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Die unendliche Geschichte meiner Essstörung
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Wann genau das alltägliche Essen zum Problem wurde, kann ich nicht mehr genau sagen. Ich weiss
nur noch, dass ich mit 14 / 15 Jahren etwas Pupertätsspeck ansetzte, was meinen Vater nach einem
dreiwöchigen Ferienaufenthalt bei Freunden zu dem Kommentar hinreissen liess, «wie bist du dick
geworden».
Als Kind war ich dünn. So dünn, dass bei meiner Einschulung zu Diskussion stand, ob ich zuerst mal an
die Nordsee sollte, wegen der Erholung. Ich habe mir nie etwas aus dem Essen gemacht. Es war mir
egal und oft vergass ich während des Spiels mit meiner Freundin auch die Essenszeiten, was mir
regelmässig Ärger einbrachte.
Das änderte sich mit dem Eintritt in die Pubertät. Ich nehme an, bei mir hatte es ganz wesentlich mit
Beachtung und Nichtbeachtung zu tun.
Ich bin das zweite Kind von Dreien, habe einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Im
Gegensatz zu meinen Geschwistern funktionierte ich so, wie es erwartet wurde. Abgesehen davon,
sehe ich das heute im Rückblick so, dass keiner von uns Dreien wirklich und ernsthaft Probleme
machte.
Mein Bruder litt viel mehr unter unserem Vater, der ihn nie akzeptierte und war auch in der Schule
eher schwach. Ich war faul, kam jedoch ohne Probleme durch die Schulzeit und war zufrieden mit
einer zwei oder drei. Meine Schwester dagegen war ehrgeizig und fleissig und wirklich eine sehr gute
Schülerin. Deshalb musste mein Bruder wohl immer wieder seinen Platz als Ältester «erkämpfen».
Das bedeutete, dass er uns regelmässig ärgerte oder provozierte, was jedoch völlig harmlos war.
Doch gab es von uns Mädchen oft Geschrei und für meinen Bruder dadurch Prügel.
Meine Schwester war sehr strebsam und fleissig und holte sich damit die Lorbeeren.
Damit keine Zweifel aufkommen, ich liebe meine beiden Geschwister heute über alles.
Ich war eigentlich unscheinbar. Am liebsten verbrachte ich die Zeit mit meiner Mutter in der Küche,
half ihr beim Kochen und war glücklich, wenn ich beim Kaffeeklatsch dabeisitzen durfte. Mich haben
die Gespräche der Erwachsenen immer sehr interessiert.
Ich hatte ein beste Freundin und bis 13 oder 14 Jahren war meine Welt total in Ordnung. Nur die
vielen Streitereien meiner Eltern haben mich manchmal belastet. Aber irgendwie war das bei uns
auch wieder total normal.
Mein Bruder kam, als er Dreizehn war, ins Internat an den Bodensee. Für ihn war das die beste
Entscheidung. So konnte er sich ohne Vater freier entfalten, trotz dass er sich unheimlich anstrengen
musste. Doch er wollte unbedingt das Abitur machen und studieren. Da war ich elf. Als ich noch
keine fünfzehn war, fiel die Entscheidung auch für meine Schwester ins Gymnasium nach Rottweil zu
gehen. So war sie ebenfalls von zu Hause weg und nur noch ich übrig. Ich wollte ja Kinderkranken-
schwester werden und dafür benötigte man Ende der 1970-er, Anfang 1980-er Jahre in Deutschland
kein Abitur. Ich war auch irgendwie schulmüde und traute mir wegen Mathematik das Abitur nicht
zu.
Also bliebe ich Zuhause und ging, als ich fünfzehn Jahre war, für zwei Jahre in die Hauswirtschafts-
schule in die nächste Stadt (25 km entfernt) und machte als Abschluss, mit nicht ganz siebzehn
Jahren, die Mittlere Reife.
Schon zu dieser Zeit veränderte sich mein Essverhalten. Ich fand mich zu dick und im Vergleich zu
meinen Schulkolleginnen überhaupt nicht schön. Von Seiten meiner Eltern habe ich nicht sehr viel
Selbstbewusstsein mitbekommen. Meines Vaters Motto war:» Geh und mach die Türe von aussen
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zu.» Oder: «Mach die Augen zu und das was Du da siehst, das gehört Dir.» Oder: «Halt einfach
Deinen Mund.»
Ich fühlte mich oft überflüssig, ungewollt und irgendwie immer im Weg. Zumindest von meinem
Vater. Das Problem war nur, ich sah zu ihm hoch. Er war mein Vorbild, ich war stolz auf ihn.
Mein Vater war Lehrer und dazu noch sehr beliebt. Er war unkonventionell. Ein bisschen so, wie John
Keaton in «Der Club der toten Dichter». Mein Vater hatte neben dem Lehrerberuf jede Menge
anderer Interessen. Er war Imker aus Leidenschaft, wir hatten alle möglichen Tiere, ein grosses
Spargelfeld usw.
Aus diesem Grund und auch weil bei uns immer etwas los war, waren wir in unserem Dorf bekannt
wie bunte Hunde. Er sah alles nicht so eng und hatte ein gutes Verhältnis zu seinen Schülern. Nur mit
seinen eigenen Kindern ging er im Grossen und Ganzen lieblos um.
Am Anfang meiner Essstörungs-Karriere hatte ich kurze Zeit Magersucht. Allerdings kaum
besorgniserregend, denn sehr schnell glitt ich in die Bulimie. Ich entdeckte das Kotzen. Und das fand
ich sehr praktisch. Da ich nie grosse Probleme mit dem Erbrechen hatte, weil mir meine ganze
Kindheit über ständig schlecht beim Autofahren wurde, konnte ich das ganz gut.
So waren doch alle Probleme gelöst… dachte ich.
«Hui, ich kann essen, was und soviel ich möchte und ich nehme nicht zu». Ausserdem – und das war
noch viel besser, konnte ich meinen ganzen Frust das WC hinunterspülen.
Innerhalb kürzester Zeit verlor ich die Kontrolle über meine Nahrungsaufnahme. Nie im Leben hätte
ich gedacht, dass es sowas gibt.
Meiner Mutter ist sehr schnell aufgefallen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Immer verschwand ich
nach dem Essen aufs WC oder in mein Zimmer (wo ich dann in Plastiktüten kotzte). Mehr und mehr
wurde sie aufmerksam und fing an, mich zu kontrollieren. Damit wurde alles schlimmer. Ich fühlte
mich wie ein getriebener Hund und fing an nachts, wenn alle schliefen, meine Plastiktüten im freien
(in den Rhein) zu entsorgen. Ich fühlte mich immer schlechter und mieser und wollte eigentlich nur
noch weg von Zuhause. Eine Therapie wäre in diesem Stadium der Essstörung megawichtig gewesen.
Aber das gab es noch nicht. Man kannte «Bulimie» eigentlich noch gar nicht.
Als ich sechzehneinhalb war, war es dann soweit. Ich begann ein Praktikum in einer Berufsschule für
Hör- und sprachgeschädigte Jugendliche weit weg von Zuhause. In der Nähe von Stuttgart. Ab dieser
Zeit konnte sich die Bulimie so richtig entfalten. Da ich kaum Geld hatte (von meinen Eltern wurde
ich nicht unterstützt und verdient habe ich als Praktikantin nur 200 DM) begann ich zu klauen. Ich
stahl Lebensmittel. Von den Freunden meiner Eltern, bei denen ich während des Praktikums ein
Zimmer hatte, stahl ich Weihnachtsgebäck, Kartoffeln, Nudeln und alles Mögliche. Ich war bei den
Zivildienstleistenden und wurde dort durchgefüttert, gab mein ganzes Geld für Essen aus und konnte
somit nie nach Hause fahren. Ich hatte Heimweh.
Dann begann meine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester in einem Diakoniekrankenhaus. Weil ich
auch dort klaute, wurde ich nach einem Jahr rausgeschmissen. Das war natürlich für meine Eltern,
insbesondere für meinen Vater einen Tiefschlag. Waren doch alle seine Cousinen und seine Tante
dort ausgebildet worden. Ich kam wieder nach Hause. Allerdings nicht lange, denn eigentlich wartete
ich nur noch auf die stationäre Aufnahme in eine Klinik im Schwarzwald.
Ich wollte das auch, denn auch für mich konnte es unter keinen Umständen so weitergehen. Da war
ich 20 Jahre. Ich glaube, drei Monate war ich dort, dann verliess mein Therapeut die Klinik. Er war
Niederländer und wollte wieder zurück nach Holland. Das traf mich schwer, denn von ihm fühlte ich
mich richtig ernst genommen und hatte grosses Vertrauen. Danach war ich nicht mehr bereit mit
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einem anderen Therapeuten weiter zu machen. Ich verliess die Klinik auf eigenen Risiko. Das sollte
die nächsten 20 Jahre der einzige stationäre Aufenthalt bleiben.
Ich fuhr nach Freiburg i. Brsg., schloss meine Sachen in ein Schliessfach am Bahnhof und begab mich
auf die Suche nach einem Job. Ich wusste nicht, wo ich die nächste Nacht schlafen sollte aber
irgendwie war ich zu dieser Zeit unheimlich gelassen und vertraute darauf, dass sich alles regelt.
Für einen Nachmittag konnte ich am Münsterplatz in einem Café bedienen. Da ich dort jedoch kein
Zimmer bekam, vermittelte der Chef mich an einen Kollegen in ein Restaurant. Es befand sich etwas
ausserhalb Freiburgs und kochte sehr hochstehend. Der Plan war, dass ich eine Ausbildung zur
Restaurantfachfrau machen sollte. Darüber war ich natürlich überglücklich. Doch schlussendlich
entpuppte sich das Ganze als herbe Enttäuschung. Ich wurde sowohl finanziell, sexuell und beruflich
ausgebeutet. Nach einem Jahr verliess ich dieses «Etablissement».
So verging die Zeit mit Jobs und Bulimie. Bis ich 23 Jahre alt war hatte ich es noch nicht geschafft,
eine Ausbildung zu machen. Ich habe einfach da und dort gejobbt und so meinen mickrigen
Lebensunterhalt verdient. Bei McDonalds, an einer Tankstelle, in einem anderen Café, in einem
Supermarkt und geputzt. Zu dieser Zeit hatte ich einen Freund, mit dem ich zusammenlebte (der
jedoch stark trank), so konnte ich eigentlich mein ganzes Geld für meine Essanfälle ausgeben.
Für mich war diese Zeit extrem anstrengend und entwürdigend. Wenn ich jetzt daran zurückdenke,
empfinde ich immer noch grosse Trauer um mich selbst. Mittlerweile hatte ich auch drei, vier, fünf
Essattacken pro Tag. Soviel essen konnte ich gar nicht, wie ich kotzen wollte.
Trotzdem wollte ich eines immer: eine Ausbildung machen. 1985 bekam ich die Chance und ich
ergriff sie. Ich lernte Zahnarzthelferin und schloss mit Note 1,4 und einem Preis für gute Leistungen
ab. In diesen drei Jahren habe ich gelernt, was das Zeug hält. Es hat mich natürlich auch interessiert,
aber vor allem wollte ich unbedingt raus aus dieser Ausbeutungsspirale. Das erste Mal in meinem
Leben war ich richtig stolz auf mich. Erstmals beschlich mich auch das Gefühl, dass ich wohl immer
mit der Bulimie leben musste. Das Essen bestimmte mein Leben. Es bestimmte meinen Tagesablauf
und meine finanziellen Möglichkeiten. Noch während meiner Ausbildungszeit zog ich in eine ganz
kleine Wohnung zu Freunden meiner Eltern. Das allein Wohnen empfand ich als sehr schön. Es gab
mir Rückzugsmöglichkeiten und ich konnte mich kreativ entfalten. Malen, Schreiben und Backen.
Es gab aber auch Zeiten, in denen die Essstörung gar kein Thema war. Das war zum Beispiel bei
Restaurantbesuchen oder in den Ferien. Ferien und solche Events, wie ausgehen oder Essen gehen
oder Konzerte waren für mich so kostbar, dass ich sie mir auf keinen Fall durch Essen und Kotzen
verderben wollte. Und das ging! Im Beisein von Freunden fühlte ich mich gut und dann brauchte ich
die Essanfälle nicht. Dann war ich in meiner Mitte.
Zwei Jahre blieb ich noch in dieser Praxis. Inzwischen hatte ich auch einen anderen Freund, der mich
unterstützte und aus einer richtigen Familie kam. Das tat mich gut und gab mir auch Sicherheit.
Nach den Zwei Jahren wechselte ich meine Stelle und begann im Zahnärztehaus. Dort blieb ich
dreizehn Jahre, absolvierte eine Weiterbildung zur Zahnmedizinischen Verwaltungsassistentin und
war beruflich endlich angekommen.
Leider lebte Essstörung fröhlich weiter. Die Bulimie war wie ein Alien in mir drin; so empfand ich das.
Es gab gute und weniger gute Tage. Aber selten war einer mal perfekt. Perfekt bedeutete: keine
einzige Essattacke. Der Erbrechens-Schnitt lag so bei drei Mal pro Tag. Ich ass ständig. In der
Mittagspause ging ich los und kaufte ein. Während der Arbeit hatte ich ein ganzes Süssigkeiten-Lager
in der Schublade. Es war einfach verheerend.
Oft abends, nachdem ich - kaum war ich daheim angekommen - wieder alles Mögliche in mich
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reingestopft hatte, war ich so verzweifelt, dass ich nur noch sterben wollte. Mittlerweile litt ich schon
etwa 15 Jahre an der Bulimie. An Therapien hatte ich auch schon einiges versucht. Ich ging in eine
Selbsthilfegruppe. Aber da waren alle noch viel kränker als ich. Die Gruppenmitglieder waren alle
mehrfach abhängig. Nahmen Tabletten, Drogen etc. Das war mir dann doch zu viel. Dann ging ich
ambulant in eine Essstörungstherapie der Uniklinik Freiburg. Auch das war ziemlich schräg, denn da
es noch keine wirklichen Therapien gab, weil einfach die Essstörung noch gar nicht so lange als
Krankheit anerkannt war, kam ich in eine Versuchsreihe und musste ständig eine Flut von Zettel
ausfüllen. Auch der Therapeut war jung, unerfahren und unsicher. Ich konnte ihn, ohne mit der
Wimper zu zucken, um den Finger wickeln.
Das nächste, resp. die nächste war eine ehemals selbst Betroffene, die sich selbstständig gemacht
hatte und Beratungen anbot. Kürzlich habe ich ihre Webseite wieder mal besucht: «Durch Dick und
Dünn» in Freiburg. Sie berät heute noch. Bei ihr war ich die längste Zeit. Sie hat mir am meisten
geholfen. Sie zeigte mir einen Weg, der für mich geh-bar war.
«Mich selbst akzeptieren, mich selbst auch einmal ein bisschen mögen und mich auf und an den
Dingen freuen, die gut an mir sind und die gut für mich sind.»
«Mich nur noch mit Leuten zu umgeben, die gut zu mir sind, die mich so mögen, wie ich bin».
Trotz dieser Weisheiten, war ich noch Lichtjahre davon entfernt, die Bulimie aufzugeben. Sie war
mein Anker, meine Sicherheit, meine Kontrolle über mich selbst und meine Gefühle. Dann, ich war 31
Jahre alt, bekam ich das grosse Bedürfnis stationär in eine Klinik zu gehen. Ich glaube das lag auch
daran, weil ich inzwischen durch das viel Erbrechen schon einige «Unfälle» hatte. Zweimal riss die
Wand meiner Halsschlagader. Beim zweiten Mal war ich sicherlich mindestens sieben Wochen
hospitalisiert. War danach ein halbes Jahr markumarisiert – also Bluterin und musste danach noch x-
Jahre Aspirin-Cardio nehmen und zu Kontrollen gehen. Das alles, damit sich kein Thrombus bilden
konnte und ich ev. einen Schlaganfall bekommen hätte. Ich durfte auch nicht mehr schwanger
werden.
Und deswegen wollte ich unbedingt in eine Klinik. Ich hatte Angst!
Ich wollte nach Heidelberg, denn von dort hatte ich schon viel Gutes und Hoffnungsvolles gelesen.
Also meldete ich mich selber an (ich weiss gar nicht mehr, ob ich auch ein schreiben von HA hatte)
und fuhr hin.
Auch in Heidelberg musste ich viele Zettel ausfüllen. Einen ganz Vormittag verbrachte ich wartend
und schreibend und wartend. Dann kam der Arzt und verkündetet mir, ich sei zu alt für einen
stationären Aufenthalt. Sie nähmen nur Patientinnen bis zu einem Alter von 29.
Das gab mir den Rest. Ich gab auf. Wollte nichts mehr machen und habe mich auch nie mehr um eine
Therapie bemüht, bis ich in die Schweiz kam.
Privat ging es auf und ab. Mit 33 heiratete ich einen Mann, der grosse Probleme hatte. Er war
bisexuell, hatte viele Männerfreundschaften und ich war seine grosse Stütze. Meinen Freund aus den
Jahren zuvor hatte ich verlassen, weil er so langweilig und vor allem für seine Mutter da war. Nach 5
Jahren Sicherheit, wollte ich noch etwas erleben. Auf allen Ebenen. Ja, und das tat ich dann. Diese
Ehe war eigentlich der Ausbruch aus meinem bisherigen Leben. Ich wollte keine Zwänge mehr, alles
frei, so nach dem Motto: «ich mach mein Leben so, wie ich es will»… alles dummes Zeug. Ich war ein
einziger Hilferuf. Den einzigen Zwang in meinem Leben tat ich mir ja selber an. Nach 4 Jahren wurden
wir geschieden.
In meinem 39.-ten Lebensjahr lernte ich den Mann meines Lebens kennen. Die Liebe meines Lebens.
Wegen ihm verliess ich Deutschland, meine Arbeit, die ich liebte, eigentlich auch meinen
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Bekanntenkreis und meine geliebte Wohnung in den Weinbergen Freiburgs. Ich hatte immer noch
die Essstörung aber längst nicht mehr so exzessiv. Oft war mir das Essen auch einfach nur egal.
Ich zog zu ihm in die Schweiz, bekam eine Arbeit und war zunächst – scheinbar glücklich. Er war
Alkoholiker, wir heirateten, er war Kokainabhängig, ich wurde schwanger. Es war eine Katastrophe!!
Ich verlor das Kind. Er verlor seinen Job, ich verlor deswegen auch meinen Job. Er war mein Chef.
Dann begab ich mich sechs Monate nach Herzogenbuchsee in die Klinik Wysshölzli. Dort durchlebte
ich die radikale Zäsur. Habe alles aufgeschrieben, malend mein ganzes Leben durchlitten und habe
auch die Seiten gesehen, wenn alles schiefgeht. Die Frauen, die zwangseingewiesen wurden.
Krankheit und Leid überall.
Ich kann sagen, dass diese Monate im Wysshölzli mir die Augen geöffnet haben. Es war wahrlich kein
Spaziergang, denn ich habe mich komplett geöffnet, alle Seiten meines bisherigen Lebens betrachtet,
habe mich «entblättert» und wurde wieder neu zusammengesetzt.
Danach war nichts mehr so, wie zuvor. Nach vier Jahren Zusammenleben und Ehe stieg ich aus. Habe
bei Null wieder angefangen.
Ich bekam in einem Spital eine Stelle als Teamleiterin. Das war eine riesengrosse Herausforderung für
mich, aber mit der sagenhaften Unterstützung meiner Vorgesetzten, die wirklich an mich glaubte und
einigen Weiterbildungen und einem ganz tollen Kollegenteam schaffte ich auch das. Sechs Jahre war
ich dort und in dieser Zeit habe ich meine Bulimie besiegt. Ich wollte nicht mehr, konnte nicht mehr
und hatte gar keine Zeit mehr für Essstörung. Ich habe sozusagen das Alien in mir aushungern lassen.
Insgesamt hatte ich fasst 30 Jahre Bulimie. Ich habe mir unmittelbar dadurch die Zähne ruiniert,
hatte zwei Mal ein Aneurysma (Riss in der Halsschlagader), hatte einen Schlüsselbeinbruch
(Dehydrierung und dadurch Ohnmacht), eine Magenschleimhautentzündung, eine Abtreibung, zwei
sichere Aborte und heute ein Reizdarmsyndrom.
Ich hatte aber auch viele Engel in Menschengestalt, habe mir alles verziehen, habe ungeheure Kräfte
entwickelt, bin unendlich dankbar für das Glück, das ich hatte und jetzt habe und vor allem:
ich LEBE.
Margarete