die verantwortung der verbraucher

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| EDITORIAL Dr. Doris Fischer-Henningsen ist Chefredakteurin von „Chemie in unserer Zeit“. S kandale und Affären gibt es ständig, große und kleine. Man muss nur die Zeitung aufschlagen, die Nachrichten schauen oder sich im Internet informieren. Dort wird be- richtet über Abgeordnete, die ihre Privilegien missbrau- chen, Ärzte und Apotheker, die Abrechnungen frisieren, Banker, die sich trotz mieser Zahlen noch eine Prämie si- chern, aber auch über gedopte Sportler, korrupte Staats- diener, magersüchtige Models oder drogenabhängige Sän- ger. Manchmal werden Skandale im Wochenrhythmus auf- gedeckt, manchmal muss man sich eingestehen, dass die Zu- stände schon zur Dauereinrichtung geworden sind. Ge- meinsam haben sie, dass der Einzelne sich hilflos und ohn- mächtig vorkommt. A ls Thema für Skandale bestens geeignet sind unsere Le- bensmittel. Hier fühlt sich jeder sofort betroffen, ist alar- miert, und dem ein oder anderen vergeht vielleicht auch der Appetit – vorübergehend, denn schließlich fallen die meis- ten wieder in die liebgewonnenen Gewohnheiten zurück und vergessen nur zu gern den Anlass ihrer Beunruhigung. Ü berdies ist jedem klar, dass die Produktion von Le- bensmitteln schon lange nichts mehr mit Bauernhof- romantik zu tun hat. Der Bedarf ist so enorm, dass die Land- wirtschaft intensiv und hochtechnisiert betrieben wird, vie- le Lebensmittel industriell produziert werden. Eindrucks- voll zeigen dies Filme wie „We feed the world“ [1] oder „Un- ser täglich Brot“ [2]. N un scheint es neuen Grund zur Besorgnis zu geben: So wurden vor kurzem die Verbraucher mit Begriffen wie Formschinken und Analogkäse aufgeschreckt. Dahinter steckt, dass mit kreativer Etikettierung Assoziationen hin- sichtlich der Zutaten von Lebensmitteln geweckt werden, die nicht oder in nur geringem Maße enthalten sind. So be- trägt der Schinkenanteil im Formschinken zum Teil unter 50 Prozent, der als Pizzabelag oder Analogkäse titulierte Kunstkäse enthält Zutaten wie Eiweißpulver, Wasser, Pflan- zenöl, Farb- und Geschmackstoffe – nur keine Milch, und die Surimi-Garnele sieht zwar aus wie das begehrte Krebs- tier, besteht aber aus gepresstem Fischfleisch, das noch hummerrot eingefärbt wurde. Die Liste der Ersatzlebens- mittel ließe sich noch fortsetzen. V erbraucherschützer reklamieren eine Täuschung der Kunden, doch das weisen die Hersteller weit von sich – schließlich sei die Zusammensetzung der Produkte wie vorgeschrieben ausführlich auf den Etiketten aufgeführt. Das ist richtig: wenn man sorgfältig hinschaut, sieht man beispielsweise, dass ein vollmundig angepriesenes Pesto „mit feinstem Olivenöl und Pinienkernen“ als Hauptbe- standteile nicht näher bezeichnete Pflanzenöle und Cashewnüsse enthält [3]. Wir müssen also lernen, genau hinzusehen, was bei der Mikroschrift, in der die Zutaten- listen üblicherweise gedruckt sind, nicht so ganz leicht ist. D er arme, hilflose Verbraucher, die böse Industrie? – mitnichten, so einfach ist es keineswegs.Intuitiv muss jedem klar sein, dass die Familienpizza für weniger als zwei Euro, der Fruchtjoghurt für 25 Cent, das Vanille-Eis für 1,20 R pro Liter oder der Döner für 1,50 R keine hochwer- tigen Zutaten enthalten kann. Dies lässt nur den Schluss zu, dass es allzu vielen Menschen egal ist, was sie in sich hinein- essen, Hauptsache, es ist billig.Die Hersteller sprechen von „preisbewussten Kunden“, man könnte auch schlicht geizig sagen. Die allgemeine Empörung über die Lebensmittelimi- tate wirkt daher in Teilen unglaubwürdig. Ärgerlich sind aber in der Tat die spitzfindigen Titulierungen und nicht immer leicht zu durchschauenden Kennzeichnungen – wer weiß schon, dass es z.B.ein großer Unterschied ist zwischen Vanille-Eis und Eis mit Vanillegeschmack? W ie bei jedem Markt gilt auch bei den Lebensmitteln das alte Wechselspiel von Angebot und Nachfrage. Wird gekauft, was billig ist, werden vermehrt Produkte mit preisgünstigen Zutaten produziert und angeboten. Um die Vorzeichen umzukehren, brauchen wir mehr mündige Ver- braucher, die bewusst einkaufen und denen qualitativ hoch- wertige Lebensmittel auch etwas wert sind.Dass wir es uns leisten könnten, belegen die Wirtschaftsstatistiken, nach denen sich der Anteil der Haushaltsausgaben für Lebens- mittel in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert hat. DORIS F ISCHER-HENNINGSEN Die Verantwortung der Verbraucher WEITERE INFORMATIONEN | [1] www.we-feed-the-world.at/ [2] www.ourdailybread.at [3] www.abgespeist.de; Der gemeinnützige Verein „Foodwatch“ (www.foodwatch.de) hat die dreisteste Werbelüge mit dem „goldenen Windbeutel“ gekürt. Ausführliche Informationen gibt es im Internet. Foodwatch wurde 2002 von dem ehemaligen Greenpeace-Chef Thilo Bode gegrün- det. Erklärtes Ziel ist es, sich für die Rechte der Verbraucher einzusetzen – eines der aktuell wichtigsten Projekte ist die Ampelkennzeichnung der Lebensmittel, die Gehalte von Fett, Zucker und Salz über eine einfache Farbcodierung auf einen Blick sichtbar machen soll. [4] Im aktuellen Heft informiert ab Seite 232 der Artikel von Klaus Roth über Lebens- mittelzusatzstoffe. [5] P. Schieberle, T. Hofmann: Die molekulare Welt des Lebensmittelgenusses, Chem. unserer Zeit 2003, 37, 388–401. Der Artikel informiert u.a. über Geruch und Geschmack als Qualitätsparameter bei Lebensmitteln und deren Veränderung während der Verarbeitung. Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 195 www.chiuz.de © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 195

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Page 1: Die Verantwortung der Verbraucher

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Dr. Doris Fischer-Henningsenist Chefredakteurin von „Chemie in unserer Zeit“.

Skandale und Affären gibt es ständig, große und kleine.Man muss nur die Zeitung aufschlagen, die Nachrichten

schauen oder sich im Internet informieren. Dort wird be-richtet über Abgeordnete, die ihre Privilegien missbrau-chen, Ärzte und Apotheker, die Abrechnungen frisieren,Banker, die sich trotz mieser Zahlen noch eine Prämie si-chern, aber auch über gedopte Sportler, korrupte Staats-diener, magersüchtige Models oder drogenabhängige Sän-ger. Manchmal werden Skandale im Wochenrhythmus auf-gedeckt, manchmal muss man sich eingestehen, dass die Zu-stände schon zur Dauereinrichtung geworden sind. Ge-meinsam haben sie, dass der Einzelne sich hilflos und ohn-mächtig vorkommt.

Als Thema für Skandale bestens geeignet sind unsere Le-bensmittel.Hier fühlt sich jeder sofort betroffen, ist alar-

miert, und dem ein oder anderen vergeht vielleicht auch derAppetit – vorübergehend, denn schließlich fallen die meis-ten wieder in die liebgewonnenen Gewohnheiten zurückund vergessen nur zu gern den Anlass ihrer Beunruhigung.

Überdies ist jedem klar, dass die Produktion von Le-bensmitteln schon lange nichts mehr mit Bauernhof-

romantik zu tun hat.Der Bedarf ist so enorm, dass die Land-wirtschaft intensiv und hochtechnisiert betrieben wird, vie-le Lebensmittel industriell produziert werden. Eindrucks-voll zeigen dies Filme wie „We feed the world“ [1] oder „Un-ser täglich Brot“ [2].

Nun scheint es neuen Grund zur Besorgnis zu geben: Sowurden vor kurzem die Verbraucher mit Begriffen wie

Formschinken und Analogkäse aufgeschreckt. Dahintersteckt, dass mit kreativer Etikettierung Assoziationen hin-sichtlich der Zutaten von Lebensmitteln geweckt werden,die nicht oder in nur geringem Maße enthalten sind. So be-trägt der Schinkenanteil im Formschinken zum Teil unter50 Prozent, der als Pizzabelag oder Analogkäse titulierteKunstkäse enthält Zutaten wie Eiweißpulver, Wasser, Pflan-zenöl, Farb- und Geschmackstoffe – nur keine Milch, unddie Surimi-Garnele sieht zwar aus wie das begehrte Krebs-tier, besteht aber aus gepresstem Fischfleisch, das nochhummerrot eingefärbt wurde. Die Liste der Ersatzlebens-mittel ließe sich noch fortsetzen.

Verbraucherschützer reklamieren eine Täuschung derKunden, doch das weisen die Hersteller weit von sich

– schließlich sei die Zusammensetzung der Produkte wievorgeschrieben ausführlich auf den Etiketten aufgeführt.Das ist richtig: wenn man sorgfältig hinschaut, sieht manbeispielsweise, dass ein vollmundig angepriesenes Pesto„mit feinstem Olivenöl und Pinienkernen“ als Hauptbe-standteile nicht näher bezeichnete Pflanzenöle und Cashewnüsse enthält [3]. Wir müssen also lernen, genau

hinzusehen, was bei der Mikroschrift, in der die Zutaten-listen üblicherweise gedruckt sind, nicht so ganz leicht ist.

Der arme, hilflose Verbraucher, die böse Industrie? –mitnichten, so einfach ist es keineswegs. Intuitiv muss

jedem klar sein, dass die Familienpizza für weniger als zweiEuro, der Fruchtjoghurt für 25 Cent, das Vanille-Eis für 1,20 R pro Liter oder der Döner für 1,50 R keine hochwer-tigen Zutaten enthalten kann.Dies lässt nur den Schluss zu,dass es allzu vielen Menschen egal ist, was sie in sich hinein-essen, Hauptsache, es ist billig.Die Hersteller sprechen von„preisbewussten Kunden“, man könnte auch schlicht geizigsagen. Die allgemeine Empörung über die Lebensmittelimi-tate wirkt daher in Teilen unglaubwürdig. Ärgerlich sindaber in der Tat die spitzfindigen Titulierungen und nicht immer leicht zu durchschauenden Kennzeichnungen – werweiß schon, dass es z.B.ein großer Unterschied ist zwischenVanille-Eis und Eis mit Vanillegeschmack?

Wie bei jedem Markt gilt auch bei den Lebensmittelndas alte Wechselspiel von Angebot und Nachfrage.

Wird gekauft, was billig ist, werden vermehrt Produkte mitpreisgünstigen Zutaten produziert und angeboten. Um dieVorzeichen umzukehren, brauchen wir mehr mündige Ver-braucher, die bewusst einkaufen und denen qualitativ hoch-wertige Lebensmittel auch etwas wert sind.Dass wir es unsleisten könnten, belegen die Wirtschaftsstatistiken, nachdenen sich der Anteil der Haushaltsausgaben für Lebens-mittel in den letzten 30 Jahren mehr als halbiert hat.

DORIS FISCHER-HENNINGSEN

Die Verantwortung der Verbraucher

W E I T E R E I N FO R M AT I O N E N |[1] www.we-feed-the-world.at/[2] www.ourdailybread.at[3] www.abgespeist.de; Der gemeinnützige Verein „Foodwatch“ (www.foodwatch.de)

hat die dreisteste Werbelüge mit dem „goldenen Windbeutel“ gekürt. AusführlicheInformationen gibt es im Internet. Foodwatch wurde 2002 von dem ehemaligen Greenpeace-Chef Thilo Bode gegrün-det. Erklärtes Ziel ist es, sich für die Rechte der Verbraucher einzusetzen – eines deraktuell wichtigsten Projekte ist die Ampelkennzeichnung der Lebensmittel, die Gehalte von Fett, Zucker und Salz über eine einfache Farbcodierung auf einen Blicksichtbar machen soll.

[4] Im aktuellen Heft informiert ab Seite 232 der Artikel von Klaus Roth über Lebens-mittelzusatzstoffe.

[5] P. Schieberle, T. Hofmann: Die molekulare Welt des Lebensmittelgenusses, Chem.unserer Zeit 22000033, 37, 388–401. Der Artikel informiert u.a. über Geruch und Geschmack als Qualitätsparameter bei Lebensmitteln und deren Veränderungwährend der Verarbeitung.

Chem. Unserer Zeit, 2009, 43, 195 www.chiuz.de © 2009 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim | 195