die kunst zu fliegen

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Leseprobe aus dem avant-verlag

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Page 1: Die Kunst zu fliegen
Page 2: Die Kunst zu fliegen

Mein Vater beging am 4. Mai 2001 Selbstmord. Niemand weiss, wie ein Mann in seinem Alter und Zustand die Heimaufsicht austricksen, im vierten Stock durch ein Fenster klettern und sich in die Tiefe stürzen konnte.

Nur ich kann wissen, wie er es tat, ...

... denn ich war zwar nicht dabei, doch ich war in ihm.

Ich bin das einzige Kind, das meinem Vater möglich war.

Ich bin immer in ihm gewesen, denn ein Vater besteht aus seinen möglichen Kindern.

Ich stamme von ihm ab, bin seine Erweiterung und war bereits un-geboren als genetisches Potenzial an allem beteiligt, was ihm wider- fuhr.

Doch ich weiss es.

Es ist an der Zeit, ...

... an der Zeit, zu fliegen.

Ich bin zu gebrechlich,

um mir die Schuhe

anzuziehen.

Aber zum Fliegen

brauche ich sie auch

nicht.

Spieglein, sag mir, wann ich den Käfig verlassen kann.

Was ist es diesmal, Avelino?

Schmerzen.

Schmerzen, Schmerzen, die

habe ich auch und klage

nicht!

Schön ruhig, Avelino.

Sieben Uhr. Jetzt ruft Dori gleich ihren Freund an, und Carolina geht die

Medikamente verteilen.

Besser so als im Pyjama. Sonst sieht man mir noch an, dass ich von

der Pflege- station komme.

Page 3: Die Kunst zu fliegen

Deswegen weiss ich, wie er starb... ... und wie er lebte. Oft erzählte er mir von seinem Schicksal.

Angesichts der ersten Symptome seiner Depression drängte ich ihn sogar, es niederzuschreiben.

Er hinterliess zweihundert-fünfzig eng beschriebene Blätter voller Erinnerungen.

Doch das, was ich von ihm weiss, habe ich weder gehört noch gelesen.

Ich kenne sein Leben, weil ich – wie gesagt – in ihm war, oder vielleicht auch bei ihm.

Und jetzt, wo er tot ist, ist er in mir.

So kann ich mit der Richtigkeit seiner Angaben erzählen, und mit den Emotionen seines Blutes, das in meinen Adern fliesst.

Na los, Carolina. Du hast schon fünf Minuten Verspätung.

Nur die Ruhe, es reicht für alle.

Schon voll!

Hier passt keiner mehr rein, sonst stürzen wir ab.

Immer ist das Ding belegt.

Ist doch klar, um diese Zeit.

Der Aufzug ist wie immer über-füllt ... Verdammte Tattergreise, habt

ihr das Laufen verlernt?!

Dann muss ich wohl oder übel die Treppe nehmen.

Ich muss es schaffen, ich muss es schaffen.

Verdammt, Esther! Was macht die denn

im vierten Stock? Wenn sie mich sieht,

gibt’s Ärger.

Eine Standpauke von der hätte mir gerade noch

gefehlt.

Page 4: Die Kunst zu fliegen

Also erzähle ich das Leben meines Vaters aus seiner Sicht, aber aus meiner Perspektive.

Ich kann daher versichern, dass er genau so Selbstmord beging.

... mein Vater für den Sturz aus dem vierten Stock neunzig Jahre brauchte.

Und ich kann auch versichern, dass - obwohl es nur wenige Sekunden zu dauern schien – ...

Weg mit den Pantoffeln ... Und jetzt

fliege ich los ...

Page 5: Die Kunst zu fliegen
Page 6: Die Kunst zu fliegen

3. STOCK 1910-1931

DAS HOLZAUTO

Page 7: Die Kunst zu fliegen
Page 8: Die Kunst zu fliegen

Mein Vater, der ich nun bin, hat keine guten Erinnerungen an seine Kindheit. Mit acht Jahren wechselte er von der Schulbank zur Feldarbeit.

Und wenn ihr euren Acker fertig gepflügt habt, setzt ihr die Schar in die Grenze zum Nachbarn

und übernehmt zwei Furchen.

Mein Grossvater, der nun mein Vater ist, war nur darauf aus, seinen spärlichen Besitz zu erweitern. Meine Onkel, die nun meine Brüder sind, achteten oder vielmehr fürchteten ihn. Jedenfalls folgten sie ihm blind.

Was ist, wenn sich der Nachbar beschwert?

Ich mochte den Acker nie.

Das Land gehört immer dem, der am stärksten

darum kämpft. Dann streitet man alles ab und verteidigt die beiden Furchen wie sein Eigentum - mit Überzeugung und notfalls mit der Schrotflinte ...

Was für eine blöde

Frage!

Ich, der ich nun ein einziges ”Ich“ bin,

fühlte mich zu Hause nie wohl. Ohne meine Mutter hätte ich wohl nie familiäre Zuneigung erfahren.

Miguel, welcher Nachbar traut sich zu bestreiten, dass das unsere Furchen sind?

Ich will, dass ihr bis zum meinem Tod zehn Fanegas*

mehr für die Familie beschafft. Julián, du besorgst drei, genau

wie du, Miguel. Antonio sorgt für mindestens vier ...

Ich fand weder Gefallen an meinen Familien-wurzeln noch an der Feldarbeit ...

... und hatte erst recht keine Freude am Grundbesitz.

* Anm. d. Übers.: Fanega ist ein altes kastilisches Flächenmaß und entspricht 64,596 Ar.17

Page 9: Die Kunst zu fliegen

Ich sage es und ich meine es auch so. Mit vierzehn haue ich

aus dem Dorf ab.

Sag sowas nicht. Man darf doch nicht auf seinen Vater scheissen ...

Lass mich! Ich scheisse auf Julián, meinen Vater und die Rote Bete!

So würde ich nicht von Heimat sprechen, aber geboren wurde ich in Peñaflor, bei Saragossa. Die Bruderkämpfe, die ich erlebte,

zeigten mir, dass die Menschheit unsere einzige Heimat sein müsste.

Basilio, nicht so

schnell ...

Pack die Hacke richtig! Steck die Setzlinge

tiefer!

Ich hatte immer Zweifel, welche meine Heimat war, meine echte Heimat ...

Auf diesem Feld pflanzt du Rote Bete. Dein Vetter Basilio

steckt die Setzlinge, und Julián geht dir hin und

wieder zur Hand.

Vier Fanegas?!

Ja, Vater.

Mir tun die Nieren weh! Ich komme kaum noch hoch und habe die Hand voller Blasen!

Schneller, du Faulpelz! Ich habe schon das ganze obere Feld fertig.

Warte nur, bis ich es Vater sage.

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Page 10: Die Kunst zu fliegen

Die können bei mir mal woanders naschen! Kommt,

ich zeig’s euch und mach’ euch Appetit auf

mehr!

Ihr seid süss wie Tante Engracias Torte – einfach zum

Vernaschen!

Schaut mal, die schönsten Mädchen von Peñaflor und südlich von Villanueva!

Für mich war “Peñaflor“*

immer ein komischer Name und ein Ding der Unmöglichkeit.

Die anderen fanden den Namen völlig normal, und erst wenige Monate zuvor hatte man das Schild

“Peñaflor“

am Dorfeingang aufgestellt. Mir aber ging der Name nur schwer über die Lippen.

Sobald wir um die Ecke sind, rennen wir los!

Du Grobian!

Und ich lass’ dich mal dran

ziehen!

Pffff

Hast du die schöne Casi gesehen? Im Dorf ist nicht alles so schlecht,

wie du behauptest.

Casilda, komm mit auf die Tenne und ich zeig’ dir meinen

Dreschflegel!

Ich verstand nicht, wie “Fels“ und

“Blume“

an einem Ort zusammentreffen konnten. Oder in einem Wort.

Wo sind die denn hin?

Ich sag’s doch immer: Frauen kann man nicht

trauen.

Da hinten rennt Patro. Also ich

geh’ nach Hause. Morgen muss ich

früh raus.

Pssst, Antonio!

Meinen Landsleuten muss der Name allerdings auch etwas komisch vorgekommen sein, denn manchmal trieben sie Spielchen mit ihm, die ichnie ganz verstand.

* Anm. d. Übers.: „Peñaflor“ setzt sich zusammen aus „peña“ (Fels) und „flor“ (Blume).

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Page 11: Die Kunst zu fliegen

Du mähst, wie ich es sage! Und seinem Vater widerspricht

man nicht!

Nein, “Blumen“ gab es keine in Peñaflor.

Ich muss mich wohl bücken,

und mir tun die Nieren

weh.

Du bist zu klein für die Sense. Du musst dich ja beim

Mähen kaum bücken und bist schneller

als er.

Vater, darf ich wie Julián mit der

Sense mähen? Dann bin ich

schneller fertig.

Wenn irgendwoeine

“Blume“ wuchs,

dann jedenfalls nicht in meinem Dorf.

Blume! Du hast

verloren!

Bist du doof, Antonio! Du weisst nicht,

was du verpasst ...

Zeig ihm, dass du ein Kerl bist, und mäh‘ schneller

als er.

Du hilfst deinem Bruder beim Mähen. Du fängst

auf dieser Seite an, und Julián auf der anderen.

Von meinen Pflichten zermürbt, sah ich überall nur

“Felsen“.

Fels.Fels oder Blume?Casilda! Ich dachte,

du wärst nach Hause gegangen ...

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Page 12: Die Kunst zu fliegen

Die Mauern, die einige Nachbarn errichteten, verstärkten noch meinen Eindruck, auf einem Felsen zu leben, auf dem Blumen unmöglich waren.

Wozu die wohl gut sein soll?

Antonio, bring den Krug her, wir ver-

dursten!

Onkel Anselmo zieht eine Mauer hoch.

Nicht nur meine Familie nagte am Boden ihrer Nachbarn. Zum Schutz gegen solche Machen-schaften errichteten einige Bauern Mauern, um den Zutritt zu ihrem Grundstück zu verwehren.

Von nun an dürft ihr hier nicht mehr lang. Das ist Privatbesitz, mein Acker, und hier

geht kein Schwein mehr drüber ...

Also haut ab und nehmt den Weg am

Fluss!

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Page 13: Die Kunst zu fliegen

Nur die nächste Mauer.

Siehst du was?

Die Mauern nahmen schneller an Höhe zu, als wir wachsen konnten.

Man nahm mir und den anderen Jungs in meinem Alter die Aussichten.

Peñaflor reihte sich ein in die bald endlose Liste von Dörfern, die ihre Felder eingrenzten.

Da manche nicht zögerten, schwächere Mauern zu versetzen und so ihre Felder zu erweitern, verstärkten andere ihre Mauern und machten sie zu kleinen Festungen.

Wie die chinesische Mauer. Hier fallen

sicher bald die Mongolen ein.

Du bist vielleicht ein Mongo!

Die schikanieren sich gegenseitig.

Anfangs waren es nur wenige. Dann folgten andere ihrem Beispiel. Am Ende wurde jeder Hof, jedes Feld, jeder Baum, jeder Strauch ummauert.

Schnell, Miguel! Wir müssen fertig sein, bevor es

dämmert!

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Page 14: Die Kunst zu fliegen

Jedenfalls wuchs ich heran.

Beim nächsten Mal schneide ich dir die

Kehle durch!

... oder vielmehr durch Elend.

So wuchs ich mit einem Horizont heran, der verbaut war durch Ehrgeiz ...

Wenn ich dich kriege, landest

du auf Anselmos Acker! Bei den hohen Mauern

kommst du nicht mehr

raus.

Fang mich doch!

Ich wuchs genug, um die Barrieren zu meistern, ... ... einige zu missachten ...

Wir können auf Pericos Nussbaum

klettern.

Wie sollen wir jetzt in die Ferne

schauen?

Die hier ist voller

Glas-scherben!

Doch wuchs ich nie genug, um sie endgültig zu überwinden.

... und andere zu überspringen.

Das ist wie Fliegen!

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Page 15: Die Kunst zu fliegen

Wo liegt Saragossa? Da hinten, glaube ich.

Du tust, was ich dir sage.Vater, lasst mich in Saragossa

ein Handwerk erlernen. Ich finde sicher Arbeit. Anfangs kann ich

Onkel Segundo im Betrieb helfen.

Auf dem Land gefällt es mir nicht.

Du kennst die Stadt nicht.

Hier auf dem Land wirst du

nie Hunger leiden.

... dann versuchte ich es mit allen Mitteln.

Basilio lieh mir sein Fahrrad, ...

Die Stadt kann nicht schlimmer

sein.

... und meiner Mutter klaute ich dreissig Peseten aus der Spardose. Mit dem Geld und etwas Glück meinte ich, ein neues Leben beginnen zu können.

Zunächst versuchte ich es im Guten, ...Da ich im Dorf keine Zukunft sah, wollte ich mein Glück woanders versuchen.

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