die klassischen hirnstammsyndrome definitionen und geschichte

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Zusammenfassung Hintergrund. Ungenaue Ausweitungen der Definitionen verschiedener Hirnstammsyn- drome in der Literatur. Methode. Es wurden die Originalarbeiten der Autoren des vergangenen Jahrhunderts im Hinblick auf die Neuroanatomie eingese- hen. Ergebnisse. Folgende klassischen Hirn- stammsyndrome (Läsionen langer Nerven- bahnen und Hirnnervenparesen) sind von Bedeutung: Erkrankungen mit Paresen des N. oculomotorius: Weber-Syndrom (ipsilatera- le III-Parese und gekreuzte – “alternierende” – Hemiparese), Benedikt-Syndrom (III-Parese mit gekreuzter Hemiparese und Tremor), Nothnagel-Claude-Syndrom (III-Parese mit al- ternierender Ataxie); Erkrankungen mit Pare- se des VII. Hirnnervs: Millard-Gubler-Syndrom (Fazialisparese und gekreuzte Hemiparese), Foville-Syndrom (Blickparese,nukleare Fazia- lisparese und gekreuzte Hemiparese); Er- krankungen mit Parese des VI. Hirnnervs: Raymond-Cestan-Syndrom (Abduzensläh- mung und kontralaterale Hemiparese). Hirnstammläsionen finden sich auch bei dem Wallenberg-Syndrom (Augenverände- rungen: Horner-Syndrom, fehlender Korneal- Reflex, Lateropulsion der Sakkaden, Nystag- mus), dem Parinaud-Syndrom (vertikale Blickparese und Konvergenzparese) und dem Koerber-Salus-Elschnig-Syndrom (Nys- tagmus retractorius, vertikale Blickparese, Pupillenstörungen bei mesenzephalen Er- krankungen). Viele Hirnstammsyndrome wurden im letzten Jahrhundert von bekannten Autoren erstmals beschrieben und tra- gen seither deren Namen. Im nachfol- genden Jahrhundert wurden sie jedoch nicht immer einheitlich benutzt. Einzel- ne Autoren haben die Definitionen aus- geweitet, indem sie einige Symptome zum Syndrom hinzufügten. Die Ursa- chen sind einleuchtend: Nicht immer löst eine Hirnstammläsion nur das ein- heitliche Bild eines bisher beschriebe- nen Syndroms aus, sondern sie führt noch zu weiteren charakteristischen Ausfällen, die für die Lokalisation ent- scheidend sind. Dies sollte aber nicht da- zu führen, dass die durch den Erstautor festgelegte Definition des Syndroms ver- wässert oder gänzlich verlassen wird. In der vorliegenden Arbeit wird anhand der Originalarbeiten auf die ursprüngli- che Definition in der Erstbeschreibung hingewiesen und deren exakte Wieder- gabe in der Literatur empfohlen. Die vorliegenden Untersuchungen stützen sich auf die Erstbeschreibungen sowie auf die Monographie von Wolf [57]. Als allgemeine Definition der klas- sischen Hirnstammläsionen gilt, dass es sich – ipsilateral zum Läsionsort – um Hirnnervenparesen handelt, die vorwie- gend Augen- und Lidmuskeln betreffen, bei gleichzeitiger gekreuzter (“alternie- render”) Läsion der langen Nervenbah- nen – am häufigsten der Pyramiden- bahn. Der Ophthalmologe 6•2000 411 Neuroophthalmologie: Übersicht Ophthalmologe 2000 · 97:411–417 © Springer-Verlag 2000 D. Schmidt Universitäts-Augenklinik, Killianstr.5, D-79106 Freiburg Die klassischen Hirnstammsyndrome Definitionen und Geschichte* *Teile dieser Arbeit sind auf der 97.Tagung der Deutschen Ophthalmologi- schen Gesellschaft vorgetragen worden. Prof. Dr. D. Schmidt Universitäts-Augenklinik, Killianstr.5, D-79106 Freiburg Schlussfolgerung. Aufgabe dieser medizin- historischen Untersuchung ist es, die Bedeu- tung der bereits damals vorhandenen Kenntnisse mit dem heutigen Wissen in Be- ziehung zu setzen. Die Erstbeschreibung dieser Syndrome mit den Abbildungen der neuroanatomischen Befunde dieser Läsio- nen ist entscheidend zur klinischen Beurtei- lung des Krankheitsbildes. Einige heute ver- wendete Syndromnamen (z. B. Parinaud- Syndrom) entsprechen nicht mehr genau den Erstbeschreibungen des vergangenen Jahrhunderts. Schlüsselwörter Hirnstammsyndrome · Weber-Syndrom · Benedikt-Syndrom · Nothnagel-Claude- Syndrom · Millard-Gubler-Syndrom · Foville- Syndrom · Raymond-Cestan-Wallenberg- Syndrom · Parinaud-Syndrom · Koerber- Salus-Elschnig-Syndrom

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Page 1: Die klassischen Hirnstammsyndrome Definitionen und Geschichte

Zusammenfassung

Hintergrund. Ungenaue Ausweitungen derDefinitionen verschiedener Hirnstammsyn-drome in der Literatur.Methode. Es wurden die Originalarbeitender Autoren des vergangenen Jahrhundertsim Hinblick auf die Neuroanatomie eingese-hen.Ergebnisse. Folgende klassischen Hirn-stammsyndrome (Läsionen langer Nerven-bahnen und Hirnnervenparesen) sind vonBedeutung: Erkrankungen mit Paresen desN. oculomotorius: Weber-Syndrom (ipsilatera-le III-Parese und gekreuzte – “alternierende”– Hemiparese), Benedikt-Syndrom (III-Paresemit gekreuzter Hemiparese und Tremor),Nothnagel-Claude-Syndrom (III-Parese mit al-ternierender Ataxie); Erkrankungen mit Pare-se des VII. Hirnnervs: Millard-Gubler-Syndrom(Fazialisparese und gekreuzte Hemiparese),Foville-Syndrom (Blickparese, nukleare Fazia-lisparese und gekreuzte Hemiparese); Er-krankungen mit Parese des VI. Hirnnervs:Raymond-Cestan-Syndrom (Abduzensläh-mung und kontralaterale Hemiparese).Hirnstammläsionen finden sich auch beidem Wallenberg-Syndrom (Augenverände-rungen: Horner-Syndrom, fehlender Korneal-Reflex, Lateropulsion der Sakkaden, Nystag-mus), dem Parinaud-Syndrom (vertikaleBlickparese und Konvergenzparese) unddem Koerber-Salus-Elschnig-Syndrom (Nys-tagmus retractorius, vertikale Blickparese,Pupillenstörungen bei mesenzephalen Er-krankungen).

Viele Hirnstammsyndrome wurdenim letzten Jahrhundert von bekanntenAutoren erstmals beschrieben und tra-gen seither deren Namen. Im nachfol-genden Jahrhundert wurden sie jedochnicht immer einheitlich benutzt. Einzel-ne Autoren haben die Definitionen aus-geweitet, indem sie einige Symptomezum Syndrom hinzufügten. Die Ursa-chen sind einleuchtend: Nicht immerlöst eine Hirnstammläsion nur das ein-heitliche Bild eines bisher beschriebe-

nen Syndroms aus, sondern sie führtnoch zu weiteren charakteristischenAusfällen, die für die Lokalisation ent-scheidend sind.Dies sollte aber nicht da-zu führen, dass die durch den Erstautorfestgelegte Definition des Syndroms ver-wässert oder gänzlich verlassen wird. Inder vorliegenden Arbeit wird anhandder Originalarbeiten auf die ursprüngli-che Definition in der Erstbeschreibunghingewiesen und deren exakte Wieder-gabe in der Literatur empfohlen.

Die vorliegenden Untersuchungenstützen sich auf die Erstbeschreibungensowie auf die Monographie von Wolf [57].

Als allgemeine Definition der klas-sischen Hirnstammläsionen gilt, dass essich – ipsilateral zum Läsionsort – umHirnnervenparesen handelt, die vorwie-gend Augen- und Lidmuskeln betreffen,bei gleichzeitiger gekreuzter (“alternie-render”) Läsion der langen Nervenbah-nen – am häufigsten der Pyramiden-bahn.

Der Ophthalmologe 6•2000 411

Neuroophthalmologie: ÜbersichtOphthalmologe2000 · 97:411–417 © Springer-Verlag 2000

D. SchmidtUniversitäts-Augenklinik, Killianstr.5, D-79106 Freiburg

Die klassischen HirnstammsyndromeDefinitionen und Geschichte*

*Teile dieser Arbeit sind auf der 97.Tagung der Deutschen Ophthalmologi-schen Gesellschaft vorgetragen worden.

Prof. Dr. D. SchmidtUniversitäts-Augenklinik, Killianstr. 5,D-79106 Freiburg

Schlussfolgerung. Aufgabe dieser medizin-historischen Untersuchung ist es, die Bedeu-tung der bereits damals vorhandenenKenntnisse mit dem heutigen Wissen in Be-ziehung zu setzen. Die Erstbeschreibungdieser Syndrome mit den Abbildungen derneuroanatomischen Befunde dieser Läsio-nen ist entscheidend zur klinischen Beurtei-lung des Krankheitsbildes. Einige heute ver-wendete Syndromnamen (z. B. Parinaud-Syndrom) entsprechen nicht mehr genauden Erstbeschreibungen des vergangenenJahrhunderts.

Schlüsselwörter

Hirnstammsyndrome · Weber-Syndrom · Benedikt-Syndrom · Nothnagel-Claude-Syndrom · Millard-Gubler-Syndrom · Foville-Syndrom · Raymond-Cestan-Wallenberg-Syndrom · Parinaud-Syndrom · Koerber-Salus-Elschnig-Syndrom

Page 2: Die klassischen Hirnstammsyndrome Definitionen und Geschichte

Neuroophthalmologie: Übersicht

D. Schmidt

History of the classical brain stem syndromes. Definitions and history

Summary

Background. Inaccurate definitions of brainstem syndromes in the literature.Method. The original publications of the au-thors during the last century and the earlyyears of this one were studied in relation tothe neuro-ophthalmological diagnosis andneuroanatomy. It is the goal of this medico-historical investigation to compare theknowledge available at this time when thefirst descriptions were made with the clinicalexperience and understanding of today.Results. The following classical brain stemsyndromes are important for an ophthalmol-ogist: diseases with III-paresis: Weber’s syn-drome (1863, ipsilateral oculomotor paraly-sis with alternating hemiplegia), Benedikt’ssyndrome (1889, oculomotor paralysis andcrossed hemiparesis with tremor), NothnagelClaude’s syndrome (III-Paresis with alternat-ing ataxia); diseases with VII-paresis: MillardGubler’s syndrome (1856, nuclear 7th nervepalsy with crossed hemiparesis), Foville’ssyndrome (1858, conjugate lateral gazeparalysis, ipsilateral nuclear palsy of the 7thnerve, crossed hemiparesis); diseases with VI-paresis: Raymond Cestan’s syndrome (1895,abducent nerve paralysis with contralateralhemiparesis). Brain stem lesions are alsofound in Wallenberg’s syndrome (1895,Horner’s syndrome, absent corneal reflex,lateropulsion of saccadic eye movements,nystagmus, ataxia, dysphagia, hoarseness,sensory loss over the facial region, contralat-eral dissociated diminished sensibility(hemiparesis), etc.).The following two syndromes do not belongto the above-mentioned classical examples,because lesions of the long tracts of thebrain stem are absent. However, since thesetwo syndromes are accompanied by bothocular and neurological signs which indicatetypical lesions of the brain stem, they are al-so mentioned here: Parinaud’s syndrome(1883, paralysis of conjugate vertical gazeand paresis of convergence together withadditional neuro-ophthalmological signs)and the Koerber Salus Elschnig’s syndrome(1903, 1910, 1913, nystagmus retractorius,vertical gaze palsy, pupillary disturbances,and signs of midbrain disease).Conclusions. The first descriptions of thesesyndromes, together with the figures illus-trating the neuroanatomical findings in

Einteilung der klassischen Hirnstammsyndrome

Folgende Augenveränderungen sind an-zutreffen (Tabelle 1):

◗ I. Syndrome, bei denen der III. Hirnnerv beteiligt ist:

◗ Weber-Syndrom,◗ Benedikt-Syndrom,◗ Nothnagel-Claude-Syndrom;

◗ II. Syndrom mit ausschließlicher Be-teiligung der Gesichts- und Lidmus-kulatur (nukleäre Fazialislähmung,ohne Beeinträchtigung der Augenbe-wegungen):

◗ Millard-Gubler-Syndrom;

◗ III. Syndrom einer Beteiligung derGesichts- und Lidmuskulatur (nukle-äre Fazialisparese) mit gleichzeitigerBlickparese:

◗ Foville-Syndrom;

◗ IV. Syndrom mit Hinweis auf Abdu-zenslähmung:

◗ Raymond-Cestan-Syndrom.

Auf zusätzliche Hirnstammsyndromewie das “obere Syndrom des Nucleus ru-ber”, das “Paramediane-Pons-Syn-drom”, das “Jackson-Syndrom”, das“Cestan-Chenais-Syndrom”, das “Avel-lis-Syndrom” und das “Schmidt-Syn-drom” wird hier nicht eingegangen, dahierbei keine Augenbeteiligung zu er-warten ist.

Weber-Syndrom (ipsilateraleOkulomotoriusparese und kontralaterale Hemiplegie)

Herrmann Weber [56] hatte 1863,also ca.8 Jahre nach der Veröffentlichung desMillard-Gubler-Syndroms [23, 35] denBefund einer III-Parese mit kontralate-raler Hemiparese beschrieben.

Er berichtete über den Befund eines52-jährigen Mannes, der eine Aortenin-suffizienz und Arrhythmie aufwies. DerPatient war in der 4.Lebensdekade an ei-nem schweren rheumatischen Fieber er-krankt. Etwa 2 Monate vor seinem Tod

Der Ophthalmologe 6•2000412

Ophthalmologe2000 · 97:411–417 © Springer-Verlag 2000

Tabelle 1Die klassischen Hirnstammsyndrome

Name/ Ipsilateral: Kontralateral Jahr der Publikation Augen-Lid-Veränderungen (z. B. Pyramidenbahn)

Syndrome, bei denen der III. Hirnnerv beteiligt ist

Weber (1863) N. oculomotorius HemipareseBenedikt (1889) N. oculomotorius Hemiparese + TremorNothnagel-Claude N. oculomotorius Hemiataxie(1889, 1912)

Syndrome mit Beteiligung der Gesichts- und Lidmuskulatur (nukleäre Fazialislähmung)

Millard-Gubler (1856) N. facialis (ohne Beteiligung Hemiparese

der äußeren Augenmuskeln)Foville (1858) N. facialis + Blickparese Hemiparese

Syndrom mit Hinweis auf Abduzenslähmung

Raymond-Cestan (1895) N. abducens Hemiparese

these lesions, are helpful for assessing theclinical picture. Some named syndromeswhich are used today in clinical diagnosis(e.g. Parinaud’s syndrome) do not exactlycorrespond to the first descriptions in thelast century.

Keywords

Brain stem syndromes · Weber’s syndrome ·Benedikt’s syndrome · Nothnagel Claude’ssyndrome · Millard Gubler’s syndrome ·Foville’s syndrome · Raymond Cestan’s syn-drome · Wallenberg’s syndrome · Parinaud’ssyndrome · Koerber Salus Elschnig’s syndrome

Page 3: Die klassischen Hirnstammsyndrome Definitionen und Geschichte

trat eine Lähmung der rechten Körper-seite auf und eine linksseitige III-Pare-se. Die Obduktion ergab Thromben imBereich des inneren und unteren Anteilsdes linken Crus cerebri mit teilweiserDegeneration des III.Hirnnervs.Der lin-ke N. oculomotorius war zur rechtenSeite verlagert.

Ort der Läsion

Gillilan [21] untersuchte die Arterien desHirnstammes bei ca. 300 Hirnpräpara-ten und fand, dass viele großkalibrigeArterien durch die Region der Fossa in-terpeduncularis verlaufen, an der Kreu-zungsstelle der austretenden Wurzelndes N. oculmotorius und der Faserbün-del der langen Bahnen in den Peduncu-li cerebri. Durch Läsionen der einseiti-gen kurzen lateralen Arterien könntenbeide Strukturen zerstört werden, waseine ipsilaterale innere und äußereOphthalmoplegie und eine kontra-laterale Parese des Gesichtes, der Zunge,des Rumpfes und der Extremitäten zurFolge hätte.

Häufigkeit

Silverstein [48] berichtete über einen von83 Patienten mit Hirnstamminfarkten,der ein Weber-Syndrom aufwies. Insge-samt fand er nur 5 Patienten mit alternie-renden Krankheitszeichen. Ein Patientmit einem Weber-Syndrom wies bei derObduktion einen einseitigen Infarkt desPedunculus cerebri und der Pons auf.

Ein isolierter Mittelhirninfarkt tratnach den Erhebungen von Bogousslavs-ky et al. [4] bei 22 Patienten auf, bei de-nen ein Kernspintomogramm veranlasstwurde. Insgesamt wurden in Lausanne1015 Patienten mit einem Schlaganfall imgleichen Zeitraum untersucht. Hierausergibt sich eine Häufigkeit von isolier-ten Mittelhirninfarkten (22 Patienten)von 2,3%. Sie traten am häufigsten vonallen Hirnstammläsionen auf, die vor-wiegend im paramedianen Territoriumanzutreffen waren und von der A.basila-ris versorgt wurden. Mesenzephale In-farkte der A. cerebri posterior traten sel-tener auf, sehr selten territoriale Infark-te der A. cerebellaris superior. Infarkteder A. chorioidalis posterior waren beidiesen 22 Patienten nicht nachweisbar.Neun Infarkte (41%) waren streng aufdas paramediane Territorium begrenzt,welches direkt von den perforierenden

Gefäßen des distalen Drittels der A. ba-silaris versorgt wird.

Unterschieden wird zwischen In-farkten des oberen (6 Patienten), desmittleren (13 Patienten) und des unteren(3 Patienten) Mesenzephalon [4]: Para-mediane Infarkte des mittleren Mesen-zephalon führten zu einem nuklearenSyndrom des III. Hirnnervs, weiter seit-lich gelegene Infarkte zu faszikulärenStörungen des N. oculomotorius entwe-der isoliert oder in Kombination mit ei-ner kontralateralen Hemiparese (Weber-Syndrom) oder einer Hemiataxie (Clau-de-Nothnagel-Syndrom).

Fünf Patienten mit einem parame-dianen Infarkt [4] wiesen Zeichen einesnuklearen Befalls des III. Hirnnervs auf:bilaterale Ptose, bilaterale Schwäche desM. rectus superior und bilaterale My-driasis. Die häufigste Kombination be-stand in einer ipsilateralen Okulomoto-riusparese mit kontralateraler Rectus-superior-Parese, häufig mit bilateralerPtose und Mydriasis.

Ursachen

Kardioembolische Ursachen traten nichthäufiger auf als Stenosen der A. basila-ris oder Erkrankungen der kleinen Ge-fäße (“small-vessel disease”) [4].

Weber-Syndrom bei Infarkten des Hirnstamms

Bogousslavsky und Regli [3] berichtetenüber ein Weber-Syndrom bei einem 79-jährigen Mann mit einem Infarkt deslinken Pedunculus cerebri und bei ei-nem 78-jährigen Mann mit einem me-senzephalen Infarkt paramedian links.Gaymard et al. [18] veröffentlichten denKrankheitsverlauf eines 65-jährigenMannes mit einer Hemiparese rechtsund einer nukleären III-Parese links in-folge eines Hämatoms des linken Me-senzephalons, in der Nähe des Okulo-motoriuskernes. Die Paresen bildetensich nach Resorption der Blutung wie-der zurück. Mayor [34] teilte den Befundeiner 67-jährigen Frau mit, bei der einSchlaganfall mit Hemiplegie rechts undeine Okulomotoriusparese links auftra-ten. Die Obduktion ergab Erweichungs-herde des linken Pedunculus cerebri mitLäsionen der Okulomotoriusfasern.

Souques [49] berichtete über eindoppelseitiges Weber-Syndrom infolgeeiner Arteriitis der A. cerebri posterior

beider Seiten. Caplan [7] wies auf eineDiabetespatientin hin mit linksseitigerIII-Parese und rechtsseitiger Hemiplegieund Hypästhesie, jedoch bilateral auslös-barem Babinski-Reflex. Zusätzlich be-standen eine vertikale Blickparese undein Nystagmus. Die Obduktion ergabmultiple ältere intrazerebrale Infarkteund einen frisch entstandenen emboli-schen Infarkt der A. cerebri posteriorlinks mit Infarkten des Okulomotorius-kernes, des periaquäduktalen Höhlen-graus,des Nucleus ruber und des Pedun-culus cerebri.Dieses Beispiel verdeutlichtdie Ausdehnung mesenzephaler Infark-te, so dass zusätzlich zu dem Befund ei-nes Weber-Syndroms andere neurologi-sche Ausfälle festgestellt wurden.

Weber-Syndrom bei intrazerebraler Blutung

Mizuguchi et al. [37] berichteten überein Weber-Syndrom bei einem 7-jähri-gen Knaben mit einer Hämophilie A. Erwies eine Kopfschmerzattacke mit Er-brechen und linksseitiger Hemipareseauf. Im MRT fand sich ein frisches Hä-matom des rechten Pedunculus cerebri(unteres Mittelhirn) und der pontinenBasis (obere Pons). Bei einer späterenAttacke zeigten sich eine rechtsseitigePtose und Mydriasis.Augenbewegungenwaren nur nach lateral unten möglich.

Weber-Syndrom bei Tumoren des Hirnstamms

Touche [52] wies auf den Krankheitsver-lauf einer 42-jährigen Frau hin mit links-seitiger Hemiplegie und äußerer Okulo-motoriusparese rechts infolge eines Tu-mors im Bereich der pedunculi cerebri.Waga et al. [53] führten den Befund eines42-jährigen Mannes an mit einer Paresedes rechten Okulomotorius bei linkssei-tiger Hemiplegie infolge eines Kranio-pharyngeoms.Es war der mittlere Anteildes Mesenzephalons befallen,so dass dieColliculi angehoben und die Pedunculicerebri nach unten gedrückt waren.

Miller [36] berichtete über einen 65-jährigen Mann (S. 662) mit inkomplet-ter III-Parese rechts (Pupille ausspa-rend) mit linksseitiger Hemiparese, derwegen verdächtiger metastatischer Kar-zinome bestrahlt wurde. Die Lähmun-gen bildeten sich nach der Behandlungzurück. Außerdem teilte Miller (S. 663)das Weber-Syndrom eines Kleinkindes

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Neuroophthalmologie: Übersicht

mit, bei dem ein Gliom in das Mesenze-phalon infiltriert war.

Weber-Syndrom bei sonstigen (entzündlichen) Erkrankungen

Decaudin [14] berichtete über ein an Tu-berkulose erkranktes 3-jähriges Kind,das eine III-Parese rechts und eine He-miplegie links aufwies.

Leyden [31] erwähnte eine linksseiti-ge Hemiplegie und rechtsseitige III-Pare-se eines 32-jährigen Mannes. Da zusätz-lich eine Hemianopsie nach rechts be-stand, wurde eine Erkrankung der A. ce-rebri posterior sinistra angenommen. Estrat eine Besserung der Paresen ein.

Um die klinischen Bilder zu verste-hen, die bei Teilparesen des III. Hirn-nervs auftreten, ist es notwendig, dieeinzelnen Subnuklei und ihre physiolo-gische Funktion auseinander zu halten(Schema nach Warwick [55]): Eine Pare-se des kontralateralen und ipsilateralenM. rectus superior tritt auf, weil die Axo-ne des einen Subnukleus zur kontralate-ralen Seite kreuzen und durch diesenSubnukleus verlaufen. Gelegentlich tritteine M. rectus superior Parese nur kon-tralateral der Läsion auf. Eine bilateralePtose tritt auf wegen der bilateralen Auf-gabe des unpaaren kaudalen zentralenSubnukleus, der für die Innervation desM. levator palpebrae beider Seiten ver-antwortlich zu machen ist (Tabelle 2).

Warren et al. [54] berichteten über5 Patienten mit Läsionen der Subnucleides Okulomotoriuskerngebietes. Bei ei-nem Patienten zeigte sich ein kontralate-raler Intentionstremor, so dass der Ver-dacht eines Benedikt-Syndroms be-stand.

Nothnagel-Claude-Syndrom

Beim Nothnagel-Claude-Syndrom han-delt es sich um eine Ataxie der Gegensei-te der Okulomotoriusparese.Wegen derkontralateralen Ataxie werden die bei-den Autorennamen zusammen ange-führt,obwohl Nothnagel eine andere Lä-sion (Corpora quadrigemina) fand alsClaude bei seinem Patienten (Läsion inder Region der Pedunculi cerebri unddes Nucleus ruber).

Nothnagel-Syndrom

Nothnagel [38] berichtete über mehrereFälle der Literatur mit Beteiligung des

N. oculomotorius, und zwar fanden sichLäsionen einzelner Äste des III. Hirn-nervs (“Einmal ist nur der Ast für denM. levator palpebrae beiderseits außerFunction gesetzt, ein anderes Mal nurder für die Musc. recti superiores, eindrittes Mal sind die Bulbusbewegungennach oben und unten minimal, also dieRecti superiores und inferiores betrof-fen, wieder ein anderes Mal die Recti in-terni”).“... wenn ein Ausfall in der Ocu-lomotoriusinnervation bestand, warendie hinteren Vierhügel entweder alleinoder wenigstens neben den vorderen be-teiligt ...”

Nothnagel postulierte irrtümlich:“Wenn die Symptome einer einseitigenHerderkrankung bestehen und dabei ei-ne Lähmung eines oder einiger gleich-wertig wirkender Oculomotoriusästeauf beide Augen, kann man eine Beteili-gung des hinteren Vierhügels diagnosti-zieren.” Zusätzlich zu seiner Monogra-phie (1879), in der er zahlreiche bemer-kenswerte Fälle der internationalen Li-teratur und einige eigene Beobachtun-gen mit Hirnstammsyndromen ausführ-lich mitteilte, berichtete er über den Be-fund und Krankheitsverlauf eines 15-jährigen Patienten mit einem Hirn-stammtumor von der Größe eines klei-nen Apfels, der zu einer Kompression derCorpora quadrigemina, des Aquädukts

und des Zerebellums geführt hatte.Noth-nagel nahm an (irrtümlich), dass dieAtaxie des Patienten Folge der Läsionder Colliculi gewesen ist. Er meinte, dassdie Kombination einer Gangataxie miteiner Okulomotoriusparese Folge einesTumors der Corpora quadrigemina war.Nach Liu et al. [32] könnte das Nothna-gel-Syndrom als Variante eines dorsalenMittelhirnsyndroms aufgefasst werden,also nicht als Folge einer faszikulärenOkulomotoriusläsion.

Der Ausdruck “Nothnagel-Syn-drom” bezieht sich auf die Publikationvon 1889 [39] und nicht auf NothnagelsMonographie von 1879 (die fälschlicher-weise häufig zitiert wird).

Derakhshan et al. [15] berichtetenüber den Befund eines 50-jährigen Man-nes mit bilateralem Nothnagel-Syndrom(beidseitiger Okulomotoriusparese,Blickrichtungsnystagmus, Ataxie undHypokinese) infolge von Läsionen pos-teromedialer thalamischer Strukturen.Diese Autoren fanden also einen völliganderen Läsionsort als Nothnagel.

Claude-Syndrom

Eine Okulomotoriusparese rechts mitlinksseitiger Ataxie und “Hemiasyner-gie” (weniger geschickte Bewegungender Hand) beobachtete Henry Claude

Der Ophthalmologe 6•2000414

Tabelle 2Motilitätsveränderungen der Augen in Zusammenhang mit dem Okulomotorius

Klinisches Bild Pathologisch-antomischer Befund

1. Pränukleäre ParesenINO + monokulare Heberparese (kontralateral) Läsion des Fasciculus longitudinalis medialis +

Läsion des Subnucleus für den M. rectus superior der Gegenseite)

2. Nukleäre ParesenBilaterale isolierte Ptose Läsion des unpaaren kaudalen zentralen

Subnukleus (kann auch pränukleär entstehen)

Bilaterale Heberparese “Pseudo-Parinaud” Läsion des Subnucleus für den M. rectus superior

Isolierte bilaterale Mydriasis Läsion des unpaaren medianen Westphal-Edinger-Kernes

3. Postnukleäre Paresenz. B.Weber-, Benedikt-, Nothnagel-Claude- Faszikuläre Läsion des III.HirnnervsSyndrome

4. Nervenläsion Verlauf des III. Hirnnervs nach dem Austritt aus der Fossa interpeduncularis

Page 5: Die klassischen Hirnstammsyndrome Definitionen und Geschichte

1912 [10] bei einem 56-jährigen Mann.Der pathologisch-anatomische Befundwurde von Claude und Loyez [11] veröf-fentlicht. Es fand sich ein Erweichungs-herd der Region der Pedunculi cerebrirechts mit Schädigung des Nucleus ru-ber. Claude beschrieb jedoch keine He-miparese seines Patienten.

Gaymard et al. [19] berichteten übereinen 53-jährigen Mann mit vorüberge-hender motorischer Schwäche der Ge-genseite der III-Parese. Diese Schwächebildete sich zurück, und es entwickeltesich danach eine Ataxie.Eine Obduktionwurde nicht durchgeführt.Kim et al. [26]fanden,dass bei Hirnstammläsionen miteiner ataktischen Hemiparese die Pyra-midenbahn nicht beeinträchtigt war.

Parinaud-Syndrom

Die Definition des Parinaud-Syndromsist in der Literatur nicht einheitlich.Pari-naud 1883 [40] veröffentlichte die Krank-heitsbilder mehrerer Patienten sowohlmit horizontaler Blickparese als auchvon 2 Patienten mit vertikaler Blickpare-se. Ein 67-jähriger Mann zeigte eine ver-tikale Blickparese sowohl nach oben alsauch nach unten und zusätzlich eineKonvergenzparese mit Pupillenstörun-gen.Parinaud nahm eine Schädigung imBereich des 4.Ventrikels an. Eine 20-jäh-rige Frau, bei der Parinaud eine syphili-tische Erkrankung vermutete, wies eineBlickparese nach oben und eine Konver-genzparese auf. Parinaud stellte aber –und das ist später häufig nicht ausrei-chend beachtet worden – in beiden Fäl-len die Konvergenzparese neben der ver-tikalen Bewegungsstörung heraus.

Abweichend von der ursprüngli-chen Definition werden Krankheitsbil-der wie beispielsweise das dorsale Mit-telhirnsyndrom mit dem Parinaud-Syn-drom synonym verwendet.

Kömpf publizierte 1983 – also genau100 Jahre nach Parinauds Erstbeschrei-bung – die Paresen von 26 Patienten mitdem Kernsymptom einer vertikalen Pa-rese der Augen und nannte das ein “Pa-rinaud-Syndrom”[27]. Er fand eine iso-lierte Heberparese bei 18 (69%), Heber-und Senkerparese bei 7 (27%), Konver-genzparese bei 18, Pupillenstörung bei18, einen vertikalen Blickrichtungsnys-tagmus bei 9 (35%), jedoch nur bei 2 Pa-tienten (8%) einen Nystagmus retracto-rius. Kömpf fand am häufigsten einevaskuläre Ursache (65%) des Syndroms,

und nur bei 14% waren die Paresendurch Tumoren hervorgerufen, in kei-nem Fall lag ein Pinealom vor: Damithatte er erstmals darauf hingewiesen,dass entgegen bisheriger LehrmeinungTumoren selten die Ursache einer verti-kalen Blickstörung sind. Das Pinealom,also der Tumor, der über Jahrzehnte den“Mythos der oberen Vierhügel als verti-kales Blickzentrum aufrecht erhielt”,kam bei seinen Patienten gar nicht vor.

Bei einer vertikalen Blickparesehandelt es sich um eine Funktionsstö-rung mesodienzephaler Strukturen. DasKernsymptom der vertikalen Blickpare-se mit den fakultativen Begleitsympto-men führte zu folgenden unterschiedli-chen Krankheitsbezeichnungen: Freund-Vogt-Herdbildung, Prätektalsyndrom,Syndrom der hinteren Kommissur,Aquaeductus-Sylvii-Syndrom, dorsalesMittelhirnsyndrom. (Die letztere Be-zeichnung wird am häufigsten verwen-det.)

Mehrere Strukturen und Kerne dermesenzephalen Retikularformation sindverantwortlich für die prämotorischeKontrolle vertikaler Augenbewegungen:Hierzu gehören der Nucleus interstitia-lis Cajal, der Nucleus Darkschewitschund Kerne der hinteren Kommissur imPrätektalbereich. TierexperimentelleUntersuchungen durch Frau Büttner-Ennever [5, 6] haben gezeigt, dass eineumschriebene Zellgruppe in der rostra-len mesenzephalen Retikularformation,auch als rostraler interstitieller Nukleusdes Fasciculus longitudinalis medialisbezeichnet, entscheidend ist für raschevertikale Augenbewegungen. DieserKern liegt dorsomedial zum vorderenPol des Nucleus ruber, rostral zumNucleus interstitialis Cajal und lateralzum Nucleus Darkschewitsch.

Beurteilung einzelner Syndro-me in der klinischen Praxis

Der Medizinhistoriker muss sich fragen,was im Laufe der vergangenen 100–150Jahre seit der Erstbeschreibung von die-sen Syndromen übrig geblieben ist. DieBilanz unsere Literaturrecherche hat er-geben, dass erstaunlich wenig publiziertwurde über das Millard-Gubler-Syn-drom [23, 35, 44, 47, 58], das Foville-Syn-drom [17, 22, 24, 30, 44, 47], das Nothna-gel-Claude-Syndrom [10, 11, 15, 32, 39, 44]und das Raymond-Syndrom [41, 43–45,47, 51]. Es finden sich nur wenig Publika-

tionen,die in der Weltliteratur unter die-sen Namen erscheinen.

Anders steht es allerdings mit demWeber-Syndrom [4, 8, 31, 37, 42, 44, 47, 49,52, 53, 56], dem Benedikt-Syndrom [1, 9,13, 20, 25, 32, 33, 44, 47, 50], dem Wallen-berg-Syndrom und vor allem dem Parin-aud-Syndrom [40]. (Die umfangreichenLiteraturzitate über die Wallenberg- undParinaud-Syndrome können hier nichtangeführt werden.) Diese Syndromezählen zu den bekanntesten Syndromendes Hirnstamms. Beim Wallenberg-Syn-drom bestehen ein Horner-Syndrom,fehlender Kornealreflex, Lateropulsionder Sakkaden, Nystagmus, Ataxie, Dys-phagie, Heiserkeit, Sensibilitätsstörung,kontralaterale dissoziierte Sensibilitäts-störung, Hemiparese.

Trotz der Seltenheit der zunächsterwähnten Syndrome haben aber allediese Syndrome einerseits einen wichti-gen didaktischen Wert, andererseits ge-ben sie dem Kliniker die genaue Lokali-sation der Läsion an. Millard [35] undGubler [23] haben erstmals auf die exak-te neuroanatomische Lokalisation derLäsion im Hirnstamm hingewiesen, in-dem sie gezeigt haben, dass die Läsionan der Kreuzungsstelle zwischen Pyra-midenbahn und einem Hirnnerv liegenmuss, so dass die Lokalisation der Läsi-on exakt bestimmt werden konnte unddamit den Ärzten die Augen geöffnetwurden (bereits 1856) über die Bedeu-tung neuroanatomischer Befunde zurErklärung klinischer Erscheinungen.Auch für uns ist es von Bedeutung, die-se Syndrome zu kennen, um dem Neu-roradiologen sofort mitteilen zu kön-nen, an welcher Stelle des GehirnsDünnschichtaufnahmen des CTs bzw.MRTs anzufertigen sind.

Streng genommen gehören das Pa-rinaud- und das Koerber-Salus-Elsch-nig-Syndrom nicht zu den bereits er-wähnten klassischen Syndromen, dahierbei die Läsionen der langen Bahnenfehlen. Da sie aber zu den wichtigenHirnstammsyndromen mit zusätzlichenneurologischen Ausfällen zählen, die auftypische Hirnstammläsionen hinweisen,werden sie hier angeführt. Bei dem Pari-naud-Syndrom [40] bestehen eine ver-tikale Blickparese und eine Konvergenz-parese in Zusammenhang mit zusätzli-chen neuro-ophthalmologischen Zei-chen, bei dem Koerber-Salus-Elschnig-Syndrom (1903, 1910, 1913) finden sichNystagmus retractorius, vertikale Blick-

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Neuroophthalmologie: Übersicht

parese und Erkrankungszeichen desMesenzephalons).

In den letzten Jahrzehnten unseresJahrhunderts sind zahlreiche neue Hirn-stammsyndrome beschrieben worden,die jedoch nicht unter den Namen desErstbeschreibers erscheinen, sondernnach klinischen Veränderungen be-zeichnet wurden, wie beispielsweise dashorizontale bzw. vertikale 1 1/2-Syndrom,die internukleäre Ophthalmoplegie(INO), das WEBINO-Syndrom (“wall-eyed bilateral internuclear ophthalmo-plegia”) [28], das Locked-in-Syndromoder das dorsale Mittelhirnsyndromoder das Prätektalsyndrom.

Der Grund für neuartige Bezeich-nungen besteht in dem Bemühen, solcheNamen anzuführen, die sogleich auf denOrt der Läsion hinweisen – wie bei-spielsweise das “dorsale Mittelhirnsyn-drom”. Die neu geschaffenen Namen ba-sieren auf pathophysiologischen undanatomischen Befunden, was zu einemeindeutigen Verständnis der Begriffeführt.

In einigen Hand- und Lehrbüchernder Ophthalmologie und Neurologiesind unterschiedliche Krankheitszei-chen den einzelnen Syndrombezeich-nungen zugeordnet worden. Dies möch-te ich am Beispiel des Millard-Gubler-Syndroms (nukleäre Fazialislähmungohne Beeinträchtigung der Augenbewe-gungen) erläutern:

1856 wurde von dem damals 25-jäh-rigen Auguste Millard und seinem Leh-rer Adolphe Gubler eine Lähmung des7. Hirnnervs mit gekreuzter Hemiplegiebeschrieben. In der späteren Literaturjedoch wurde als Läsion der unterenBrücke, also dem Millard-Gubler-Syn-drom, noch eine Abduzenslähmung([16], S. 743) oder sogar eine kontralate-rale Hypoglossuslähmung ([2], S. 100)hinzugefügt, also deutlich abweichendvon der Originalbeschreibung von Mil-lard und Gubler.

Bei dem Foville-Syndrom wurde er-gänzend zur Fazialisparese eine herdsei-tige Abduzenslähmung angeführt ([29],S. 454).

Zur Definition des Weber-Syndromswurde durch zusätzliche Befunde dieDefinition ausgeweitet: “Hemiataxie;manchmal auch kontralaterale zentraleVII-, IX-, X- und XII-Lähmung oderDéviation conjugée zur Seite des Her-des” ([29], S. 455).

Bei dem Benedikt-Syndrom wurdenaußer der Definition des Erstbeschrei-bers noch “spastische Hemiparese bzw.Choreoathetose, manchmal auch kon-tralaterale Hypästhesie; bei großer Aus-dehnung des Prozesses auch horizonta-le Blicklähmung zur Gegenseite bzw.Déviation conjugée zur Seite des Her-des” angeführt ([29], S. 455). Auch eineHemichorea wurde beim Benedikt-Syn-drom erwähnt ([12], S. 210).Anstelle derOkulomotoriusparese wurde auch übereine Blickparese und eine Hemichoreaberichtet ([46], S. 143).

Zur Definition des Nothnagel-Syn-droms wurde eine Schädigung im Be-reich des Nucleus ruber angenommen([29], S. 455, ebenso [16], S. 743 und [44]).Claude hatte auf die Läsion des Nucleusruber hingewiesen, insofern wirdrichtigerweise von dem Nothnagel-Claude-Syndrom gesprochen.

In den Literaturzitaten bestehenAbweichungen von den Originalbe-schreibungen der Erstautoren.

Es ist Aufgabe dieser Veröffentli-chung, darauf hinzuweisen, Originalar-beiten genauer zu zitieren und bisherigeAbweichungen von der eigentlichen De-finition zu korrigieren.

Fazit für die Praxis

Unter den klassischen Hirnstammsyndro-men werden Läsionen der langen Nerven-bahnen mit Hirnnervenparesen verstan-den. In der Literatur finden sich ungenaueAusweitungen der Definitionen verschie-dener Hirnstammsyndrome. Ein Syndromwird entsprechend der Erstbeschreibungdefiniert. Die Hirnstammsyndrome gebendem Kliniker die genaue Lokalisation derLäsion an. Es ist von Bedeutung, diese Syn-drome zu kennen, um dem Neuroradiolo-gen mitteilen zu können, an welcher Stelledes Gehirns Dünnschichtaufnahmen desCTs bzw. MRTs anzufertigen sind.

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