Geburts-tagsparty wurde schnurstracks inden Frankfurter Hof verlegt. ÖmerGezer organisierte sofort Sitzplätzefür 20 Personen, obwohl die Hallezum Bersten voll war – und schnitthöchstpersönlich die Geburtstags-torte an.

Aber im Frankfurter Hof küm-mert man sich rührend nicht nurum Gäste, die schreiben, Bücherverlegen, einen Nobelpreis gewon-nen haben oder Literaturpapstsind – und auch nicht nur währendder Buchmesse. Denn, so Hotel -direktor Spiridon Sarantopoulos:»Lediglich zufriedene Gäste rei-chen nicht, nur begeisterte Gästebringen noch andere mit. JederGast soll nach seinem Aufenthalteine schöne Geschichte erzählenkönnen«. Und der Frankfurter Hofkann viele Geschichten erzählen …

Für Bücherliebhaber ist derFrankfurter Hof deshalb auch au-ßerhalb der Buchmesse eine idealeAdresse, denn dann findet man inder Autorenbar problemlos einenfreien Sessel, und die vielen Bücherin den Regalen sind endlich zusehen. Und am wichtigsten: End-lich herrscht Ruhe – zum Lesen.•kam / js

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Der Klassiker seit 1986: Der komischste aller Literatur-

kalender. Weisheiten und Frechheiten für jeden Tag.

Fortsetzung von S. 48

Page 53: Diogenes Magazin Nr. 5

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Top 10

Im nächsten Magazin:

Joey Goebel

Top10 Deutsche WörterWoche zum Unterricht zu gehen. Nachjedem Monat Lernen belohnt mich meinLehrer damit, dass er mir ein deutschesSchimpfwort beibringt.

5. Plötzlich Rasch lernte ich, dass deutsche Vokallautenicht so fließen, wie ich es gewohnt bin. Ichbin aus Kentucky, spreche mit Südstaaten-akzent und dehne meine Vokale. Deswegenklingt mein Deutsch vermutlich ganz be-sonders albern. Und dann gibt es noch dieseabgefahrenen Umlaute, wie in dem phantas -tischen Wort »plötzlich«, die für Englisch-sprechende doch recht gewöhnungs bedürftig

sind. Dr. Barrette erzählte mir, um denUmlaut zu meistern, solle ich mir vorstel-len, jemand nähme den oben erwähnten»Kugelschreiber« und führte ihn von untennach oben in meine Person ein.

6. Schlafen Dieses Wort ist mir besonders ans Herz gewachsen, da einer der ersten Sätze, die icherfolgreich auf Deutsch von mir gab, »Ichmuss schlafen« lautete, und zwar, als ich inHamburg zu einer Lesereise eintraf, nach-dem ich im Flugzeug nicht schlafen konnte.Außerdem gehört es unbedingt in dieseListe, weil ich wenigstens ein Verb brauche,ohne das kein Satz komplett ist. Währendsich mein Wortschatz nach fünf Monatenganz ansprechend entwickelt, habe ich miteurem Satzbau immer noch so meine Probleme. Und ich wünschte mir inständig,ich hätte nie das Wort »Dativ« gehört, denn bisher treibt mich dieser Aspekt desDeutschen regelrecht in den Wahnsinn.

7. Genau Wenn man eine neue Sprache lernt und vonMuttersprachlern umgeben ist, frustrierteinen das ungemein. Sie reden so schnell,und allein die Vorstellung, je mit ihnenSchritt halten zu können, kommt einem unerreichbar vor. So habe ich mich auf meiner letzten Lesereise gefühlt. Doch hinund wieder fühlt man sich ermutigt, wennein vertrautes Wort auftaucht, bei dem manam liebsten schreien würde: Das habe ichverstanden! So war es bei mir mit »genau«.Ihr sagt das oft und gern.

8. Töten Ein weiteres deutsches Wort, das ausdrucks- stärker ist als sein englisches Pendant. Esklingt angemessen bedrohlich und hat irgendwie etwas Endgültiges. Auch mussich dabei an eine angenehme Erinnerungvon meiner Lesereise denken, als mich derDiogenes Verlagsvertreter Tilman Sollederin einen Plattenladen mitnahm, wo ich mirCDs der Toten Hosen kaufen sollte, mit der Bemerkung, da ich Punkrock mochte,würden diese Burschen eventuell meinDeutsch verbessern.

9. Geschirrspülmaschine Das schwierigste Wort, das ich lernen musste.Als ich es auswendig konnte, empfand ich das als kleinen Triumph. Eigentlich keinWort, sondern ein kompletter Satz.

10. Neunundzwanzig Im Grunde ist das mein absolutes Lieb-lingswort. Wenn ich Leuten einen deut-schen Beispielsatz nennen soll, entscheideich mich immer für »Ich bin neunundzwan-zig«. Letzteres gern in wütendem Tonfall.Welch ein Wort! Sogar eure Zahlwörter sindkraftvoll! Deutsch zu lernen ist schwierigund bringt mich häufig zur Verzweiflung,doch ich mag die irren Dinge, die es mitmeiner Zunge anstellt. Und wenn schließ-lich »neunundachtzig« des Wegs kommt,kann ich eure Sprache vielleicht fließend.

Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Von Joey Goebel ist zuletzt der Roman ›Heartland‹ als Diogenes Taschenbuch erschienen.

1. Kugelschreiber Vorab eine Erklärung: Ich bin ein amerika-nischer Schriftsteller, dessen Bücher sich inden USA nicht verkaufen; die Menschensind zu sehr damit beschäftigt, Sex mit TigerWoods zu haben, um zu lesen. Die deutsch-sprachige Leserschaft hingegen hat meineRomane mit offenen Armen aufgenommen,was in mir – einem zutiefst einsprachigenProdukt des amerikanischen Schulsystems –den Wunsch weckte, Deutsch zu lernen.Was natürlich keineswegs leicht ist. »Kugel-schreiber« steht beispielhaft dafür, wieschwer es mir mitunter fällt, deutsch zusprechen, verglichen mit englisch, wo ichschlicht und einfach »pen« sagen würde.Aus meinen einsilbigen Wörtern werdeneure Ungetüme mit 14 Buchstaben.

2. Krankenschwester Doch in diesen Ungetümen findet sich somanche Schönheit. Klar, Deutsch ist nichtdie melodiöseste aller Sprachen, was ichaber durchaus reizvoll finde, weil gerade die schroffen Laute euren Wörtern Energieverleihen. In meinen Ohren haben Wörterwie »Krankenschwester« etwas Kraftvolles,Wuchtiges. Verglichen mit einem derartbrutalen Wort wirkt das englische Pendant»nurse« fade und leblos. Es auszusprechenmacht richtig Spaß, und wenn ich es sage,fühle ich mich deutsch. Ähnlich geht es mir bei »Schornsteinfeger«, »schmutzig«,»faltenfrei«, »dort drüben« und »fünf«.

3. Badewanne Andererseits stoße ich gelegentlich auf eindeutsches Wort, das anmutig dahinfließt.Vergleichen Sie mein kaltes, schlichtes »bath tub« mit eurer warmen, einladenden»Badewanne«, ein Wort, das so sexy klingt,dass jede Stripperin gut beraten wäre, es als Künstlernamen zu nehmen.

4. Bitte Höflichkeit steht bei mir ganz oben, daherbin ich von diesem höflichen Mehrzweck-wort beeindruckt. Mein Deutschlehrer Dr. Craig Barrette, einer meiner ehemaligenLiteraturprofessoren, sagte mir, solange ichmöglichst viele »bitte« einstreue, wäre allespaletti. Ich vertiefe mich nicht nur täglicheine halbe Stunde lang in ein Deutsch-Lehr-buch, sondern versuche auch, ein Mal pro

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Top10 Lieblingsautoren von Philippe Djian

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Interview

Tilman Krause im Gespräch mit Bernhard Schlink

Es gibt keine falschen Entscheidungen,

nur verschiedene Leben

Tilman Krause: Herr Schlink, inIhrem neuen Buch, den sieben Erzäh-lungen, die Sie unter dem Titel Som-merlügen zusammengefasst haben,wird sehr viel gereist. Erleben reisendeMenschen einfach mehr als andere?Bernhard Schlink: Sie kennen dasschöne Gedicht des Berliners Gott-fried Benn, das rhetorisch fragt: »Mei-nen Sie, Zürich zum Beispiel sei einetiefere Stadt …?«, um selbst die Ant-wort zu geben: »Ach, vergeblich dasFahren …« Aber im Ernst: Reisen be-wirkt zweierlei. Einerseits wirft eseinen auf sich selbst zurück, mehr, alsdies das alltägliche Leben tut. Ande-rerseits wirft einen das Reisen aberauch in ungewöhnliche, fremde, neueSituationen. Diese Mischung machtden Reiz des Reisens aus, den Reiz,

sich neu zu erfahren. Damit erlebtman tatsächlich mehr.Sie selbst sind ein Mensch, der vielherumkommt. Sie haben Gastpro-fessuren in der gesamten englisch-sprachigen Welt absolviert, beson-

ders gern und oft in New York. Spu-ren davon finden sich zuhauf in die-sem Buch. Ist der autobiogra phischeAnteil hoch in diesem Band?Natürlich gibt es einen autobiogra -phischen Anteil. Es gibt ihn immer.Aber … lassen Sie es mich mit einem

Bild ausdrücken: Ich habe in einemTal Ferien gemacht und phantasieredanach über das Nachbartal, das hin-ter dem Berg liegt, zu dem ich immerwieder geschaut habe – es wird ähnlichwie mein Tal sein, aber vielleicht auchganz anders.Aus diesem bildlichen Ausdruck darfman wohl schließen, dass das Auto-biographische nur der Anstoß ist:Was Sie dann daraus machen, hatwiederum viel mit Ihrer Phantasiezu tun. Aber kommen wir noch ein-mal auf das Reisen zurück. Gibt esbei Ihnen eigentlich auch einen Zu-sammenhang zwischen Reisen undSchreiben?Ich habe in meinem Leben als Jurapro-fessor oft auf Reisen die Zeit gesuchtund gefunden, um zu schreiben. Inso-

Fernweh, Familienbande, Intimität, Entscheidungen, Lebenslügen – das sind die Themen in Bernhard Schlinks neuen Erzählungen, die der Literaturkritiker Tilman Krause im exklusiv fürdas ›Diogenes Magazin‹ geführten Gespräch mit Bernhard Schlink aufgreift.

Ich liebe das schreibendeReisen oder das

reisende Schreiben.

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fern besteht ein Zusammenhang zwi-schen Reisen und Schreiben. Ich warbei mir und zugleich frei vom Alltagund seinen Routinen und Zwängen. Ja,ich habe das schreibende Reisen oderreisende Schreiben immer sehr geliebt,und ich liebe es immer noch.Die Liebe zum Reisen ist ja ein alterdeutscher Topos und sehr wichtigfür unsere Literatur. DeutscheDichter haben das Reisen gern be-frachtet. Denken wir an Goethe undseine »Neugeburt« in Italien, den-ken wir an die Romantiker und ihreErlösungsbedürftigkeit. Hat dasReisen für Sie auch eine metaphysi-sche Dimension?Fernweh ist eine Variante des Heim-wehs. »Wo gehen wir hin? Immernach Hause«, heißt es bei Novalis, umauf Ihre Romantiker zu kommen. Wassuchen wir eigentlich, wenn wir rei-sen? Uns selbst? Unsere Kindheit?Den Bauch der Mutter? Wie dasHeimweh nicht wirklich gestillt wer-den kann, kann es auch das Fernwehnicht, und die eine Reise erzeugt nurden Wunsch nach der nächsten. Ande-rerseits will ich nicht verschweigen,dass ich mich vor jeder Reise gefragthabe und bis heute frage: Was macheich eigentlich? Warum fahre ich dort-oder dorthin? Warum bleibe ich nicht,wo ich bin? In gewisser Weise ist dasReisen gegen meine Natur. Ich bin einanhänglicher Mensch. Anhänglich anPersonen, anhänglich an Orte. Aberich weiß: Was wäre ich ohne meineReisen? Wenn ich mich überwundenhatte zu fahren, hat es sich immer ge-lohnt.Ihre Anhänglichkeit an Personenund Orte zeigt sich auch an demhohen Stellenwert, den Sie in IhrenErzählungen jeweils der Familie, dereigenen wie der Herkunftsfamilie,einräumen. Fast alle ProtagonistenIhrer sieben neuen Erzählungen de-finieren sich stark über ihr Verhält-nis zur Mutter, zum Vater. Ist Fami-lie für Sie eine Schicksalsmacht?Ganz ohne Frage ist sie das, auchwenn sie heute oft ein Patchwork ist.Die Prägung durch die Eltern ist fun-damental. Dabei ist es gleichgültig, ob

es sich um harte, rigide Eltern handelt,wie meine Generation sie noch ofthatte, oder um weiche, liberale, ver-ständnisvolle. Denken Sie nur an dieBeziehungsmuster: Für meine Gene-ration hatte die Rebellion gegen dasElternhaus zentrale Bedeutung, unddie erste Liebe, die erste Beziehunggab der Rebellion oft den emotionalenRückhalt. Das hat umgekehrt der ers -ten Liebe oft eine erstaunliche Stabili-tät gegeben. Gegenüber den weichenEltern entfällt das Bedürfnis nach Re-bellion meistens. Und prompt ändernsich auch die Beziehungsmuster. Ich

sehe bei den jüngeren Generationenviel offenere, diffusere, sowohl unver-bindlichere als auch freundlichereMuster. Man findet sich leichter undlässt sich leichter gehen. Es fehlt dasUnbedingte. Auch bei anderen The-men spielen die weicheren Verhaltens-modelle, die Eltern heute vorleben,eine wichtige Rolle: Man schwingtleichter hier mit und dort mit. Das isteine so schicksalsmächtige Prägungdurch die Familie, wie meine Genera-tion sie erfuhr, nur von anderer Art.In der Erzählung Das Haus im Waldhaben Sie einen Protagonisten er-funden, der so sehr in Familienselig-keit schwelgt, dass er nicht erträgt,wie seine Frau eigene Wege geht.Am Schluss versperrt er ihr gera-

dezu den Weg zur Außenwelt undzerstört damit letzlich seine Familie.Haben Sie damit auch den Klam-mergriff, das Überholte dieser Le-bensform zeigen wollen?Die Sehnsucht nach Familie hat beidiesem Protagonisten etwas Kompen-satorisches; die Familie soll ihn dafürentschädigen, dass er als Schriftstellerim Vergleich zu seiner Frau erfolglosbleibt. Mit dieser kompensatorischenAufgabe überfrachtet, kann die Sehn-sucht nicht mehr in ein sinnvolles Le-bensmodell umgesetzt werden. DerHeld wird übergriffig, überwältigend.Zwar will sich seine Sehnsucht vonden traditionellen Rollenbildern vonMann und Frau lösen, sie kann es abernicht und erzeugt ebenfalls den Klam-mergriff des traditionellen Familien-modells, nur noch vereinnahmender,noch zerstörerischer.In der vorletzten Erzählung imBand Johann Sebastian Bach aufRügen scheinen Sie mir ein anderesProblem der Lebensform Familieaufs Korn nehmen zu wollen, dasman als »Tyrannei der Intimität« be-zeichnen könnte: Ein Sohn machtmit seinem Vater eine Reise, um ihmnäherzukommen. Er bombardiertihn mit Fragen, und am Ende istihm sein Vater fremder als je zuvor.Ja, das Phänomen, das Richard Sennett»Tyrannei der Intimität« genannt hat,beschäftigt mich. Ich selbst habe nachdem Tod meines Vaters manches Malgedacht: Vielleicht hätten wir einmalmiteinander wegfahren sollen, viel-leicht hätte es uns einander näherge-bracht, wenn wir zusammen ans Meergefahren wären und Bach gehört hät-ten, was wir beide liebten bzw. lieben.Das spiele ich in der Geschichte durch.Aber vielleicht muss man sich mit derTatsache abfinden, dass Intimität zwi-schen Eltern und Kindern nur be-grenzt lebbar ist. Wie man sich mit derTatsache abfinden muss, dass sich hin-ter der harten, abweisenden Seite, dieEltern manchmal zeigen, nichts Wei-ches verbergen muss, das nur ver-schüttet ist, sondern tatsächlich etwasHartes, vielleicht sogar Befremdlichesliegen kann. Das muss man stehenlas- Fo

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sen können. Es lässt sich nicht alles Be-fremdliche in Wohlgefallen auflösen.Ein anderes Phänomen, das heutedas Zusammenleben der Menschenerschwert, so könnte man aus IhrenErzählungen schließen, sind die vie-len Bilder vom Sex, die im Umlaufsind. Mehrere Paare in Ihren Textenscheitern daran, dass sie den vorge-fertigten Bildern von gutem und er-fülltem Sex zu entsprechen suchen.Das geht dann schief.Ich empfinde manchmal einen gewis-sen kulturellen Neid, wenn ich an die Zeiten und Kulturen denke, indenen jedes Paar seine Erotik und Se-xualität noch für sich und alleine erfin-den konnte und nicht mit Bildernüberschüttet war, wie Leidenschaftund Orgasmus und Erschöpfung nach dem Liebesakt klingen und aus-sehen müssen. Gewiss, wenn manmiteinander vertraut ist, entsteht alle-mal etwas Individuelles, Unverwech-selbares. Aber zunächst ist heute allesvorgeprägt, und viele Paare versucheneher, der Prägung gerecht zu werden,als das Ihre zu finden.Eine große Rolle in Ihren Erzählun-gen spielt das Thema Entscheidun-gen: Woran bemisst sich, ob mansich im Leben für das Richtige oderfür das Falsche entschieden hat?Das Thema beschäftigt mich immerwieder, und in meinen Geschichtenspiele ich verschiedene Antworten aufdie Herausforderung, sich zu entschei-den, durch. Ich bin geneigt, Adalbertaus der letzten Geschichte Die Reisenach Süden recht zu geben, der meint,es gebe keine falschen Entscheidun-gen, es gebe nur verschiedene Leben.Aber ich bin mir nicht sicher.Ist der Weisheit letzter Schluss nichtvielleicht, die richtige Entscheidungnicht so sehr rational herbeiführenzu wollen, sondern mehr auf das»Es« zu vertrauen, »aus dem Bauchheraus« zu entscheiden? Diese Hal-tung scheint die Erzählung Derletzte Sommer nahezulegen, in derSie so einen planvollen Menschenvorführen, der immer alles strate-gisch angeht, sogar seinen eigenenTod, der immer »alle Zutaten des

Glücks« zusammenhat, und derdann doch nur ein Glück bekommt,das »nicht stimmt«?Scheitert der Protagonist dieser Ge-schichte daran, dass er dem »Es« zuwenig vertraut? Vielleicht. Aber waskönnten wir daraus lernen? Hätte ichauf mein »Es« gehört, hätte ich dieReisen nicht gemacht, die ein Teil vonmir geworden sind. Das »Ich« undauch das »Über-Ich«, um bei demFreud’schen Modell zu bleiben, lassensich nicht ausschalten. Warum sollteman auch?Kommen wir zum Schluss noch aufdas Thema Lügen, das Ihrem ge-samten Buch den Stempel aufge-drückt hat. Kommen wir vor allemauf die letzte Ihrer Erzählungen,Reise nach Süden, in der eine alteFrau eines Tages feststellt, dass sieihre Kinder und Enkel nicht mehrliebt, dass sie sich lange Zeit nur ein-geredet hatte, sie zu lieben. Mit dieser Lebenslüge räumt sie dannauf. Ist es, allgemein gesprochen, im Alter einfacher, auf das Lügen,auch das Sich-selbst-Belügen, zu ver-zichten?Ich merke es an mir selbst. Ich machemir nicht mehr so viele Illusionenüber mich wie früher. Lebenslügendienen dazu, Frustrationen, Enttäu-schungen, Konflikte zu vermeiden. ImAlter hält man den Frustrationen bes-ser stand. Im hohen Alter sehe ich dasbei manchen allerdings eine Gestaltannehmen, die ich traurig finde. Siekennen sicher auch die alten Men-schen, die gewissermaßen den Gesell-schaftsvertrag, unter dem man zumanderen freundlich ist, damit er auchzu einem freundlich ist, aufkündigen.Sie sagen sich, und sie sagen es oft ver-härtet und verbittert: Warum soll ichzum anderen noch freundlich sein, woich doch bald tot bin? Aber der Ver-zicht auf Lebenslügen muss nicht inVerhärtung und Verbitterung führen.Desillusionierungen sind auch erleich-ternd, und mit ihnen lässt sich leicht,spielerisch, ironisch umgehen. Undwenn wir sie akzeptieren, lassen sieuns überdies milder gegenüber ande-ren werden.

Sie würden also sagen, um mit Inge-borg Bachmann zu sprechen: »DieWahrheit ist dem Menschen zumut-bar«?Ja. Zugleich denke ich, dass wir gutdaran tun, mit den Lebenslügen deranderen behutsam umzugehen. Le-benslügen kompensieren Lebens-schwächen, und das Zerschlagen derLebenslüge bringt die Lebensschwä-che ans Licht – eher etwas für einePsychoanalyse oder -therapie als füreine Freundschaft. Jedenfalls gibt eseine Wahrheitsbrutalität, die ichschrecklich finde – und dann gilt derSatz von Ingeborg Bachmann nichtmehr.•

7 CD, Spieldauer 475 Min.ISBN 978-3-257-80297-9

Lebensentwürfe, Liebeshoffnungen,Alterseinsichten – was ist Illusion,und was stimmt? Was bleibt, wenneine Illusion zerplatzt? Die Flucht

in eine andere? Weil das Leben ohne Lebenslügen nicht zu bewältigen ist?

Sieben irritierend-bewegende Geschichten von Bernhard Schlink.

Auch als Hörbuch, gelesen von Hans Korte

Buchtipp

DiogenesHörbuch

Gelesen vonHans Korte

»Bernhard Schlinkist einer der

erfolgreichsten undeiner der viel-

seitigsten deutschen Schriftsteller der

Gegenwart.« Volker Hage/

Der Spiegel

7 CD

BernhardSchlink

Sommerlügen

BernhardSchlink

Sommerlügen

Diogenes

288 Seiten, LeinenISBN 978-3-257-06753-8

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Erzählung

Der letzte SommerEine Erzählung von Bernhard Schlink

Mit Bildern von Anna Keel

Er erinnerte sich an sein erstes Se-mester als Professor in New York.

Wie hatte er sich gefreut: als die Einla-dung kam, als er das Visum im Passhatte, als er in Frankfurt ins Flugzeugstieg und in JFK mit dem Gepäck indie Wärme des Abends trat und eineTaxe in die Stadt nahm. Auch den Flughatte er genossen, obwohl die Reiheneng und die Sitze schmal waren; als sieüber den Atlantik flogen, sah er in derFerne ein anderes Flugzeug, und ihmwar, als sitze er auf dem Deck einesSchiffs, dem auf dem weiten Meer einanderes Schiff begegnet.

Er war schon oft in New York ge-wesen, als Tourist, zu Besuch beiFreunden, als Gast auf Konferenzen.Jetzt lebte er im Rhythmus der Stadt.Er gehörte dazu. Er hatte eine eigeneWohnung, wie alle; sie war zentral ge-legen und nicht weit vom Park undvom Fluss. Wie alle nahm er morgensdie U-Bahn, zog die Fahrkarte durchden Schlitz, ging durchs Drehkreuzund über die Treppe auf den Bahn-steig, drängte sich in einen Wagen,

konnte sich nicht rühren und die Zei-tung nicht umblättern und drängtesich nach zwanzig Minuten aus demWagen. Am Abend fand er in der U-Bahn einen Sitzplatz, las die Zeitungzu Ende und erledigte in der Nachbar-

schaft seiner Wohnung Besorgungen.Er konnte zu Fuß ins Kino und in dieOper gehen.

Dass er in der Universität nichtganz dazugehörte, störte ihn nicht.Die Kollegen hatten mit ihm nicht zubesprechen, was sie untereinander zubesprechen hatten, und die Studentennahmen ihn, dem sie nur ein Semesterlang begegneten, nicht so ernst wie dieProfessoren, mit denen sie Jahr um

Jahr zu tun hatten. Aber die Kollegenwaren freundlich und die Studentenaufmerksam, sein Unterricht war einErfolg, und aus dem Fenster seinesBüros hatte er den Blick auf eine goti-sche Kirche aus rotem Sandstein.

Ja, er hatte sich gefreut, schon vordem Aufbruch und auch noch nachder Rückkehr. Aber eigentlich war erdort unglücklich. Sein erstes Semesterin New York war das erste Semester,in dem er an seiner deutschen Univer-sität nicht unterrichten musste – erhätte gerne diese Freiheit genossen,statt wieder zu unterrichten. SeineWohnung in New York war düster,und im Hof lärmte die Klimaanlage solaut, dass er sich Stöpsel in die Ohrenstecken musste, um schlafen zu kön-nen. An vielen Abenden, an denen eralleine in billigen Restaurants aß oderschlechte Filme sah, fühlte er sich ein-sam. In seinem Büro blies die Kli-maanlage trockene Luft in sein Ge-sicht, bis seine Nebenhöhlen eitertenund er sich operieren lassen musste.Die Operation war furchtbar, und als

Ein Mann, unheilbar krank, arrangiert einen letzten Sommer mit den Seinen, um in den Tod zugehen, wenn das Leben noch schön ist. Aber bald muss er merken, dass sich das Leben, wieauch das Sterben, nicht genau planen lässt. Der letzte Sommer wird für ihn ein Sommer desNachdenkens über Glück, Lebensentwürfe, Lebenslügen – und über die Liebe.

Die Idee des gemeinsamen Sommers,seines letzten Sommers,

war die Idee eines letztengemeinsamen Glücks.

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er aus der Narkose aufwachte, fand ersich nicht in einem Krankenbett, son-dern auf einem Liegestuhl in einemRaum mit anderen Patienten in Liege-stühlen und wurde wenig später mitschmerzendem Kopf und blutenderNase nach Hause entlassen.

Er hatte sich das Unglück nicht ein-gestanden. Er wollte glücklich sein. Erwollte glücklich sein, weil er es aus derkleinen deutschen Universitätsstadtins große New York geschafft hatteund dort dazugehörte. Er wollteglücklich sein, weil er sich diesesGlück so sehr gewünscht hatte und esjetzt da war – oder doch alles, was ersich als dessen Zutaten immer vorge-stellt hatte. Manchmal ließ sich leiseeine innere Stimme vernehmen, dieZweifel am Glück anmeldete. Aber erbrachte sie zum Verstummen. Schonals Kind, Schüler und Student litt er,wenn er zu einer Reise aufbrach undseine Welt und seine Freunde verlas-sen musste. Was hätte er versäumt,wenn er damals immer zu Hause ge-blieben wäre! Also sagte er sich inNew York, es sei eben sein Schicksal,Zweifel überwinden zu müssen, umdas Glück da zu ⁄nden, wo es zu-nächst nicht zu sein schien.

2

Auch in diesem Sommer kam wiedereine Einladung nach New York. Ernahm den Umschlag aus dem Briefkas -ten und öffnete ihn auf dem Weg zuder Bank, auf der er morgens seinePost las. Die New Yorker Universität,der er jetzt seit fünfundzwanzig Jah-ren verbunden war, lud ihn zur Veran-staltung eines Seminars im nächstenFrühling ein.

Die Bank stand am See, auf demTeil des Grundstücks, der durch einekleine Straße vom Rest des Grund-stücks und dem Haus getrennt war.Als sie das Haus gekauft hatten, hat-ten seine Frau und die Kinder dieStraße als störend empfunden. Sie hat-ten sich daran gewöhnt. Er hatte vonAnfang an gemocht, dass da ein eige-nes kleines Reich war, zu dem er eineTür auf- und zumachen konnte. Als er

war vorbei. Weil es vorbei war, gingenseine Gedanken zum ersten Semesterdort zurück.

Sich einzugestehen, dass er damalsin New York unglücklich war, wärenicht schlimm, wenn es nicht zumnächsten Eingeständnis führte. Als eraus New York zurückkam, lernte erbei einem Unfall eine Frau kennen; siestießen mit den Fahrrädern zusam-men, als sie beide fuhren, wie sie nichthätten fahren dürfen – er fand es einehübsche Art, einander kennenzuler-nen. Zwei Jahre lang trafen sie sich,gingen in die Oper und ins Theaterund zum Essen, ein paar Mal verreis -ten sie für ein paar Tage, und immerwieder verbrachte sie die Nacht beiihm oder er bei ihr. Er fand sie hinrei-chend schön und hinreichend klug,fasste sie gerne an und ließ sich gernevon ihr anfassen und dachte, er seiendlich angekommen. Aber als siewegen ihres Berufs wegzog, wurde die

erbte, ließ er das alte Bootshaus her-richten und den Dachstuhl ausbauen.In vielen Sommern hatte er dort gear-beitet. Aber in diesem Sommer saß erlieber auf der Bank. Sie war sein Ver-steck, vom Bootshaus und -steg, wosich die Enkel gerne tummelten, nichtzu sehen. Wenn sie weit hinaus-schwammen, sahen sie ihn und er sie,und sie winkten einander.

Er würde im nächsten Frühlingnicht in New York lehren. Er würdenie mehr in New York lehren. SeinLeben in New York, über die Jahre einso selbstverständlicher Bestandteil sei-nes Lebens geworden, dass er sichschon lange nicht mehr fragte, ob erdort glücklich oder unglücklich sei,

Beziehung rasch mühsam und er-losch. Erst jetzt gestand er sich ein,dass er erleichtert war. Dass er schondie beiden Jahre mühsam gefundenhatte. Dass er oft glücklicher gewesenwäre, wenn er zu Hause geblieben undgelesen und Musik gehört hätte, stattsie zu treffen. Er hatte sie getroffen,weil er wieder dachte, alle Zutaten desGlücks seien da und er müsse glück-lich sein.

Wie war das mit den anderenFrauen in seinem Leben? Mit seinerersten Liebe? Er war glücklich, alsBarbara, das schönste Mädchen in derKlasse, mit ihm ins Kino ging, sichvon ihm auf ein Eis einladen, nachHause bringen und unter der Tür küs-sen ließ. Er war fünfzehn, es war seinerster Kuss. Ein paar Jahre späternahm Helena ihn mit ins Bett, und esklappte schon beim ersten Mal, erkam nicht zu früh, und sie kam auch,und bis zum Morgen gab er ihr, wasein Mann einer Frau geben kann, er,der Neunzehnjährige, der Zweiund-dreißigjäh rigen. Sie blieben zusam-men, bis sie mit fünfunddreißig einenRechtsanwalt in London heiratete, mitdem sie, wie er schließlich erfuhr, seitJahren verlobt war. Er machte damalsExamen, ein besseres Examen, als ererwartet hatte, wurde Assistent,schrieb Aufsätze und Bücher undwurde Professor. Er war glücklich –oder wollte er wieder nur glücklichsein? Dachte er wieder, er müsseglücklich sein, weil alles stimmte? Wardas Glück, das er empfand, wieder nurdas Zutaten-Glück? Er hatte sichmanchmal gefragt, ob das Leben nichtanderswo sei, und die Frage verdrängt.Wie er verdrängt hatte, dass es Eitel-keit war, was ihn Barbara umwerbenund Helena bedienen ließ, und dass erden Einsatz im Dienst der Eitelkeit oftanstrengend fand.

Er scheute sich, über sein Glück inder Ehe und mit der Familie nachzu-denken.

Er wollte sich über den blauenHimmel und den blauen See und dasGrün der Wiesen und des Waldsfreuen. Er liebte die Landschaft nichtwegen der Alpen in der Ferne, son-

Das Wetter war schön,Kaiserwetter, sagte seine Frau lächelnd, und das Gewitter amzweiten Abend war ein Kaisergewitter.

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dern wegen des sanften Schwungs, mitdem die nahen Berge sich hoben undder See sich zwischen sie bettete.Draußen saßen ein Mädchen und einJunge im Boot; er ruderte, und sie ließdie Beine ins Wasser hängen. DieTropfen, die vom Ruderblatt ⁄elen,glitzerten in der Sonne, und die leich-ten Wellen, die das Boot und die Füßedes Mädchens zogen, liefen weit überdie glatte Oberfläche. Die beiden Kin-der, es mussten Meike, die ältesteTochter seines Sohns, und David, derälteste Sohn seiner Tochter, sein, rede-ten nicht. Seit das Postauto vorbeige-kommen war, hatte nichts mehr dieStille des Morgens gestört. Seine Fraubereitete im Haus das Frühstück vor;bald würde ein Enkelkind kommenund ihn holen.

Dann dachte er, dass er die Einsicht,wie trügerisch sein Glück gewesenwar, nicht negativ, sondern positivnehmen sollte. Was konnte es füreinen, der aus dem Leben gehen will,Besseres geben als diese Einsicht? Erwollte gehen, weil die letzten Monate,die ihm bevorstanden, entsetzlichwürden. Nicht dass er keine Schmer-zen ertragen konnte. Erst wenn die

Schmerzen unerträglich würden,würde er gehen.

Aber ihm gelang nicht, die Einsichtpositiv zu nehmen. Die Idee des ge-meinsamen Sommers, seines letztenSommers, war die Idee eines letztengemeinsamen Glücks. Es hatte nichtviel Überredung gebraucht, dass seinebeiden Kinder mit ihren Familien fürvier Wochen ins Haus an den Seekamen, aber doch ein bisschen. Erhatte auch seine Frau ein bisschenüberreden müssen; sie wäre lieber mitihm nach Norwegen gefahren, von woihre Großmutter stammte und wo sienoch nie gewesen waren. Jetzt hatte erseine Familie beisammen, und auchsein alter Freund würde für ein paarTage zu Besuch kommen. Er hatte ge-dacht, er hätte das letzte gemeinsameGlück gut vorbereitet. Jetzt fragte ersich, ob er wieder nur die Zutaten fürein Zutaten-Glück versammelt hatte.

3

»Großvater!« Er hörte eine Kinder-stimme und schnelle Kinderfüße, dieüber die Straße und die Wiese zum Seeliefen. Es war Matthias, der jüngste

Sohn seiner Tochter, der jüngste seinerfünf Enkel, ein stämmiger Fünfjähri-ger mit blondem Schopf und blauenAugen. »Das Frühstück ist fertig.«Als Matthias das Boot mit seinemBruder und seiner Cousine sah, rief ersie wieder und wieder und hüpfte aufdem Steg hin und her, bis sie anlegten.»Machen wir ein Wett rennen?« DieKinder rannten los, und er folgteihnen langsam. Vor einem Jahr hätte ernoch mitgemacht, vor ein paar Jahrennoch gewonnen. Aber sie vor sich denHang hinaufrennen und dann die gro-ßen Kinder zurückfallen sehen, weilsie das kleine gewinnen lassen wollten,war schöner als mitmachen. Ja, sohatte er sich den letzten gemeinsamenSommer vorgestellt.

Er hatte sich auch vorgestellt, wieer gehen würde. Ein befreundeterArzt und Kollege hatte ihm denCocktail besorgt, den die Organisatio-nen der Sterbehilfe ihren Mitgliederngeben. Cocktail – ihm ge⁄el die Be-zeichnung. Er hatte nie Lust aufCocktails gehabt und nie einen ver-sucht; sein erster würde auch sein letz-ter sein. Ihm ge⁄el auch die Bezeich-nung »Sterbeengel« für das MitgliedBi

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der Organisation, das dem sterbebe-reiten Mitglied den Cocktail bringt; erwürde sein eigener Sterbeengel sein.Ohne jedes Aufheben würde er, wennes so weit war, beim abendlichen Zu-sammensein im Wohnzimmer auf -stehen, rausgehen, den Cocktail trin-ken, die Flasche auswaschen undwegräumen und sich im Wohnzimmerwieder dazusetzen. Erwürde zuhören, einschla-fen und sterben, manwürde ihn schlafen lassenund am nächs ten Morgentot ⁄nden, und der Arztwürde Herzversagen fest-stellen. Ein schmerzloserund friedlicher Tod fürihn, ein schmerzloserund friedlicher Abschiedfür die anderen.

Noch war es nicht soweit. Im Esszimmer wargedeckt. Er hatte zu Be-ginn des Sommers denTisch ausgezogen undsich vorgestellt, am Kopfwürden er und seine Frausitzen, neben ihm dieTochter mit Mann, nebenseiner Frau der Sohn mitFrau und am Ende diefünf Enkel und Enkelin-nen. Aber die anderen ge-wannen dieser Ordnungnichts ab und setztensich, wie es sich geradeergab. Heute war nur noch der Platzzwischen seiner Schwiegertochter undihrem sechsjährigen Sohn frei, Ferdi-nand, der sichtbar schmollend von sei-ner Mutter weggerückt war. »Was istlos?« Aber Ferdinand schüttelte wort-los den Kopf.

Er liebte seine Kinder, Schwieger-kinder und Enkelkinder. Er hatte siegerne um sich, ihre Geschäftigkeit, ihrReden und Spielen, sogar ihr Lärmenund Streiten. Am liebsten saß er in derEcke des Sofas und hing seinen Ge-danken nach, unter ihnen und zu-gleich für sich. Er arbeitete auch gernein Bibliotheken und Cafés; er konntesich gut konzentrieren, wenn um ihnherum mit Papier geraschelt, geredet

und gelaufen wurde. Manchmal spielteer mit, wenn die anderen Boccia spiel-ten, gesellte sich mit der Flöte dazu,wenn sie musizierten, nahm mit einerBemerkung an ihrem Gespräch teil.Sie reagierten überrascht, und er warselbst überrascht, wenn er sich mitihnen beim Spiel, bei der Musik oderim Gespräch fand.

Er liebte auch seine Frau. »Natür-lich liebe ich meine Frau«, hätte er ge-sagt, wenn jemand ihn gefragt hätte.Es war schön, wenn er in der Ecke desSofas saß und sie sich zu ihm setzte.Noch schöner fand er, sie im Kreis deranderen zu sehen. Unter den Jungenwurde sie jung, als sei sie wieder dieStudentin aus dem ersten Semester, dieer kennenlernte, als er bereits Examenmachte. Sie war ohne Raf⁄nementund ohne Arg, sie hatte nichts vondem, was an Helena begehrenswertund abstoßend war. Ihm war damals,als reinige ihn die Liebe zu ihr von derErfahrung des Benutzens und Be-nutzt-Werdens, die von der Beziehungmit Helena geblieben war. Sie heirate-

ten, als auch sie die Ausbildung abge-schlossen hatte und Lehrerin wurde.Die beiden Kinder kamen schnell, undseine Frau ging bald mit halbem De-putat wieder in die Schule. Sie schafftealles mit leichter Hand: die Kinder, dieSchule, die Wohnung in der Stadt unddas Haus auf dem Land, gelegentlichein Semester mit ihm und den Kin-

dern in New York. Nein, sagte er sich,

er musste sich nichtscheuen, über das Glückseiner Ehe und seiner Familie nachzudenken. Esstimmte. Auch die erstenTage des gemeinsamenSommers hatten gestimmt;die Enkelkinder beschäf-tigten sich miteinander,die Kinder und Schwie-gerkinder genossen dieZeit für sich, und seineFrau arbeitete glücklichim Garten. Der vierzehn-jährige David war in diedreizehnjährige Meike ver-liebt – er sah es, die ande-ren schienen es nicht zusehen. Das Wetter warschön, Tag um Tag, Kai-serwetter, sagte seine Fraulächelnd, und das Gewit-ter am zweiten Abend warein Kaisergewitter; er saßauf der Veranda und warüberwältigt vom Schwarz

der Wolken, den Blitzen und demDonner und dem schließlich befreien-den Regenguss.

Selbst wenn er wieder nur die Zuta-ten für ein Zutaten-Glück versammelthatte, selbst wenn das Glück diesesletzten gemeinsamen Sommers einUnglück verbarg – was machte es? Erwürde es nicht mehr erfahren.

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Als Nacht war und sie im Bett lagen,fragte er seine Frau: »Warst du mit mirglücklich?«

»Ich bin froh, dass wir hier sind.Wir könnten in Norwegen nichtglücklicher sein.« Bi

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»Nein, ich meine, ob du mit mirglücklich warst.«

Sie richtete sich auf und sah ihn an.»Die ganzen Jahre, die wir verheiratetwaren?«

»Ja.«Sie legte sich wieder zurück. »Ich

bin schlecht damit zurechtgekommen,dass du so viel weg warst. Dass ich oftalleine war. Dass ich die Kinder alleineaufziehen musste. Als Dagmar mitfünfzehn ausgerissen ist und ein halbesJahr wegblieb, warst du zwar da, hastdich aber in deine Verzweiflung ver-krochen und mich alleingelassen. AlsHelmut … Aber was rede ich? Duweißt selbst, wann es mir besser undwann schlechter ging. Ich weiß es dochauch über dich. Als die Kinder kleinwaren und ich wieder in der Schule an-gefangen habe, bist du zu kurz gekom-men. Du hättest gerne gehabt, wennich mehr Anteil an deinem Beruf ge-nommen hätte. Wenn ich gelesen hätte,was du geschrieben hast. Du hättestauch gerne öfter mit mir geschlafen.«Sie drehte sich auf die Seite und kehrteihm den Rücken. »Ich hätte gernemehr mit dir gekuschelt.«

Nach einer Weile hörte er ihren ru-higen Atem. Hieß das, dass es mehrnicht zu sagen gab?

Ihm tat die linke Hüfte weh. DerSchmerz war nicht stark, aber gleich-mäßig und beständig und fühlte sichan, als wolle er sich einnisten. Oderhatte er sich schon eingenistet? Tatensich seine linke Hüfte und sein linkesBein nicht seit Tagen, nein, seit Wo-chen beim Treppensteigen schwer?War da nicht schon lange eine Schwä-che, die er nur mit zusätzlicher Kraftund mit stechendem Schmerz über-wand? Er hatte sich nicht darum ge-kümmert. Wenn er die Treppe ge-schafft hatte, war die Schwäche vorbei.Aber darum konnte der stechendeSchmerz beim Treppensteigen dochder Bote des Schmerzes gewesen sein,den er jetzt spürte und der ihm Angstmachte. Hatte das Skelettszintigrammnicht Herde in der linken Hüfte ge-zeigt?

Er erinnerte sich nicht mehr. Erwollte keiner der Kranken sein, die

seine Beine fühlte, war der Schmerzda, und ebenso wenn er seinen Rückenhinauf und in den Nacken und in dieArme fühlte. Wo immer er hinfühlte,wartete der Schmerz auf ihn und sagteihm, er wohne jetzt hier. Er sei jetzthier zu Hause.

5

Er schlief schlecht und stand früh auf.Auf Zehenspitzen ging er zur Tür, öff-nete sie behutsam und schloss sie be-hutsam. Die Böden, die Treppen, dieTüren, alles knarrte. Er machte in derKüche Tee und nahm die Tasse mit aufdie Veranda. Es wurde hell. Die Vögellärmten.

Gelegentlich ging er seiner Fraubeim Kochen oder Tischdecken oderAbwaschen zur Hand. Alleine hatte ernoch keine Mahlzeit auf den Tisch ge-bracht. Früher ⁄el, wenn seine Frauverreisen musste, das Frühstück aus

alles über ihre Krankheit wissen, diesich im Internet und mit Büchern undin Gesprächen schlaumachen und ihreÄrzte in Verlegenheit bringen. LinkeHüfte, rechte Hüfte – er hatte nichtaufgepasst, als der Arzt ihm erklärte,welche Knochen schon befallenwaren. Er hatte sich gesagt, er werdees schon merken.

Auch er drehte sich auf die Seite.Tat die linke Hüfte noch weh? War esjetzt die rechte? Er hörte in sich hin-ein. Zugleich hörte er durch das offeneFenster den Wind in den Bäumen unddas Bellen der Frösche am See. Er sahSterne am Himmel und dachte, dasssie nicht golden sind und nicht pran-gen, sondern hart und kalt wie kleine,ferne Neonpunkte leuchten.

Doch, die linke Hüfte tat weiterweh. Aber auch die rechte. Wenn er in

und er ging zum Mittag- und Abend-essen mit den Kindern ins Restaurant.Früher hatte er aber auch keine Zeit.Jetzt hatte er Zeit.

Er fand in der Küche Dr. OetkersSchulkochbuch und brachte es auf dieVeranda. Mit Hilfe eines Kochbuchs musste sogar er, der Philosoph undSpezialist für analytische Philosophie,Pfannkuchen zum Frühstück backenkönnen. Sogar er? Gerade er! »Wassich beschreiben lässt, das kann auch geschehen«, lehrt Wittgenstein imTractatus logico-philosophicus.

Aber es gab im Schulkochbuch kei-nen Pfannkuchen. Hatte der Pfannku-chen noch einen anderen Namen? Wassich nicht benennen lässt, lässt sichauch nicht ⁄nden. Was sich nicht⁄nden lässt, lässt sich auch nicht ba -cken.

Er fand den Eierkuchen, las, was er zu tun hatte, und rechnete die Zu -taten auf 11 Personen hoch. Dannmachte er sich in der Küche an die Ar-beit. Er musste lange suchen, bis er688 Gramm Mehl, 11 Eier, einenreichlichen Liter Milch, einen reichli-chen Drittelliter Mineralwasser, einknappes Pfund Margarine, Zuckerund Salz beisammenhatte. Er ärgertesich, dass für Zucker und Salz keineMengen angegeben waren. Wie sollteer Zucker, wie sollte er Salz an sichdurch vier dividieren und mit elf mul-tiplizieren? Er ärgerte sich auch, dasser keine Anweisung fand, wie das Ei-weiß vom Eigelb zu trennen und steif-zuschlagen sei. Er hätte die Pfann-oder Eierkuchen gerne zart und lo -cker gemacht. Aber er schaffte das Sie-ben, Verschlagen und Verrühren, ohnedass Klümpchen entstanden.

Als er die Pfanne aus dem Schranknahm, rutschte sie ihm aus der Handund ⁄el scheppernd auf den steiner-nen Boden. Er hob sie auf undlauschte ins Haus. Nach wenigen Se-kunden hörte er die Schritte seinerFrau auf der Treppe. Sie kam imNachthemd in die Küche und sah sichum.

Jetzt, dachte er. Er nahm sie in dieArme. Sie fühlte sich sperrig an. Ich,dachte er, fühle mich vermutlich auch

Als Nacht war und sie im Bett lagen, fragteer seine Frau: »Warst du mit mir glücklich?«

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sperrig an. Wie lange ist es her, dasswir uns das letzte Mal in die Arme ge-nommen haben? Er hielt sie fest, undsie ergab sich zwar nicht in die Umar-mung, legte aber die Arme um ihn.»Was machst du in der Küche?«

»Pfannkuchen – ich will gerade dieNullnummer backen. Die anderenbacke ich, wenn alle am Frühstücks-tisch sitzen. Es tut mir leid, dass ichdich geweckt habe.«

Sie sah auf den Tisch, auf dem nochMehl, Eier und Margarine lagen unddie Schüssel mit dem Teig stand. »Duhast das gemacht?«

»Willst du die Nullnummer versu-chen?« Er ließ seine Frau los, schalteteden Herd ein und setzte die Pfanne aufdie Flamme, sah ins Kochbuch, er-hitzte 150 Gramm Margarine, gab einwenig Teig in die Pfanne, nahm denhalbgebackenen Pfannkuchen herausund legte ihn auf einen Teller, erhitztemehr Margarine, gab den Pfannku-chen gewendet in die Pfanne und prä-sentierte ihn schließlich goldgelb sei-ner Frau.

Sie aß. »Er schmeckt wie ein richti-ger Pfannkuchen.«

»Er ist ein richtiger Pfannkuchen.Kriege ich einen Kuss?«

»Einen Kuss?« Sie sah ihn erstauntan. Wie lange ist es her, dachte er wie-der, dass wir uns das letzte Mal geküssthaben? Langsam legte sie Gabel undTeller aus der Hand, kam zu ihm anden Herd, gab ihm einen Kuss auf dieBacke und blieb neben ihm stehen, alswisse sie nicht, was sie jetzt tun solle.

Dann stand Meike in der Tür undsah ihre Großeltern fragend an. »Wasist los?«

»Er backt Pfannkuchen.«»Großvater backt Pfannkuchen?«

Sie mochte es nicht glauben. Aber dawaren die Zutaten, die Schüssel mitTeig, die Pfanne, der halbe Pfannku-chen auf dem Teller und der Großva-ter mit Schürze. Meike drehte sich um,rannte die Treppe hoch und klopfte andie Türen. »Großvater backt Pfannku-chen!«

6

An diesem Tag zog er sich nicht aufdie Bank am See zurück. Er holteeinen Sessel aus dem Bootshaus und

setzte sich an den Bootssteg. Er schlugein Buch auf, las aber nicht. Er sah denEnkelkindern zu.

Ja, David war in Meike verliebt.Wie er sie zu beeindrucken versuchte,wie er sich bei jeder Haltung und Be-wegung um Lässigkeit bemühte, wieer sich vor dem Kopfsprung mit Über-schlag vergewisserte, ob sie zusah, wieer mit den Büchern angab, die er gele-sen, und mit den Filmen, die er ge -sehen hatte, wie er mit nihilistischerGleichgültigkeit über seine Zukunftsprach! Merkte Meike es nicht, oderspielte sie mit David? Sie schien unbe-eindruckt und unbefangen undschenkte David nicht mehr von ihrerAufmerksamkeit und Fröhlichkeit alsden anderen.

Die Leiden der ersten Liebe! Er sahDavids Unsicherheit und fühlte wie-der die Unsicherheit, die ihn vor mehrals fünfzig Jahren gequält hatte. Aucher wollte damals alles sein, undmanchmal war ihm, als sei er es, unddann wieder, als sei er nichts. Auch erdachte damals, wenn Barbara sähe,wer er war und wie er sie liebte, würdesie ihn auch lieben, konnte aber weder Bi

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zeigen, wer er war, noch sagen, dass ersie liebte. Auch er suchte damals injeder kleinen Geste der Aufmerksam-keit und der Vertrautheit ein Verspre-chen und wusste doch, dass Barbaraihm nichts versprach. Auch er flüch-tete damals in eine heroische Gleich-gültigkeit, in der er nichts glaubte undnichts hoffte und nichts brauchte. Bisdie Sehnsucht ihn wieder überwältigte.

Ihn erfasste Mitleid mit seinemEnkel – und mit sich selbst. Die Lei-den der ersten Liebe, die Schmerzendes Heranwachsens, die Enttäuschun-gen des erwachsenen Lebens – er hätteDavid gerne etwas Tröstendes oderErmutigendes gesagt, wusste abernicht, was. Konnte er ihm immerhinhelfen? Er stand auf und setzte sich imSchneidersitz zu den beiden auf denBootssteg.

»Ehrlich, Großvater, ich hätte dirdie Pfannkuchen nicht zugetraut.«

»Ich habe Spaß am Kochen gekriegt.Helft ihr beiden Großen mir morgen?Ich will nicht zu ehrgeizig werden,aber Spaghetti Bolognese und Salatsollte ich mit eurer Hilfe schaffen.«

»Zum Nachtisch Mousse au Cho-colat?«

»Wenn sie in Dr. Oetkers Schul-kochbuch steht.«

Dann saßen sie stumm beieinander.Er hatte ihr Gespräch unterbrochenund wusste nicht, wie er ein Gesprächzu dritt in Gang bringen sollte. »Danngehe ich mal wieder. Morgen um elf?Zuerst einkaufen und dann kochen?«

Meike lachte ihn an. »Cool, Groß-vater, aber wir sehen uns doch noch.«

Dann saß er wieder auf dem Sessel.Matthias und Ferdinand hatten einpaar Meter vor dem Ufer eine flacheStelle im See gefunden, schlepptenherbei, was sie an Steinen fanden, undbauten eine Insel. Er schaute nach derzwölfjährigen Schwester von Davidund Matthias aus. »Wo ist Ariane?«

»Auf deiner Bank.«Er stand wieder auf und ging zu sei-

ner Bank. Die linke Hüfte schmerzte.Ariane las, einen Fuß auf der Bankund das Buch auf dem Knie, hörte ihnkommen und sah auf. »Ist es okay,dass ich hier sitze?«

vor, wie sie eines Tages die Brille ab-nehmen, das Haar lösen und die Lip-pen aufwerfen würde. »So ist das alsomit David und Meike. Wollen wir waszusammen machen?«

»Was?«»Wir können Kirchen und Schlösser

ansehen oder einen Maler besuchen,den ich kenne, oder einen Kraftfahr-zeugmechaniker, in dessen Werkstattes aussieht wie vor fünfzig Jahren.«

Sie dachte nach. Dann stand sie auf.»Gut, besuchen wir den Maler.«

7

Nach einer Woche wollte seine Frauwissen: »Was ist los? Wenn dieserSommer stimmt, haben alle früherennicht gestimmt, und wenn alle frühe-ren gestimmt haben, stimmt diesernicht. Du liest nichts mehr, und duschreibst nichts mehr. Du ziehst nurnoch mit den Enkelkindern herumoder mit den Kindern, und gesternkommst du in den Garten und willstdie Hecke schneiden. Wenn es eineGelegenheit gibt, mich anzufassen,

»Natürlich. Kann ich mich dazu set-zen?«

Sie nahm den Fuß von der Bank,schlug das Buch zu und rückte zurSeite. Sie sah, dass er den Titel las:Wenn der Postmann zweimal klingelt.»Es stand bei euch im Regal. Vielleichtist es nichts für mich. Aber es ist span-nend. Ich dachte, wir machen mehrzusammen. Aber David hat nurAugen für Meike und Meike nurAugen für David, auch wenn sie so tut,als sei es nicht so, und er es nichtmerkt.«

»Bist du sicher?«Sie sah ihn an, altklug und mitlei-

dig, und nickte. Sie wird eine schöneFrau werden, dachte er und stellte sich

fasst du mich an. Wirklich, es ist, alskönntest du deine Hände nicht vonmir lassen. Ich will nicht sagen, dassdu mich nicht anfassen kannst. Dukannst …« Sie wurde rot und schüt-telte den Kopf. »Jedenfalls ist alles an-ders, und ich will wissen, warum.«

Sie saßen auf der Veranda. Die Kin-der und Schwiegerkinder verbrachtenden Abend bei Freunden, und die En-kelkinder lagen im Bett. Er hatte eineKerze angezündet, eine Flasche Weinaufgemacht und ihr und sich einge-schenkt.

»Weintrinken bei Kerzenschein –auch das gab’s noch nie.«

»Wird es nicht Zeit, dass ich damitanfange – damit und mit den Enkel-kindern und den Kindern und derHecke? Dass ich wieder weiß, wie gutdu dich anfühlst?« Er legte den Armum sie.

Aber sie schüttelte ihn ab. »Nein,Thomas Wellmer. So geht das nicht.Ich bin nicht eine Maschine, die du ab-stellen und anstellen kannst. Ich hattemir unsere Ehe anders vorgestellt,aber anders ging es anscheinend nicht,und so habe ich mich mit dem einge-richtet, was ging. Ich lasse mich nichtauf eine Laune ein, auf einen Sommer,der nach wenigen Wochen vorbei ist.Da schneide ich meine Hecke lieberselbst.«

»Ich habe vor drei Jahren an derUniversität aufgehört. Es tut mir leid,dass ich so lange gebraucht habe, bisich die Freiheit des Ruhestands begrif-fen habe. An der Universität ist mitdem Ruhestand nicht so radikalSchluss wie in einer Behörde; man hatnoch Doktoranden und macht nochein Seminar und sitzt noch in einerKommission und denkt, man müssteschreiben, was man immer schreibenwollte und wozu man nie Zeit hatte.Es ist, wie wenn du den Motor ab-stellst und im Leerlauf weiterrollst.Wenn die Straße dann noch ein biss-chen abschüssig ist …«

»Du bist das Auto, dem der Ruhe-stand den Motor abgestellt hat. Wer istdie abschüssige Straße?«

»Alle, die mich behandelt haben, alswürde der Motor noch laufen.«

»Du bist das Auto, demder Ruhestand den Motorabgestellt hat. Wer ist die

abschüssige Straße?«

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»Ich muss dich also besonders be-handeln. Nicht, als würde der Motornoch laufen, sondern als wäre er aus.Dann …«

»Nein, du musst nichts tun. Nachdrei Jahren rollt das Auto nicht mehr.«

»… dann kümmerst du dich ab jetztum die Enkelkinder und schneidestdie Hecke?«

Er lachte. »Und lasse die Händenicht von dir.«

Sie saßen Seite an Seite, und erspürte ihre Skepsis. Er spürte sie inihrer Schulter, ihrem Arm, ihrerHüfte, ihrem Oberschenkel. Wenn ernoch mal den Arm um sie legenwürde, würde sie ihn vielleicht nichtabschütteln – sie hatten miteinandergeredet und einander zugehört. Abersie würde darauf warten, dass er ihnwieder wegnähme. Oder würde sienach einer Weile den Kopf an seineSchulter legen? Wie sie beim Pfann-kuchenbacken die Arme um ihn gelegthatte, nicht als Einverständnis, nichtals Versprechen, nur so?

8

Er warb um sie. Morgens brachte erihr Tee ans Bett; wenn sie im Gartenarbeitete, brachte er ihr Limonade; erschnitt die Hecke und mähte denRasen; er machte es sich zur Regel,abends zu kochen, meistens unter-stützt von Ariane; er war für die Enkelkinder da, wenn sie sich lang-weilten; er achtete darauf, dass der Vor-rat an Apfelsaft, Mineralwasser undMilch nicht ausging. Jeden Tag lud erseine Frau zum Spaziergang ein, nursie und er, und zuerst wollte sie raschwieder nach Hause und an die Arbeit,aber dann ließ sie ihn die Wege aus-dehnen und manchmal ihre Hand hal-ten – bis sie ihre Hand brauchte, weilsie etwas aufheben oder pflücken unduntersuchen wollte. Eines Abendsfuhr er mit ihr in das Restaurant amanderen Ufer des Sees, das einen Sternhatte und wo man ihnen das Abendes-sen auf einer Wiese unter Obstbäu-men servierte. Sie sahen auf das Was-ser, das im Licht der Abendsonne wiegeschmolzenes Metall glänzte, Blei

nicht anders war und dass damalsschon nichts passierte, wenn ich keinSignal gab. Ich mochte kein Signalmehr geben.«

Er nickte. »Verlorene Jahre – ichkann dir nicht sagen, wie leid es mirum sie ist. Ich dachte damals, ichmüsste es mir und den anderen bewei-sen und Rektor werden oder Staatsse-kretär oder Präsident der Vereinigung,und weil du keinen Anteil darannahmst, habe ich mich von dir verra-ten gefühlt. Dabei hattest du recht.Wenn ich zurückschaue, haben die

mit einem Hauch von Bronze, glatt,bis zwei Schwäne mit klatschendemFlügelschlag landeten.

Er legte seine Linke auf den Tisch.»Du weißt, dass Schwäne …«

»Ich weiß.« Sie legte ihre Hand aufseine.

»Wenn wir zu Hause sind, möchteich mit dir schlafen.«

Sie nahm ihre Hand nicht weg.»Weißt du noch, wann wir das letzteMal miteinander geschlafen haben?«

»Vor deiner Operation?«»Nein, es war danach. Ich dachte,

es ginge wieder. Du hast mir gesagt,dass ich so schön bin, wie ich davorwar, und dass du die neue Brust soliebst, wie du die alte geliebt hast.Aber dann musste ich ins Bad undhabe die rote Narbe gesehen und ge-merkt, dass es nicht ging und dass allesnur Anstrengung war, ich habe michangestrengt, und du hast dich ange-strengt. Du hast verständnisvoll undrücksichtsvoll reagiert und gesagt,dass du mich nicht drängen willst.Dass ich ein Signal geben soll, wennich so weit bin. Aber als ich kein Si-gnal gab, war’s dir auch recht, und duhast auch keines gegeben. Dannmerkte ich, dass es vor der Operation

Jahre kein Gewicht. Sie waren nur lautund schnell.«

»Hattest du eine Geliebte?«»O nein. Ich habe außer der Arbeit

nichts und niemanden an mich heran-kommen lassen. Anders hätte ich sienicht geschafft.«

Sie lachte leise. Weil sie sich an seinedamalige Arbeitswut erinnerte? Weilsie erleichtert war, dass er damalskeine Geliebte hatte?

Er bat um die Rechnung. »Meinst du, wir können es noch?«»Ich habe so viel Angst wie beim

ersten Mal. Oder noch mehr. Ich weißnicht, wie es wird.«

9

Es wurde nichts. Mitten in der Umar-mung kam der Schmerz. Er explo-dierte im Steißbein und schickte seineWellen in den Rücken und in die Hüften und in die Oberschenkel. Erwar schlimmer als der schlimmsteSchmerz, den er bisher gehabt hatte.Er vernichtete sein Begehren, seinFühlen, sein Denken. Er machte ihnzu seinem Geschöpf, das nicht überden Schmerz hinauskonnte, das sichnicht einmal danach sehnen konnte,dass er aufhören würde. Ohne es zuwollen oder auch nur zu merken,stöhnte er auf.

»Was ist?«Er rollte auf den Rücken und

presste beide Hände gegen die Stirn.Was sollte er sagen? »Ich glaube, ichhabe einen Ischias, wie ich noch kei-nen hatte.« Mühsam stand er auf. ImBad nahm er vom Novalgin, das ihmder Arzt für Krisen gegeben hatte. Erstützte seine Arme auf das Waschbe -cken und sah in den Spiegel. Obwohler sich fühlte, wie er sich noch nie ge-fühlt hatte, war sein Gesicht, wie esimmer war. Das dunkelblonde Haarmit grauen Schläfen und Strähnen, diezwischen Grau und Grün schillerndenAugen, das von tiefen Furchen überder Nase und von der Nase zumMund gezeichnete Gesicht, die Här-chen, die ihm aus der Nase wuchsenund die er morgen stutzen würde, derschmale Mund – es tat ihm gut, seine

»Ich habe so viel Angstwie beim ersten Mal.Oder noch mehr. Ich

weiß nicht, wie es wird.«

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Schmerzen mit dem vertrauten Ge-sicht zu teilen und ihm mit trotzigemMund zu versichern und sich mit trot-zigem Mund versichern zu lassen, esstecke noch Leben in dem alten Hund.Als die Schmerzen schwächer wurden,ging er zurück ins Schlafzimmer.

Seine Frau war eingeschlafen. Ersetzte sich auf den Bettrand, vorsich-tig, damit sie nicht aufwachte. IhreLider zitterten. Ob sie erst halb imSchlaf und halb noch im Tag war? Ob sie träumte? Wasmochte sie träumen? Erkannte ihr Gesicht sogut. Das junge Gesicht,das darin wohnte, unddas alte. Das kindliche,freudige, arglose und dasmüde, bittere. Wie hiel-ten die zwei verschiede-nen Gesichter es mitein-ander aus?

Er blieb sitzen. Erwollte seinen Schmerznicht provozieren. SeinSchmerz hatte ihm ge-zeigt, dass er bei ihmnicht nur zu Hause, son-dern dass er der Herr imHaus war. Jetzt hatte er sich in ein hinteresZimmer zurückgezogen,aber die Türen aufgelas-sen, um zur Stelle zusein, sollte ihm nicht dergehörige Respekt erwie-sen werden.

Ihn rührten die Haareseiner Frau. Sie warenbraun gefärbt und wuch-sen grau und weiß nach –der Kampf gegen das Äl-terwerden, wieder undwieder gekämpft, verlo-ren, aber nicht verlorengegeben. Würde seineFrau ihre Haare nicht färben, sähe siemit ihrer geschwungenen Nase, ihrenhohen Backenknochen, ihren Faltenund ihren Augen wie eine weise alteIndianerin aus. Er hatte nie herausge-funden, ob ihre Augen manchmal un-ergründlich schauten, weil ihre Ge-fühle und Gedanken so tief oder weil

»Muss ich doch.«Sie spielte nur. Sie wollte, was auch

er wollte. Er bat seinen Schmerz, imhinteren Zimmer zu bleiben, für die-sen Morgen, für diese Stunde. »Setztdu dich auf mich?«

10

Als sie hinunterkamen, waren die an-deren mit dem Frühstück fast fertig.Ariane sah ihre Großeltern an, als

wisse sie, warum sie spätdran waren. Die zwölf-jährige Ariane? Aber erwurde rot, und seineFrau wurde es auch.Dann, als wolle sie derClique zeigen, dass sieund er etwas miteinanderhatten, gab sie ihm einenKuss.

Gegen Mittag holte erseinen alten Freund amBahnhof ab. Der Zugfuhr ein und hielt, undweil der Wagen zu hochfür den Bahnsteig oderder Bahnsteig zu niedrigfür den Wagen war,musste sein Freund einenkleinen Sprung machen.Er machte ihn mit resi-gniertem Lächeln. Als seier darauf gefasst, zu stür-zen und statt eines kur-zen Besuchs bei einemalten Freund einen lan-gen Aufenthalt in einemProvinzkrankenhaus vorsich zu haben.

Resigniert, als sei dasSpiel aus, bevor es be-ginnt, zugleich von heite-rem Charme, als sei daszwar so, mache abernichts – so war er immer

schon. So hatte er studiert, ohne gro-ßen Aufwand und Ehrgeiz, aberfreundlich gegen jedermann und beijedermann beliebt, auch bei denen, dieihn prüften, und später bei denen, dieihn einstellten. Er wurde ein erfolgrei-cher Rechtsanwalt, der seinen Erfolgseinem fachlichen Können und ebenso

sie so leer waren. Er würde es nichtmehr heraus⁄nden.

Sie entschuldigte sich am nächstenMorgen. »Es tut mir leid. Der Cham-pagner, der Wein, das Essen, das Mit-einander-Schlafen, mit dem Schlusswar, als es schön wurde, dein Ischias –es war ein bisschen viel. Da bin icheinfach eingeschlafen.«

»Nein, mir tut es leid. Der Arzt hatmir gesagt, dass ich mit Ischiasatta -cken rechnen und dann Tabletten neh-

men muss. Ich ahnte nicht, dass sie soheftig und so im falschen Augenblickkommen würden.« Er hatte Angst,sich auf die Seite zu legen, und streckteden Arm aus.

Sie legte den Kopf auf seine Schul-ter. »Ich muss Frühstück machen.«

»Nein, musst du nicht.«Bild

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seinem Umgang mit Mandanten, Geg-nern und Richtern verdankte. Er char-mierte sie. Er charmierte auch dieFrauen und Kinder seiner Freunde; sieliebten ihn, obwohl auch unter seinenFreunden der eine und andere eineFrau geheiratet hatte, die den Mannfür sich haben wollte, ohne alteFreunde.

Sohn Helmut mochte den Freundbesonders; als Kind war er manchmalmit dem Vater und ihm in Ferien ge-fahren, Männerferien. Im Winter lie-fen sie Ski, und wenn er nicht mehrkonnte oder wollte, nahm ihn derFreund, der in Jeans und Mantel diePisten hinunterfegte, zwischen dieBeine. Für den kleinen Jungen war derFreund mit dem wehenden dunklenMantel, der ihn sicher und schnell insTal brachte, ein Held wie Batman.Später beriet er ihn im Studium undim Beruf; ohne ihn hätte Helmut sichnicht entschieden, Rechtsanwalt zuwerden. Er wäre gerne zum Bahnhofmitgekommen. Aber die Fahrten vomBahnhof nach Hause und am nächstenAbend vom Haus zum Bahnhofwaren für die beiden Freunde die ein-zigen Gelegenheiten, miteinander al-leine zu sein.

Auf der Fahrt redeten sie über denRuhestand, die Familien, den Sommer.Dann fragte der Freund: »Was machtder Krebs?«

»Lass uns oben«, er zeigte zu demBerg, auf den die Straße führte, »hal-ten und ein paar Schritte laufen.« Erhatte sich wieder und wieder gefragt,ob er dem Freund von seiner Absichterzählen sollte. Sie hatten sonst keineGeheimnisse voreinander, und überden Krebs hatten sie umso leichter ge-sprochen, als beide das gleiche Schick-sal teilten; bei beiden war vor JahrenKrebs diagnostiziert worden, beideMale ein verschiedener und verschie-den verlaufender, aber beide Male mitOperation und Bestrahlung und Che-motherapie. Aber wie sollte derFreund mit dem Wissen um seine Ab-sicht der Familie begegnen?

Sie gingen über die Höhe. ZurRechten begann der Wald, zur Linkenhatten sie den Blick auf den See, die

Berge und in der Ferne die Alpen. Eswar warm, die weiche, satte Wärmedes Sommers.

»Es ist eine Frage der Zeit, bis dieKnochen es nicht mehr machen. Bissie bröseln und brechen und bis derSchmerz unerträglich wird. Manch-mal kriege ich einen Vorgeschmack,aber noch geht’s. Was macht deinKrebs?«

»Er hält still, schon seit vier Jahren.Letzten Monat stand die Untersu-chung an, und ich bin erstmals einfachnicht gegangen.« Fatalistisch hob derFreund die Hände und ließ sie wiedersinken. »Was machst du, wenn derSchmerz unerträglich wird?«

»Was würdest du machen?«Sie liefen eine ganze Weile, ohne

dass der Freund antwortete. Dannlachte er. »Den Sommer genießen, sogut es geht. Was sonst?«

11

Nach dem Abendessen saß er in derEcke des Sofas und sah den anderenzu. Sie spielten ein Spiel, bei demhöchstens acht Personen mitspielendurften. Er konnte sich, ohne aufzu-fallen, immer wieder anders hinsetzenund die Kissen mal hinter den Rü -cken, mal gegen die Hüfte, mal unterden Oberschenkel legen. Jede Verän-derung brachte Erleichterung, bis derSchmerz sich in der neuen Haltungeingerichtet hatte wie in der alten. Erhatte Novalgin genommen, aber eshalf nicht mehr. Was jetzt? Sollte er indie Stadt fahren und den Arzt umMorphin bitten? Oder war der Zeit-punkt gekommen, die Flasche ausdem Weinkühlschrank zu holen, indem sie hinter einer halben FlascheChampagner versteckt war, und denCocktail zu trinken?

Wenn er sich seinen letzten Abendvorgestellt hatte, hatte er ihn sichschmerzfrei vorgestellt. Jetzt merkteer, dass es nicht einfach war, den rich-tigen Abend zu ⁄nden. Je länger es mitihm ging und je schlimmer es um ihnstand, desto seltener würden schmerz-freie Abende sein, desto willkom me-ner, desto unverzichtbarer. Wie sollte

er einen solchen Abend an den Todpreisgeben? Andererseits wollte ernicht in Schmerzen sterben. Ob Mor-phin die Lösung war? Ob mit ihm dieschmerzfreien Abende nicht mehr un-verzichtbare Seltenheiten, sondernmachbare Gelegenheiten sein würden?

Türen und Fenster standen auf, undder laue Wind brachte Mücken vomSee. Als er die Mücke auf dem linkenArm mit der rechten Hand treffenwollte, konnte er sie nicht heben. DieHand gehorchte ihm nicht. Als er sichanders setzte, ging es wieder, und esging auch, als er wieder die Haltungeinnahm, in der ihm die Hand geradenicht gehorcht hatte. Er probierte ver-schiedene Haltungen, und in jederkonnte er die Hand heben, so dass ersich schließlich fragte, ob er sich dasVersagen nur eingebildet hatte. Aberer wusste es besser, und er wussteauch, dass wieder etwas geschehenwar, hinter das es nicht mehr zurück-ging.

Das Spiel war zu Ende, und derFreund erzählte Fälle aus seiner Pra-xis. Die Kinder hatten früher von sei-nen Fällen nicht genug kriegen kön-nen, und die Enkelkinder konnten esjetzt auch nicht. Es beschämte ihn.Was hatte er seinen Kindern zu erzäh-len gehabt? Was hatte er seinen Enkel-kindern zu erzählen? Dass Kant einguter Billardspieler war und sich mitBillardspielen Geld fürs Studium ver-diente, dass Hegel mit seiner Frau dasFamilienleben von Martin Luther undKatharina von Bora imitierte, dassSchopenhauer seine Mutter und seineSchwester lausig behandelte und dassWittgenstein sich um seine Schwesterrührend kümmerte – er kannte einpaar Philosophenanekdoten und einpaar Anekdoten aus der Geschichte,die ihm sein Großvater erzählt hatte.Aus seiner eigenen Arbeit wusste ernichts Spannendes zu erzählen – wassagte das über ihn? Über seine Arbeit?Über die analytische Philosophie?War sie auch nur eine raf⁄nierte Ver-geudung menschlicher Intelligenz?

Dann ließ der Freund sich bittenund setzte sich ans Klavier. Er lächelteihm zu und spielte die Chaconne aus

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der Partita in d-Moll, die sie als Stu-denten von Menuhin gehört und lie-ben gelernt hatten. Eine Bearbeitungfür Klavier – er hatte nicht gewusst,dass es sie gab und dass der Freund siespielte. Hatte er sie für ihn geübt?Schenkte er sie ihm zum Abschied?Die Musik und das Geschenk desFreundes rührten ihn so, dass ihm dieTränen kamen und auch nicht aufhör-ten, als der Freund Jazz spielte – das,was die Kinder und Enkelkinder ei-gentlich hören wollten.

Seine Frau sah es, setzte sich zu ihmund legte ihren Kopf an seine Schulter.»Ich weine auch gleich. Der Tag hat soschön angefangen und hört so schönauf.«

»Ja.«»Wollen wir aufstehen und hoch -

gehen? Wenn die anderen merken,dass wir nicht mehr da sind, verstehensie schon.«

12

Dann war Halbzeit. Er wusste, dassdie zweite Hälfte des gemeinsamenSommers schneller vergehen würdeals die erste – und die erste war im Nuvergangen. Er dachte dar über nach,was er den Kindern noch sagen könne.Dagmar – dass sie sich nicht so vieleSorgen um die Kinder machen solle?Dass sie eine gute Biologin sei, ihreGabe nicht vergeuden und wieder ar-beiten solle? Dass sie ihren Mann ver-wöhne und dass das weder ihm nochihr guttue? Helmut – ob ihn wirklichinteressiere, welche Firma mit welcherfusioniert und welche Firma welcheübernimmt? Ob ihn das viele Geld ei-gentlich interessiere, das er anhäuft?Ob er, das Vorbild des alten Freundesvor Augen, nicht ein anderer Rechts-anwalt habe werden wollen, als er jetztist?

Nein, das ging nicht. Dagmar hattenun einmal einen aufgeblasenenDummkopf geheiratet, und er konntenur hof fen, dass sie es nicht merkenund sich von seinem Reichtum undseinen guten Manieren weiter blendenlassen würde. Helmut war auf den Ge-schmack des Geldes gekommen und

Wirkung. Freundlicher als der Arztwar die Apothekerin, bei der er seitJahrzehnten kaufte und die ihm mittraurigem Lächeln die Packung undein Glas Wasser gab. »Es ist also soweit.«

Er verpasste den Nachmittagszugund nahm den Abendzug. Er hatte dasAuto am Bahnhof abgestellt, fragtesich, ob er fahren könne, war abernicht anders belehrt worden und kamnach einer Fahrt über leere Straßen si-cher an. Das Haus lag dunkel. Wennalle schon schliefen, hatte er keineEile. Er konnte sich auf die Bank am

süchtig danach geworden, und seineFrau genoss die Früchte. Vielleichthatten beide Kinder sich aus Unsicher-heit auf ein Leben der Äußerlichkeiteingelassen, und vielleicht hatte erihnen nicht genug Sicherheit gegeben.Jetzt konnte er sie ihnen auch nichtmehr geben. Er konnte ihnen sagen,dass er sie liebte. Was Eltern und Kin-der in amerikanischen Filmen einan-der mit Leichtigkeit sagten, musste erauch sagen können.

Was immer mit seinen Kindernnicht stimmte – in diesem Sommerwaren sie anspruchslos, verträglichund liebevoll. An den Enkelkindernhätte er nicht eine solche Freude,wenn die Kinder es nicht recht ma-chen würden. Nein, er konnte denKindern nichts Wegweisendes sagen.Er konnte ihnen nur sagen, dass er sieliebte.

Eines Tags waren die Schmerzen sostark, dass er den Zug in die Stadtnahm und den Arzt um Morphin bat.Der Arzt gab ihm das Betäubungsmit-telrezept unter Zögern und mit allerleiBelehrungen über Dosierung und

See setzen. Er konnte genießen, dassheute Abend der Schmerz sich nichtnur in ein hinteres Zimmer zurückge-zogen hatte, sondern verlässlich einge-schlossen war.

Ja, Morphin war die Lösung. Mitihm war ein schmerzfreier Abend tat-sächlich nicht mehr eine unverzicht-bare Seltenheit, sondern eine mach-bare Gelegenheit. Er fühlte sich leicht;sein Körper schmerzte nicht nur nicht,sondern pulsierte weich und fest, hieltihn, trug ihn, hatte Flügel. Ohne sichzu rühren, konnte er nach den Lich-tern am anderen Ufer des Sees undsogar nach den Sternen greifen.

13

Er hörte Schritte und erkannte denGang seiner Frau. Er rückte auf dieeine Seite der Bank, damit sie auf deranderen Seite Platz hätte. »Du hast dasAuto gehört?«

Sie setzte sich, ohne zu antworten.Als er den Arm um ihre Schulternlegen wollte, beugte sie sich vor, sodass seine Geste ins Leere ging. Siehielt die Flasche mit dem Cocktailhoch und fragte: »Ist das, was ichdenke?«

»Was denkst du?«»Spiel kein Spiel mit mir, Thomas

Wellmer. Was ist es?« »Es ist ein besonders starkes

Schmerzmittel, das gekühlt gelagertwerden muss und nicht in die Händeder Enkelkinder geraten soll.«

»Deshalb hast du es hinter derChampagnerflasche im Weinkühl-schrank versteckt?«

»Ja. Ich verstehe nicht, was du …«»Ich habe besonders starke Schmer-

zen. Seit ich die Flasche gefundenhabe, weil ich für dich und mich einEssen mit Champagner vorbereitenwollte, habe ich besonders starkeSchmerzen. Also trinke ich die Fla-sche am besten aus.« Sie schraubte denDeckel ab und hob die Flasche zumMund.

»Mach das nicht.«Sie nickte. »Eines Abends, während

wir zusammensitzen und es schönhaben, willst du rausgehen, die Fla-

Er wusste, die zweiteHälfte des Sommers

würde schneller vergehen als die erste –

und die erste war im Nu vergangen.

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sche austrinken, wieder reinkommenund einschlafen. Sagst du uns davornoch, dass du besonders müde bistund vielleicht einschlafen wirst undwir dich schlafen lassen sollen?«

»Ich habe das nicht so genau ge-plant.«

»Aber du wolltest es machen, ohnees mir zu sagen, ohne mich zu fragen,ohne mit mir zu reden. So genau hastdu es schon geplant. Stimmt’s?«

Er zuckte die Schultern. »Ich ver-stehe nicht, was du hast. Ich wolltegehen, wenn ich den Schmerz nichtmehr ertrage. Ich wollte so gehen,dass niemand ein Problem hat.«

»Erinnerst du dich an unsereHochzeit? Bis dass der Tod euchscheidet? Nicht bis du dich beim Todeinschmeichelst und mit ihm davon-stiehlst. Und erinnerst du dich, dassich mich nicht auf das Glück einesSommers einlassen wollte, das nachwenigen Wochen vorbei ist? Hast dugedacht, dass ich die Wahrheit nichtheraus⁄nde? Oder dass du, wenn ichsie heraus⁄nde, tot bist? Dass ich dichdann nicht mehr zur Rede stellenkann? Du hast keine Geliebte gehabt,aber wie du mich jetzt betrogen hast,ist nicht besser, nein, es ist schlim-mer.«

»Ich dachte, es kommt nicht raus.Ich dachte auch, dass es ein schönerAbschied ist. Was hättest du…«

»Ein schöner Abschied? Du gehst,und ich weiß nicht, dass du gehst? Das soll ein schöner Abschied sein?Es ist gar kein Abschied. Jedenfallskeiner, den ich von dir nehme. Und dunimmst auch nicht von mir Abschied,sondern von dir, und willst mich alsStatistin dabeihaben.«

»Ich verstehe noch immer nicht,warum du so empört …«

Sie stand auf. »Ja, du verstehstnicht, was du machst. Ich werde esmorgen früh den Kindern sagen undfahren. Mach hier, was du willst. Ichwerde nicht als Statistin bleiben, undich wäre erstaunt, wenn die Kinderblieben.« Sie stellte die Flasche auf dieBank und ging.

Er schüttelte den Kopf. Etwas warschiefgelaufen. Er wusste nicht genau,

herausgefunden; er wollte mir undeuch nichts davon sagen, sondern ein-fach das Mittel trinken und einschla-fen und sterben. Ich will damit nichtszu tun haben. Was er sich alleine aus-gedacht hat, soll er auch alleine zuEnde bringen.«

Dagmar sagte zu ihrem Mann:»Nimm die Kinder, und mach was mitihnen. Nicht nur unsere Kinder, alle.«Sie sagte es so bestimmt, dass ihrMann aufstand und ging, und die Enkelkinder gingen mit. Dann wandtesie sich an ihren Vater. »Du willst dichumbringen? Wie Mutter es beschrie-ben hat?«

»Ich dachte, es müssten nicht allewissen. Eigentlich müsste es niemandwissen. Der Schmerz wird schlimmerund schlimmer, und wenn er unerträg-lich wird, will ich mich verabschieden.Was ist daran falsch?«

»Dass du uns nichts gesagt hast undnichts sagen wolltest. Oder wennnicht uns Kindern, dann Mutter.

was. Aber es bestand kein Zweifel,dass etwas nicht so gelaufen war, wiees hätte laufen sollen. Er würde amnächsten Morgen mit seiner Fraureden müssen. So empört hatte er sielange nicht mehr erlebt.

14

Sie lag nicht im gemeinsamen Bett, alser sich hinlegte, und nicht, als er auf-stand. Er machte mit den KindernFrühstück und weckte die Enkelkin-der. Als alle um den Tisch saßen, kamsie. Sie setzte sich nicht.

»Ich fahre in die Stadt. Euer Vaterwill sich an einem der nächstenAbende im Kreis seiner Lieben um-bringen. Ich habe es nur durch Zufall

Wann der Schmerz unerträglich wird,hängt doch auch damit zusammen,was Mutter dir ertragen hilft. Ichdachte, auch wir …« Dagmar sahihren Vater enttäuscht an.

Helmut stand auf. »Lass sein, Dag-mar. Was gerade abgeht, müssen dieEltern unter sich ausmachen. Ich je-denfalls werde mich nicht einmischen,und du hältst dich besser auch her-aus.«

»Aber sie machen es nicht untersich aus. Mutter hat gesagt, sie willdamit nichts zu tun haben.« Dagmarsah ihren Bruder verwirrt an.

»Das ist auch eine Art, es mit ihmauszumachen.« Er wandte sich anseine Frau. »Komm, wir packen undfahren.«

Sie gingen. Dagmar stand zögerndauf, sah ihren Vater und ihre Mutterfragend an, bekam keine Antwortenund ging auch. Das Haus war erfülltvon der Geschäftigkeit des Schränkeund Kommoden Leerräumens, Bü-cher und Spielsachen Zusammensu-chens, Betten Abziehens, Packens.Die Eltern ermahnten ihre Kinder,dies noch zu holen und jenes nicht zuvergessen, und weil die Kinder spür-ten, dass die Welt aus den Fugen gera-ten war, waren sie folgsam.

Seine Frau hatte schon in der Nachtgepackt. Sie stand noch eine Weile inder Küche und sah vor sich hin. Dannsah sie ihn an. »Ich fahre jetzt.«

»Du musst nicht fahren.«»Doch, ich muss.«»Fährst du in die Stadt?«»Ich weiß nicht. Ich habe noch fast

drei Wochen Ferien.« Sie ging, und erhörte, wie sie sich von den Kindernund Enkelkindern verabschiedete, dieHaustür öffnete und schloss, das Autoanließ und losfuhr. Wenig später hat-ten die anderen fertiggepackt. Siekamen in die Küche und verabschiede-ten sich, die Kinder verlegen, die En-kelkinder verstört. Er hörte auch sieaus dem Haus gehen, Autotüren zu-schlagen und losfahren. Dann war esstill.

»Ein schöner Abschied?Du gehst, und ich weißnicht, dass du gehst? Das soll ein schöner

Abschied sein?«

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15

Er blieb sitzen und konnte nicht fas-sen, wie schnell sich das Haus geleerthatte. Er wusste nicht, was er tunsollte. Was er mit dem Morgen anfan-gen sollte und mit dem Tag, was mitdem nächsten Tag und der nächstenWoche, ob er sich gleich umbringensollte oder später. Schließlich stand erauf und räumte den Tisch ab, lud dasschmutzige Geschirr und Besteck indie Spülmaschine, füllte das Spülmit-tel ein, stellte die Spülmaschine an,sammelte oben die Bettwäsche und dieHandtücher ein und trug sie in denKeller. Anders als die Spülmaschinehatte er die Waschmaschine noch niebedient, aber er fand auf dem Bord mitden Waschmitteln eine Gebrauchsan-leitung und folgte den Anweisungen.In eine Ladung passte die Wäsche vonzwei Betten; er würde vier oder fünfLadungen brauchen.

Er ging an den See und setzte sichauf die Bank. Mit den Geräuschen derspielenden und badenden Enkelkinderwar sie ein Ort wie der Tisch in derBibliothek oder im Café oder das Sofaim Wohnzimmer – er war bei den an-deren und war doch für sich. Ohne dieGeräusche war er nur einsam. Er

wollte darüber nachdenken, was ertun sollte, aber ihm ⁄el nichts ein.Dann wollte er über eines der philoso-phischen Probleme nachdenken, die er in den Ruhestand mitgenommenhatte, und ihm ⁄el nicht nur nichts zueinem Problem, ihm ⁄el nicht einmalein Problem ein. Situationen der letz-ten Wochen kamen zu ihm: David undMeike im Boot, Matthias und Ferdi-nand beim Bau der Insel, Ariane mitdem Buch auf dem Knie, Ariane under beim Maler, das Kochen mit denKindern, das Schneiden der Hecke,der Tee und die Limonade für dieFrau, die wachsende Nähe, der Mor-gen, an dem sie sich geliebt hatten. Erspürte einen Hauch von Sehnsucht,nur einen Hauch, weil er noch nichtwirklich erfasst hatte, dass alle gegan-gen waren. Er wusste, dass es so war,er hatte es mit eigenen Ohren gehörtund mit eigenen Augen gesehen. Aberer hatte es noch nicht wirklich erfasst.

Als der Schmerz sich meldete, warer fast froh. Wie man fast froh ist,wenn man sich verlassen an einemfremden Ort ⁄ndet und jemandem be-gegnet, den man nicht mag, mit demeinen aber eine gemeinsame Vergan-genheit auf der Schule oder Universi-tät oder im Betrieb oder Büro verbin-

det. Die Begegnung lenkt von der Ein-samkeit ab. Außerdem brachte derSchmerz ihm in Erinnerung, warumer hier war: nicht um in der Familieaufzugehen, sondern um von ihr Ab-schied zu nehmen. Nun war der Ab-schied eben ein bisschen früher undein bisschen anders gekommen.

Ja, so war es. Oder doch nicht? Erstand auf und wollte die erste LadungWäsche zum Trocknen aufhängen unddie nächste Ladung waschen. Nochbevor er das Haus erreichte, wusste er,dass der Abschied, der hinter ihm lag,nicht nur ein bisschen früher und einbisschen anders gekommen war. Erhatte mit dem Abschied, der vor ihmgelegen hatte, nichts gemein. Der Ab-schied, der hinter einem liegt, ist pas-siert. Beim Abschied, der vor einemliegt, gibt es die Möglichkeit, dassetwas ihn verzögert, dass etwas ihnverhindert, dass ein Wunder geschieht.Er glaubte nicht an Wunder. Aber ermerkte, dass er sich etwas vorgemachthatte. Er hatte sich vorgestellt, derSchmerz werde immer stärker, immerschwerer zu ertragen und schließlichunerträglich werden und die Entschei-dung zum Abschied werde sich vonselbst ergeben. Stattdessen war mitdem Schmerz auch das SchmerzmittelBi

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stärker geworden. Die Entscheidung,den Cocktail zu trinken und den Ab-schied zu nehmen, ergab sich nichtvon selbst. Er musste sie treffen, undweil er noch Zeit gehabt hatte, hatte ersich nicht eingestanden, wie schwer sieihm ⁄el. Wenn er sich den Arm bre-chen würde oder das Bein – wäre esdann so weit?

Er hatte manchmal gesehen, wieseine Frau Wäsche aufhängte. Siewischte die Wäscheleine ab, die imGarten gespannt war,brachte den Wäschekorbaus dem Keller, schlugdie Wäschestücke ausund klemmte sie mit Wä-scheklammern fest, diesie aus einem Beutelnahm, den sie wie eineSchürze umgebundenhatte. So machte er esauch. Sich nach den Stü -cken bücken, sie ausschla-gen, die Klammern ausdem Beutel nehmen, sichnach der Leine streckenund die Stücke festklem-men – bei jeder Bewe-gung sah er seine Frauvor sich, nein, fühlte ersie, wie sie dieselbe Bewe-gung machte. Ihn ergriffdas Mitgefühl mit demKörper seiner Frau, derdie Mühen des Berufs,des Haushalts und derKinder, die Schmerzender Geburten und derFehlgeburt, die Anfällig-keit für Blasenentzün-dungen und die Über wältigungendurch Migräne ausgehalten hatte, sostark, dass er zu weinen begann. Erwollte aufhören. Aber er konnte nicht.Er setzte sich auf die Stufen der Ve-randa und sah durch die Tränen, wieder Wind die Wäsche blähte, sinkenließ und wieder hochwehte.

Nichts würde von dem letztenSommer bleiben, den er so sorgfältigeingefädelt hatte. Wieder hatte er alleZutaten beieinandergehabt, aber dasGlück hatte nicht gestimmt. Es waranders als die anderen Male; eine

Weile lang war er wirklich glücklichgewesen. Aber das Glück hatte nichtbleiben mögen.

16

Am selben Tag ⁄ng er an zu horchen.Er war im Garten oder am See undhorchte, ob, was er gerade gehörthatte, das Auto seiner Frau war. Erwar im ersten Stock, hörte im Erdge-schoss ein Geräusch und horchte auf

Schritte. Er war im Erdgeschoss, hörteein Geräusch im ersten Stock undhorchte auf Stimmen.

In den nächsten Tagen war er sichmanchmal sicher, er hätte seine Frauvorfahren oder die Treppe hochkom-men oder Matthias zu ihm rennenoder Ariane nach ihm rufen gehört.Dann trat er vor die Tür oder an dieTreppe oder drehte sich um, und nie-mand war da. An einem Tag ging erimmer wieder vom Haus an den See,weil sich in seinem Kopf die Idee fest-gesetzt hatte, seine Frau werde mit

einem Boot kommen, sich auf dieBank setzen und darauf warten, dasser sich zu ihr setze. War er unten ander Bank, kam ihm die Idee absurdvor. Aber wenn er wieder im Hauswar, dauerte es nicht lang, bis ermeinte, den gedrosselten Motor einesanlegenden Boots zu hören.

Als er nur mehr die Leere von Hausund Garten hörte, ließ er sich gehen.Das morgendliche Ritual des Du-schens und Rasierens und Anziehens

ging über seine Kräfte.Wenn er einkaufen fuhr,schlüpfte er mit demSchlafanzug in eine Hoseund zog eine Jacke überund scherte sich nicht umdie Blicke der anderen.Im Lauf des Nachmittags⁄ng er zu trinken an, undam frühen Abend war erbetrunken oder, wennAlkohol und Tablettenzusammenwirkten, bei-nahe bewusst los. Nurdann war er ganz ohneSchmerzen. Sonst tat ihmimmer etwas und oft derganze Körper weh.

Eines Abends stürzteer auf der Kellertreppe,war aber zu betrunken,um aufzustehen und hoch zugehen. Er setztesich auf die Stufe undlehnte sich an die Wandund schlief ein. Nachtswachte er auf und merkte,dass seine rechte Handgeschwollen war und

weh tat. Es war nicht der Schmerz,den er kannte, sondern ein junger, fri-scher Schmerz, der bei jeder Bewe-gung der Hand stechend vom Gelenkbis in die Finger fuhr. Er sagte ihm,dass die Hand gebrochen war. Er sagteihm auch, dass der richtige Augen-blick gekommen war.

Aber er holte nicht den Cocktail,sondern ging in die Küche und machteKaffee. Er füllte ein Handtuch mitEiswürfeln, setzte sich an den Tisch,kühlte die Hand und trank den Kaffee.Er würde nicht selbst fahren können. Bi

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Er musste eine Taxe kommen lassen.Ihm war peinlich, wie er aussah undwie er roch, und er quälte sich unterdie Dusche und in frische Wäsche undin einen Anzug. Er rief den Taxenbe-trieb an, holte den alten Chef aus demBett, den er seit Jahren kannte und derselbst kommen wollte, setzte sich aufdie Terrasse und wartete. Die Nacht-luft war warm.

Dann liefen die Dinge von selbst.Die Taxe brachte ihn zum Kranken-haus, der Arzt gab ihm eine Spritzeund schickte ihn zum Röntgen, dieRöntgenschwester machte die Auf-nahmen und schickte ihn in die Warte-halle. Er war der einzige Patient, saßim weißen Licht der Neonröhren aufeinem weißen Plastikstuhl und sah aufden leeren Parkplatz. Er wartete undschrieb in Gedanken einen Brief anseine Frau.

Es dauerte eine Stunde, bis er geru-fen wurde. Neben dem ersten Arztstand ein zweiter. Er führte das Wortund erklärte ihm die Zahl und Lage derKnochen der Hand, welche zwei Kno-chen gebrochen seien, dass es wederetwas zu operieren noch etwas zu schie-nen gebe, dass ein fester Verband aus-reiche und dass eigentlich alles wiedergut werden müsse. Er legte ihm denVerband an und forderte ihn auf, sich indrei Tagen wieder sehen zu lassen. DerEmpfang werde ihm eine Taxe rufen.

Der alte Chef, der ihn zum Kran-kenhaus gefahren hatte, fuhr ihn auchwieder nach Hause. Sie redeten überihre Kinder. Es wurde hell, und als erausstieg, lärmten die Vögel wie andem Morgen, an dem er die Pfannku-chen gebacken hatte. Wie lange wardas her? Drei Wochen?

17

Er ging in sein Arbeitszimmer undsetzte sich an die Schreibmaschine. Aufihr hatte er Briefe, Aufsätze und Bü-cher geschrieben, bis er eine Sekretärinbekam, der er diktieren konnte. Im Ru-hestand hätte er sich an den Computergewöhnen sollen. Aber lieber hatte erseine alte Sekretärin gebeten oder dasSchreiben eingestellt.

Das Schreiben auf der Maschinewar ungewohnt, und beim Schreibenohne rechte Hand war er besondersungeschickt. Er musste mit demZeige⁄nger Buchstaben um Buchsta-ben suchen.

»Ich kann nicht ohne Dich. Nichtwegen der Wäsche; ich wasche,trockne und falte sie. Nicht wegen desEssens; ich kaufe es ein und bereite eszu. Ich putze im Haus und gieße denGarten.

Ich kann ohne Dich nicht, weil ohneDich alles nichts ist. Bei allem, was ichin meinem Leben gemacht habe, habeich daraus gelebt, dass ich Dich hatte.Hätte ich Dich nicht gehabt, hätte ichnichts zustande gebracht. Seit ich Dichnicht habe, bin ich mehr und mehrund schließlich völlig verkommen.Zum Glück hatte ich einen Unfall undbin zu Sinnen gekommen.

Es tut mir leid, dass ich Dir nichtalles über meine Lage gesagt habe.Dass ich alleine geplant habe, wie ichmit dem Leben Schluss mache. Dassich alleine entscheiden wollte, wannich das Leben nicht mehr aushalte.

Du kennst die Kassette, die ich vonVater geerbt habe. Ich werde die Fla-sche in die Kassette schließen und dieKassette in den Kühlschrank stellen.Den Schlüssel ⁄ndest Du in diesemBrief; so kann ich nichts ohne Dichentscheiden. Wenn es nicht mehr geht,entscheiden wir gemeinsam, dass esnicht mehr geht. Ich liebe Dich.«

Er schloss die Flasche in die Kas-sette, stellte die Kassette in den Kühl-schrank, steckte den Schlüssel mitdem Brief in den Umschlag und adres-sierte ihn an die gemeinsame Woh-nung in der Stadt. Er passte den Brief-träger ab und gab ihm den Umschlag.

Kaum war der Briefträger gegan-gen, kamen ihm Zweifel. Sein Leben,sein Tod in ihrer Hand? Was, wenn sieden Brief nicht bekam, nicht öffnete,nicht mochte? Er hätte gerne noch malgelesen, was er geschrieben hatte,hatte aber keinen Durchschlag ge-macht. Immerhin gab es eine fast fer-tige Fassung, die er wegen zu vielerFehler weggeworfen hatte. Er musstesie im Papierkorb ⁄nden.

192 Seiten, BroschurISBN 978-3-8321-7310-4

DuMont Kunstbuch

»Ihre Bilder haben eine solche Leichtigkeit, Fröhlichkeit

und zugleich Kraft, dass ich ganz heiter bin, nachdem ich sieangeschaut habe«, so BernhardSchlink über die Malerin und

Zeichnerin Anna Keel, die diesesJahr ihren 70. Geburtstag feierte.

Von Anna Keel sind acht Katalogeerschienen, die letzten fünf im

Kunstbuchverlag DuMont.

Buchtipp

Als er vor seinem Schreibtisch stand,sah er in der offenen Schublade einenSchlüssel. Er nahm ihn heraus. Erhatte vergessen, dass es einen zweitenSchlüssel zur Kassette gab. Er lachteund steckte ihn ein.

Er legte sich in seinem Arbeitszim-mer aufs Sofa und schlief den Schlaf,den er in der Nacht nicht geschlafenhatte. Als ihn nach zwei Stunden derSchmerz in der Hand weckte, ging eran den See und setzte sich auf dieBank. Wenn sie nicht verreist war,würde sie den Brief morgen haben.Wenn sie verreist war, könnte es Tagedauern.

Er stand auf, holte den Schlüsselaus der Tasche und warf ihn, so weit ermit der linken Hand konnte. DerSchlüssel blitzte im Licht der Sonne,blitzte auch noch, als er ins Wassersank. Ein paar kleine Wellen kreistenum die Stelle. Dann war der See wie-der glatt.•

Alle Bilder von Anna Keel aus dem Katalog:

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Der Kinderbuchklassiker von René Goscinny und Jean-Jacques Sempé, der seit 50 Jahren unzählige Familien

begleitet, ist auch als Film ein Riesenspaß und großer Erfolg: In Frankreich sahen über 5,5 Millionen begeis terte

Zuschauer die Verfilmung von Regisseur Laurent Tirard mit den Schauspielern Kad Merad, Valérie Lemercier

und François-Xavier Demaison in den Hauptrollen.

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73Diogenes Magazin D

Wie erklären Sie sich die anhaltendeBegeisterung so vieler Menschen fürden kleinen Nick?Da gibt es viele mögliche Erklärun-gen. Die Welt des kleinen Nick ist eineWelt, die sich selbst genügt; die Figu-ren darin leben autark, Fernsehen undRadio kommen kaum vor, und es gibtauch praktisch kein Telefon. Und dieBeziehungen der Figuren untereinan-der sind sehr stabil und voller Ver-trauen. Zum Beispiel ist nie von Schei-dung die Rede, wenn die Eltern sichstreiten, und am Ende gibt es einenApfelkuchen, der die Versöhnung be-siegelt. Das Kind, ob es nun Leseroder Zuschauer ist – oder eine der Fi-guren selber –, hat niemals Anlass,

sich wirklich zu fürchten. Ein weitererGrund liegt in der Sprache und dembenutzten Vokabular. In Der kleineNick ist die Sprache wie eine weitere,eigene Figur, sie spielt eine Haupt-rolle. Das machte übrigens die Umset-zung fürs Kino auch so schwierig. Sieist niemals vulgär und eher etwas alt-modisch, zum Beispiel sagt heute keinKind mehr »Prima!«. Aber letztlichzeigt das Interesse der Jungen undnicht mehr ganz so Jungen, dass NicksAbenteuer mit den aktuellen sprachli-chen Entwicklungen Schritt haltenkönnen.Die Worte lassen viel Platz für diePhantasie, und das tun auch Sempéspräzise, minimalistische Zeichnun-

gen. Im Kino muss man aber allesganz konkret bebildern. Hatten SieAngst, dass man das Werk so gewis-sermaßen verraten könnte?Die Zeichnungen lassen der Phantasieder Leser in der Tat viel Freiraum.Wenn man sie genau anschaut und seinAugenmerk auf die Kinder richtet,wird man feststellen, dass man denkleinen Nick nicht von den anderenunterscheiden kann. Da wird es einembewusst, dass man Nick und seineKumpel auch als ein und dasselbeKind lesen und wahrnehmen kann.Die einzigen Figuren, die deutlich un-terscheidbar sind, sind Otto, weil erdick ist, und Adalbert, weil er eineBrille trägt. Die Herausforderung des

Wenn ihr Vater das sehen könnte: Sein kleiner Nick ist zum Leben erwacht! Anne Goscinny warengagiert am Entstehungsprozess des Films beteiligt und ist begeistert vom Resultat. Sie sprichtvon den zeitlosen Werten der Geschichte, berichtet von den Herausforderungen bei der Um-setzung und erzählt vom besonderen Bezug ihres Vaters zum kleinen Nick.

Ein Gespräch mit Anne Goscinny

Im kleinen Nick steckt viel von meinem Vater

Interview

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auch heute noch. Allerdings bin ichdabei auch etwas traurig, weil ich es soschön gefunden hätte, wenn meinVater all seine plötzlich real geworde-nen Geschöpfe hätte sehen können.Ich finde den Jungen, der Nick spielt,einfach perfekt; er ist ein archetypi-scher Junge. Er würde einem auf derStraße gar nicht weiter auffallen. Undgenau darin liegt sein Erfolg, denn ge-rade weil man sich nicht nach Nickumdrehen würde, kann man sich somühelos mit ihm identifizieren. Waren Sie dabei, als bestimmte Sze-nen gedreht wurden? Und hatten Siesich vor anderen eher gefürchtet?Ich hielt mich zurück, oft zum Drehzu gehen. Meine Kinder bekamenbeide eine kleine Gastrolle. Salomé,die sechs ist, ist bei Marie-HedwigsGeburtstagsfeier zu sehen, und derachtjährige Simon in der Szene mitdem Schularzt. An dem Tag, als ichSimon zum Dreh begleitet habe, habeich mit den Schauspielern gefrüh-stückt. Während der Mahlzeit starrteich Kad Merad so lange an, bis er michwohl für verrückt halten musste. Aberer war für mich die vollkommene Ver-körperung von Nicks Vater; und weilich finde, dass mein Vater in Derkleine Nick viel von seiner eigenenKindheit verarbeitet hat, machte dasKad Merad sozusagen zu meinemGroßvater! Er war einfach da, gutmü-tig, freundlich, lustig und fröhlich. Ich

Filmes war also die, die Kinder unter-scheidbar zu machen. Wie sollte mansie aus diesem poetischen Ungefährenherausholen und individuelle Charak-tere aus ihnen machen? Ich fand dasschwer vorstellbar. Dann lud michLaurent Tirard zum ersten Treffenaller Kinderdarsteller ein. Als ich dieTür zum Studio irgendwo im 17. Ar-rondissement öffnete und da all diesekleinen Jungs in Kniestrümpfen undkurzärmeligen Hemden stehen sah,erschrak ich: Es war wirklich, als obsie direkt den Büchern entstiegenwären! Und dieses Gefühl habe ich

erinnere mich daran, wie ich bei ihmnach Gesichtszügen meines Großva-ters Stanislas Goscinny suchte, den ichnie kennengelernt habe, weil er schon1942 gestorben war. Dass meine Kin-der bei diesem Film, der sozusageneines der Hauptwerke ihres Großva-ters darstellt, mitmachen durften,wenn auch nur auf etwas verstohleneArt und Weise, hat mich tief bewegt.Waren Sie an der Drehbuchentwick-lung beteiligt?Und wie! Ich war stark eingebunden.Meine Leidenschaft für die Figur unddie Geschichten vom kleinen Nickhaben meinen Einsatz dafür, dass dieseFilmfassung die bestmögliche über-haupt wird, motiviert und eine aktiveMitarbeit notwendig gemacht. Ichhatte einfach nicht das Recht, dabeiSachen durchgehen zu lassen, die mirvielleicht als unpassend erschienenwären. Und ich hatte ja schließlich dasenorme Glück, mit Laurent Tirardund Grégoire Vigneron zusammenzu-arbeiten, die immer ein offenes Ohrhatten und zu Diskussionen bereitwaren. Und auch mit dem später hin-zugekommenen Alain Chabat zu ar-beiten war ein großes Vergnügen.Was für ein Verhältnis haben Sie zudiesem Werk, mit dem Sie ja aufge-wachsen sind? Was bedeutet es fürSie?Ich empfinde zu allen Arbeiten mei-nes Vaters, ob Asterix oder Lucky

MAN KANN NICHT FRÜH GENUG DAMIT ANFANGEN.

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Luke, ob Isnogud der Großwesir oderDer kleine Nick, große Zuneigung,wenn auch auf unterschiedliche Artund Weise. Aber der kleine Nick hateinen Sonderstatus, und zwar aus zweiGründen. Zunächst einmal sind wiralle keine Gallier, Cowboys oderGroßwesire; aber Kinder, das warenwir alle mal. Deswegen glaube ich,dass in der Figur des kleinen Nick vielvon meinem Vater steckt. Er starb, alsich neun Jahre alt war, und er hattedeshalb nicht genügend Gelegenheit,mir viel von seiner Kindheit zu erzäh-len. Für mich ist Der kleine Nick dereinzige Zugang zu seiner Kindheit.Wahrscheinlich ist diese Lesart derTexte der Grund dafür, dass ich michihnen so verbunden fühle.

Außerdem wollte meine Mutter,dass auf dem Grabstein meines Vatersals Beruf »Schriftsteller« stehen sollte.Und mit Der kleine Nick hat meinVater das ganze Ausmaß seines Ta-lents unter Beweis gestellt. In Derkleine Nick vermischen sich die ge-heime Berufung meines Vaters und dieErinnerungen an seine Kindheit.Gefällt Ihnen die Art, wie die Weltdes kleinen Nick in Filmbilder um-gesetzt wurde?Ich finde, dass der gewählte Weg mitSzenenbildern »à la Tati« mit den sat-ten Farben sehr gut zum zeitlosenCharakter der Geschichten passt. DerText verrät natürlich schon seine Ent-stehungszeit, etwa weil es heute keineTintenfässer und keine wilden Spiel-plätze mehr gibt. Die Werte, die er ver-mittelt, sind aber höchst aktuell, undsie werden wohl noch lange Zeit aktu-ell bleiben. Es wird sich nicht soschnell ändern, dass für einen kleinenJungen die Eltern, die Schule und dieFreunde wichtig sind. Und wenn manheute auf den Hof einer ganz norma-len städtischen Schule – wie die mei-nes Sohnes – gerät, kommt man sichvor, als ob man in einer der Geschich-ten vom kleinen Nick gelandet wäre.Haben Sie den Film Stück für Stückgesehen oder erst, als er fertig ge-schnitten war?Marc und Olivier haben mir immerwieder die aktuellen Tagesaufnahmen

gezeigt, aber das ist nicht zu verglei-chen mit dem emotionalen Moment,als ich den Film zum ersten Mal ineinem richtigen Kino sah. Zur Vorfüh-rung habe ich meine Kinder mitge-nommen, und ich glaube, ich habe siemindestens so sehr beobachtet wie dieFilmbilder. – Der Film hält, was dasDrehbuch versprochen hat, und ent-spricht dem Niveau der Buchvorlage.Was glauben Sie, hätte Ihr Vater vondiesem Film gehalten?Mein Vater ist seit über dreißig Jahrentot und hält nichts mehr von irgend -etwas, und ich denke auch nicht fürihn – ich denke für mich selbst. Nachseinem abrupten Verschwinden sagte

meine Mutter zu mir, es sei doch bes-ser, neun Jahre mit so einem wunder-baren Vater gelebt zu haben als dreißigJahre mit einem Mistkerl. Damalsdachte ich, mir wäre es lieber gewesen,wenn er ein wenig mehr Mistkerl unddafür etwas weniger tot gewesen wäre.Heute sage ich mir, dass ich dafür dieGelegenheit habe, auch dreißig Jahrenach seinem Tod noch mit ihm zu la-chen. Es reicht, Asterix, den KleinenNick oder Lucky Luke wieder zulesen, um laut loszulachen oder zu-mindest zu schmunzeln. Manchmallache ich mit Tränen in den Augen,ohne dass ich wirklich sagen könnte,ob es Lachtränen sind oder ob die Trä-nen schon vor dem Lachen kamen.•

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1 CD, Spieldauer 76 Min.ISBN 978-3-257-80034-0

Seine Abenteuer sind in 30 Sprachenübersetzt und in einer weltweiten

Gesamtauflage von über zwölf Millionen Exemplaren erschienen:Damit dürfte der kleine Nick dermit Abstand bekannteste Grund-

schüler der Welt sein. Der pfiffigsteist er ohnehin – dafür haben seine

beiden Schöpfer mit ihren brillantenEinfällen gesorgt.

Buchtipp

DiogenesHörbuch

Gelesen vonRufus Beck

»Goscinnys Witz hatkein Verfallsdatum.«

Der Spiegel

»Selten lagen Nostalgie und Ironieso nah beieinander.«

SonntagsZeitung

»Die vergnüglichenGeschichten haben

bis heute nichtsvon ihrem Charme

verloren.«Brigitte

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400 Seiten, PappbandISBN 978-3-257-01121-0

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Goscinny Sempé

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Diogenes Magazin: Wie sind Sie sei-nerzeit auf die Figur des kleinen Nickgekommen, und wann haben SieRené Goscinny davon erzählt?Jean-Jacques Sempé: Die Wochenzeit-schrift Le Moustique hatte mich gebe-ten, jede Woche eine neue Witzzeich-nung anzufertigen. Und eines Tagesmeinten sie, ich solle dem kleinen Jun-gen, den ich mir ausgedacht hatte,doch einen Namen geben. Ich fuhrmit dem Bus zu einem Treffen mitdem Chefredakteur und sah unter-wegs eine Reklame für den Weinhänd-ler Nicolas. Der Chefredakteur warmit dem Namen einverstanden undbat mich, fortan wöchentlich nicht nureine einzelne Zeichnung, sondern einenganzen Comicstrip abzuliefern – undich hatte keine Ahnung, wie ich dasanstellen sollte. Zu der Zeit kannte ichRené Goscinny schon – er war bei der

Agentur, zu der ich die Zeichnungenbrachte, angestellt – und fragte ihn, ober mit mir zusammenarbeiten wolle.Als wir uns kennenlernten, warenRené und ich ja noch ziemlich jung; ichwar wohl ungefähr 22 und er 28 Jahrealt. Ist der kleine Nick so etwas wie einroter Faden in Ihrer Laufbahn?Weil ich so früh damit angefangenhabe, ist der kleine Nick die Figur, dieich am häufigsten gezeichnet habe. Ichhabe wirklich keinen Überblick mehr,wie oft ich wieder auf ihn gestoßenbin. Wie verlief der Austausch zwischenGoscinny und Ihnen? Haben Sie dievon ihm geschilderten Situationenillustriert, oder gab es auch den um-gekehrten Fall, dass ihm die Idee füreine Geschichte durch Ihre Zeich-nungen kam?

Das gab es vielleicht in einigen wenigenFällen. Aber in der Regel hat René allesselbst gemacht. Ich habe auch mit an-deren Autoren gearbeitet, aber die Zu-sammenarbeit mit ihm hat am längs tenBestand gehabt – drei Jahrzehnte lang.Wir standen uns sehr nahe, sicher auch,weil wir unsere ersten beruflichenSchritte gemeinsam gemacht haben.Was war Ihre Reaktion, als die Ideeeines Films an Sie herangetragenwurde?Ich fand, dass man das Ganze vonvornherein als echtes Kino anlegensollte und nicht als Kino-Fassung derZeichnungen – das wäre, glaube ich,unmöglich. Deswegen habe ich demRegisseur und seinem Team auch völ-lige Freiheit gelassen. Es hat mir vielSpaß gemacht, die Welt meiner Zeich-nungen aufs Kino übertragen zusehen. Der Film beruht zwar auf den

Nur wenige Striche genügten ihm, um den frechsten und schlausten Bengel weit und breit zuerfinden: Jean-Jacques Sempé, der geniale zeichnerische Schöpfer des kleinen Nick, erzähltvon der Geburtsstunde des berühmtesten Lausbuben der Welt, von der Zusammenarbeit mitRené Goscinny und erklärt, dass Nostalgie einfach zum Leben gehört.

Ein Gespräch mit Jean-Jacques Sempé

Nick ist die Figur, die ich amhäufigsten gezeichnet habe

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Interview

Hatten Spaß nicht nur beim Erfinden von Geschichten über den kleinen Nick: René Goscinny und Jean-Jacques Sempé, 1964

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tierten oder nur eine ganz flüchtigeExistenz hatten. Die Kinder von heutefinden sich im kleinen Nick wieder,denn das kann man, auch ohne denKontext zu kennen. Dass das funktio-niert, erstaunt mich immer wieder!Welche Zukunft wartet noch auf denkleinen Nick?Ich weiß, dass die Leute ihn auch nochin sehr vielen Jahren verstehen wer-den. Der kleine Nick steht für einenTeil der Kindheit, der ewig ist. SeinErfolg ist nichts Vorübergehendes,nichts Modisches. Eine Bekanntesagte mir einmal, dass sie nicht ver-stehe, warum der kleine Nick so erfolgreich sei; er wäre doch schon ausder Mode gewesen, als wir ihn erfan-den … Aber wahrscheinlich liegt genauhier das Erfolgsgeheimnis.Welches Kind aus der Bande wärenSie am liebsten gewesen?René Goscinny und ich wären beideder kleine Nick gewesen! Jeder, demman die Geschichten vorliest, identifi-ziert sich doch zuallererst mit ihm.•

Geschichten und den Zeichnungen,aber für mich ist er ein eigenständigesKunstwerk, das sein eigenes Lebenhat. Ich will da gar keine Parallelenziehen. Ich habe mir den Film sehrgerne angeschaut, und es war, ganz ne-benbei, das erste Mal, dass ich beimkleinen Nick einfach nur Zuschauersein konnte. Wie fanden Sie den Darsteller deskleinen Nick?Bevor ich den fertigen Film sah, kannteich von diesem kleinen Star nur Fotos,und er hat mich wirklich verblüfft. Erist perfekt in der Rolle! Er hat dieselbefröhliche Unruhe wie Nick, und er hatCharme. Für mich ist er eine sehr ge-lungene Besetzung.Was bedeutet Ihnen der Film?René und ich hätten niemals gedacht,was aus dem kleinen Nick bis heutewerden würde. Wir haben gerade sein50. Jubiläum gefeiert, und der Film istwohl so etwas wie die schönste Kerzeauf dem Geburtstagskuchen! Fürmich persönlich ist damit auch einwenig Nostalgie verbunden, weil ichdie Jahre vermisse, in denen René undich zusammengearbeitet haben.

Sind Sie ein Nostalgiker?Wenn viele Freunde und auch die El-tern nicht mehr da sind, wenn mansich an die Momente erinnert, die niewiederkehren werden, wie kann manda nicht nostalgisch werden? Nostal-gie gehört zum Leben einfach dazu. Wie erklären Sie sich, dass Nick aufder ganzen Welt bekannt ist? René Goscinny schrieb die Texte, ichmachte die Zeichnungen. Mir wäre esniemals in den Sinn gekommen zu fra-gen, warum er diese oder jene Szenegeschrieben hatte – und ihm auchnicht. Wir reagierten jeweils auf denanderen und dessen Persönlichkeit.Aber vor allem waren wir einfach guteFreunde. Und wir dachten eher überunsere Freundschaft nach als darüber,welche Wirkung unsere Arbeit habenkönnte. Als wir die Geschichten ent-wickelt haben, waren wir noch sehrjung – aber man kann gleichzeitig jungund nostalgisch sein. Wer das Lebenam meisten liebt, ist wohl am ehestennostalgisch um jede schöne Minute,die vergangen ist. Ich mochte schonals junger Mann gerade die Dingeganz besonders, die nicht mehr exis -

René Goscinny, ein Porträt von Jean-JacquesSempé aus dem Jahr 2007

Page 80: Diogenes Magazin Nr. 5

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Page 81: Diogenes Magazin Nr. 5

79Diogenes Magazin D

Wie viele Bücher liest du pro Jahr?Ich hoffe, es sind mindestens hundert.

Zu welchem Titel sollte jemand einen Romanschreiben?Wüsste ich einen gutenTitel, würde ich ihn selberbenutzen.

Der schönste Romantitel?Publikumsbeschimpfung.(Ich weiß, es ist kein Roman,aber der Titel ist wirklichsehr schön.)

Kann man Romane auf E-Book-Readern lesen?Ich jedenfalls noch nicht.

Welches Buch würdest du auf einen fremden Planeten mitnehmen?Ich bleibe lieber zu Hause.

Wo schreibst du am besten?Im Hotel.

Hast du Groupies?Ich hoffe, meinen Groupieseinmal zu begegnen.

Taschenbuch oder Hardcover?Wenn es ein Hardcover gibt,kaufe ich das Hardcover, jemand sollte Autoren und Verleger unterstützen.

Was war die schönste SMS,die du je bekommen hast?Eine SMS von einer altenFreundin, die mir mitteilte,sie sei jetzt Nackttänzerin inBarcelona.•kam

Die FAZ überschlug sichfast: »Arnon Grünberg istsehr wahrscheinlich einGenie, ein literarischerJahrhundertglücksfall für ein Land, dessen inter -nationale Vorzeigeautoreninzwischen in die Jahre gekommen sind.« Das Landist Holland, wo Grünberg1971 in Amsterdam gebo-ren wurde und alle seineRomane Bestseller sind.Sein neuer Roman ›Mitge-nommen‹ spielt in Süd - amerika und ist magischerIrrealismus, wie ihn nurGrünberg schreiben kann.

Was hindert dich amSchlafen?

Nur schlechtes Essen.

Wann warst du am glücklichsten?Sommer 2001, Frühling 2009und am 5. August 2009.

Welches Buch hast du zuletzt verschenkt?Goethes Faust. Ich hatte es doppelt.

Welches Buch sollte maneiner Frau schenken, in die man sich verliebt hat?Gelächter im Dunkel vonVladimir Nabokov.

Der schönste Liebes -roman?Erste Liebe von Iwan Turgenjew.

Welches Buch hast du zuletzt gelesen?Ein Sachbuch über Kriegevon Martin van Creveld.

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80 Diogenes MagazinD

Serie

In den Wissenschaften des Menschenist mehr Religion als Wissenschaft inseiner Religion.

Große Menschen lernt man nicht soschnell kennen, nicht einmal in ihrenUmrissen, sondern sie verändern sichwie die Berge am Horizont, wenn wirunseres Wegs ziehen.

Der Dichter wird trotz seiner Fehlerund trotz seiner Schönheiten Volks -tümlichkeit erringen; er wird denNagel auf den Kopf treffen, und dieForm des Hammers werden wir nichtkennen. Er lädt uns ein zu seinemHerd und seinem Herzen, und das istmehr als die Ehrenbürgerschaft einerStadt.

Mich kann das fröhliche Tun der Elemente nur anregen. Wer das Plät-schern der Bäche hört, wird nie völligan etwas verzweifeln. Der Wind dortdrüben im Wald tönt wie ein unaufhör-licher Wasserfall, das Wasser klatschtund tost zwischen den Steinen.

Die Art und Weise, in der ein Menschüber die Beziehungen der Geschlech-ter spricht, zeigt an, wie weit seine ei-genen Beziehungen dieser Art heiligsind. Wer über diesen Gegendstandscherzen kann, den achten wir nicht.

Wir erwecken Freundschaft in denMenschen, wenn wir Freundschaft mitden Göttern geschlossen haben.

Wenn ich für menschliche Freund-schaft zu kalt bin, dann baue ich dar-auf, dass ich es nicht so bald für dieEinflüsse der Natur sein werde. Esscheint ein Gesetz zu sein, dass mannicht mit den Menschen und mit derNatur in tiefer Sympathie sein kann.

Wir verweilen im Mannesalter, um die Träume unserer Kindheit zu er-zählen, und sie sind halb vergessen,bevor wir die Fähigkeit erwerben, sie auszudrü cken.

Denken mit

Henry DavidThoreau

Das längste Schweigen ist die treffends -te und die am treffendsten gestellteFrage. Nachdrücklich schweigen. Diewichtigsten Fragen, deren Antwortenuns tiefer berühren als irgendjemandsonst, werden nie auf andere Weise ge-stellt.

Wie die vollkommenste Gesellschaftsich immer mehr der Einsamkeit an-nähert, so fällt die vortrefflichste Redeschlie ßlich ins Schweigen. Schweigenist für alle Menschen hörbar, zu jederZeit, an jedem Ort.

Wenn wir durch die Wälder gehenoder nach vertanen Wochen in unse-rem Zimmer sitzen, hören wir plötz-lich, und ohne dass wir es uns er klärenkönnten, auf, uns dürr und dürftig zu fühlen.

Hole das Beste aus den Dingen her-aus, die du bereust. Ersticke nie deinenKummer, sondern warte und pflegeihn, bis er seine eigene und selbstän-dige Bedeutung hat. Tief bereuen heißtvon neuem leben. Tust du das, so wirstdu wieder in alle deine Rechte einge-setzt werden.

Mach dein Scheitern durch den Ernst und die Beständigkeit deines Strebenstragisch, dann wird es sich vom Erfolgnicht unterscheiden. Beweise, dass es das unausweichliche Fatum der Sterb-lichen, eines Sterblichen, ist – wenn dudas vermagst.

Trotz einem Gefühl der Unwürdigkeit,das mich nicht ohne Grund befällt,und obgleich ich mich selbst als soetwas wie einen Spitzbuben betrachte,ist mir der Geist des Universums imgroßen Ganzen auf unerklärlicheWeise gewogen, und ich genieße viel-leicht ein ungewöhnliches Maß anGlück. Und doch frage ich michmanchmal, ob nicht eine Abrechnungkommen wird.

Johann Wolfgang Goethe

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Von Natur und Zivilisation, Einsamkeit und

Freundschaft, Wissenschaft und Politik

Diogenes

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Endlich wieder als DiogenesTaschenbuch erhältlich:H.D. Thoreau, Über die

Pflicht zum Ungehorsamgegen den Staat (auch alsHörbuch, gelesen von derösterreichischen Theater -

legende Helmut Qualtinger)

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ThoreauÜber die Pflicht

zum Ungehorsamgegen den Staat

DiogenesHörbuch

Gelesen vonHelmut

Qualtinger

»In diesem Essaystellt Thoreau

Kernfragen der Demokratie.«

Der Spiegel

»Helmut Qualtingerist vor allem ein

genialer Sprecher.«Gert Ueding /

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Page 83: Diogenes Magazin Nr. 5

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83Diogenes Magazin D

Preisverleihung

Martin Suter wurde für seine ›Business-Class‹-Kolumnen mit dem Swift-Preis für Wirtschafts satire2010 ausgezeichnet, verliehen von der Frankfurter Stiftung Marktwirtschaft. Anlässlich derPreisverleihung hat Suter eine Dankesrede in Form seiner bekannten Kolumne gehalten – undhat diesem nach Jonathan Swift benannten Satirepreis damit alle Ehre gemacht.

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Schon gehört? Martin Suter bekommt den Swift-Preis

Davon lebt die Satire:dass die, die gemeint

sind, sich nicht angesprochen fühlen.

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wütend. »Und wird der Swift-Preis«,mampft er, »nicht von der StiftungMarktwirtschaft verliehen?«

Kellerhals sucht sich sorgfältig einweiteres Nüsschen aus. »Du hast eserfasst.«

Baumgartner schluckt runter undspült sich den Mund mit Gin Tonic.»Und weshalb, um Himmels willen,tun die so etwas? Masochismus?«

Kellerhals winkt ab. »I wo. Die füh-len sich nicht angesprochen. Davonlebt die Satire: dass die, die gemeintsind, sich nicht angesprochen fühlen.«

Schon gehört? Suter bekommt denSwift-Preis.«

Baumgartner lässt die HandvollErdnüsse, die er sich eben in denMund schaufeln wollte, auf Kinnhöhein der Schwebe. »Martin Suter?« DieHand bleibt in Wartestellung.

Kellerhals nickt sein vielsagendstesNicken und füllt sich jetzt ebenfallsdie hohle Hand mit Erdnüsschen.

Baumgartner lässt seine auf denTresen sinken und starrt sie fassungs-los an. »Das ist doch der, der unsereEliten der Marktwirtschaft seit Jahrendurch den Kakao zieht.«

Kellerhals pickt sich mit Daumenund Zeigefinger ein einziges Erdnüss-chen aus der gehäuften Linken undsteckt es in den Mund wie eine kulina-rische Rarität. »Ebendieser«, bestätigter triumphierend, als hätte er seit Jah-ren vor diesem Skandal gewarnt.

Baumgartner kippt seine LadungErdnüsschen in den Mund und kaut

Er feiert diese Erkenntnis mit einemSchlückchen Campari Soda.

»Die Kolumne heißt BusinessClass. Wer sonst soll sich denn ange-sprochen fühlen, wenn nicht die Elitender Marktwirtschaft?« Baumgartnergreift sich den Silberlöffel, der aus hy-gienischen Gründen zu den Erdnüss-chen serviert wird, und schippt diehohle Hand entschlossen wieder voll.

»Ich habe da so eine Theorie.« Kel-lerhals macht es spannend, angelt sichein weiteres Nüsschen und kaut esgründlich.

Baumgartner wartet mit halboffe-nem Mund und einwurfbereiter Hand.

»Dadurch, dass die die Satire be-lohnen, distanzieren sie sich vondenen, auf die sie zielt.« Kellerhalswartet mit einem befriedigten Lächelnauf die Wirkung seiner Einschätzung.

Baumgartner verschafft sich eineDenkpause, indem er sich die Backenmit Nüsschen füllt. Sein Gesprächs-

Page 86: Diogenes Magazin Nr. 5

84 Diogenes MagazinD

Baum gartner sucht den Blick desBarmans und deutet auf sein leeresGlas.

Kellerhals reagiert beleidigt. »Dudarfst das nicht mit uns vergleichen.Der Mann ist Kulturschaffender.«

Diesen Aspekt hatte Baumgartnerfür einen Moment aus den Augen ver-loren. »Stimmt. Für so einen könnteder Betrag ausreichen, als Anreizmissverstanden zu werden, noch moti-vierter über die Manager herzuzie-hen.«

Kellerhals winkt ab. »Da kann ichdich beruhigen. Der Mann hat aufge-hört, die Kolumne zu schreiben.«

Der Barman bringt Baumgartnerden frischen Drink, Kellerhals hältihm sein nun ebenfalls leeres Glas hin.

»Jetzt hab ich es«, ruft Baumgartneraus. »Die geben ihm den Preis garnicht für die Kolumne!«

»Wofür denn sonst?«Baumgartner lässt sich einen

Schluck Zeit. »Die geben ihm denPreis dafür, dass er sie nicht mehrschreibt.«•

partner vertreibt sich die Wartezeit mitseinem Campari.

Endlich folgt Baumgartners Ant-wort. Sie lautet: »Nicht sehr solida-risch.«

»Das ist allerdings kein marktwirt-schaftliches Kriterium.«

Baumgartner ver windet die Maßre-gelung mit einem Schluck Gin Tonic.Dann erkundigt er sich: »Wie, ehem,wie hoch ist denn der Preis, ehem, do-tiert?« Er ist aufs Äußerste gefasst.

»Zehntausend.«»Ach so.«

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Die Managergehälter – wie kann es anders sein – sind ein unerschöpf-

liches Thema in diesen neuen undletzten Geschichten aus der Business

Class. Und – die zweite erogeneZone der Manageridentität – der saftige alljährliche Bonus.

»Martin Suter liest seine Geschichtenaus der Welt des Managements socharmant vor, dass es den Hörer

aufrichtig amüsiert. Hier darf überden Chef laut gelacht werden.

Das ist Niedertracht auf hohem Niveau.« Berliner Zeitung

Live gelesen von Martin Suter

Buchtipps

Martin SuterBusiness

Class

Geschichten aus der Weltdes Managements

DiogenesHörbuch

Live gelesen vonMartin Suter

»Höchst amüsant.Wie kleine ethnolo-

gische Erkundungenlesen sich Suters

Kolumnen.« Neue Zürcher Zeitung

»Gerade das satiri-sche Understatement

verleiht SutersGeschichten ihre

besondere, feinge-sponnene Komik.«

NorddeutscherRundfunk

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Embargo – Das Spiel mit der Drohung

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Martin SuterDas Bonus-Geheimnis

und andereGeschichten aus der

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Diogenes

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Owl’s Eye

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Die Wege des Herzens sind uner-gründlich, aber Hand aufs Herz:

Kann jemand, der Bücher liebt, einenBüchermuffel lieben? Ich bat IngridNoll um ihre Meinung, und sie antwor-tete per E-Mail in ihrer unverwechselba-ren Art: »Wenn der Muffel auch sonstein Idiot ist, wird es ein Desaster. Doches wäre zu einseitig, wenn man Büchernur über die Belletristik definiert. VieleMänner können mit fiktionaler Litera-tur wenig anfangen, lesen aber Zeitun-gen, Fach- und Sachbücher.«

Doch einige Frauen von heute sindwie Männer von gestern. Als jungerBuchhändler lernte ich jedenfalls eineJura-Studentin kennen, die nur Geset-zes texte las und Romanenicht einmal mit derPestzange angefasst hätte.Typisch Mann: Trotzihrer schauerlichen Lek-türegewohnheiten gefielsie mir ausgesprochengut.

Es begann das üblicheSpiel: Man traf sich aufeinen Kaffee (sie trankTee), dann abends auf einBier (sie trank Wein) undirgendwann zum Abend-essen (sie aß nur einen Salat). Allesschien bestens und den gewohntenGang zu gehen, bis ich sie eines Abendsnach Hause begleitete – es aber nichteinmal bis vor ihre Haustüre schaffte.

Denn auf dem Nachhauseweg kamenwir an einigen Buchhandlungen vorbei,die mir zum Verhängnis wurden. Es wardie Zeit vor den Buchhandelsketten, vorAmazon, und so gab es in der Innen-stadt noch etliche Buchläden. Bis heuteist diese Berufskrankheit geblieben: Ichkann an keiner Buchhandlung vorbeige-hen, ohne stehen zu bleiben und dieSchaufenster zu studieren. Als ich mirvor der dritten Buchhandlung minuten-lang die ausgestellen Bücher betrachtete,

murrte meine Angebetete: »Ich muss diretwas sagen.« Ein Satz, dem in Bezie-hungsangelegenheiten noch selten etwasGutes gefolgt ist.

Wie eine geübte Anwältin legte sie ge-fasst, aber nicht ohne Wärme dar, dasswir eindeutig nicht zusammenpassenwürden, ich mit meinen Romanen, siemit ihren Paragraphen. Außerdem ver-stehe sie meinen Humor nicht. Sie selbsthätte keinen, das wisse sie. Juris tisch in-korrekt übernahm sie schließlich gleichselbst die Rolle der Richterin und denUrteilsspruch: Freispruch – für sie. Siemachte Schluss, bevor es angefangenhatte.

Ob man sich als Leser in einen Leseroder in einen Nichtleser verliebt, wirdwohl ein Zufall sein, denn Hormonekönnen nicht lesen – und gegen Liebeauf den ers ten Blick hilft keine Brille.

Aber was ist eigentlich schlimmer: amMorgen nach der ersten Nacht keineBücher auf dem Nachttisch zu sehenoder die falschen?

Wobei der Schrecken steigerungsfähigist: Schlimmer als keine Bücher auf demNachttisch sind keine Bücher in derganzen Wohnung. Schlimmer als einNichtleser ist ein Leser, der sich nie denAutor und Titel des Buches merkenkann, das er gerade liest, geschweigedenn den groben Umriss der Handlung.

Schlimmer als jemand, der keine Bücherliest, ist jemand, der vorspielt, er lesegern.

Am allerschlimmsten kann in gewis-sen Momenten jemand sein, der die rich-tigen Bücher liest. Sofern die Person ge-rade im Bett ein Buch liest, wenn mandaneben liegt und ausnahmsweise Lusthat, eben kein Buch zu lesen.

Vielleicht ist die Kombination zweierLeser erotisch oder ehelich sowieso eine Perversion. 1966 organisierte derDiogenes Verlag einen Schaufenster-wett bewerb mit der Quizfrage: »Warum heiraten Buchhändlerinnen keine Buch-händler?« Leider sind im Diogenes Ar-chiv die Einsendungen zu dieser Um-

frage verloren gegangen.Arthur Miller heiratete

keine Buchhändlerin, son-dern in zweiter Ehe Mari-lyn Monroe, die der Nach-welt nicht als Leseratte imGedächtnis geblieben ist.Wenn sie las, dann zumeistDrehbücher. Die Verbin-dung Miller-Monroe hattetrotzdem glü ckliche litera-rische Folgen. Als Präsi-dent des PEN-Clubs hattesich Arthur Miller in den

sechziger Jahren für den SchriftstellerWole Soyinka eingesetzt, dem in Nige-ria im Gefängnis die Hinrichtungdrohte. Miller schrieb ein Gnadenge-such, das an den nigerianischen Macht-haber General Gowon übermitteltwurde. Als man Gowon erzählte, Millersei mit der Monroe verheiratet, verfügteer die sofortige Freilassung Soyinkas.

Wenn es schon um »Grundsätzliches«geht, wie Marcel Reich-Ranicki sagenwürde: Bücherliebhaber haben vielleichtkein erfüllteres Sexualleben als Nicht -leser, aber einen Vorteil haben sie. Sie gehen nie allein ins Bett, sondern wenigs tens mit einem Buch. Aber davondas nächste Mal mehr.•Jan Sidney

Wenn der Liebstekeine Bücher liebt

Page 88: Diogenes Magazin Nr. 5

Vorschaufenster

Gewonnen haben

Impressum

Ehren-Herausgeber: Daniel KeelGeschäftsleitung: Katharina Erne, Ruth Geiger,Stefan Fritsch, Daniel Kampa, Winfried Stephan

Chefredaktion: Daniel Kampa([email protected])Mitarbeiterinnen dieser Ausgabe: Julia Stüssi (js), Nicole Griessmann (ng), Margaux de Weck(mdw), Martha Schoknecht (msc)

Grafik-Design: Catherine BourquinFotograf: Bastian SchweitzerScans und Bildbearbeitung: Catherine Bourquin, Tina Nart, Hürlimann Medien (Zürich)Webausgabe: Susanne Bühler ([email protected])Korrektorat: Franca Meier, Dominik SüessBildredaktion: Regina Treier, Nicole GriessmannFreier Mitarbeiter: Jan Sidney (sid)Vertrieb: Renata Teicke ([email protected])

Anzeigenleitung: Simone Wolf([email protected])Zurzeit gilt Anzeigenliste Nr. 2, August 2009

Abo-Service: Christine Kownatzki ([email protected])Für ein Abonnement benutzen Sie bitte die bei-geheftete Abokarte. Abonnementspreise: € 10.–für drei Ausgaben in Deutschland und Öster-reich, sFr 18.– in der Schweiz, andere Länder aufAnfrage.

Herzlichen Dank an Monica Antunes, MiriamBlock, Jürgen Carl, Aymar du Chatenet, RolfDobelli, Joey Goebel, Anne Goscinny, ArnonGrünberg, Charlotte Kerr Dürrenmatt, DonnaLeon, Petros Markaris, Ingrid Noll, Spiridon Sarantopoulos, Hansjörg Schneider, Muriel Sieg-wart, Martin Suter und Wild Bunch / CentralFilm Verleih. Im Verlag Dank an Ursula Baum-hauer, Kerstin Beaujean, Ruth Geiger, Anna vonPlanta und Christine Stemmermann.

Beim Gewinnspiel sind Mitarbeiter/-innen des Diogenes Verlags von der Teilnahme ausge-schlossen. Die Gewinner werden schriftlich be-nachrichtigt. Die Preise sind nicht in barauszahlbar. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.Über unverlangt eingesandte Manuskripte kannleider keine Korrespondenz geführt werden. Programmänderungen vorbehalten.

Alle Angaben ohne Gewähr.Redaktionsschluss: 15.7.2010 / ISSN 1663-1641

Schreibtisch-Gewinnspiel aus demDiogenes Magazin Nr. 3: Den Haupt-preis, die komplette Maigret-Editionin 75 Bänden im Wert von 675 Euro, hat Uwe Schönbach aus Hamburg gewonnen. Je einen Diogenes Bücher-gutschein in Höhe von 100 Eurohaben gewonnen: Patrick Ederer,Nürnberg; Karl Klaubauf, Wien;Bernhard Echte, Wädenswil (CH).Herzlichen Glückwunsch!

AusstellungenKino & TV

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Ronald Searle. Ausstellung im Wilhelm Busch Museum Hannover,bis 30.1.2011. Buchtipp: Ronald Searle, Weil noch das Lämpchen glüht(detebe 20014) – übrigens das aller ersteDiogenes Buch, das 1952 erschien.Friedrich Dürrenmatt. Fotoaus stel-lung L’esprit Dürrenmatt vom 25.9. 2010 bis 20.3.2011 im CentreDürrenmatt Neuchâtel (www.cdn.ch).Buchtipp: Friedrich Dürrenmatt, Sein Leben in Bildern (erscheint beiDiogenes im Dezember 2010).James Cook und die Entdeckung der Südsee. Historisches MuseumBern (www.bhm.ch), vom 7.10.2010bis 13.2.2011. Buchtipp: Bis ans Ende der Meere von Lukas Hartmann(detebe 24024).Auguste Rodin in der Orangerie Unteres Belvedere, Wien (www.belve-dere.at), vom 1.10.2010 bis 9.1.2011.Buchtipp: Auguste Rodin, Die Kunst(detebe 21654). Pablo Picasso im Kunsthaus Zürich(www.kunsthaus.ch), vom 15.10.2010bis 30.1.2011. Buchtipps: Picasso,Über Kunst (detebe 21674), und dieErinnerungen von Françoise Gilot,Leben mit Picasso (detebe 21584),sowie die Erinnerung von FernandeOlivier, Picasso und seine Freunde(detebe 21748).

Goscinny&Sempé, Der kleine Nick.Seit 26.8.2010 im Kino (siehe S. 72).Auch als Trickserie, ZDF KI.KA,12.10. – 6.11.2010, jeweils 19 Uhr. Im ZDF ab dem 31.10. um 7.05 Uhr.Martin Suter, Der letzte WeynfeldtRegie: Alain Gsponer, mit Marie Bäu-mer und Stefan Kurt. Am 12.9.2010 im SF 1, im Frühjahr 2011 im ZDF.Paulo Coelho, Veronika beschließt zu sterben. Regie: Emily Young, mitSarah Michelle Gellar. Ab 30.9.2010im Kino.Bernhard Schlinks Erzählung Der Andere aus seinem ErzählbandLiebesfluchten kam am 1.7.2010 in die Kinos und war ein Kritikererfolg.Regie: Richard Eyre, mit Liam Neeson, Laura Linney und AntonioBanderas. Donna Leon, Lasset die Kinder zumir kommen: Die 16. Commissario-Brunetti-Verfilmung mit Uwe Kockisch als Brunetti und mit KarlFischer, Annett Renneberg, MichaelDegen und Julia Jäger. Regie: Sigi Rothemund. Am 7.10.2010 um 20.15 Uhr im Ersten.Ingrid Noll, Ladylike mit MonikaBleibtreu, Gisela Schneeberger undGünther Maria Halmer. Regie: Vanessa Jopp. Geplante Ausstrahlung:November / Dezember 2010 im ZDF.

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Page 89: Diogenes Magazin Nr. 5

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Schreibtisch

Das ist tatsächlich ein Schreibtisch,auch wenn er eher nach einem

Mal- und Zeichentisch aussieht, und(ja, wir geben es zu) von unserem ge-suchten Multitalent tatsächlich auchzu zeichnerischen Zwecken genutztwird. Der Diogenes Autor sprengtaber wirklich in jeder Hinsicht Gren-zen: sei es die Anzahl seiner bisherveröffentlichten Bücher, die sich anKinder, Erwachsene und Kunstliebha-ber richten und von denen sich seinberühmestes sogar singen lässt; sei esdie Größe und Menge der Ausstellun-gen, die ihm in unterschiedlichstenLändern gewidmet werden; oder seienes diese etlichen Länder selbst, die erseine Heimat nennen darf und derennicht nur kulturelle Grenzen er zusprengen nicht müde wird. Undpünktlich zum Weihnachtsfest dürfenwir seinen neuesten Streich erwarten,natürlich lustig, böse und großartig.

Gewinnspiel

Wer schreibt

hier?

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PatrickSüskindDas ParfumDie Geschichteeines MördersDiogenes

Schicken Sie die Antwort bis zum 31.12.2010 per Post oder per E-Mail ([email protected]) an: Diogenes Verlag, Gewinnspiel, Sprecherstr. 8, 8032 Zürich, SchweizWir verlosen 5 × ein vom Autor signiertesTaschenbuch Das Parfum von PatrickSüskind. Als Hauptpreis zusammen miteinem € 200-Büchergutschein.

Page 90: Diogenes Magazin Nr. 5

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DDiogenesMagazin

Nr.6Frühling 2011

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www.diogenes.ch4 Euro / 7 Franken

Ian McEwan im Gespräch

Wenn Bücher klingen …Donna Leon, Philippe Djian, Tomi Ungerer, Jean-Jacques Sempéüber ihre Leidenschaft für Musik

Zwei Freunde, ein VerlagDie beiden Diogenes Verleger sind 80 Jahre alt geworden

Das nächste Diogenes Magazinerscheint Ende Dezember.

Im Mittelpunkt: Ian McEwan. Außerdem zum 50. Todestag von

Krimi-Legende Dashiell Hammetteine frühe Kurzgeschichte zum

ersten Mal auf Deutsch, Interviews mit Hartmut Lange, John Irving

und Johann Friedrich von Allmen –der neuen literarischen Figur

von Martin Suter. Als Themen -schwerpunkt: Musik & Literatur.

Ian McEwan über die Oper, Donna Leon über ihre Händel-

Leidenschaft, Philippe Djian überseine Arbeit als Songtexter und

literarische Playlists.

Mag ich – Mag ich nicht

John Irving

Vorschau

Tim Krohn

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Um sich die Wartezeit zu verkürzen,besuchen Sie unsere Website mit aktuellen News und Magazinen:

www.diogenes.ch

Mag ich:

Dickens. Flaubert. Ringen. Erzählun-gen. Geschichte. Hardy. Bauernhöfe.Die Berge. Das Meer. GegenständlicheMalerei. Kleine Details im Schreiben.Porträts. Bleistifte und alle Anspitzer.Kaffee mit Milch am Morgen. Kochen.Schwitzen. Skilaufen. Filme von Berg-man. Filme von Fellini. Kleine Dinner-parties. Oper. Tanz. Musik (sogarRockmusik). Als Erster aufwachen.Tagsüber eine Frau lieben. Zimmer -service. Alte Freunde treffen. DieFreunde meiner Kinder (die meistenvon ihnen). Gute Manieren. Vorsicht(wenn du dir genau darüber im Klarenbist, wo du stehst, dann macht es Spaß,die Vorsicht sausenzulassen). Freund-lichkeit, besonders Pförtnern, Kellnern,Liftboys und Taxifahrern gegenüber.Familienaus¬üge (speziell, wenn Katastrophen drohen und die durch›Heldentaten‹ verhindert werden). Früh aufstehen. Jede gute elektrischeSchreibmaschine. Gewitter. Schnee-stürme. Freud (er war ein guter Schrift-steller). Besonders gern Lesen beischlechtem Wetter am Ofen oder amKamin. Schreiben. Briefe erhalten.

Mag ich nicht:

Balzac. Proust. Boxen. Philosophie. Politik. Den avantgardistischen Roman,den ›neuen‹ Roman usw. Menschen-massen. Moskitos. Badestrände. Abstrakte Malerei. Abstraktheit imSchreiben. Landschaftsmalerei ohnejegliche Lebewesen. Kugelschreiber.Kaffee in jeder Form zu jeder Zeit. Ein neues Restaurant ›ausprobieren‹.Frieren. Schlittschuhlaufen. Filme von Godard. Filme ohne ausgeprägteCharaktere und ohne Handlung. Große Parties (aus jedem Anlass). Musicals. Theater. Live-Konzerte, besonders Rockmusik-Konzerte, siehe Menschenmassen. Jemanden imHaus hören, der vor mir aufgewacht ist.Einzel- oder Doppelbetten, speziell inHotels. Schlechte Hotels (aus jedemGrund). Wenn jemand mir sein Traum-haus zeigt, auch wenn es ein Freund ist.Erwachsene oder heranwachsende Kinder von alten Freunden, die ich vonklein auf kenne; sie geben mir das Gefühl des Altseins. Leute, die meinenKindern keine Aufmerksamkeit schen-ken, oder noch schlimmer: ihren eige-nen keine Aufmerksamkeit schenken.Grobheit, es sei denn, sie wird durch die Grobheit eines anderen provoziert.Unvorsichtigkeit. Tyrannen, besondersMenschen, die die sogenannte Dienst-leistungsklasse herumkommandieren.Alleine reisen, besonders Geschäfts -reisen, auf denen man seine Zeit damittotschlägt, die Gesichter der Mitreisen-den zu studieren. Spät aufstehen. JedeSchreibmaschine, die nicht funktioniert.Energieausfall. Wind. Alles, was mitPsychiatrie, Psychoanalyse, Therapieusw. zu tun hat. TV. Das Telefon, besonders das Besetztzeichen. Noch

schlimmer ist jene Erfindung, dieein Telefongespräch unterbricht,damit man weiß, dass jemand einenselbst gerade anzurufen versucht.

Im nächsten Magazin:

Page 91: Diogenes Magazin Nr. 5

Das Diogenes Magazin erscheint 3x im Jahrals Abo (3 Ausgaben) für nur € 10.– (D/A) oder sFr 18.– (CH)(Weitere Länder auf Anfrage)

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Datum/Unterschrift

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Serie

Tatjana Hauptmann

Im nächsten Magazin:

Schauspieler Bruno Ganz

Schauspielerin Catherine Deneuve

Klassik Mozart, Sinfonie Nr. 38, die »Prager«

Lieblingsessen (nichtsüß)Gefüllte Tomaten und Paprika

Roman Stendhal, Die Kartause von Parma

Erzählung Edgar Allan Poe, Der Untergang des Hauses Usher

Sachbuch Mark Mazower, Salonica, City of Ghosts

Lyrik Die Gedichte von Konstantinos Kavafis

Theaterstück Dürrenmatt, Der Besuch der alten Dame

Zeitung Süddeutsche Zeitung

Zeitschrift Lettre International

TV-Sender Um Gottes willen, keinen!

Radiosender France Culture

Film Luis Buñuel, Le charme discret de la bourgeoisie

Lieblingsessen (süß)Ekmek Kadayif

Lieblingsgetränk (nichtalkoholisch) Kaffee

Lieblingsgetränk (alkoholisch)Whisky, Wein und Raki

Technisches Gerät iPod

Kleidungsstück Jeans, Hemd und Pullover

Lebensretter Meine Tochter

Gesprächspartner Mo Grimeh, der ehemalige Geschäftsführer der Bank Lehman Brothers

Streitpartner Samis Gavriilidis, mein griechischer Verleger

Joker-Artikel: Was würden Sienoch mitnehmen? Auf eine Insel?Eine Angel mit Zubehör, was sonst?

Petros Markarisauf der einsamen Insel

Jeder kennt die Frage: »Welches Buch würden Sie auf die einsame Insel mitnehmen?« Wir haben Petros Markaris gefragt. Und um es ein wenig spannender (und bequemer) zu machen, durfte er mehr als nur ein Buch auf die Insel mitnehmen.

Der griechische Schriftsteller ist mit seinen Kriminalromanen um den Ermittler Kostas Charitos bekannt geworden. Gerade ist als Diogenes Taschenbuch sein Roman Die Kinderfrau erschienen, Kostas Charitos’ fünfter Fall.

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Page 92: Diogenes Magazin Nr. 5

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DDiogenesMagazin

Wir gratulieren Ingrid Noll zum 75. Geburtstag

Der letzte Sommer Eine neue Erzählung von Bernhard Schlink

Mythisches Gestein:Rolf Dobelli und Donna Leonüber den neuen und alten Gotthardtunnel

Ein Leben wie ein Roman:Paulo Coelho

Nr.5Herbst 2010

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www.diogenes.ch4 Euro/7 Franken

DDiogenesMagazin

Aber hier können Sie das Diogenes Magazin abonnieren.

244 Hörbücher mit Hörprobe:

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Schonen Sie Ihre Augen!Lassen Sie andere lesen:

Otto Sander und Ulrich Matthes lesen Anton ¢echov

Heikko Deutschmann und Daniel Brühl lesen Martin Suter

Hans Korte liest Bernhard Schlink

Anna Thalbach liest F. Scott Fitzgerald

Burghart Klaußner liest Ian McEwan

Mario Adorf, Senta Berger und andere lesen Joseph Roth

Helmut Qualtinger liest H.D. Thoreau

Rufus Beck liest Der kleine Nick

Roger Willemsen liest Die kleine Alice

DiogenesHörbuch

Gelesen vonOtto Sander

»Die Virtuosität deseinfachen Erzählens –

darin liegt SandersMeisterschaft, eine

Meisterschaft derpräzisen Beiläufigkeitund des vielsagenden

Zwischenraums.« Die Welt, Berlin

1 CD

Anton ČechovDie Dame

mit dem Hündchen

Erzählung

Anton ČechovEin Duell

Kleiner Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonUlrich Matthes

»Wie kaum ein ande rer hat Anton

◊echov auf den Pulsschlag des

modernen Lebens gehorcht, sein lite -rarisches Werk ist

für das 20. Jahr -hundert wegweisend

geworden.« Neue Zürcher Zeitung

4 CD

DiogenesHörbuch

Gelesen vonHeikko

Deutschmann

»Eine ausgesprochenunterhaltsame,

kurzweilige undletztlich auch mora-

lische Geschichte.« ndr Kultur, Hamburg

6 CD

Martin SuterDer Koch

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonDaniel Brühl

»Eine Liebesge-schichte und Satire

rund ums Buch –brillant.«

Focus

»Mit dem Plot von Lila, Lila istMartin Suter ein

raffiniertes Kunst-stück gelungen.«

Neue Zürcher Zeitung

5 CD

Martin SuterLila, Lila

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonHans Korte

»Bernhard Schlinkist einer der

erfolgreichsten undeiner der viel-

seitigsten deutschen Schriftsteller der

Gegenwart.« Volker Hage/

Der Spiegel

7 CD

BernhardSchlink

Sommerlügen

DiogenesHörbuch

Gelesen vonAnna

Thalbach

»Der erste Roman, der das ›System Hollywood‹ er-

forschte und be-schrieb. Inklusiveeiner schmetter-

lingszarten Liebes-geschichte von

perfekter Schönheit.«Barbara Rett /

Die Presse, Wien

4 CD

F. ScottFitzgeraldDie Liebe

des letztenTycoon

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonBurghartKlaußner

»Ian McEwan wagt das schwie-rige Kunst stück,

Wissenschaft undPolitik mit deftiger

Komödie zu ver- binden. Und es

ge lingt ihm großartig.«

Nick Cohen /The Guardian,

London

8 CD

Ian McEwanSolar

Roman

DiogenesHörbuch

Gelesen vonMario Adorf

»Joseph Roths letzteLebensphase mussrauschhaft in jeder

Hinsicht gewesensein. Die Legende

vom heiligen Trinkerliest sich wie die

Versöhnung mit demeigenen Schicksal.«

Süddeutsche Zeitung

1 CD

Joseph RothDie Legendevom heiligen

TrinkerErzählung

DiogenesHörbuch

Gelesen vonHelmut

Qualtinger

»Ein glänzender, umwerfend komi-

scher Kabarettist.« Alfred Polgar

»Das Pointen feuer-werk des Spotts lässt

die Gesellschaft inihrer ganzen Lächer-

lichkeit erstrahlen.« Frankfurter

Allgemeine Zeitung

1 CD

Das HelmutQualtinger

Hörbuch

Von Kaiser Franz Joseph zu Herrn Karl

Weltgeschichte in Pantoffeln

DiogenesHörbuch

Gelesen vonRufus Beck

»Nick ist ein Freund, wie man ihn sich

nur wünschen kann. Ein Freund

fürs Leben. Alt werden? Stillhal-ten? Ohne uns.«

Frankfurter Allgemeine

Sonntagszeitung

1 CD

Goscinny Sempé

Der kleine

im Zirkus

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Par

is

DiogenesHörbuch

Gelesen vonRoger

Willemsen

Eine der berühmtes-ten Kindergeschich-

ten der Welt, vomAutor selbst für die

Kleinsten der Kleinenneu erzählt: »Jetzt istes mein Ehrgeiz, von

Kindern gelesen zuwerden, die zwischen

null und fünf Jahrealt sind.«

(Lewis Carroll)

1 CD

LewisCarrollDie

kleineAlice

Diogenes